Eine Erzählung

»Oh, mein Vater, ich habe gesündigt, gib mir deinen Segen.« Der Priester hob seinen Kopf auf; er war müde an Geist und Körper, seine Seele traurig und sein Herz schwer. Er saß in der bedrückenden Einsamkeit des Beichtstuhles und mußte die immergleichen Sünden anhören. Er war müde des alten Tones und der heuchlerischen Ausdrucksweise. Wollte die Welt immer die gleiche bleiben? Fast zwanzig Jahrhunderte lang haben die Priester im Beichtstuhl gesessen und der nämlichen alten Weise gelauscht.

Die Welt erschien ihm nicht besser; immer das Gleiche, das Gleiche. Der junge Priester seufzte, und für einen Augenblick wünschte er fast, die Menschen möchten sündiger sein.

Warum konnten sie nicht von jenen seit ewig gewohnten Pfaden abweichen und ein wenig ursprünglicher sein in ihren Lastern, wenn sie schon sündigen mußten? Jedoch die Stimme, die er jetzt vernahm, weckte ihn aus seiner Träumerei. Sie war sanft und weich, schüchtern und scheu.

Er gab den Segen und lauschte.

Er erkannte die Stimme. Gerade an diesem Morgen hatte er sie zum ersten Male gehört: die Stimme des kleinen Meßnerknaben, der ihn bei der Messe bedient hatte.

Er wandte den Kopf und betrachtete durch das Gitterwerk den Kleinen. Kein Makel war an diesen langen, weichen Locken. Für einen Augenblick nur erhob sich das Gesicht, die großen, tränenfeuchten blauen Augen trafen den Priester; er sah das kleine, längliche Antlitz schamübergossen der einfachen kindlichen Sünden wegen, die ihm gebeichtet wurden.

Ein Beben durchfuhr ihn, denn er fühlte, daß hier zumindest etwas Schönes in der Welt sei, etwas, das wahrhaft echt war. Würde der Tag kommen, da jene sanften roten Lippen hart und falsch sein würden, die liebliche, schüchterne Stimme frech und gewöhnlich?

Seine Augen füllten sich mit Tränen, und mit einer Stimme, die alle Festigkeit verloren hatte, gab er die Absolution.

Nach einer Weile hörte er den Knaben zu seinen Füßen sich erheben. Er sah, wie jener seine Schritte durch die kleine Kapelle lenkte und vor dem Altar niederkniete, während er sein Bußgebet sprach.

Der Priester verbarg sein müdes, abgezehrtes Gesicht in den Händen und seufzte erschöpft.

Am nächsten Morgen, als er vor dem Altar kniete und sich anschickte, die Worte des Bekenntnisses dem kleinen Meßnerknaben vorzusprechen, dessen Kopf so ehrfurchtsvoll sich neigte, beugte er sich tiefer herab, bis sein Haar leise die goldenen Locken berührte, die wie ein Heiligenschein das zarte Antlitz umgaben.

Er fühlte sein Blut glühen und klingen in einer seltsamen, nie erlebten Bezauberung.

Wenn das Wundersamste in der Welt, Liebe zu einem anderen, die Seele erfüllend plötzlich einen Mann ergreift, so weiß er, was der Himmel meint, und versteht die Hölle: wenn aber jener Mann ein Asket ist, ein Priester, dessen ganzes Herz ekstatischer Entsagung hingegeben ist, es wäre besser für ihn, er wäre nie geboren worden. Als sie in der Sakristei waren und der Knabe vor ihm stand und mit ehrfürchtiger Scheu die geweihten Gewänder anlegte, da wußte der Priester, daß hinfort alle Andacht seines Glaubens, all der verzückte Eifer seiner Gebete mit einem sich verknüpfen — nein, einzig von einem ihm eingehaucht werden würde.

Mit der gleichen Ehrfurcht und Demut, die er gefühlt hätte bei der Berührung von etwas Heiligem, legte er seine Hände auf das lockige Haupt, strich er über das schmale, blasse Antlitz.

Er neigte sich und berührte leise die glatte, weiße Stirn mit seinen Lippen.

Als der Knabe die Liebkosung seiner Finger fühlte, versank für einen Augenblick Alles vor ihm. Doch da er die leichte Berührung von des hageren Priesters Lippen verspürte, ergriff ihn eine wundersame Sicherheit: er verstand.

Er hob die kleinen Arme, legte die schlanken weißen Finger um des Priesters Hals und küßte ihn auf die Lippen.

Mit einem Aufschrei fiel der Priester auf die Knie, zog die kleine, in Scharlachrot und Spitzen gekleidete Gestalt an seine Brust und bedeckte das zart errötende Antlitz mit glühenden Küssen.

Dann überkam beide ein Gefühl der Furcht; hastig standen sie auf, legten mit heißen, zitternden Fingern die heiligen Gewänder ab und trennten sich in schweigender Scheu.

Der Priester kehrte in die armselige Wohnung zurück, versuchte niederzusitzen und zu denken.

Vergeblich wollte er essen, er schob sein Mahl unwillig zurück; er versuchte zu beten, doch statt der stillen Gestalt am Kreuz, der stillen, kalten Gestalt mit den traurigen, ach so traurigen Zügen, sah er das errötende Antlitz des lieblichen Knaben, die großen, sternengleichen Augen seines neugefundenen Lieblings.

Während des ganzen Tages durchschritt der junge Priester den Kreis seiner verschiedenen Pflichten völlig mechanisch.

Er konnte weder essen noch ruhen; sobald er allein war, glaubte er schrillen Gesang zu vernehmen, und er fühlte, daß er ins Freie fliehen müsse, daß er dem Wahnsinn nahe sei.

Endlich, als die Nacht gekommen war, warf er sich, erschöpft und zerrüttet von dem langen, heißen Tag, auf die Knie vor dem Kruzifix und zwang seine Gedanken. Er ließ seine Kindheit, seine früheste Jugend wiedererstehen. Gedanken an die furchtbaren Kämpfe der letzten fünf Jahre stiegen in ihm auf.

Hier kniete er, Ronald Heatherington, Priester der Heiligen Kirche, achtundzwanzig Jahre alt: sollte Alles, was er während dieser fünf Jahre wütenden Kampfes mit den furchtbaren Leidenschaften seiner Knabenzeit ausgehalten hatte, vergeblich sein?

Im letzten Jahre hatte er wirklich gefühlt, daß alle Leidenschaft unterdrückt war, all jene fürchterlichen Ausbrüche glühender Liebe hatte er für immer ausgelöscht geglaubt. So hart, so unablässig hatte er gearbeitet während dieser fünf Jahre nach seiner Weihung, er hatte sich ganz seinem heiligen Amte hingegeben; alle Heftigkeit seiner Natur war gebunden, völlig erfüllt worden von den wundervollen Mysterien seines Glaubens.

Alles, was ihn erregen konnte, hatte er gemieden. Alles, was in ihm die Erinnerung an sein früheres Leben wachrufen konnte.

Dann hatte er dieses Pfarramt angenommen, die Obhut der kleinen Kapelle dicht neben der Hütte, in der er jetzt wohnte, der kleinen Missionskapelle, die am weitesten abseits lag von allen anderen, welche die alte Pfarrkirche von St. Anselm rings umgaben.

*

Vor zwei oder drei Tagen erst war er angekommen, und als er mit den beiden Alten sprach, die in der Hütte lebten, deren Rückwand seinen kleinen Garten begrenzte, hatten diese ihm die Dienste ihres Enkels als Meßnerknaben angeboten. »Mein Sohn war ein Künstler, Ehrwürden,« sprach der alte Mann, »er fühlte sich hier niemals wohl, und so schickten wir ihn fort nach London. Dort hatte er Glück, und heiratete eine vornehme Dame. Aber das kalte Wetter raffte ihn im Winter dahin, und seine arme junge Frau war allein mit dem Kleinen. Sie erzog und lehrte ihn selbst, doch letzten Winter starb auch sie, und so kam es, daß der arme Junge bei uns wohnt. So zart ist er, und gar nicht wie wir; er ist der geborene Edelmann, der Wilfred. Seine arme Mutter ließ ihn in der Kirche nahe bei ihnen in London Dienste verrichten, und der Knabe mochte das so gern, daß wir dachten, wenn Sie einverstanden sind, Ehrwürden, es würde ihm Freude machen, wenn er hier dasselbe tun könne.«

»Wie alt ist der Knabe?« fragte der Priester.

»Vierzehn Jahre, Ehrwürden«, entgegnete die Großmutter.

»Gut, lassen Sie ihn morgen früh zur Kapelle kommen«, hatte Ronald zugestimmt. Der Priester war ganz in seine Andacht versunken, so daß er den kleinen Meßnerknaben kaum bemerkte. Er sah ihn nicht eher, als bis er jene Beichte hörte, die ihm seine wundervolle Lieblichkeit offenbart hatte.

»O Gott! Hilf mir! Hab Mitleid mit mir! Nach all der unendlichen Mühe und Qual, da ich gerade beginne zu hoffen, soll Alles vergeblich sein? Soll ich Alles verlieren? Hilf mir, hilf mir, o Gott!« Und während er betete, während seine Hände in qualvollem Flehen ausgestreckt waren gegen die Füße des Gekreuzigten, vor dem er immer die härtesten Kämpfe ausgefochten und bestanden hatte, während Tränen bitterer Zerknirschung und elenden Mißtrauens gegen sich selbst seine Augen trübten, da geschah ein leises Klopfen an das Glas des Fensters an seiner Seite. Er erhob sich, zog verwundert den dunklen Vorhang zurück.

Im Mondschein, vor dem offenen Fenster, stand eine kleine weiße Gestalt, mit nackten Füßen auf dem vom Mondlicht überfluteten Rasen. Nur in sein langes, weißes Nachtgewand gekleidet, stand dort sein kleiner Ministrant; der Knabe, der sein künftiges Geschick in kleinen, kindlichen Händen hielt.

»Wilfred, was tust du hier?« fragte er mit zitternder Stimme.

»Ich konnte nicht schlafen, Ehrwürden, weil ich an Sie denken mußte. Ich sah Licht in Ihrem Zimmer, da kam ich zu Ihnen. Sind Sie mir böse, mein Vater?« Seine Stimme stockte, als er den fast wilden Ausdruck in dem bleichen, abgezehrten Gesicht wahrnahm. »Warum kamst du zu mir?« Der Priester wagte nicht zu erkennen, was hier vor sich ging, und kaum hörte er, was der Knabe sagte.

»Weil ich Sie lieb habe, o, so lieb habe! Aber Sie zürnen mir, o, warum kam ich auch! Aber ich dachte nicht, daß Sie zornig sein würden!« Der Kleine sank in das Gras und weinte.

Der Priester schwang sich durch das offene Fenster, nahm die schlanke Gestalt in seine Arme und trug sie in das Zimmer. Er zog den Vorhang zu, sank in den tiefen Sessel, legte den blonden Kopf an seine Brust und küßte die Locken immer und immer wieder.

»O, mein Liebling! mein einziger schöner Liebling!« flüsterte er.

»Wie könnte ich dir je zürnen? Du bist mir mehr als Alles in der Welt. Wie liebe ich dich, mein einziger, süßer Knabe!« Fast eine Stunde lang ruhte der Knabe in seinen Armen, drückte die weichen Wangen gegen die des Priesters; dann sagte dieser ihm, daß er gehen müsse. Ihre Lippen fanden sich in einem langen Kusse, und die schlanke, weißbekleidete Gestalt schlüpfte durch das Fenster, eilte durch den kleinen Garten und verschwand im gegenüberliegenden Fenster.

*

Als sie am nächsten Morgen in die Sakristei traten, erhob der Knabe sein schönes, blumengleiches Antlitz, und der Priester schlang sanft seine Arme um ihn und küßte ihn zärtlich auf die Lippen.

»Mein Liebling! mein Liebling!« war Alles, was er sagte, jedoch der Knabe erwiderte seinen Kuß mit einem Lächeln wundervoller, fast himmlischer Liebe, in einem Schweigen, aus dem mehr zu sprechen schien, als Worte sagen können.

*

»Ich weiß garnicht, was Ehrwürden heute morgen hatte?« sagte eine alte Frau zu der andern, als sie von der Kapelle zurückkehrten. »Er schien ganz abwesend zu sein; er machte heute morgen mehr Fehler als Vater Thomas während all der Jahre, die er hier war.«

»Es war, als hätte er niemals vorher eine Messe gelesen!« entgegnete ihre Freundin ein wenig verächtlich.

Und in dieser Nacht und in vielen Nächten noch zog der Priester mit dem bleichen, ermüdeten Antlitz den Vorhang über das Kruzifix und wartete am Fenster auf den Schimmer des bleichen Sommermondscheins auf einem Scheitel goldener Locken, auf den Anblick eines schlanken Knabenkörpers, der in ein langes, weißes Nachtgewand gekleidet war, das die Anmut jeder Bewegung nur noch mehr hervorhob, auf die Blässe der kleinen Füße, die über das Gras hineilten.

Dort am Fenster wartete er Nacht für Nacht, um die zärtlich liebenden Arme sich um seinen Hals schlingen zu fühlen und das berauschende Entzücken der Küsse schöner Knabenlippen zu verspüren.

Ronald Heatherington beging jetzt keinen Fehler mehr in der Messe.

Er sprach die heiligen Worte mit einer Ehrfurcht und Ergebenheit, daß die wenigen armen Leute, die dabei waren, später von ihm mit fast ehrfürchtiger Scheu sprachen, während das Antlitz des kleinen Meßnerknaben an seiner Seite in einem Eifer leuchtete, der die Leute einander fragen ließ, was dieser seltsame Schimmer bedeuten könne.

Sicher mußte der junge Priester ein Heiliger sein, und der Knabe neben ihm glich eher einem himmlischen Engel als einem Kinde der Menschenerde.

*

Die Gesellschaft ist unerbittlich gegen die, so ihr trotzen. Sie legt ihre Satzungen fest, und wehe denen, die an sich zu denken wagen, die verwegen ihrer Natur folgen; ihre Eigenart wird ausgelöscht, ihr Charakter zerbrochen von den eisernen Fingern des Herkömmlichen. Wahrlich, das Herkömmliche ist zum Eckstein geworden in dem fahrlässig gebauten Tempel unserer oberflächlichen, willkürlichen Zivilisation.

»Und wer über diesen Stein fällt, der soll zerbrochen werden, aber auf wen er fällt, den soll er zu Staub zermalmen.« Wenn die Welt etwas sieht, das sie nicht verstehen kann, so glaubt sie an die niedrigsten Beweggründe, sie wittert eine geheime Schändlichkeit, die in der Vorstellung wenigstens ihr engbeschränktes Verständnis zu begreifen fähig ist.

Nicht länger betrachtete man den Priester als einen Heiligen und den Knaben als einen Engel.

Man sprach von ihnen nur noch mit verhaltenem Atem und mit dem Finger auf den Lippen; man wich aus, wenn man einem von ihnen begegnete. Doch bald rottete man sich zusammen in Gruppen zu zweien und dreien und schüttelte die Köpfe.

Der Priester und sein Meßnerknabe beachteten es nicht; sie bemerkten nicht einmal die argwöhnischen Blicke und das halbunterdrückte Flüstern.

Jeder hatte im andern vollkommene Zuneigung und Liebe gefunden. Was kümmerte sie jetzt die Welt?

Einer war dem andern die vollendetste Erfüllung eines kaum ausdenkbaren Ideals; nicht Himmel, nicht Hölle hätten mehr zu geben vermocht. Allein, der Stein des Herkömmlichen war gelockert. Die Zeit, da er fallen mußte, konnte nicht fern sein.

*

Klar und schön leuchtete der Mond; die kühle Nachtluft war schwer vom Dufte der altmodischen Blumen, die in verschwenderischer Fülle in dem kleinen Garten blühten.

Aber die dicht zugezogenen Vorhänge schlossen des Priesters Zimmer ab von der Schönheit der Nacht.

In völliger Vergessenheit der Umwelt, nichts wissend als sich, versenkt in die Traumbilder einer Liebe, die den Schimmer der Sommernacht weit überstrahlte, waren der Priester und der Knabe beieinander.

Der Knabe saß auf den Knien des Priesters, er hielt mit den Armen seinen Hals eng umschlungen, und seine goldenen Locken schmiegten sich an des Priesters kurz geschorenes Haar. Sein weißes Nachtgewand bildete einen seltsamen und schönen Gegensatz zu dem matten Schwarz des langen Priesterrocks.

Da wurden Schritte laut auf der Treppe draußen, Schritte, die näher und näher kamen; ein Klopfen an der Tür. Sie hörten es nicht. Gänzlich ineinander versenkt, berauscht von dem süßen Gifthauche der die Gabe der Liebe ist, saßen sie schweigend.

Doch das Ende war gekommen: der Schlag fiel.

Die Tür öffnete sich, und vor ihnen stand die hohe Gestalt des Rektors.

Keiner sagte etwas; nur schmiegte sich der Knabe enger an, seine Augen wurden groß vor Furcht.

Der junge Priester erhob sich ruhig und setzte den Knaben nieder: »Es ist besser, wenn du gehst, Wilfred«.

Schweigend standen die beiden Priester und warteten, bis das Kind durch das Fenster geschlüpft war, über das Gras huschte und in der Hütte gegenüber verschwand.

Dann wandten sie sich und sahen einander an.

Der junge Priester sank in seinen Sessel, faltete die Hände und wartete, bis der andere zu sprechen begann.

»Soweit ist es gekommen!« sagte der, »die Leute hatten nur zu recht in dem, was sie mir sagten! O Gott, daß hier so etwas sich ereignen konnte! Daß ich verpflichtet sein muß, Ihre Schande aufzudecken. Unsere Schande! Daß ich es bin, der Sie der Gerechtigkeit übergeben und sehen muß, wie Sie die volle Strafe für Ihre Sünden erleiden! Haben Sie mir nichts zu sagen?«

»Nichts«, erwiderte er ruhig. »Um Mitleid kann ich nicht bitten; erklären kann ich nichts. Sie würden mich niemals verstehen. Ich bitte Sie um nichts für mich, ich bitte Sie nicht, mich zu schonen; doch denken Sie an das schreckliche Ärgernis für unsere liebe Kirche.« »Es ist besser, alle diese schrecklichen Ärgernisse aufzudecken und dafür zu sorgen, daß sie geheilt werden. Torheit ist es, Schaden zu verhehlen. Besser die Schande zeigen, als sie tiefer einwurzeln lassen.«

»Denken Sie an das Kind.«

»Das hätten Sie tun sollen. Sie hätten eher daran denken sollen. Was hat die Schande mit mir zu tun? Ihnen kam das zu. Aber ich will es auch nicht schonen, selbst wenn ich könnte. Welches Mitleid kann ich empfinden für solch einen –?«

Der junge Mann war aufgesprungen mit bleichen Lippen.

»Schweigen Sie!« gebot er mit lauter Stimme, »ich verbiete Ihnen, von dem Knaben anders als mit Achtung zu sprechen.« Dann leise zu sich selbst: »Anders als mit Ehrfurcht, anders als mit Ergebenheit.«

Verdutzt schwieg der andere für einen Augenblick.

Dann brach sein Zorn aus: »Sie wagen, offen so zu sprechen? Wo bleibt Ihre Reue, Ihre Scham? Haben Sie kein Empfinden für die Schrecklichkeit Ihrer Sünde?«

»Es ist keine Sünde, deren ich mich zu schämen hätte«, antwortete er sehr ruhig. »Gott gab mir meine Liebe zu ihm und Er gab ihm auch seine Liebe zu mir. Wer widersetzt sich Gott und der Liebe, die Seine Gabe ist?«

»Dürfen Sie den Namen entweihen, indem Sie eine Leidenschaft wie diese ›Liebe‹ nennen?«

»Es war Liebe, vollkommene Liebe. Es ist Liebe.«

»Ich kann jetzt nichts mehr sagen: morgen wird alles bekannt werden. Gott sei Dank werden Sie all diesen Schimpf teuer bezahlen«, fügte der Ältere in einem plötzlichen Zornesausbruch hinzu.

»Es tut mir leid, daß Sie keine Gnade kennen. Nicht daß ich Sorge trüge meiner Bloßstellung und Bestrafung wegen. Doch Gnade wird selten bei einem Christen gefunden«, fügte er hinzu, wie einer, der von weither spricht. Der Rektor wandte sich ihm zu und streckte die Hände aus.

»Der Himmel vergebe mir meine Herzenshärte,« sagte er; »ich bin grausam gewesen. Ich habe in meiner Bedrängnis grausam gesprochen. Ach, können Sie nichts sagen, um Ihr Verbrechen zu erklären?«

»Nein. Ich glaube nicht, daß ich dadurch etwas gutmachen könnte. Wenn ich versuchte, alle Schuld zu leugnen, so würden Sie nur denken, ich lüge; obgleich ich meine Unschuld beweisen könnte, ist mein Ruf, meine Laufbahn, meine ganze Zukunft für immer vernichtet. Doch wollen Sie mir für kurze Zeit Gehör schenken? Ich will Ihnen ein wenig von mir erzählen.«

Der Rektor setzte sich. Der junge Priester erzählte die Geschichte seines Lebens. Er saß am Kamin, sein Kinn ruhte auf den gefalteten Händen.

»Ich war in einer großen Gemeindeschule, wie Sie wissen. Immer war ich von anderen Knaben verschieden. Um ihre Spiele kümmerte ich mich nicht, nahm wenig Anteil an jenen Dingen, die Knaben gewöhnlich so stark beschäftigen. Ich war nicht sehr glücklich in meiner Jugend, glaube ich. Mein einziges Bestreben war, das Ideal zu finden, nach dem ich mich sehnte. Stets ist es so gewesen. Ich trug immer eine dunkle Sehnsucht in mir nach etwas, einem unbestimmten Etwas, das niemals völlig sich gestaltete, das ganz zu erkennen ich niemals fähig war. Mein größter Wunsch ist immer gewesen, etwas zu finden, das meine Sehnsucht stillte. Die Sünde zog mich plötzlich an, meine ganze Jugend ist befleckt und beschmutzt mit dem Makel der Sünde. Doch zuweilen denke ich, daß es Sünden gibt, schöner als alles in der Welt, Laster, die fast unwiderstehlich jeden anziehen, der Schönheit über alles hebt. Ich habe immer nach Liebe gesucht. Wieder und wieder bin ich Opfer von Ausbrüchen leidenschaftlicher Neigungen geworden. Von Zeit zu Zeit schien es, als habe ich endlich mein Ideal gefunden. Das Ziel meines Lebens ist gewesen, jemandes Liebe zu gewinnen. Zuweilen waren meine Bemühungen erfolgreich; doch ich erwachte nur, um wertlos zu finden, was ich errang. Wenn ich die Beute ergriffen hatte, verlor sie all ihre Anziehung, und ich kümmerte mich nicht länger um etwas, das ich vorher von ganzem Herzen ersehnte. Vergebens bemühte ich mich, das Verlangen meines Herzens mit niedrigen Vergnügungen und Lastern zu betäuben, wie sie gewöhnlich die Jugend verlocken.

Ich mußte einen Beruf wählen. Ich wurde Priester. Die ganze Schönheitssehnsucht meiner Seele wurde heftig angezogen durch die wundervollen Mysterien des Christentums, die künstlerische Schönheit unserer Gottesdienste. Seit meiner Weihe war ich bestrebt, mich selbst zu betrügen in dem Glauben, daß endlich Ruhe gekommen, endlich mein Verlangen befriedigt sei, doch vergebens. Unaufhörlich habe ich mit den alten wollüstigen Begierden gerungen, und vor allem mit dem müden, unablässigen Durste nach vollkommener Liebe. Ich fand und finde noch ein Entzücken in der Religion: nicht in den regelmäßigen Pflichten religiösen Lebens, nicht in dem gewöhnlichen Ablauf der Amtshandlungen des Priesters, diesen bin ich von je abgeneigt; mein Entzücken beruht auf der künstlerischen Schönheit unserer Gottesdienste, der ekstatischen Hingebung, dem leidenschaftlichen Eifer, der eintritt bei langem Fasten und Betrachten.«

»Haben sie keinen Trost im Gebet gefunden?« fragte der Rektor.

»Trost? — nie. Aber Wonne, Erregung, fast das wilde Entzücken der Sünde fand ich im Gebet.«

»Sie hätten nicht Priester werden sollen, dann hätten Sie heiraten können. Das, denke ich, würde Sie gerettet haben.«

Ronald Heatherington erhob sich und legte die Hand auf des Rektors Arm. »Sie verstehen mich nicht. Niemals in meinem Leben hat eine Frau mich gereizt. Können Sie nicht sehen, daß die Menschen verschieden, völlig verschieden von einander sind? Es ist unmöglich zu denken, wir alle seien gleich; unsere Naturen, unsere Temperamente sind durchaus ungleich. Aber das wollen die Menschen niemals sehen. Sie bauen ihre Meinungen auf einer falschen Grundlage auf. Wie können ihre Schlüsse richtig sein, wenn ihre Voraussetzungen falsch sind? Eine Bestimmung, die von der Mehrheit derer festgelegt ist, welche zufällig gleicher Sinne sind, verpflichtet die Minderheit nur gesetzlich, nicht moralisch. Welches Recht haben Sie oder irgend jemand, mir zu sagen, diese und jene Handlung sei sündig für mich? Oh, warum kann ich Ihnen das nicht erklären, warum kann ich Sie nicht zwingen, zu sehen?« und sein Griff preßte des anderen Arm. Dann fuhr er ernst und fest fort:

»Für mich, für meine Natur würde es Sünde sein, wenn ich geheiratet hätte: es würde ein Verbrechen gewesen sein, eine große Unsittlichkeit, und mein Gewissen würde sich empört haben.« Dann fügte er bitter hinzu: »Gewissen sollte jener göttliche Naturtrieb sein, der uns heißt, unseren natürlichen Anlagen nachzufolgen, das haben wir vergessen. Für die Meisten von uns, für die Welt vielmehr, sogar im allgemeinen für Christen ist Gewissen nur ein anderer Name für die Feigheit, die da fürchtet, dem Herkömmlichen zu trotzen. Verflucht sei dieses Herkommen! Ich habe kein moralisches Vergehen solcher Art verübt; vor Gott ist meine Seele schuldlos; für Sie jedoch und die Welt bin ich eines abscheulichen Verbrechens schuldig, abscheulich, weil es Sünde ist gegen das Herkömmliche. Ich fand diesen Knaben. Ich liebte ihn, wie ich niemals vorher jemanden oder etwas geliebt habe. Ich brauchte nicht um seine Neigung zu werben, er war in Wahrheit mein. Von Anfang an liebte er mich wie ich ihn. Er war die notwendige Ergänzung meiner Seele. Wie darf die Welt sich erdreisten, uns zu richten? Was ist uns das Herkömmliche? Obgleich ich wahrhaftig weiß, daß solch eine Liebe schön und rein ist, obgleich ich vom Grunde meines Herzens aus das niedrige Urteil der Menschen verachte, versuchte ich zuerst, Widerstand zu leisten, nur zu seinem Heil und zum Heil unserer Kirche. Ich kämpfte gegen die Bezauberung, die er auf mich ausübte. Niemals würde ich zu ihm gegangen sein und ihn um seine Liebe gebeten haben; bis zum Ende würde ich gekämpft haben. Aber was konnte ich tun? Er war es, der zu mir kam und mir den Reichtum seiner edlen Seele bot. Wie konnte ich ihm das häßliche Bild zeigen, das die Welt malt? So wie Sie ihn diesen Abend sahen, ist er Nacht für Nacht zu mir gekommen; wie durfte ich die süße Reinheit seiner Seele zerstören, durch Andeutung des fürchterlichen Argwohns, den seine Gegenwart hätte erwecken können? Ich wußte, was ich tat. Ich habe der Welt Trotz geboten und mich gegen sie aufgelehnt. Ich habe offen über ihre Vorschriften gespottet. Ich bitte Sie nicht, Mitleid mit mir zu haben, noch bettele ich, daß Sie Ihrer Hand wehren. Ihre Augen sind blind durch einen lügnerischen Star. Sie sind gefesselt, gefesselt durch jene elenden Bande, die Ihren Leib und Ihre Seele von der Wiege an gebunden hielten. Sie müssen tun, was Ihre Pflicht gebietet. In Gottes Augen sind wir Märtyrer, und wir sollten selbst vor dem Tode nicht zurückschrecken in diesem Kampfe gegen die abgötterische Anbetung des Herkömmlichen.«

Ronald Heatherington sank in den Sessel und verbarg sein Gesicht in den Händen.

Der Rektor verließ schweigend den Raum.

Einige Minuten hielt der junge Priester sein Gesicht begraben.

Dann erhob er sich mit einem Seufzer und durchschritt den Garten, bis er vor seines Lieblings offenem Fenster stand.

»Wilfred«, rief er sehr leise.

Das liebliche Antlitz, bleich und mit Tränen benetzt, erschien am Fenster. »Ich bedarf deiner, mein Liebling; willst du kommen?« flüsterte er. »Ja, Vater.«

Der Priester trug ihn in sein Zimmer zurück, schloß ihn sanft in die Arme; er versuchte, die kalten kleinen Füße zu erwärmen.

»Mein Liebling, alles ist dahin.«

Und er erzählte ihm, so schonend er vermochte, was ihnen bevorstand. Der Knabe verbarg das Gesicht an seiner Schulter und schluchzte leise. »Was kann ich tun, lieber Vater?« Für einen Augenblick schwieg er. »Ja, du kannst für mich sterben; du kannst mit mir sterben.«

Die liebenden Arme umschlangen noch einmal seinen Hals, und die warmen Lippen küßten die seinen. »Alles will ich für Sie tun. Oh laß uns zusammen sterben.«

»Ja mein Knabe, es ist besser so.« Ruhig und zärtlich bereitete er den Knaben zum Tode vor; er hörte seine letzte Beichte und gab ihm die letzte Absolution. Sie knieten Hand in Hand vor dem Kruzifix nieder.

»Bete für mich, mein Liebling.«

Still sandten sie ihre Gebete hinauf, daß der Herrgott Mitleid haben möge für den Priester, der gefallen war im furchtbaren Lebenskampfe.

Bis Mitternacht knieten sie dort, dann nahm Ronald den Knaben in die Arme und trug ihn in die Kapelle.

»Ich will eine Messe lesen für die Ruhe unserer Seelen,« sagte er.

Über sein Nachtgewand zog der Knabe den scharlachfarbenen Priesterrock mit Stickerei und Spitzen, bedeckte die nackten Füße mit den geweihten Schuhen; er zündete die Kerzen an und half ehrerbietig dem Priester, sich zu bekleiden.

Bevor sie die Sakristei verließen, nahm der Priester ihn in seine Arme und zog ihn fest an die Brust. Er streichelte das weiche Haar und flüsterte ihm ermunternd zu. Der Knabe weinte still, seine schlanke Gestalt zitterte unter Schluchzen, das er kaum unterdrücken konnte.

Nach kurzer Zeit beruhigte ihn die zärtliche Umarmung, und er erhob den schönen Mund zu dem des Priesters.

Ihre Lippen fanden sich und ihre Arme umfingen einander eng.

»Oh mein Knabe, mein einziger süßer Liebling«, flüsterte der Priester zärtlich. »Bald werden wir für immer zusammen sein.« »Dann soll uns niemand mehr trennen,« sagte das Kind.

»Ja, es ist besser so; weit besser, im Tode vereint, als getrennt im Leben.« In der schweigenden Nacht knieten sie vor dem Altar, während der Schimmer der Kerzen die Gesichtszüge des Gekreuzigten in seltsamer Deutlichkeit aufleuchten ließ.

Niemals hatte des Priesters Stimme in so wundervollem Ernst gezittert, niemals hatte der Knabe mit solcher Ergebenheit geantwortet, wie bei dieser mitternächtigen Messe für den Frieden ihrer eigenen scheidenden Seelen.

Vor der Einsegnung nahm der Priester ein winziges Fläschchen aus der Tasche seines Gewandes, segnete es und schüttete den Inhalt in den Kelch.

Als er den Kelch nehmen mußte, setzte er ihn an die Lippen, doch er trank nicht.

Er reichte dem Kind die geweihte Hostie, dann nahm er den schönen goldenen, mit kostbaren Steinen besetzten Kelch zur Hand und wandte sich dem Knaben zu; doch als er das Leuchten in dem schönen Antlitz sah, kehrte er sich ab zu dem Kruzifix und stöhnte leise.

Für kurze Zeit verließ ihn sein Mut, doch dann neigte er sich zu dem Knaben und bot seinen Lippen den Kelch.

»Das Blut unseres Herrn Jesu Christi, das für dich vergossen wurde, bewahre deinen Leib und deine Seele zu ewigem Leben.«

Niemals hatte der Priester so reine Liebe, solch vollkommenes Vertrauen in den lieben Augen erblickt, wie jetzt aus ihnen strahlte, jetzt, da er mit erhobenem Antlitz den Tod empfing aus den Händen dessen, den er am meisten in der Welt liebte.

Als er getrunken hatte, fiel Ronald neben ihm auf die Knie und leerte den Kelch bis zur Neige; setzte ihn nieder und schlang seine Arme um die Gestalt seines geliebten Meßnerknaben.

Die Lippen fanden sich in einem letzten Kuß vollkommener Liebe, und alles war vorüber.

Da die Sonne am Himmel emporstieg, sandte sie einen breiten Strahl auf den Altar der kleinen Kapelle.

Die kaum zur Hälfte abgebrannten Kerzen leuchteten noch.

Die traurig blickende Gestalt am Kreuz hing in majestätischer Ruhe. An den Stufen des Altars war die hagere, asketische Gestalt des jungen Priesters ausgestreckt, in die geheiligten Gewänder gekleidet; dicht bei ihm, das lockige Haupt auf die prächtigen Stickereien gebettet, die seine Brust bedeckten, lag der Knabe in Scharlach und Spitzen. Ihre Arme hielten einander umschlungen; seltsame Stille lag wie ein Grabtuch über allem.

»Und wer über diesen Stein fällt, der soll zerbrochen werden, aber auf wen er fällt, den soll er zu Staub zermalmen.«

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