Vierzehntes Kapitel.


Vierzehntes Kapitel.

Paul wird immer altmodischer und geht nach Hause in die Ferien.

Beim Nahen der Sommerferien zeigten sich keine besonderen Kundgebungen von Freude unter den bleiäugigen jungen Gentlemen, die in Doktor Blimbers Haus versammelt waren; denn ein ungestümer Ausbruch von Wonne hätte sich durchaus nicht für eine so feine Anstalt geschickt. Die jungen Gentlemen fuhren jeder halbjährlich in ihre Heimat; von einem eigentlichen Aufbrechen dahin war keine Rede, denn eine solche Tätigkeit würden sie geringschätzig von sich abgelehnt haben.

Tozer, der beharrlich durch eine steife weiße Halsbinde gequält wurde – er trug diese lästige Beigabe auf den ausdrücklichen Wunsch der Mrs. Tozer, seiner Mutter, die ihn für die Kirche bestimmt hatte und der Meinung war, er könne diese vorbereitende Stufe nicht zu früh beginnen – Tozer meinte sogar, wenn man ihm zwischen zwei Übeln die Wahl ließe, würde er lieber bleiben, wo er wäre, als nach Hause gehen. Diese Erklärung war jedenfalls sehr aufrichtig, wie sehr sie auch im Widerspruch war mit einem Aufsatz Tozers über diesen Gegenstand, in dem er bemerkt hatte, »die Gedanken an die Heimat und alle Erinnerungen weckten in ihm die angenehmsten Empfindungen der Wonne und des Glücks;« ja er hatte sich, um ein passendes Bild einflechten zu können, mit einem römischen General verglichen, der in triumphierendem Taumel über eine kürzliche sternchenland.com Besiegung der Izener oder beladen mit der karthagischen Beute nur noch wenige Stunden von dem Kapitol stand. Es hatte nämlich den Anschein, als besäße Tozer einen schrecklichen Onkel, der ihn während der Ferien nicht nur über dunkle Punkte examinierte, sondern auch unschuldige Anlässe und Dinge mit einflocht, um sie zu demselben schnöden Zwecke an den Haaren herbeizuziehen. Wenn ihn z.B. sein Onkel in ein Schauspiel oder unter einem ähnlichen Vorwand des Wohlwollens zu einem Riesen, Zwerg, Taschenspieler oder sonst wohin mitnahm, so wußte Tozer im voraus, der alte Gentleman habe über den beabsichtigten Gegenstand irgendeine klassische Anspielung gelesen, und geriet dabei in wahre Todesangst, weil er nicht vorauswissen konnte, wo die Sache losbrechen oder welche Autorität gegen ihn zitiert würde. Was Briggs betraf, so bediente sich sein Vater keiner derartigen Kunstgriffe, sondern erklärte ihm zu allen Stunden und bei jeder Gelegenheit das Gewehr. Ja, diese geistigen Prüfungen waren während der Ferienzeit für diesen unglücklichen Menschen so zahlreich und grausam, daß die Freunde der Familie, die damals in der Nähe von Bayswater bei London wohnte, sich selten jenem künstlich angelegten Teiche in den Kensington-Gärten näherten, ohne sich der Besorgnis hinzugeben, sie würden den Hut des Master Briggs auf dem Spiegel des Wassers schwimmen und eine unvollendete Aufgabe an dem Ufer liegen sehen. Briggs war daher in betreff der Ferien durchaus nicht sanguinisch; und diese beiden Schlafkameraden des kleinen Paul waren so schöne Proben von der Gemütsstimmung der jungen Gentlemen im allgemeinen, daß auch die schwungkräftigsten darunter der Annäherung solcher festlichen Perioden mit gelassener Resignation entgegensahen.

Ganz anders verhielt sich’s bei dem kleinen Paul. Das Ende dieser ersten Ferienzeit sollte ihn von Florence trennen; aber wer denkt je an das Ende von Ferien, die noch nicht begonnen haben? Paul gewiß nicht. Mit dem Näherkommen dieser glücklichen Zeit wurden die Löwen und Tiger, die an den Schlafkammerwänden hinaufkletterten, ganz zahm und lustig. Die grimmigen schiefen Gesichter in dem eingelegten Stubenboden erschienen milder und guckten mit weniger boshaften Augen heraus. Die ernste alte Wanduhr legte in die Weise ihrer Frage mehr persönliches Interesse, und die rastlose See rollte die ganze Nacht durch unter wehmütigen, aber doch angenehmen Lauten, als wollte sie durch das Spiel ihrer Wellen ihn in Schlaf wiegen.

Auch Mr. Feeder, B.A.,schien sich auf die Ferien recht sehr zu freuen, und Mr. Toots entwarf sich von dieser Periode an einen Plan zu lauter Festtagen. Er pflegte nämlich Paul regelmäßig jeden Tag mitzuteilen, dies sei sein letztes halbes Jahr, das er bei Doktor Blimber zubringe, und dann werde er ohne weiteres in den Genuß seines Vermögens eintreten.

Zwischen Paul und Mr. Toots stand es vollkommen fest, daß sie, ungeachtet des Abstandes der Jahre und der Stellung sehr innige Freunde waren. Wie nun die Ferien näher heranrückten und Mr. sternchenland.com Toots, so oft er in Pauls Gesellschaft kam, schwerer atmete und die Augen weiter aufriß, las Paul darin ein Leid darüber, daß sie sich so bald aus dem Gesicht verlieren sollten, und war ihm für seine Gönnerschaft und gute Meinung dankbar.

Ebenso war es für Doktor Blimber, Mrs. Blimber und Miß Blimber sowohl als für die jungen Gentlemen im allgemeinen kein Geheimnis, daß Toots sich in irgendeiner Weise selbst zum Beschützer und Vormund von Paul aufgeworfen habe, und der Umstand war sogar für Mrs. Pipchin so notorisch, daß die gute alte Dame eine bittere Eifersucht gegen Toots fühlte, weshalb sie ihn auch in dem Heiligtum ihres Heimwesens wiederholt als einen dickköpfigen Einfaltspinsel bezeichnete. Der nichts ahnende Toots dagegen hatte ebensowenig eine Idee davon, daß er Mrs. Pipchins Groll geweckt haben könnte, als er überhaupt an irgendeine andere bestimmte Möglichkeit oder Folgerung dachte. Im Gegenteil, er war geneigt, sie in dem Lichte eines ziemlich merkwürdigen Charakters zu betrachten, der viele interessante Punkte darbot. Aus diesem Grunde lächelte er ihr mit großer Leutseligkeit zu und fragte sie bei Gelegenheit ihrer kleinen Besuche bei Paul so oft, wie sie sich befinde, daß sie ihm zuletzt eines Abends unverhohlen erklärte, sie sei an dergleichen nicht gewöhnt, was er auch von ihr denken möge; sie könne und wolle es nun einmal nicht dulden, weder von ihm noch von irgendeinem anderen Gecken in der Welt. Über diese unerwartete Erwiderung seiner Höflichkeiten geriet Mr. Toots so in Schrecken, daß er sich, bis sie fort war, in einen abgeschiedenen Platz verkroch und sein Gesicht nie wieder blicken ließ, wenn sich die mannhafte Mrs. Pipchin unter Doktor Blimbers Dache zeigte.

Es waren noch zwei oder drei Wochen bis zum Beginn der Ferien, als eines Tages Miß Cornelia Blimber Paul in ihr Zimmer berief und zu ihm sagte:

»Dombey, ich bin im Begriff, deinem Vater deine Analysis zu schicken.«

»Danke Euch, Ma’am«, versetzte Paul.

»Du weißt doch, was ich damit sagen will, Dombey?« fragte Miß Blimber, indem sie den Knaben scharf durch ihre Brille ins Auge faßte.

»Nein, Ma’am«, entgegnete Paul.

»Dombey, Dombey«, sagte Miß Blimber, »ich fange an, zu fürchten, daß du ein kläglicher Knabe bist. Wenn du den Sinn eines Ausdrucks nicht verstehst, warum verlangst du nicht Belehrung darüber?«

»Mrs. Pipchin sagte mir, ich solle keine Fragen stellen«, erwiderte Paul.

»Ich muß dich bitten, Dombey, mich ja nicht Mrs. Pipchin gegenüber zu erwähnen«, sagte Miß Blimber. »Ich kann dies durchaus nicht gestatten. Der Studienplan in unserer Anstalt verträgt sich ganz und gar nicht mit etwas der Art. Eine Wiederholung solcher Anspielungen würde mich nötigen, dir aufzuerlegen, sternchenland.com daß du morgen früh vor dem Frühstück vom verbum personale an bis hinab zum simillima cigno den ganzen Abschnitt ohne Anstoß auswendig hersagst.«

»Das habe ich nicht wollen, Ma’am«, begann der kleine Paul.

»Ich muß dich bitten, mich nicht mit dem zu behelligen, was du nicht meinst, Dombey«, versetzte Miß Blimber, die in ihren Ermahnungen stets eine ehrfurchtgebietende Feinheit beobachtete. »Dies wäre eine Art von Erwiderung, an deren Zulassung ich nicht im Traume denken möchte.«

Paul hielt es für das Geratenste, gar nichts mehr zu sagen, und blickte deshalb nur zu Miß Blimbers Brille auf. Nachdem diese dann gravitätisch den Kopf geschüttelt hatte, deutete sie auf ein vor ihr liegendes Papier.

»›Analysis des Charakters von P. Dombey‹. Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt«, fügte Miß Blimber abbrechend hinzu, »so wird das Wort Analysis im Gegensatz von Synthesis von Walker also definiert: ›die Auflösung eines Objekts, mag dies nun ein solches für die Sinne oder den Verstand sein, in seine ersten Elemente‹. Du bemerkst – im Gegensatz zur Synthesis. Jetzt weißt du, was Analysis ist, Dombey?«

Es hatte den Anschein, als sei Dombey nicht absolut geblendet von dem Licht, das seinem Geiste vorgeführt wurde; er machte daher vor Miß Blimber eine kleine Verbeugung.

»›Analysis‹, nahm Miß Blimber wieder auf, indem sie ihre Blicke über das Papier gleiten ließ, »›des Charakters von P. Dombey. Ich finde, daß die natürlichen Anlagen Dombeys ungemein gut sind, und daß im allgemeinen seine Geneigtheit zum Studium in gleicher Weise prädiziert werden kann. Nehmen wir nun acht als unsere höchste und erforderliche Nummer an, so stellt es sich heraus, daß Dombeys derartige Qualifikationen je mit 6 ¾ bezeichnet werden dürften‹.«

Miß Blimber hielt inne, um zu sehen, wie Paul diese Neuigkeit aufnahm. Da der Knabe nun nicht wußte, ob unter sechs drei Viertel, sechs Pfund fünfzehn Schillinge, oder sechs Pence und drei Farthings, vielleicht auch sechs Fuß drei Zoll, drei Viertel über sechs Uhr, oder sechs andere Dinge nebst drei Bruchteilen darüber, von denen er noch nichts gehört hatte, gemeint waren, so rieb er sich die Hände und schaute Miß Blimber gerade ins Gesicht. Zufälligerweise stimmte dies ebenso gut als irgend etwas anderes, was er hätte sagen können, und Cornelia fuhr fort.

»›Gewalttätigkeit – zwei. Selbstsucht – zwei. Vorliebe für gemeine Gesellschaft, wie sich im Falle einer Person namens Glubb herausgestellt hat – ursprünglich sieben, seitdem aber gemindert. Gentlemanisches Benehmen – vier, sich bessernd mit fortschreitenden Jahren‹. Worauf ich nun aber zuvörderst deine Aufmerksamkeit lenken möchte, Dombey, dies ist der allgemeine Überblick am Schluß dieser Analysis.«

Paul schickte sich an, demselben mit großer Sorgfalt zu folgen. sternchenland.com »Im allgemeinen kann von Dombey bemerkt werden,« sprach Miß Blimber, mit lauter Stimme vorlesend und nach jedem zweiten Wort ihre Brille auf die kleine Gestalt vor ihr richtend, »daß seine Fähigkeiten und Neigungen gut sind, er außerdem auch so viele Fortschritte gemacht hat, als den Umständen nach nur von ihm erwartet werden konnte. Indes ist zu beklagen, daß dieser junge Gentleman in seinem Charakter und Benehmen eine Eigentümlichkeit hat, die man gewöhnlich altmodisch nennt – daß er oft ganz und gar nicht ist wie andere junge Gentlemen seines Alters und seiner gesellschaftlichen Stellung, ohne sich übrigens etwas dabei zu Schulden kommen zu lassen, was entschieden eine Rüge verdiente. »Nun, Dombey«, fügte Miß Blimber bei, indem sie das Papier niederlegte, »verstehst du dies?«

»Ich glaube, Ma’am«, sagte Paul.

»Du siehst, Dombey«, fuhr Miß Blimber fort, »diese Analysis soll an deinen wertgeschätzten Vater geschickt werden. Es wird ihm natürlich sehr schmerzlich fallen, wenn er finden muß, daß du so absonderlich in deinem Charakter und Benehmen bist. Auch uns wird es, wie sich begreifen läßt, zu einem peinlichen Gefühl, denn du siehst selbst ein, Dombey, daß wir dich um dieses Umstandes willen nicht so lieben können, wie wir gern möchten.«

Sie faßte hier den Knaben an einem verfänglichen Punkte, denn in seinem Innern war es, da die Zeit der Abreise herannahte, mit jedem Tage mehr sein angelegentliches Verlangen gewesen, daß alle im Hause ihn lieben möchten. Aus irgendeinem geheimen Grunde, den er – wenn überhaupt – nur unvollkommen verstand, fühlte er eine allmählich sich steigernde Zuneigung fast für jeden Gegenstand und für alle Personen seiner Umgebung, Er konnte den Gedanken nicht ertragen, daß man gleichgültig gegen ihn sein könnte, wenn er weg wäre, und sehnte sich deshalb danach, man möchte ihn in freundlicher Erinnerung behalten. Ja, er hatte sich’s sogar zur Aufgabe gemacht, einen großen, wilden, zottigen Hund, der an der Hinterseite des Hauses an einer Kette lag und früher der Schrecken seines Lebens gewesen war, so für sich zu gewinnen, daß das Tier ihn vermissen möchte, wenn er nicht länger da wäre. Wenig daran denkend, daß er hierin aufs neue nur wieder den Unterschied zwischen sich und seinen Kameraden zeigte, machte der arme kleine Paul Miß Blimber Vorstellungen, so gut er konnte, und bat sie, daß sie, ungeachtet der offiziellen Analysis, die Güte haben möchte, es doch zu versuchen, ob sie ihn nicht lieben könne. Da eben Mrs. Blimber kam, so stellte er an diese Dame dasselbe Gesuch, und als sie sich sogar in seiner Gegenwart nicht enthalten konnte, ihrer oft wiederholten Ansicht Worte zu leihen und zu erklären, daß er ein merkwürdiges Kind sei, entgegnete Paul, er sei überzeugt, daß sie hierin vollkommen recht habe; er wisse es freilich nicht, und er glaube, es müsse in ihm liegen, aber eben deshalb hoffe er, sie werde es übersehen, denn er habe sie alle so lieb.

»So lieb natürlich nicht«, fuhr Paul mit einer Mischung von sternchenland.com Schüchternheit und unverhohlenem Freimut fort, die zu den eigentümlichsten und gewinnendsten Eigenschaften des Kindes gehörten – »so lieb nicht wie Florence, denn dies wäre unmöglich. Dies könnt Ihr gewiß auch nicht erwarten, Ma’am.«

»O, die altmodische kleine Seele!« bemerkte Mrs. Blimber im Flüstertone.

»Aber ich liebe jedermann hier recht sehr«, fuhr Paul fort, »und es würde mir leid tun, wenn ich bei meinem Weggehen denken müßte, es sei irgend jemand froh, daß ich fort sei, oder es kümmerte sich niemand um mich.«

Mrs. Blimber kam nicht recht mit sich ins klare, ob Paul nicht das seltsamste Kind von der Welt sei, und als sie dem Doktor den Vorfall mitteilte, wußte dieser der Ansicht der Gattin nichts entgegenzuhalten. Er bemerkte übrigens, wie schon bei einer früheren Gelegenheit, als Paul zum erstenmal ins Haus kam, das Studium werde viel tun, weshalb er denn auch jetzt seiner Tochter den Rat gab, sie solle nur rasch vorwärts mit ihm zu kommen suchen.

Cornelia hatte freilich schon alles aufgeboten, was in ihren Kräften lag, und dadurch Pauls Leben bitterlich vergällt. Aber abgesehen davon, daß der Knabe sich alle Mühe gab, seine Aufgaben zu erlernen, hatte er sich doch auch noch ein anderes Ziel gesteckt, an dem er eifrig festhielt. Er war ein sanftes, anstelliges, ruhiges Bürschlein, das sich stets Mühe gab, sich die Liebe und Anhänglichkeit seiner Umgebung zu erringen, und obgleich man ihn oft auf seinem alten Posten an der Treppe oder an seinem einsamen Fenster sah, wo er die Wellen und Wolken beobachtete, so fand man ihn doch noch öfter unter den übrigen Knaben, denen er in aller Bescheidenheit manche freiwillige kleine Dienste leistete. So kam es denn, daß selbst unter diesen starren, vom Studium in Anspruch genommenen jungen Anachoreten, die sich unter Doktor Blimbers Dach abquälten, Paul ein Gegenstand allgemeinen Interesses war – ein gebrechliches kleines Spielzeug, das man insgesamt gern hatte, und das niemand rauh behandelt haben würde. Aber sie konnten weder Pauls Wesen ändern, noch seine Analysis umschreiben, und so waren alle darin einig, daß der kleine Dombey ein altmodischer Knabe sei.

Indes knüpften sich an diesen Charakter manche Vorrechte, deren sich niemand anders erfreute. Man hätte weit eher ein neumodisches Kind missen können, und dies allein war schon viel. Wenn an Abenden, ehe man zu Bett ging, die übrigen sich nur vor Doktor Blimber und seiner Familie verbeugten, pflegte Paul sein Händchen auszustrecken und es sowohl dem Doktor, als auch Mrs. Blimber und Cornelia hinzureichen. Handelte sich’s darum, von jemand eine Strafe durch Fürbitte abzuwenden, so war Paul stets der Abgesandte. Sogar der blödsichtige junge Mann hatte sich einmal mit ihm beraten, als es eine Ungeschicklichkeit in betreff von Glas und Porzellan zu vermitteln gab, und man trug sich mit dem unbestimmten Gerücht, daß selbst der Aufwärter ihm eine Geneigtheit erweise, sternchenland.com wie dieser finstere Mann sie nie zuvor gegen einen sterblichen Knaben an den Tag gelegt hatte, indem er zuweilen in sein Tischbier etwas Porter mischte, um ihm mehr zu Kräften zu verhelfen.

Außer diesen sehr umfangreichen Privilegien erfreute sich Paul noch des Rechtes, frei in Mr. Feeders Zimmer treten zu dürfen, aus dem er Mr. Toots zweimal in die Luft hinausgeführt hatte, weil dieser Gentleman infolge eines unglücklichen Versuchs, eine sehr starke Zigarre zu rauchen, fast ohnmächtig geworden war. Diese Zigarre war ein Exemplar aus einem Bündel, das Mr. Toots am Ufer heimlich einem verzweifelten Schmuggler abgekauft hatte, der ihm selbst im Vertrauen mitteilte, daß von der Zollbehörde zweihundert Pfund, tot oder lebendig, auf seinen Kopf gesetzt seien. Mr. Feeders Zimmer war klein, und in einem Alkoven nebenan stand das Bett des Lehrgehilfen. Über dem Kamin hing eine Flöte, die Mr. Feeder noch nicht spielen konnte, obschon er, wie er sagte, im Begriffe war, sie nächstens zu lernen. Man sah auch einige Bücher und eine Angelrute, denn Mr. Feeder versicherte, er werde sich’s sicherlich angelegen sein lassen, fischen zu lernen, sobald er Zeit dazu finde. In ähnlicher Absicht hatte sich Mr. Feeder auch ein schönes kleines Klapphorn aus zweiter Hand angeschafft – ferner ein Schachbrett mit Figuren, eine spanische Grammatik, Zeichenmaterial und ein Paar Boxhandschuhe. Die Kunst der Selbstverteidigung, meinte Mr. Feeder, müsse er sich ohne Zweifel zunächst zu eigen machen; dies sei die Pflicht eines jeden Mannes, da sie leicht dazu Anlaß gebe, zum Schutze für ein bedrängtes Frauenzimmer einzustehen.

Das Hauptbesitztum des Mr. Feeder bestand jedoch in einer großen grünen Flasche mit Schnupftabak, die Mr. Toots beim Schlusse der letzten Ferien als Geschenk mitgebracht und für die er einen hohen Preis bezahlt hatte, weil sie versichertermaßen früher im Besitz des Prinz-Regenten gewesen war. Zwar konnte weder Mr. Toots noch Mr. Feeder von diesem oder irgendeinem andern Schnupftabak, selbst in den winzigsten Dosen, Gebrauch machen, ohne von einem wahren Nieskrampfe befallen zu werden, aber dennoch machte es ihnen großes Vergnügen, eine Dosis mit kaltem Tee anzufeuchten, die Masse auf einem Pergamentstreifen mit der Papierschere durchzukneten und hin und wieder etwas davon zu konsumieren. Während sie so ihre Nasen vollstopften, ertrugen sie die erstaunlichsten Plagen mit der Beharrlichkeit von Märtyrern, und wenn sie in Zwischenräumen Tafelbier dazu tranken, empfanden sie an sich alle die Herrlichkeit üppiger Verschwendung.

Für den kleinen Paul, der oft stumm in ihrer Gesellschaft an der Seite seines Hauptgönners Mr. Toots saß, hatten diese Schlemmerstunden einen wahren Zauber, und wenn Mr. Feeder von den dunkeln Mysterien Londons sprach, oder Mr. Toots sich dahin äußerte, daß er in den nächsten Ferien alle Verzweigungen derselben persönlich aufs genaueste beobachten wolle – ja, daß er zu diesem Zwecke bereits Vorkehrungen getroffen habe, um bei zwei alten Jungfern sternchenland.com zu Peckham in die Kost gehen zu können, sah ihn Paul an, als sei er der Held irgendeines Buchs voll von wilden Reise- und andern Abenteuern, und kriegte fast Angst vor einer so mutigen Person.

Eines Abends, als die Ferien nur noch um einige Tage entfernt waren, kam Paul in dieses Zimmer und traf Mr. Feeder, wie dieser eben in einigen gedruckten Schreiben freigelassene Stellen ausfüllte, während einige andere, deren Lücken bereits ergänzt waren, zerstreut umherlagen und von Mr. Toots gefaltet und gesiegelt wurden.

»Ah, bist du’«, Dombey?« – denn die beiden waren stets sehr freundlich gegen ihn und freuten sich, ihn zu sehen. Dann fuhr der Lehrgehilfe fort, indem er einen der Briefe ihm hinwarf: »Wir haben dich auch da, Dombey. Dieses Schreiben gilt dir.«

»Mir, Sir?« fragte Paul.

»Ja, ’s ist deine Einladung«, entgegnete Mr. Feeder.

Paul betrachtete das Papier und fand, mit Ausnahme seines Namens und des Datums, die von Mr. Feeder eingetragen waren, in Kupferdruck, daß Doktor und Mrs. Blimber sich das Vergnügen von Mr. P. Dombeys Gesellschaft zu einer Partie auf Mittwochabend den siebenzehnten gegenwärtigen Monats erbäten; die Stunde sei halb acht Uhr und der Zweck seien Quadrillen. Mr. Toots zeigte ihm dann, indem er einen ähnlichen Bogen Papier entfaltete, daß Doktor und Mrs. Blimber sich auch das Vergnügen von Mr. Toots Gesellschaft zu einer Partie auf Mittwochabend den siebenzehnten gegenwärtigen Monate erbaten: die Stunde gleichfalls um halb acht Uhr und der Zweck wären Quadrillen. Während nun Paul den Tisch überblickte, an dem Mr. Feeder saß, bemerkte er, daß Doktor und Mrs. Blimber zu derselben gentilen Gelegenheit sich nicht nur das Vergnügen der Gesellschaft von Mr. Briggs und Mr. Tozer, sondern auch von einem jeden jungen Gentleman der Anstalt erbaten.

Mr. Feeder teilte ihm sofort zu seiner großen Freude mit, daß auch Florence eingeladen sei. Es handle sich um ein halbjährlich wiederkehrendes Fest, und da mit diesem Tage auch die Ferien beginnen würden, so könne er, wenn er wolle, unmittelbar von dieser Partie aus mit seiner Schwester den Heimweg antreten – eine Mitteilung, die Paul mit großer Freude aufnahm, indem er sagte, daß er sich recht sehr auf die Rückreise freue. Mr. Feeder gab ihm sodann zu verstehen, man erwarte von ihm, er werde Doktor und Mrs. Blimber in einem sehr schönen Handschreiben mitteilen, daß Mr. P. Dombey sich glücklich schätze, wenn er infolge der höflichen Einladung die Ehre haben könne, seine Aufwartung zu machen. Zum Schluß bemerkte der Lehrgehilfe noch weiter, er werde gut tun, in der Nähe des Doktors und der Miß Blimber des festlichen Anlasses nicht zu erwähnen, da die Präliminarien und sämtliche Vorbereitungen nach den Grundsätzen der Klassizität und der seinen Bildung eingeleitet würden; es müsse nämlich den Anschein gewinnen, als hätten einerseits der Doktor und Mrs. Blimber, andererseits aber die jungen Gentlemen in ihren scholastischen Kapazitäten nicht die mindeste Vorstellung von dem, was in Aussicht stehe.

Paul dankte Mr. Feeder für diese Andeutungen, steckte seine Einladung in die Tasche und setzte sich, wie gewöhnlich, neben Mr. Toots auf einen Schemel nieder. Aber Paul fühlte diesen Abend, daß sein Kopf, der ihn schon lange Zeit mehr oder weniger geschmerzt hatte, recht schwer und leidend wurde – so schwer, daß er ihn mit der Hand stützen mußte. Gleichwohl sank er allmählich immer weiter und weiter nieder, bis er auf Mr. Toots‘ Knie zu liegen kam, wo er ruhen blieb, als habe er nicht im Sinn, sich je wieder aufzurichten.

Dies war nun gerade kein Grund, warum er taub sein mußte; indes mochte es doch, wie er meinte, bei ihm so weit gekommen sein, denn er vernahm endlich, wie ihm Mr. Feeder in die Ohren rief und ihn leicht schüttelte, um seine Aufmerksamkeit zu wecken. Und als er ganz verschüchtert den Kopf erhob und umherschaute, fand er, daß sich Doktor Blimber im Zimmer befand, das Fenster offen stand und seine Stirne von zum Besprengen gebrauchtem Wasser feucht war, obschon er sich durchaus nicht denken konnte, wie all dies ohne sein Wissen vor sich gegangen sein sollte.

»Ah! recht so! So ist’s gut! Wie geht es jetzt meinem kleinen Freund?« sagte Doktor Blimber ermutigend.

»O, ganz gut, danke Euch, Sir«, sagte Paul.

Mit dem Boden schien es übrigens eine eigentümliche Bewandtnis zu haben, denn Paul konnte nicht fest darauf stehen, und etwas Ähnliches mußte mit den Wänden der Fall sein, denn sie hatten Lust, stets sich im Kreise zu drehen, und konnten nur dann festgehalten werden, wenn er recht scharf darnach hinsah. Mr. Toots‘ Kopf sah aus, als sei er mit einem Male viel größer geworden und befinde sich in einem weit größeren Abstand als sonst, und als dieser Gentleman Paul auf seine Arme nahm, um ihn die Treppe hinaufzutragen, bemerkte der Knabe mit großem Erstaunen, daß sich die Tür an einem ganz anderen Platz befand, als er sie zu finden erwartete, ja, es kam ihm anfangs vor, als gehe Mr. Toots mit ihm geradeswegs den Schornstein hinauf.

Es war von Mr. Toots sehr freundlich, daß er Paul mit so viel Zartheit nach dem oberen Teile des Hauses hinauftrug, und der Kleine drückte ihm seine Anerkennung aus. Mr. Toots aber sagte, er würde gern noch viel mehr für ihn tun, wenn er könnte, und tat es auch, indem er Paul auskleiden half, ihn aufs liebevollste zu Bett brachte und dann unter vielem Kichern neben dem Lager Platz nahm. Mr. Feeder, B. A., dagegen lehnte sich über die untere Seite der Bettstelle weg, strich mit seinen knöchernen Händen die kleinen Borsten seines Kopfes bolzgerade, als habe er Lust, nun alles wieder recht sei, mit großer Wissenschaftlichkeit und als echter Kampfhahn gegen Paul anzurennen. Dies war so ungemein spaßhaft und obendrein so freundlich von Mr. Feeder, daß Paul, der nicht recht mit sich ins klare kommen konnte, ob er über ihn lachen oder weinen sollte, lieber beides zugleich tat.

Wie sodann Mr. Toots hinwegging und Mr. Feeder sich in Mrs. Pipchin umwandelte, – Paul dachte nicht daran, hierüber sternchenland.com eine Frage zu stellen und war durchaus nicht neugierig, es zu erfahren – als er übrigens statt Mr. Feeder Mrs. Pipchin an der Unterseite des Bettes stehen sah, rief er ihr zu:

»O, Mrs. Pipchin, sagt es Florence nicht.«

»Was soll ich Florence nicht sagen, mein kleiner Paul«, fragte Mrs. Pipchin, indem sie um das Bettchen herum ging und sich auf den Stuhl setzte.

»Wie es mit mir steht«, sagte Paul.

»Nein, nein«, entgegnete Mrs. Pipchin.

»Was glaubt Ihr wohl, was ich zu tun gedenke, wenn ich groß bin, Mrs. Pipchin?« sagte Paul, indem er auf seinem Kissen das Antlitz gegen sie kehrte und das Kinn auf seinen gefalteten Händchen ruhen ließ.

Mrs. Pipchin konnte es nicht erraten.

»Ich habe im Sinne«, fuhr Paul fort, »all mein Geld miteinander in eine einzige Bank zu legen. Ich werde nie versuchen, noch mehr zu kriegen, sondern will mit meiner lieben Florence aufs Land ziehen, mir einen schönen Garten mit Feldern und Wäldern anschaffen und dort mein ganzes Leben mit ihr zubringen.«

»Wirklich?« rief Mrs. Pipchin.

»Ja«, sagte Paul, »So will ich’s halten, wenn ich –«

Er hielt inne und sann einen Augenblick nach.

Mrs. Pipchins graues Auge forschte in seinem sinnigen Gesicht.

»Wenn ich groß bin«, sagte Paul.

Dann fuhr er fort, Mrs. Pipchin von der Abendpartie, von Florences Einladung und von der Freude zu erzählen, die es ihm machen werde, Zeuge der Bewunderung zu sein, die alle die Knaben für sie fühlen müßten; sie seien auch so freundlich gegen ihn, liebten ihn, und er liebe sie gleichfalls – ein Verhältnis, über das er recht froh sei. Auch von der Analysis wußte er zu erzählen: er sei freilich ein altmodischer Knabe, möchte aber doch auch Mrs. Pipchins Ansicht darüber hören, – ob sie nämlich nicht wisse, warum es so sei und was man darunter verstehen müsse. Mrs. Pipchin leugnete, um sich der Schwierigkeit auf die kürzeste Weise zu entwinden, die Tatsache geradezu ab: Paul war jedoch mit dieser Antwort durchaus nicht zufrieden und sah Mrs. Pipchin, um ihr eine wahrere Antwort abzuringen, so spähend an, daß sie aufstehen und zum Fenster hinaussehen mußte, um seine Augen zu vermeiden.

Es gab einen gewissen zuverlässigen Apotheker, der, wenn einer von den jungen Gentlemen krank war, die Anstalt ärztlich zu beraten pflegte, und auch dieser geriet – Gott weiß wie – in das Zimmer, um sich neben Mrs. Blimber an dem Bett aufzustellen. Paul hatte wenigstens nicht die mindeste Idee davon, wie sie hereingekommen und wie lange sie dagewesen waren: als er sie aber sah, richtete er sich in seinem Bett auf, beantwortete sämtliche Fragen des Apothekers ausführlich und flüsterte ihm zu, Florence dürfe um alles in der Welt nichts davon erfahren, denn er habe sich’s in den Kopf sternchenland.com gesetzt, daß sie sich bei der Abendgesellschaft einfinden müsse. Er plauderte viel mit dem Apotheker und sie schieden als die besten Freunde: als er sich jedoch mit geschlossenen Augen wieder niederlegte, hörte er außerhalb des Zimmers und in weiter Entfernung den Apotheker sagen – oder träumte er nur davon –, es handle sich um einen Mangel an vitalen Kräften (Paul hätte gar gern wissen mögen, was dieser Ausdruck zu bedeuten habe) und um eine große konstitutionelle Schwäche. Da der Kleine darauf erpicht sei, am siebenzehnten sich von seinen Schulkameraden zu verabschieden, so könne man ihm wohl den Willen lassen, falls es bis dahin nicht schlimmer mit ihm werde. Er sei froh, von Mrs. Pipchin zu erfahren, daß der Knabe am achtzehnten zu seinen Freunden nach London abreise. Sobald er in der Sache klarer sehe, wolle er noch vor Beginn der Ferien an Mr. Dombey schreiben. Es sei kein unmittelbarer Grund vorhanden, zu – was? Dieses Wort war Paul entgangen. Das Bürschlein habe ein recht liebes Gemüt, sei aber gleichwohl ein altmodischer Knabe.

Welche alte Mode mochte man wohl damit im Auge haben? Paul wunderte sich darüber mit klopfendem Herzen. Sie mußte ihm wohl sehr deutlich aufgedrückt sein, weil sie von so vielen Leuten bemerkt wurde.

Er konnte jedoch in der Sache nicht ins klare kommen und mochte sich auch nicht lange damit abmühen. Mr«. Pipchin befand sich wieder an seinem Bett, wenn sie sich überhaupt je davon entfernt hatte. Er meinte zwar, sie sei mit dem Doktor weggegangen, aber dies war vielleicht bloß ein Traum gewesen. Kurz, sie nahm in geheimnisvoller Weise eine Flasche und ein Glas in die Hand und schenkte den Inhalt für ihn ein. Sodann genoß er eine wirklich gute Brühe, die ihm Mrs. Blimber selbst gebracht hatte, und er fühlte sich so wohl nachher, daß Mrs. Pipchin, seinen dringenden Bitten entsprechend, nach Hause ging und Mrs. Briggs und Tozer heraufkamen, um sich zu Bett zu legen. Der arme Briggs räsonierte schrecklich über seine eigene Analysis, die ihn kaum mehr hätte dekomponieren können, wenn sie ein wirklicher chemischer Prozeß gewesen wäre: indes benahm er sich sehr freundlich gegen Paul, und Tozer, wie auch alle übrigen, taten das gleiche, denn von den jungen Gentlemen schaute vor dem Schlafengehen einer nach dem andern herein und fragte, wie es Dombey jetzt gehe – er solle nur wohlgemut sein, und dergleichen. Nachdem Briggs in die Federn gekrochen war, blieb er noch lange Zeit wach liegen und lamentierte in einem fort über seine Analysis, indem er sagte, »er wisse wohl, sie sei durchaus falsch, und man hätte einen Mörder nicht schlechter analysieren können – wie es wohl Doktor Blimber gefallen würde, wenn er wisse, daß sein Taschengeld davon abhänge. Es sei sehr leicht, meinte Briggs, einen Knaben für ein halbes Jahr zum Galeerensklaven zu machen und ihn dann als einen Müßiggänger anzuschwärzen – zweimal in der Woche ihn um sein Mittagessen zu verkürzen und ihn dann als einen Fresser zu bezeichnen. So etwas«, sternchenland.com sagte er, »könne man sich unmöglich gefallen lassen«, und dann ging es noch geraume Zeit mit Ach und O fort.

Ehe der blödsichtige junge Mensch am nächsten Morgen die Metallplatte ertönen ließ, kam er zu Paul herauf und teilte ihm mit, daß er liegen bleiben dürfe, worüber Paul sehr froh war. Mrs. Pipchin besuchte ihn eine Weile vor dem Apotheker, und bald nachher kam die gute junge Frauensperson, die Paul an jenem ersten Morgen – wie lang schien ihm dies nicht her zu sein! – beim Reinigen des Ofens getroffen hatte. Sie brachte ihm sein Frühstück. Es fand wieder in weiter Entfernung eine abermalige Konsultation statt – wenn es nicht anders ein Traum unseres Paul war, und dann kam der Apotheker mit dem Doktor und Mrs. Blimber zurück.

»Ich denke, Doktor Blimber«, sagte er, »wir können diesen jungen Gentleman jetzt seiner Bücher entbinden, da ohnehin die Ferien nahe sind.«

»Ich habe durchaus nichts dagegen einzuwenden«, versetzte Doktor Blimber. »Meine Liebe, willst du die Güte haben, Cornelia davon zu unterrichten.«

»Soll geschehen«, entgegnete Mrs. Blimber.

Der Apotheker beugte sich nieder, betrachtete sorgfältig Pauls Augen, befühlte seinen Kopf, seinen Puls, sein Herz und tat alles dies mit so viel Teilnahme, daß Paul zu ihm sagte:

»Ich danke Euch, Sir.«

»Unser kleiner Freund hat nie über etwas geklagt.«

»Ich glaube es wohl«, versetzte der Apotheker. »Man durfte es auch nicht erwarten.«

»Ihr findet ihn viel besser?« fragte Doktor Blimber.

»O ja: er ist viel besser, Sir«, erwiderte der Apotheker.

Paul begann in der ihm eigentümlichen, seltsamen Weise sich Gedanken darüber zu machen, was wohl in jenem Augenblick den Sinn des Apothekers beschäftigen mochte; denn er sah so bedenklich aus, als er Doktor Blimbers beide Fragen beantwortete. Der Apotheker begegnete jedoch den Blicken seines kleinen Patienten, als sie eben diesen geistigen Spürgang antreten wollten, und ging aus seiner Zerstreutheit augenblicklich in ein heiteres Lächeln über, das Paul erwiderte, indem er seine früheren Gedanken darüber aufgab.

Den ganzen Tag lag er schlummernd und träumend in seinem Bett, während Mr. Toots nicht von seiner Seite wich: am nächsten aber stand Paul auf und ging die Treppe hinunter. Siehe da, es mußte etwas mit der großen Wanduhr vorgegangen sein, denn ein Mechanikus, der auf einem Trippel stand, hatte das Zifferblatt heruntergenommen und tastete bei dem Licht einer Kerze mit seinen Instrumenten in dem Werk herum. Dies war ein großes Ereignis für Paul, der sich auf der untersten Treppe niedergesetzt hatte und der Operation aufmerksam zusah. Hin und wieder schaute er nach dem Zifferblatt hin, das schräg an der Wand lehnte, und es wurde ihm ganz angst dabei, denn es kam ihm vor, als ob es ihn mit großen Augen angucke. Der Mechanikus auf dem Trippel war sehr höflich sternchenland.com und fragte, als er Pauls ansichtig wurde: »Wie geht’s dir?« Paul ließ sich in eine Unterhaltung mit ihm ein und erzählte ihm, daß er in letzter Zeit nicht ganz wohl gewesen sei. Nachdem das Eis in dieser Weise gebrochen war, stellte Paul eine Menge Fragen über Glockentöne und Uhren: ob wohl des Nachts Leute in den einsamen Kirchtürmen wachten und schlagen ließen, wie die Glocken läuteten, wenn Leute sterben, und ob es andere Glocken für Hochzeiten gebe, oder ob die ersteren nur in der Einbildung der Lebenden so unheimlich tönten. Als er fand, daß sein neuer Bekannter in betreff der Feuerlöschglocke alter Zeiten nicht sehr gut unterrichtet war, erteilte er ihm Auskunft darüber und fragte ihn auch als einen Praktiker über seine Gedanken von der Idee des Königs Alfred, der die Zeit durch Verbrennen von Kerzen messen wollte. Der Mechaniker meinte, wenn etwas der Art wieder aufkäme, so glaube er, daß das ganze Uhren-Handwerk darüber zugrunde gehen müßte. Und so sah Paul zu, bis die Uhr endlich wieder ihr gewöhnliches Aussehen gewonnen hatte und abermals ihre ruhige Frage aufnehmen konnte. Dann legte der Mechanikus sein Werkzeug in einen großen Korb, wünschte ihm guten Tag und entfernte sich – aber nicht eher, bis er auf der Türmatte dem Bedienten einige Worte zugeflüstert hatte, in denen der Ausdruck »altmodisch« vorkam. Paul hatte denselben ausdrücklich verstanden.

Was mochte wohl das »altmodisch« sein, das die Leute so zu bekümmern schien? Worin konnte es liegen?

Da er jetzt nicht mehr zu lernen hatte, machte er sich häufig Gedanken darüber, obschon nicht so oft, als vielleicht der Fall gewesen wäre, wenn er weniger zu denken gehabt hätte. Stoff dazu gab es übrigens in reicher Menge, und er sann stets den ganzen Tag vor sich hin.

Einmal sollte Florence zu der Abendgesellschaft kommen. Seine Schwester sah dann, wie die Knaben ihn liebten, und dies mußte sie glücklich machen. Hierin fand er ein ergiebiges Thema. Hatte Florence einmal die Überzeugung gewonnen, daß sie sich sanft und gütig gegen ihn benahmen, ja, daß er bei allen so beliebt war, so konnte sie stete an die Zeit denken, die er hier zugebracht hatte, ohne sich sehr darüber zu grämen. Florence war vielleicht dann glücklicher, wenn er wieder zurückkam.

Wenn er wieder zurückkam! Wohl fünfzigmal des Tages glitt sein lautloser kleiner Fuß die Treppe hinauf nach seinem kleinen Stübchen, wo er jedes Buch, jeden Streifen Papier, jede Kleinigkeit, die ihm zugehörte, sammelte, um alles mit nach Haus nehmen zu können. An dem kleinen Paul bemerkte man keinen Schatten, daß er ans Zurückkommen denke; keine Vorbereitungen, keine andere Beziehung darauf war aus allem, was er dachte oder tat, zu entnehmen, als die einzige kleine, die mit seiner Schwester in Verbindung stand. Im Gegenteil, wenn er in seiner beschaulichen Stimmung im Hause umherwandelte, gab ihm alles, was ihm bekannt war, so viel Stoff zum Nachdenken, als schiede er davon für immer – und der sternchenland.com Gegenstände waren in der Tat so viele, daß sie ihn den ganzen Tag über in Anspruch nahmen.

Er mußte in die Stübchen droben hineinsehen und dachte sich dabei, wie einsam sie sein würden, wenn er fort sei; auch hätte er wohl wissen mögen, wie viele stumme Tage, Wochen, Monate und Jahre sie fortfahren würden, ebenso ernst und ruhig auszusehen. Er stellte Betrachtungen darüber an, ob wohl je ein anderes Kind, altmodisch, wie er selbst, zu irgendeiner Zeit darin herumgehen würde – ein Kind, dem sich dieselben wilden Verzerrungen der Tapeten und des Möbelwerks vergegenwärtigten: und ob wohl jemand diesem Knaben vom kleinen Dombey erzählen werde, der einmal hier gewesen.

Ferner trugen sich seine Gedanken mit einem Porträt im obern Stock, das ihm, wenn er wegging und über seine Schultern zurücksah, immer ernst nachblickte und stets nur ihn, nicht aber irgendeinen seiner Kameraden anzuschauen schien, wenn er in Gesellschaft mit andern daran vorbeikam. Dann nahm ihn auch ein Kupferstich sehr in Anspruch, der an einem andern Platze hing: im Mittelpunkt einer verwunderten Gruppe stand eine Figur, die er kannte – eine Figur mit einem Schein um den Kopf, wohlwollend, mild und barmherzig – sie stand da und deutete mit der Hand aufwärts.

An dem Fenster seines Schlafgemachs mischten sich mit diesen noch viele andere Gedanken: sie kamen einer um den andern, wie die rollenden Wellen. Wo lebten wohl die wilden Vögel, die stets auf der See draußen ob den aufgeregten Wogen schwebten; wo stiegen die Wolken auf und wo fingen sie an: woher kam der Wind in seinem rauschenden Flug und wo machte er halt: konnte wohl die Stelle, wo er und Florence so oft gesessen, diesen Dingen zugesehen und darüber gesprochen hatten, in ihrer Abwesenheit gerade so sein, wie sie stets war; konnte sie Florence so vorkommen, wenn er sich an einem andern Orte befand und sie allein dort saß?

Dann kamen ihm Gedanken an Mr. Toots, an Mr. Feeder, B. A., an alle die Knaben, an Doktor Blimber und an Miß Blimber, an die Heimat, an seine Tante und Miß Tox, an seinen Vater Dombey und Sohn, an Walter mit dem armen, alten Onkel, der das Geld erhalten hatte, das er brauchte, und an den Kapitän mit der eisernen Hand und der rauhen Stimme. Außerdem hatte er im Laufe des Tages eine Menge kleiner Visiten zu machen – im Schulzimmer, in dem Studierstübchen des Doktors Blimber, in dem Privatgemach der Mrs. Blimber, bei Miß Blimber und bei dem Hund. Denn er hatte jetzt das ganze Haus frei für sich und konnte darin umherstreifen, wie er wollte. Da er nun wünschte, von jedermann in Liebe zu scheiden, so schenkte er allem in der ihm eigentümlichen Art seine Aufmerksamkeit. Bisweilen suchte er klassische Stellen auf für Briggs, der sie nie finden konnte, zu andern Zeiten schlug er für die jungen Gentlemen, die sich nicht zu helfen wußten, Wörter in den Diktionären nach: ein andermal verrichtete er für Mrs. Blimber das Amt eines Garnhaspels, wieder einmal ordnete er Cornelias Pult, sternchenland.com und bisweilen schlich er sogar in das Studierzimmer des Doktors, wo er sich neben den gelehrten Füßen auf den Teppich setzte und sachte die Globusse drehte, so daß er auf der ganzen Erde herumkam oder einen Flug über die entlegensten Sterne hin machte.

In den Tagen unmittelbar vor den Ferien – mit einem Worte, als die andern jungen Gentlemen darauf losarbeiteten, als gälte es ihr Leben, um die Studien des ganzen halben Jahres zu repetieren, war Paul ein so privilegierter Zögling, wie sich nie zuvor einer im Hause aufgehalten hatte. Er konnte kaum seinen Sinnen glauben; aber seine Freiheit dauerte von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag, und der kleine Dombey wurde von jedermann geliebkost, Doktor Blimber nahm so viel Rücksicht auf ihn, daß er eines Tages Johnson aufforderte, er solle sich von der Speisetafel entfernen, weil er ihn unbedachtsamerweise als den »armen kleinen Dombey« angeredet hatte. Dies schien nun freilich unserem Paul ziemlich hart und streng, obschon er für den Augenblick errötet war und sich wunderte, warum wohl John ihn bemitleiden mochte. Diese Handhabung der Gerechtigkeit kam ihm um so bedenklicher vor, weil er abends zuvor mit eigenen Ohren gehört hatte, daß derselbe Doktor in eine Behauptung der Miß Blimber, der arme, liebe, kleine Dombey werde altmodischer als je, eingestimmt hatte. Jetzt fing denn Paul auch an zu glauben, das Altmodische müsse darin bestehen, wenn man sehr schmächtig sei, leicht müde werde und bald Lust zeige, sich irgendwo niederzulegen und auszuruhen: denn daß diese Gewohnheiten mit jedem Tag mehr und mehr bei ihm überhand nahmen, mußte er sich selbst eingestehen.

Endlich kam der Tag heran, an dem die Abendpartie stattfinden sollte, und Doktor Blimber sagte beim Frühstück: »Gentlemen, am fünfundzwanzigsten des nächsten Monats wollen wir unsere Studien wieder aufnehmen,« Mr. Toots warf nun augenblicklich seine Vasallenschaft ab, steckte seinen Ring an den Finger, und als er kurz nachher im Gespräch des Doktors Erwähnung tat, sprach er von ihm nur als von »Blimber«. Dieses freie Benehmen erfüllte die übrigen Zöglinge mit Bewunderung und Neid: die jugendlicheren Gemüter aber entsetzten sich darob und schienen sich nicht genug wundern zu können, daß kein Blitzstrahl niederfuhr und ihn zerschmetterte.

Weder beim Frühstück noch beim Mittagessen wurde die Abendfeierlichkeit auch nur im mindesten berührt: aber den ganzen Tag über herrschte durch das Haus ein unruhiges Getümmel, und im Lauf seiner Spaziergänge machte Paul Bekanntschaft mit unterschiedlichen fremden Bänken und Leuchtern: auch bemerkte er eine Harfe, die in einem grünen Überrock auf dem Flur neben der Tür des Salons lehnte. Bei dem Mittagessen zeigte der Kopf von Mrs. Blimber etwas Absonderliches, als sei das Haar allzu knapp zusammengedreht worden, und obgleich Miß Blimber auf jeder Seite der Schläfe eine zierliche Lage gescheitelten Haares zeigte, schien sie doch ihre kleinen Locken darunter in Papier und noch obendrein in einen Komödienzettel gewickelt zu haben; denn Paul las: »königliches sternchenland.com Theater« über dem einen, und »Brighton« über dem andern ihrer funkelnden Brillengläser.

Als der Abend herannahte, sah man in den Schlafzimmern der jungen Gentlemen eine reiche Schaustellung von weißen Westen und Halsbinden: auch verbreitete sich ein so widerlicher Geruch von versengtem Haar, daß Doktor Blimber durch den Bedienten sein Kompliment vermelden und die Erkundigung anstellen ließ, ob etwa das Haus in Brand geraten sei. Es war übrigens nur der Haarkünstler, der die jungen Gentlemen bediente und in dem Eifer des Geschäfts die Zange allzu heiß gemacht hatte.

Nachdem Paul angekleidet war – hierzu hatte man nicht lange gebraucht, denn er fühlte sich unwohl und schläfrig, so daß er außerstande war, viel an sich machen zu lassen – ging er nach dem Salon hinunter, wo er Doktor Blimber in voller Gala, aber in würdevoller und ungezwungener Haltung, als halte er es für rein unmöglich, daß nachgerade eine oder die andere Person hereintreten könnte, auf und ab spazierte. Bald nachher erschien Mrs. Blimber, die, wie es Paul vorkam, sehr lieblich aussah; sie hatte eine solche Unzahl von Röcken an, daß es eigentlich zu einer Aufgabe wurde, um sie herum zu gehen. Nach der Mama erschien Miß Blimber, zwar etwas zerdrückt in ihrem Äußern, aber doch sehr bezaubernd.

Die nächsten waren Mr. Tools und Mr. Feeder, von denen jeder den Hut in der Hand hatte, wie wenn er nicht im Hause wohnte, und als sie von dem Aufwärter angemeldet wurden, sagte Doktor Blimber: »So, so – dies ist ja sehr schön!« und schien außerordentlich erfreut zu sein, sie zu sehen. Mr. Tools funkelte von Geschmeide und Knöpfen, auch schien er dies selbst in so hohem Grade zu fühlen, daß er, nachdem er dem Doktor die Hand gereicht und sich gegen Mrs. Blimber und Miß Blimber verbeugt hatte, Paul beiseite nahm und ihn fragte:

»Was sagst du zu alledem, Dombey?«

Aber trotz dieses bescheidenen Selbstvertrauens schien doch Mr. Tools sehr darüber im unklaren zu sein, ob es überhaupt vernünftig sei, den untersten Knopf seiner Weste zuzumachen, oder ob er nach ruhiger Erwägung aller Umstände seine Manschetten zurück- oder niedergeschlagen tragen solle. Als er bemerkte, daß Mr. Feeder die seinigen in der ersteren Weise behandelt hatte, so folgte er dessen Beispiel: der nächste Ankömmling aber hatte die seinigen hängend, und dies war Grund genug für Mr. Toots, sich danach zu richten. Die Unterschiede im Punkte des Zuknöpfens der Weste nicht nur unten, sondern auch oben, wurden, je nachdem mehr und mehr Personen anlangten, so zahlreich und verwickelt, daß Mr. Toots unaufhörlich an diesem Anzugsartikel fingerte, als habe er ein Instrument zu spielen, und man sah ihm deutlich an, daß ihn die fortwährende Abänderung ganz aus der Fassung brachte.

Nachdem die jungen Gentlemen in ihren steifen Krawatten, gebrannten Locken, Tanzschuhen und ihren besten Hüten in den Händen zu verschiedenen Zeiten angekündigt und hineingeführt worden waren, sternchenland.com erschien endlich auch Mr. Baps, der Tanzlehrer, in Begleitung von Mrs. Baps, gegen die sich Mrs. Blimber besonders wohlwollend und herablassend benahm. Mr. Baps war ein sehr ernster Gentleman von langsamer und abgemessener Redeweise; auch hatte er noch keine fünf Minuten unter der Lampe gestanden, als er sich an Mr. Toots, der stumm seine Tanzschuhe mit den eignen verglichen hatte, wendete und ihn fragte, was er wohl mit dem Rohmaterial anfange, wenn es für ausgelegtes gutes Gold in die Häfen komme. Mr. Toots, den die Frage zu verwirren schien, entgegnete, er würde es »kochen«; aber Mr. Baps machte darauf eine Miene, die andeutete, daß dies wohl nicht angehen würde.

Paul glitt nun von der gepolsterten Sofaecke, die bisher sein Beobachtungsposten gewesen, herunter und begab sich in das Teezimmer hinab, um gleich beim Eintritt Florence begrüßen zu können, die er fast vierzehn Tage nicht gesehen hatte. Doktor Blimber hatte ihn nämlich am letzten Sonnabend und Sonntag zu Hause behalten, damit er sich nicht erkälte. Sie ließ nicht lange auf sich warten und sah in ihrem einfachen Ballkleide mit den frischen Blumen in der Hand so schön aus, daß er es kaum über sich gewinnen konnte, sie wieder loszulassen und sich von ihren funkelnden liebevollen Augen abzuwenden, als sie vor dem Bruder niederkniete, seinen Hals umschlang und ihn küßte; denn es war niemand zugegen, als seine Freundin und ein anderes junges Mädchen, der man das Servieren des Tees übertragen hatte.

»Aber was ist dir, Floy?« fragte Paul, denn er glaubte, in ihren Augen eine Träne glänzen zu sehen.

»Nichts, mein Herz, nichts«, entgegnete Florence.

Paul berührte ihre Wangen sanft mit einem Finger, und es war wirklich eine Träne!

»Warum, Floy?« fragte er.

»Wir gehen jetzt miteinander nach Hause, und ich werde dich pflegen«, versetzte Florence.

»Mich pflegen?« wiederholte Paul.

Paul konnte nicht begreifen, was dies damit zu schaffen haben konnte, – ebensowenig, warum die beiden jungen Mädchen ihn mit so ernster Miene ansahen, oder warum Florence für einen Augenblick ihr Antlitz abwandte und es dann wieder, von einem Lächeln erhellt, ihm zukehrte.

»Floy«, sagte Paul, indem er eine Locke ihres dunkeln Haares in seiner Hand hielt, »sage mir aufrichtig, Liebe, bist auch du der Meinung, daß ich altmodisch geworden sei?«

Seine Schwester lachte, streichelte ihn und antwortete mit einem Nein.

»Ich weiß aber, daß die Leute so sagen«, entgegnete Paul, »und ich möchte wissen, was sie damit meinen, Floy.«

An der Tür ließ sich jetzt ein lauter Doppelschlag vernehmen, und Florence eilte nach dem Tisch, so daß dieser Gegenstand nicht weiter erörtert werden konnte. Paul verwunderte sich abermals, sternchenland.com als er bemerkte, daß seine Freundin Florence zuflüsterte, wie wenn sie dieselbe trösten wollte; aber die nun anlangenden Gäste brachten ihn bald wieder auf andere Gedanken.

Sie bestanden aus Sir Barnet Skettles, Lady Skettles und Master Skettles. Master Skettles sollte nach den Ferien in die Anstalt eintreten, und in Mr. Feeders Zimmer war die Fama bereits in Beziehung auf dessen Vater tätig gewesen; denn Mr. Feeder hatte von letzterem gesagt, wenn er einmal den Sprecher ins Auge fasse – man erwartete schon drei oder vier Jahre lang, daß er dies tun werde – könne man im voraus darauf zählen, daß er die Radikalen schlimm mitnehme.

»Was ist z.B. dies für ein Zimmer?« fragte Lady Skettles Pauls Freundin Melia.

»Doktor Blimbers Studierzimmer, Ma’am«, lautete die Antwort.

Lady Skettles nahm durch ihr Glas eine panoramische Musterung vor und sagte mit beifälligem Nicken zu Sir Barnet Skettles:

»Sehr gut.«

Sir Barnet pflichtete bei, aber Master Skettles machte augenscheinlich eine bedenkliche, zweifelhafte Miene.

»Und dieses kleine Wesen da«, sagte Lady Skettles, sich zu Paul wendend – »ist er einer von den –«

»Jungen Gentlemen, Ma’am? Ja, Ma’am«, entgegnete Pauls Freundin.

»Und wie heißt du, blasses Kind?« fragte Lady Skettles. »Dombey«, antwortete Paul.

Nun ergriff Sir Barnet Skettles das Wort und sagte, er habe das Vergnügen gehabt, Pauls Vater bei einem öffentlichen Diner zu treffen – er hoffe, daß sich derselbe wohl befinde. Dann hörte ihn Paul zu Lady Skettles sagen: »City – sehr reich – höchst respektabel – der Doktor hat davon gesprochen.« Hierauf fuhr er gegen Paul fort:

»Willst du die Güte haben, deinem Papa zu sagen, daß Sir Barnet hocherfreut sei, von seinem Wohlbefinden Kunde erhalten zu haben, und daß er ihm seine besten Komplimente sende?«

»Ja, Sir«, antwortete Paul.

»Schön, mein wackerer Junge«, sagte Sir Barnet Skettles. »Barnet«, fügte er gegen Master Skettles gewendet hinzu, der sich für die künftigen Studien an dem Pflaumenkuchen rächte, »dies ist ein junger Gentleman, den du kennenlernen mußt. Dies ist ein junger Gentleman, Barnet, dessen Bekanntschaft du machen darfst«, schloß Sir Barnet Skettles, auf seine Erlaubnis einen großen Nachdruck legend.

»Welche Augen! Welches Haar! Welch ein liebliches Gesicht!« rief Lady Skettles in sanftem Tone, als sie Florence durch ihr Glas betrachtete.

»Meine Schwester«, sagte Paul, indem er sie vorstellte.

Die Freude der Skettlese war nun vollständig. Und da Lady Skettles sich dies beim eisten Augenblick gedacht hatte, weil sie Paul sternchenland.com so gar ähnlich sehe, so gingen sie miteinander die Treppe hinauf. Sir Barnet Skettles nahm Florence unter seine Obhut, und der junge Skettles folgte.

Nachdem sie den Salon erreicht hatten, blieb der junge Barnet nicht länger im Hintergrund, denn Doktor Blimber hatte ihn sogleich veranlaßt, daß er mit Florence tanzte. Wie es Paul vorkam, schien er nicht besonders froh, sondern war im Gegenteil etwas störrisch und achtete nicht viel darauf, was er trieb; da aber der kleine Dombey Lady Skettles, während sie mit ihrem Fächer den Takt schlug, zu Mrs. Blimber sagen hörte, ihr lieber Knabe sei sichtlich in diesen Engel von einem Kind, in die Miß Dombey, sterblich verliebt, so mußte sich Skettles junior wohl in einem Glücksrausch befinden, ohne etwas davon merken zu lassen.

Dem kleinen Paul fiel es als merkwürdig auf, daß niemand seinen Sitz auf den Polstern eingenommen hatte, und daß, als er wieder ins Zimmer kam, alle ihm für den Rückweg Platz machten, sich daran erinnernd, daß es der seine sei. Auch trat niemand vor ihn hin, als man bemerkte, daß er Florence so gern tanzen sah, sondern der Raum vor ihm blieb ganz frei, so daß er ihr stets mit seinen Augen folgen konnte. Auch die Fremden, von denen bald viele eintrafen, benahmen sich sehr gütig gegen ihn, denn sie kamen häufig zu ihm, redeten ihn an und fragten ihn, wie er sich befinde, ob ihn der Kopf schmerze, und ob er müde sei. Für alle diese Aufmerksamkeiten fühlte er sich sehr verpflichtet, und er blieb, Mrs. Blimber und Lady Skettles auf dem gleichen Sofa neben sich, in seiner Ecke sitzen, während Florence, so oft sie einen Tanz beendigt hatte, eine Weile an seiner Seite Platz nahm. Bei solchen Gelegenheiten drückte sich das Gefühl des inneren Glücks auf seinem Gesichtchen aus.

Florence würde den ganzen Abend nicht von seiner Seite gewichen sein und aus eigenem Antrieb gar nicht getanzt haben; aber Paul bewog sie dazu, indem er ihr sagte, wie sehr es ihn freue, sie tanzen zu sehen. Auch hatte er hierin vollkommen die Wahrheit gesprochen, denn sein kleines Herz klopfte schneller, und sein Gesicht glühte, als er bemerkte, wie sie von allen bewundert wurde, und wie sie die einzige schöne Rosenknospe des Zimmers war.

Von seinem Nest in den Kissen aus konnte Paul fast alles, was vorging, sehen und hören, als ob das Ganze nur auf seine Unterhaltung berechnet sei. Unter andern kleinen Vorfällen bemerkte er, daß sich der Tanzmeister Mr. Baps mit Sir Barnet Skettles in ein Gespräch einließ und an denselben bald die gleiche Frage wie an Mr. Toots stellte, was er nämlich mit dem Rohmaterial anfinge, wenn es für gute Zahlung in Gold nach den Häfen gelange. Dies klang für Paul so geheimnisvoll, daß er gar zu gern gewußt hätte, was damit zu geschehen habe. Sir Barnet Skettles jedoch hatte auf diese Frage gar viel zu erwidern, wenngleich es nicht den Anschein hatte, als ob sie dadurch zur Lösung kommen sollte, denn Mr. Baps entgegnete:

»Ja, aber gesetzt der Fall, Rußland träte mit seinem Talg dazwischen?« sternchenland.com Dies brachte Sir Barnet fast zum Verstummen, denn er konnte darauf bloß den Kopf schütteln und sagen: »Ja nun, dann müssen wir uns eben auf unsere Baumwolle werfen.«

Sir Barnet Skettles sah Mr. Baps nach, wie dieser sich entfernte, um Mrs. Baps aufzuheitern, die, ganz verlassen dastehend, tat, als mustere sie das Notenheft des Gentleman, der die Harfe spielte. Augenscheinlich hielt er ihn für einen merkwürdigen Menschen und erklärte dies bald nachher auch dem Doktor, zu dem er sagte, ob er sich wohl die Freiheit nehmen dürfe, zu fragen, wer dieser Herr sei und ob er wohl je in der Handelskammer gesessen habe. Der Doktor antwortete verneinend; er glaube nicht, daß dies der Fall sei, denn er kenne ihn bloß als einen Professor der –

»Einer mit der Statistik verwandten Wissenschaft – ich wollte darauf schwören!« bemerkte Sir Barnet Skettles.

»Dies gerade nicht, Sir Barnet«, versetzte Doktor Blimber, sich das Kinn reibend. »Nein, nicht ganz so.«

»Jedenfalls wollte ich eine Wette darauf eingehen, daß er sich auf Zahlen versteht«, sagte Sir Barnet Skettles.

»Das könnte sein, doch nicht in der Art, wie Ihr meint, Sir«, sagte Doktor Blimber. »Mr. Baps ist ein sehr würdiger Mann, Sir Barnet, und in der Tat nichts anderes, als unser Professor der Tanzkunst.«

Paul war nicht wenig erstaunt, wahrzunehmen, daß diese Mitteilung die Ansicht des Sir Barnet Skettles von Mr. Baps ganz und gar umwandelte, und daß Sir Barnet in eine richtige Wut geriet, und düstere Blicke zu Mr. Baps auf der andern Seite des Zimmers hinüberschoß. Ja, er ging sogar so weit, die Bitterkeit seines Herzens vor Lady Skettles auszuschütten, indem er ihr erzählte, was vorgefallen war, und sich über die unerhörte maßlose Unverschämtheit dieses Menschen ereiferte.

Noch etwas anderes fiel Paul auf. Nachdem nämlich Mr. Feeder etliche Kelche Glühwein zu sich genommen hatte, fing er an, warm zu werden. Der Tanz verlief im allgemeinen sehr formell, und die Musik erinnerte so ziemlich an die in der Kirche; aber nach besagten Kelchen bemerkte Mr. Feeder zu Mr. Toots, daß er nun ein bißchen Feuer in die Sache werfen wolle. Er fing nun nicht nur an zu tanzen, als sei er auf Tanzen erpicht, sondern suchte auch insgeheim die Musik anzuspornen, daß sie lustigere Weisen spiele. Auch wurde er sehr aufmerksam gegen die Damen, und als er mit Miß Blimber tanzte, flüsterte – ich sage flüsterte er ihr zu, obschon nicht so leise, daß nicht für Paul ein Stückchen merkwürdiger Poesie abgefallen wäre:

»Wär‘ treulos auch mein Herz erschaffen.
Euch könnt es kränken sicher nie!«

Dann hörte Paul ferner, wie er dieselben Worte der Reihe nach vor vier jungen Damen wiederholte. Wohl mochte der B.A. Grund haben, zu Mr. Toots zu sagen, er fürchte, er werde es morgen zu büßen haben.

Mrs. Blimber war ob diesem – beziehungsweise gesprochen – abscheulichen Benehmen etwas beunruhigt, namentlich aber ob der Änderung in dem Charakter der Musik, die jetzt Gassenhauer zu spielen begann, denn die Besorgnis lag nahe genug, es könnte dadurch bei Lady Skettles Anstoß erregt werden. Lady Skettles war jedoch so gütig, Mrs. Blimber zu bitten, sie möchte doch der Sache ja nicht erwähnen, und nahm die Erklärung, daß Mr. Feeders Temperament bei solchen Gelegenheiten gerne Sprünge mache, mit der größten Feinheit und Höflichkeit auf; er scheine ihr, sagte sie, für seine Stellung ein recht gebildeter Mensch zu sein, und namentlich gefalle ihr der anspruchslose Schnitt seines Haars, das, wie wir bereits angedeutet haben, ungefähr ein Viertel Zoll lang war.

Als einmal in dem Tanz eine Pause eintrat, bemerkte Lady Skettles zu Paul, er scheine ein großer Freund von Musik zu sein. Paul erwiderte, daß er Musik sehr liebe, und wenn es bei ihr auch der Fall sei, so sollte sie einmal seine Schwester Florence singen hören. Lady Skettles machte nun plötzlich die Wahrnehmung, daß sie vor Begierde fast sterbe, sich dieses Vergnügens zu erfreuen, und obgleich Florence anfangs sehr ängstlich war, als sie aufgefordert wurde, vor so vielen Leuten zu singen, und aufs dringendste um Entschuldigung bat, begab sie sich doch unverweilt an das Piano, als ihr Paul zurief:

»Ich bitte, tu es, Floy – um meinetwillen, Liebe!«

Alle traten nun ein wenig beiseite, um Paul die Aussicht nicht zu versperren, und als er das zarte Wesen allein dort sitzen sah – so jung, so wohlwollend, so schön und so liebevoll gegen ihn – als er hörte, wie ihre von Natur aus so süße Stimme, dieses goldene Kettenglied zwischen ihm und allem Glück, aller Liebe seines Lebens, das Schweigen brach, wandte er sein Gesicht ab, um seine Tränen zu verbergen. Nicht, wie er sagte, als man ihn darüber befragte, weil die Musik zu wehmütig und melancholisch war – nein, weil sie ihm so warm und lieb zu Herzen ging.

Sie alle liebten Florence. Wie hätten sie auch anders können? Paul hatte es voraus gewußt, daß es so kommen werde und müsse; und wie er so in seiner gepolsterten Ecke dasaß, die Hände ruhig gefaltet und das eine Bein leicht untergeschlagen, konnten sich nur wenige eine Vorstellung machen, welche süße Ruhe er empfand, oder welch einen Triumph, welches Entzücken seinen kindlichen Busen schwellte, während er zu ihr hinblickte. Von seiten sämtlicher Knaben klangen verschwenderische Lobpreisungen über »Dombeys Schwester« an sein Ohr, und auf jeder Lippe drückte sich Bewunderung der ruhigen, bescheidenen, kleinen Schönheit aus. Man sprach unaufhörlich von ihrem Verstand, von ihren Talenten, und wie von Sommernachtslüften getragen verbreitete sich ringsher eine Stimmung voll Sympathie für Florence und ihn – eine Stimmung, die beschwichtigend und rührend auf ihn einwirkte.

Er wußte nicht warum; denn alles, was der Knabe jenen Abend bemerkte, fühlte und dachte – Gegenwärtiges und Abwesendes – sternchenland.com was er damals sah und was gewesen war, erschien ihm in dem bunten Farbenspiel des Regenbogens, in dem des Gefieders schöner Vögel, wenn sie von der Sonne beleuchtet werden, oder in dem weichen Lichte des Abendhimmels nach der untergegangenen Sonne. Die vielen Dinge, die in letzter Zeit seinen Geist beschäftigt hatten, schwebten in der Musik an ihm vorbei – nicht als ob sie abermals seine Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen oder ihn je wieder beschäftigen wollten, sondern als Gegenstände, die friedlich vergangen und dahin sind. Ein einsames Fenster, durch das er vor Jahren geschaut hatte, wies hinaus auf einen Ozean, Meilen und Meilen weit; auf seinen Gewässern schlummerten die Phantasien, die ihn erst gestern noch so vielfach beschäftigt hatten, still und ruhig gleich abebbenden Wellen. Dasselbe geheimnisvolle Gemurmel, über das er sich so oft gewundert, wenn er am Gestade auf seinem Ruhebette lag, meinte er noch immer durch den Gesang seiner Schwester, durch das Gesumm der Stimmen und durch die Fußtritte zu hören: er schien teilzuhaben an den Gesichtern, die an ihm vorbeischwebten, und sogar an der schwerfälligen Gentilität des Mr. Toots, der häufig zu ihm kam, um ihm die Hand zu drücken. Er meinte, es zu hören durch das allgemeine Wohlwollen, das ihm zuteil wurde, und selbst der Ruf seines altmodischen Wesens schien damit in Verbindung zu stehen, obschon er nicht wußte, wie. So saß der kleine Paul sinnend, sinnend und horchend, zuschauend und träumend da; er fühlte sich sehr glücklich.

Endlich kam die Zeit zum Abschiednehmen, und nun fand in der Tat unter der Gesellschaft eine große Aufregung statt. Sir Barnet Skettles brachte Skettles junior heran, daß er ihm die Hand reichen solle, und ersuchte ihn, seinem guten Papa unter Vermeidung seiner besten Komplimente zu bemerken, er, Sir Barnet Skettles, habe gesagt, er hoffe, die beiden jungen Gentlemen würden sehr gute Bekannte werden. Lady Skettles küßte ihn, strich ihm das Haar aus der Stirn und hielt ihn in ihren Armen; ja, sogar Mrs. Baps – die arme Mrs. Baps! Paul freute sich darüber – kam von dem Notenheft des harfenspielenden Gentleman herüber und verabschiedete sich von ihm ebenso herzlich wie nur irgend jemand im Zimmer.

»Gott befohlen, Doktor Blimber«, sagte Paul, seine Hände ausstreckend.

»Gott befohlen, mein kleiner Freund«, entgegnete der Doktor.

»Ich danke Euch recht sehr, Sir«, entgegnete Paul, unschuldig zu seinem ehrfurchtgebietenden Gesicht aufblickend. »Habt doch die Güte, zu befehlen, daß man für Diogenes Sorge trage.«

Diogenes war der Hund, der nie zuvor einen Freund in sein Vertrauen aufgenommen hatte. Paul war der erste. Der Doktor gab die Zusage, daß es in Pauls Abwesenheit Diogenes an nichts fehlen solle, und der Knabe dankte abermals dafür, indem er ihm wiederholt die Hand reichte. Dann verabschiedete er sich von Mrs. Blimber und Cornelia mit so herzlich gefühlter Innigkeit, daß erstere von diesem Augenblick an vergaß, Lady Skettles gegenüber des sternchenland.com Ciceros zu erwähnen, obschon sie sich den ganzen Abend mit diesem Vorhaben getragen hatte. Cornelia nahm Pauls beide Hände in die ihrigen und sagte:

»Dombey, Dombey, du bist stets mein liebster Zögling gewesen. Gott behüte dich!«

Und hierin zeigte sich Pauls Ansicht nach, wie leicht man einer Person unrecht tun konnte; denn Miß Blimber war es Ernst mit ihren Worten und sie fühlte tief dabei, obschon sie im übrigen gegen ihre Schüler das Zwangssystem liebte.

Und nun lief unter den jungen Gentlemen das Gemurmel herum, daß Dombey gehe. Dem Ruf »der kleine Dombey tritt den Heimweg an!« folgte ein allgemeiner Aufbruch, Paul und Florence nach in die Halle hinunter, und die ganze Familie Blimber schloß sich dem Zuge an. Solches hatte sich, wie Mr. Feeder laut sagte, soweit seine Erfahrung reichte, nie bei einem früheren jungen Gentleman zugetragen; aber es war zweifelhaft, zu ermitteln, ob sich’s hier um eine nüchterne Tatsache handelte, oder ob die Kelche auch ihren Teil daran hatten. Die Bedientenschaft, der Tafeldecker an der Spitze, hatte insgesamt ein großes Interesse daran, den kleinen Dombey abreisen zu sehen, und sogar der blödsichtige junge Mann, der Pauls Bücher und Effekten in die Kutsche beförderte, die den Knaben und Florence zum Übernachten nach Mrs. Pipchins Wohnung bringen sollte, zerschmolz sichtlich.

Nicht einmal der Einfluß der sanfteren Leidenschaft auf die jungen Gentlemen – und sie alle waren bis auf den letzten herunter in Florence ganz vernarrt – konnte sie abhalten, sich von Paul sehr lärmend zu verabschieden. Sie schwenkten ihm ihre Hüte nach, drängten sich auf ihn zu, um ihm mit dem Rufe »Dombey, vergiß mich nicht!« die Hand zu reichen, und ergingen sich in vielen ähnlichen Ausrufen, wie man sie unter dergleichen jungen Chesterfields nicht oft findet. Als Florence unsern Paul, ehe die Tür geöffnet wurde, besser einhüllte, flüsterte er ihr zu, ob sie dies höre, ob sie es je vergessen werde, und ob sie sich dieser Teilnahme freue. Bei diesen Fragen lag ein Strahl innigen Entzückens in seinen Augen.

Um einen letzten Blick auf seine Bekannten zu werfen, drehte er sich noch einmal um und war nicht wenig erstaunt, zu sehen, wie glänzend, wie zahlreich und wie dicht aneinander gedrängt die Gesichter waren, wie in einem übervollen Theater. Wahrend er so zu ihnen hinschaute, kamen sie ihm vor wie Köpfe in einem schwankenden Spiegel, und im nächsten Augenblick saß er draußen in der dunklen Kutsche, sich fest an Florence anschmiegend. So oft er von dieser Zeit an Doktor Blimbers Anstalt zurückdachte, vergegenwärtigte sich ihm nur dieser letzte Anblick; sie schien ihm nichts Wirkliches mehr zu sein, sondern stets nur ein Traum, voll von Augen.

Indes war dies nicht die allerletzte Beziehung zu Doktor Blimbers Etablissement, sondern es gab auch noch eine andere. Wir meinen Mr. Toots, der unerwarteter Weise eins von den Kutschenfenstern niederließ, hereinsah und mit einem ganz erstaunlichen Kichern fragte: »Ist sternchenland.com sternchenland.com Dombey da?« Dann zog er die Blende unverweilt wieder auf, ohne auf eine Antwort zu warten. Aber auch hiermit ließ es Mr. Toots noch nicht bewenden, denn ehe die Kutsche abfahren konnte, machte er mit dem nämlichen Kichern denselben Prozeß an dem andern Fenster, fragte mit dem gleichen Ton der Stimme: »Ist Dombey da?« und verschwand genau so wie früher.

Wie Florence darüber lachte! Paul erinnerte sich oft daran und konnte sich gleichfalls bei solchen Gelegenheiten des Lachens nicht erwehren.

Aber bald nachher – am nächsten Tage und den folgenden – kam noch viel, dessen sich Paul nur verwirrt entsinnen konnte. Warum er zum Beispiel Tage und Nächte in Pipchins Wohnung blieb, statt nach Hause zu gehen, warum er im Bette lag, während Florence an seiner Seite saß, ob sein Vater im Zimmer gewesen oder ob er nur einen hohen Schatten an der Wand gesehen, ob er seinen Doktor oder irgend jemand anders sagen gehört hatte, er hätte wohl vor Gram dahinschwinden können, wenn man ihn von dem Gegenstand entfernt hätte, auf den er im Verhältnis zu seiner Schwäche seine Sympathien so fest gebaut habe.

Er konnte sich nicht einmal erinnern, ob er oft zu Florence gesagt hatte: »o Floy, nimm mich nach Hause und verlaß mich nie!« meinte aber doch, es müsse so gewesen sein. Bisweilen stellte er sich vor, er habe sich selbst wiederholt die Worte sagen hören: »bring‘ mich nach Hause, Floy – bring‘ mich nach Hause.«

So viel war ihm übrigens im Bewußtsein, daß er nach Hause gekommen und die wohlbekannten Treppen hinaufgetragen worden war, daß eine Kutsche viele Stunden hintereinander gerasselt habe, während er auf dem Sitz saß, und daß bei dieser Gelegenheit Florence nicht von seiner Seite gewichen, während die alte Mrs. Pipchin den Platz ihm gegenüber eingenommen. Er entsann sich auch seines alten Bettes, in das man ihn wieder legte, seiner Tante, Miß Tox und der Susanna Nipper; aber es war auch etwas anderes da – etwas ihm Neues, das ihn sehr verwirrte.

»Seid so gut, mich mit Florence sprechen zu lassen«, sagte er, »Mit Florence allein – nur für einen Augenblick.«

Sie beugte sich zu ihm nieder, und die andern traten zurück.

»Floy, mein Herz, war nicht der Papa in der Halle, als man mich aus der Kutsche herausholte?«

»Ja, mein Lieber.«

»Nicht wahr, er weinte nicht und ging in sein Zimmer, Floy, als er mich herankommen sah?«

Florence schüttelte ihr Köpfchen und drückte ihre Lippen an seine Wangen.

»Ich bin recht froh darüber, daß er nicht weinte«, sagte der kleine Paul. »Es kam mir so vor. Du mußt nicht davon reden, was ich dich gefragt habe.« sternchenland.com

Fünfzehntes Kapitel.


Fünfzehntes Kapitel.

Erstaunliche Verschmitztheit des Kapitän Cuttle und ein neues Geschäft für Walter Gay.

Walter konnte mehrere Tage nicht mit sich ins klare kommen, was er eigentlich zu Barbados zu tun habe, und gab sich sogar der schwachen Hoffnung hin, es dürfte Mr. Dombey nicht Ernst gewesen sein oder er könnte seinen Sinn ändern und ihm sagen, daß er nicht zu gehen brauche. Da sich übrigens nichts ereignete, was dieser schon an und für sich sehr unwahrscheinlichen Vorstellung einen Funken von Bestätigung geben konnte, und außerdem die Zeit, deren er keine zu verlieren hatte, pfeilschnell verging, so fühlte er, daß er handeln mußte und nicht länger zögern durfte.

Die Hauptschwierigkeit bestand darin, wie er die Veränderung seiner Angelegenheiten dem Onkel Sol beibringen sollte, den die Kunde natürlich wie ein schwerer Schlag treffen mußte. Um so unangenehmer wurde ihm die Aufgabe, Onkel Sol mit einer so erschütternden Nachricht zu betrüben, weil derselbe in letzter Zeit viel heiterer und das kleine Hinterstübchen wieder ganz so traulich geworden war wie früher. Die erste Rate seiner Schuld an Mr. Dombey hatte Onkel Sol abbezahlt, und so hoffte er auch getrost mit den übrigen ins reine zu kommen; aber jetzt forderte es die traurige Notwendigkeit, ihn aufs neue elend zu machen, nachdem er sich eben so mannhaft aus seiner Drangsal erhoben hatte.

Keinesfalls ging es an, ihn nur so plötzlich zu verlassen, und er mußte im voraus wissen, wie die Sachen standen; aber wie es ihm beibringen? Dies war die Hauptsache. Was die Frage des Gehens oder Nichtgehens betraf, so glaubte Walter hierin keine eigene Wahl zu haben. Mr. Dombey hatte ihm ganz richtig bemerkt, er sei jung und die Lage seines Onkels nicht die beste; auch hatte sich in dem Blick des Prinzipals, mit dem diese Erinnerung begleitet war, deutlich ausgedrückt, wenn er zu Hause bleiben wolle, so könne er es zwar tun, aber mit der Beschäftigung in dem Kontor von Dombey und Sohn habe es dann ein Ende. Sein Onkel und er hatten gegen Mr. Dombey große Verpflichtungen, die durch Walters eigene Veranlassung herbeigeführt worden war. Vielleicht verzweifelte er schon im geheimen, je die Gunst dieses Gentleman zu gewinnen, und hin und wieder mochten ihm auch Anwandlungen kommen, nicht eben die beste Meinung von seinem Prinzipal zu haben, was kaum recht war. Aber auch ohne die eben erwähnte Verbindlichkeit hatte Walter doch Pflichten gegen ihn oder glaubte sie wenigstens zu haben, und die mußten erfüllt werden.

Als Mr. Dombey ihm bemerkt hatte, er sei jung und die Lage seines Onkels nicht gut, war dies mit einem Ausdruck von Geringschätzung geschehen, die verächtlich darauf hinzudeuten schien, als wolle sich’s Walter in müßigem Leben wohl sein lassen auf Kosten eines herabgekommenen alten Mannes und dieser Wink traf die edle Seele des Jünglings tief. Er war entschlossen, Mr. Dombey, so sternchenland.com weit dies möglich war, ohne sich gerade in Worten darüber ausdrücken zu müssen, die Überzeugung beizubringen, daß man sein Wesen verkannt hatte, und deshalb zeigte er nach der die westindische Expedition betreffenden Unterredung sogar noch größere Heiterkeit und Tätigkeit als zuvor, wenn dies bei einem Menschen von seinem regsamen Eifer möglich war. In seiner Jugend und Unerfahrenheit dachte er nicht daran, daß eben diese Eigenschaft möglicherweise Mr. Dombey unangenehm sein könnte und daß er wohl schwerlich dessen gute Meinung erringen werde, wenn er sich unter dem Schatten seines gewaltigen Grolls so schwungkräftig und hoffnungsvoll benehme, mochte nun dieser ihn mit Recht oder mit Unrecht treffen. Dagegen war es recht wohl denkbar – wir setzen die Möglichkeit voraus –, daß der große Mann in dieser neuen Kundgebung eines ehrlichen Gemüts einen Trotz gegen sich selbst fühlte und deshalb entschlossen war, eine niederschlagende Arznei dagegen in Anwendung zu bringen.

»Nun, endlich und zuletzt muß es Onkel Sol doch erfahren«, dachte Walter mit einem Seufzer, und da er fürchtete, seine Stimme könnte bei der Mitteilung ein wenig beben oder sein Gesicht nicht ganz so hoffnungsvoll aussehen, als er wohl wünschen mochte, wenn er die Kunde dem alten Mann selbst überbrachte – er vergegenwärtigte sich dabei den Eindruck, den sie auf das Antlitz des Greises machen mußte –, so beschloß er, sich der Dienste jenes mächtigen Vermittlers, des Kapitän Cuttle, zu bedienen. Er machte sich deshalb nächsten Sonntag nach dem Frühstück auf den Weg, um abermals Kapitän Cuttles Quartier aufzusuchen.

Auf dem Wege dahin wirkte die Erinnerung nicht unerfreulich auf ihn, daß Mrs. Mac Stinger jeden Sonntagmorgen in einem sehr entfernten Bethause dem Gottesdienst des ehrwürdigen Melchisedek Howler beizuwohnen pflegte, der auf den falschen Verdacht hin, den der allgemeine Feind der Menschheit ausdrücklich gegen ihn hervorgerufen hatte, als bohre er die Fässer an und setze seine Lippen an die Öffnung, eines Tages von den Westindiendocks entlassen worden war. Dieser Ehrenmann hatte auf heute über zwei Jahre, morgens 10 Uhr, den Untergang der Welt angekündigt und ein vorderes Gemach für die Aufnahme von Ladies und Gentlemen von dem Glaubensbekenntnisse der Schreier eröffnet, auf die schon bei der ersten Versammlung die Ermahnungen des ehrwürdigen Melchisedek einen so gewaltigen Einfluß übten, daß die ganze Herde in der verzückten Aufführung eines heiligen Tanzes, mit dem der Gottesdienst schloß, nach der untern Küche durchbrach und eine Wäscherolle zertrümmerte, die einem Mitglied der Gemeinde gehörte.

Diesen Umstand hatte der Kapitän in einem Augenblicke ungewöhnlicher Heiterkeit und zwischen den Wiederholungen der lieblichen Peg am Abend jenes Tages, als der Pfandleiher Brogley ausbezahlt wurde, Walter und seinem Onkel mitgeteilt. Der Kapitän selbst pflegte sich pünktlich in einer nahe gelegenen Kirche einzufinden, die jeden Sonntagmorgen die Flagge der britischen Marine aufhißte, und wo er die Gefälligkeit hatte, wegen Hinfälligkeit des eigentlichen sternchenland.com Kirchendieners die Jungen zu beaufsichtigen, über die er kraft seines geheimnisvollen Hakens eine große Gewalt übte. Weil nun Walter die regelmäßige Lebensweise des Kapitäns kannte, so beeilte er sich nach Kräften, ihn noch anzutreffen, ehe er ausging; auch tummelte er sich dabei so sehr, daß er, als er nach Brig-Place umbog, das Vergnügen hatte, den weiten blauen Rock und die Weste des Kapitäns vor dem offenen Fenster hängen zu sehen, wo sie in der Sonne lüften sollten.

Es schien unglaublich zu sein, daß je ein sterbliches Auge dieses Rocks und dieser Weste ohne den Kapitän ansichtig werden konnte; sicherlich aber stak er nicht darin, weil sonst seine Beine, da die Häuser in Brig-Place nicht sonderlich hoch waren, die Haustür hätten versperren müssen, und diese zeigte durchaus kein Hindernis. Ganz verwundert über diese Entdeckung, klopfte Walter nur mit einem einzigen Schlage an.

»Stinger«, hörte er oben im Zimmer deutlich den Kapitän sagen, als ob sich’s um eine Sache handle, die ihn durchaus nichts angehe. Walter versuchte es deshalb jetzt mit einem Doppelschlag.

»Cuttle«, hörte er hierauf den Kapitän sagen, und unmittelbar darauf zeigte sich dieser Gentleman in sauberem Hemd, Hosenträgern, einem Halstuch, das wie ein Trauring lose um seinen Hals geschlungen war, und aufgesetztem Glanzhut unter dem Fenster, über dessen mit Rock und Weste behangene Brüstung er sich herüberlehnte.

»Wal’r«, rief der Kapitän, erstaunt auf ihn niederschauend.

»Ja, Kapitän Cuttle«, entgegnete Walter; »ich bin’s nur.«

»Was gibt’s, mein Junge?« fragte der Kapitän mit großer Besorgnis. »Es ist doch dem Gills nicht wieder etwas passiert?«

»Nein, nein«, antwortete Walter. »Bei meinem Onkel ist alles wieder in Richtigkeit, Kapitän Cuttle.«

Der Kapitän drückte seine Freude darüber aus und erklärte, er wolle hinunterkommen und die Tür öffnen, was denn auch geschah.

»Ihr habt Euch früh auf den Weg gemacht, Wal’r«, sagte der Kapitän, ihn noch immer zweifelnd ansehend, als sie oben angelangt waren.

»Je nun, Kapitän Cuttle«, entgegnete Walter, indem er Platz nahm, »die Sache verhält sich so, daß ich fürchtete, Ihr könntet ausgegangen sein, und ich möchte gar gerne aus Eurem freundlichen Rat Nutzen ziehen.«

»Der soll Euch nicht fehlen«, sagte der Kapitän. »Um was handelt sichs?«

»Ich möchte Eure Meinung hören, Kapitän Cuttle«, erwiderte Walter mit einem Lächeln. »Dies ist alles.«

»Nun, so legt los«, sagte der Kapitän. »Stehe Euch von Herzen zu Diensten, mein Junge.«

Walter teilte ihm nun mit, was vorgefallen war, und wie es ihn so schwer ankomme, seinem Onkel die Kunde beizubringen; es wäre ihm daher ein großer Trost, wenn Kapitän Cuttle so freundlich sternchenland.com sein wolle, die Sache in bestmöglichster Weise anzubahnen. Der Kapitän war im höchsten Grade bestürzt und erstaunt über die Aussicht, die hier vor ihm entfaltet wurde, und der Gentleman schwand darüber allmählich so ganz und gar hin, daß sich das Gesicht nur wie ein leerer Raum ausnahm und der schwarze Anzug nebst dem Glanzhut samt dem Haken scheinbar keinen Eigentümer mehr hatten.

»Was mich anbelangt, Kapitän Cuttle«, fuhr Walter fort, »so seht Ihr wohl, ich bin, wie Mr. Dombey sagte, jung und brauche nicht in Betracht gezogen zu werden. Ich weiß, ich werde mich schon in der Welt durchschlagen,– aber auf meinem Wege hierher haben mir doch zwei Punkte zu schaffen gemacht, über die ich sehr besorgt bin, und die meinen Onkel betreffen. Ich will damit nicht sagen, daß ich verdiene, der Stolz und die Wonne seines Lebens zu sein – ich weiß. Ihr traut mir nichts dergleichen zu – aber gleichwohl ist’s der Fall. Seid Ihr nicht auch dieser Ansicht?«

Der Kapitän schien sich alle Mühe zu geben, sich aus dem Abgrund seines Erstaunens zu erheben und wieder in den Besitz seines Gesichtes zu kommen; aber die Anstrengung war ohne Erfolg, und der Glanzhut nickte nur in stummer unaussprechlicher Bedeutsamkeit.

»Wenn ich am Leben und gesund bleibe«, sagte Walter, – »es ist mir allerdings nicht bange davor – aber falls ich wirklich England verlassen muß, kann ich kaum hoffen, meinen Onkel wiederzusehen. Er ist alt, Kapitän Cuttle, und außerdem hat er sich daran gewöhnt –«

»Ohne Kunden sich im Leben durchzuschlagen, Wal’r«, fiel ihm der plötzlich wieder auftauchende Kapitän ins Wort.

»Leider wahr«, entgegnete Walter mit Kopfschütteln, »aber ich meinte es nicht so, Kapitän Cuttle – er ist in seinem Leben ein Gewohnheitsmensch – die Gewohnheit ist sein Kunde. Und wenn er, wie Ihr ohne Zweifel mit allem Recht früher bemerkt habt, bei jener Gelegenheit von dem Verlust seiner Warenvorräte und aller jener Dinge, mit denen er seit vielen Jahren vertraut gewesen ist, den Tod gehabt hätte, glaubt Ihr nicht, daß es viel eher der Fall sein müßte bei dem Verlust –«

»Seines Neffen? Jawohl«, pflichtete der Kapitän bei.

»Gut also«, fuhr Walter fort, indem er versuchte, in einen heiteren Ton überzugehen; »wir müssen daher alle unsere Kräfte aufbieten, um ihm den Glauben beizubringen, daß die Trennung nur eine vorübergehende ist. Freilich weiß ich dies besser, Kapitän Cuttle, oder fürchte wenigstens, daß ich es besser weiß, und da ich so viele Gründe habe, ihn zu lieben und zu ehren, so würde es mir ohne Zweifel gar schlecht gelingen, wenn ich versuchen wollte, ihm eine Überzeugung, die ich nicht teilte, beizubringen. Dies ist der Grund, warum ich wünsche, daß Ihr mir vorarbeiten möchtet, und auch der erste Punkt, den ich im Auge habe.«

»Abgehalten mit dem Schnabel um einen Punkt oder so«, bemerkte der Kapitän mit kontemplativer Stimme.

sternchenland.com »Was habt Ihr gesagt, Kapitän Cuttle?« fragte Walter.

»Haltet an!« entgegnete der Kapitän gedankenvoll.

Walter schwieg eine Weile, um sich zu überzeugen, ob der Kapitän diesem Schlagwort nichts Besonderes hinzuzufügen habe; da aber dies nicht der Fall war, so fuhr er fort:

»Nun zum zweiten Punkt, Kapitän Cuttle. Es tut mir leid, Euch mitteilen zu müssen, daß ich bei Mr. Dombey nicht sehr beliebt bin. Ich habe zwar immer versucht, mein Bestes zu tun, und habe es auch getan; aber dennoch scheint es, daß ich ihm ein Dorn im Auge bin. Er kann vielleicht nicht dafür, daß er einen Widerwillen gegen mich hat, und ich will hierüber nicht sprechen; aber so viel muß ich sagen, ich weiß gewiß, daß er mich nicht leiden kann. Er schickt mich nicht auf diesen Posten, um mir ein gutes Unterkommen zu verschaffen, und verschmäht es sogar, ihn besser darzustellen als er ist; auch zweifle ich sehr, ob er dazu dienen wird, mich in dem Hause weiterzubringen, denn ich möchte im Gegenteil eher glauben, man will mich dadurch für immer abfertigen und aus dem Wege schaffen. Hiervon dürfen wir freilich meinem Onkel nichts sagen, Kapitän Cuttle, sondern müssen ihn auf den Glauben bringen, es handle sich um eine so günstige und verheißungsvolle Anstellung, wie man sie nur wünschen könne. Gegen Euch spreche ich mich über den wahren Sachbestand nur um deswillen aus, damit ich in der Heimat wenigstens einen Freund habe, der meine wahre Stellung kennt, falls es so weit kommen sollte, daß ich in der Fremde im Vaterland einer befreundeten Beihilfe bedarf.«

»Wal’r, mein Junge«, versetzte der Kapitän, »in den Sprichwörtern des Salomo werdet Ihr folgende Worte finden!: ›Möge es uns nie gebrechen an einem Freund in der Not, noch an einer Flasche, um sie mit ihm zu teilen!‹ Wenn Ihr’s gefunden habt, so biegt ein Ohr ein.«

Dann hielt der Kapitän mit der Miene einer Zuversichtlichkeit, die mehr als Bände ausdrückte, Walter die Hand hin und wiederholte zu gleicher Zeit – denn er war stolz auf die Richtigkeit und die passende Anwendung seines Zitats –: »Wenn Ihr’s gefunden habt, so biegt ein Ohr ein.«

»Kapitän Cuttle«, sagte Walter, die ungeheure Faust, die ihm der Kapitän darbot, mit beiden Händen fassend, die durch sie vollständig ausgefüllt wurden, »nach meinem Onkel Sol liebe ich Euch am meisten. Ich bin überzeugt, daß ich niemandem auf Erden zuversichtlicher trauen kann. Handelt sich’s bloß um das Fortkommen, Kapitän Cuttle, so würde ich mir nicht viel daraus machen – warum sollte ich auch? Stünde es mir frei, selbst meinem Glück nachzujagen – könnte ich auch nur als gemeiner Matrose ausziehen und dürfte ich aus eigenem Antrieb fort bis ans fernste Ende der Welt, so würde ich es mit Freuden tun – ja, ich hätte es schon vor Jahren getan und alles, was das Geschick über mich verhängt haben würde, auf mich genommen. Aber es war gegen die Wünsche meines Onkels, gegen die Pläne, die er für mich gebildet hatte, und so konnte natürlich sternchenland.com hiervon keine Rede sein. Freilich fühle ich selbst, Kapitän Cuttle, daß wir lange Zeit ein wenig im Irrtum befangen waren, und daß ich, soweit eine Verbesserung meiner Aussichten in Frage kommt, nicht besser daran bin, als zur Zeit meines Eintritts in Dombeys Hause – vielleicht sogar ein wenig schlechter, denn damals zeigte mir das Haus einige Zuneigung, was jetzt augenscheinlich nicht mehr der Fall ist.«

»Kehr‘ um, Whittington«,1 murmelte der trostlose Kapitän, nachdem er Walter einige Zeit ins Auge gefaßt hatte.

»Ja«, versetzte Walter lachend, »und ich fürchte, man wird noch oft umkehren müssen, Kapitän Cuttle, eh‘ ein Glück wie Richards‘ wiederkehrt. Darüber beklag‘ ich mich übrigens nicht«, fügte er in seiner lebhaften, kräftigen Weise bei. »Ich habe mich über nichts zu beschweren, denn mein Auskommen finde ich wohl, und ich kann leben. Wenn ich mich von meinem Onkel trenne, so überlasse ich ihn Euren Händen – ich bin überzeugt, daß ich ihn keinen bessern anvertrauen könnte, Kapitän Cuttle. Meine Mitteilung machte ich Euch nicht, weil ich kleinmütig bin, sondern nur in dem Wunsche, Euch zu überzeugen, daß ich in Dombeys Hause nicht zu wählen habe – daß ich hingehen muß, wohin man mich sendet, und daß ich anzunehmen habe, was man mir bietet. Für meinen Onkel ist’s am Ende das beste, daß ich fortkomme, denn Ihr wißt selbst, Kapitän Cuttle, daß sich Dombey ihm als einen anerkennungswerten Freund bewiesen hat, und ich bin überzeugt, dies wird um so mehr der Fall sein, wenn ich nicht jeden Tag um ihn bin und sein Mißtrauen wecke. Also hurra, nach Westindien, Kapitän Cuttle! Wie lautet doch das Lied, das die Matrosen singen?

»Nach dem Hafen Barbados!
Wohlauf ihr Jungen!
Laßt Alt-Englands Küst‘ im Rücken!
Wohlauf ihr Jungen!«

Brüllend fiel jetzt der Kapitän als Chor ein:

»Wohlauf, wohlauf ihr Jungen!«

Der letzte Refrain erreichte das achtsame Ohr eines nicht ganz nüchternen, heißblütigen Schiffers, der gegenüber wohnte, der augenblicklich aus seinem Bett sprang, ans Fenster eilte und mit der ganzen Macht seiner Stimme über die Straße herüber einfiel, wodurch ein schöner Effekt hervorgerufen wurde. Da es übrigens unmöglich war, die Schlußnote länger zu dehnen, so plärrte der Schiffer ein schreckliches »Ahoi!« hervor, das teilweise als freundliche Begrüßung gelten, teilweise auch zeigen sollte, daß er noch recht gut bei Lunge war. Nachdem dies geschehen, schloß er das Fenster und legte sich wieder zu Bett.

»Und nun, Kapitän Cuttle«, sagte Walter, indem er eilig den Rock samt der Weste hervorholte, »bitte ich Euch, mit mir zu kommen und Onkel Sol die Nachricht zu hinterbringen. Von Rechts wegen hätte ich sie ihm schon längst mitteilen sollen. Ich begleite Euch bis sternchenland.com an die Tür, mache dann einen Spaziergang und komme nachmittags nach Hause.

Dem Kapitän schien jedoch der Auftrag nicht sonderlich zu behagen, da er kein großes Vertrauen in seine eigene Gewandtheit bei Ausführung desselben setzen mochte. Er hatte Walters künftiges Leben und Geschick so ganz anders geordnet – so ganz und gar zu seiner Zufriedenheit, und sich oft über die Schlauheit und den prophetischen Geist Glück gewünscht, womit er alles ins reine und die verschiedenen Teile so vollkommen in Harmonie gebracht hatte; daß jetzt dieses schöne Bild mit einemmal in Trümmer gehen und er sogar bei dem Werke der Zerstörung mithelfen sollte – nein, dies forderte einen großen Aufwand von Entschlossenheit. Dazu fand es der Kapitän schwer, sich die alten Vorstellungen über den Gegenstand vom Hals zu schaffen und mit der erforderlichen Geschwindigkeit, ohne die alte oder die neue Ladung in Unordnung zu bringen, ein völlig neues Kargo an Bord zu nehmen. Statt also mit einem Ungestüm, das nur einigermaßen mit dem Eifer Walters gleichen Schritt gehalten hätte, Rock und Weste anzulegen, lehnte er es vorderhand ab, sich mit diesen Gewändern zu bekleiden und teilte Walter mit, bei einem so ernstlichen Anlaß müsse es ihm erlaubt sein, »sich ein bißchen in die Nägel zu beißen«.

»’s ist eine alte Gewohnheit von mir, Wal’r«, sagte der Kapitän, »schon seit fünfzig Jahren her. Wenn Ihr Ned Cuttle an seinen Nägeln beißen seht, Wal’r, so könnt Ihr daraus entnehmen, daß Ned Cuttle auf den Strand gelaufen ist.«

Der Kapitän brachte sodann den eisernen Haken zwischen seine Zähne, als ob derselbe eine Hand wäre, und erging sich mit einer Miene von Weisheit und Tiefsinn, in der sich die wahre Konzentration und Vergeistigung aller philosophischen Reflexion und ernsten Denkens ausdrückte, in einer Beschauung des Gegenstandes nach seinen verschiedenen Zweigen.

»Ich habe einen Freund«, murmelte der Kapitän wie in Geistesabwesenheit – »freilich macht er eben jetzt eine Küstenfahrt nach Whitby; aber dieser könnte über einen derartigen Gegenstand oder über jeden nur erdenklichen andern mit einer Ansicht ausrücken, daß er dem Parlament sechs vorgeben und es dennoch auszustechen vermöchte. Der Mann, den ich meine«, fuhr der Kapitän fort, »ist zweimal über Bord geklopft worden; aber es hat ihm nichts geschadet – im Gegenteil. Während seiner Lehrzeit, er mochte sie um die drei Wochen herum angetreten haben, kriegte er eins mit einem Ringbolzen aufs Dach; und doch läuft keiner herum, der einen klareren Kopf hätte.«

Ungeachtet des tiefen Respekts, den Kapitän Cuttle gegen seinen Freund ausdrückte, konnte Walter nicht umhin, innerlich erfreut zu sein über die Abwesenheit dieses Phönix von Weisheit, und gab sich der Hoffnung hin, der klare Verstand desselben möchte nicht mit seinen eigenen Schwierigkeiten behelligt werden, bis sie ganz geordnet wären.

»Wenn Ihr die Boje an dem Nore nähmet und sie diesem Manne zeigtet«, sprach Kapitän Cuttle in dem gleichen Tone weiter – »wenn Ihr ihn dann um seine Ansicht darüber fragtet, Walter, so würde er Euch seine Meinung in einer Art geben, daß sie dieser Boje ebensowenig gliche, als ein Knopf aus dem Rock Eures Onkels. Es läuft keiner herum – sicherlich nicht auf zwei Beinen – der ihm gleichkäme. Nicht entfernt gleich!«

»Und wie ist sein Name, Kapitän Cuttle?« fragte Walter, der sich vorgenommen hatte, auch einiges Interesse für den Freund des Kapitäns zu zeigen.

»Er heißt Bunsby«, sagte der Kapitän. »Aber du meine Güte, was dies betrifft, so könnt‘ er mit dem Geist, den er hat, heißen, wie er wollte.«

Der Kapitän suchte die Idee, die er mit diesem Schlußlobe in Verbindung brachte, nicht weiter zu beleuchten, und auch Walter war es nicht um eine nähere Erörterung zu tun, denn als er mit der Lebhaftigkeit, wie sie seinem Temperament und seiner Stellung natürlich war, die Hauptpunkte seiner Angelegenheit zu betrachten begann, entdeckte er bald, daß der Kapitän wieder in seinen früheren Zustand tiefen Nachsinnens versunken war und nichts von ihm sah und hörte, obschon er seine Blicke stetig unter seinen buschigen Brauen nach ihm hinschießen ließ.

In der Tat arbeitete sich Kapitän Cuttle mit so großartigen Entwürfen ab, daß er – weit entfernt, auf dem Strande zu liegen – gar bald in das tiefste Wasser geriet und für das Brüten gar keinen Boden mehr finden konnte. Allmählich wurde es ihm übrigens vollkommen klar, daß hier ein Irrtum im Spiel sein müsse, der ohne Zweifel mehr auf Seite Walters als auf der seinen liege; denn wenn sich’s wirklich um eine Westindien-Reise handelte, so mußte sie zuverlässig ganz anders aufgefaßt werden, als dies der junge, vorschnelle Walter tat, da er seinerseits nur eine Gelegenheit darin sah, mit ungewöhnlicher Schnelligkeit zu einem schönen Vermögen zu kommen. »Oder wenn’s je eine kleine Spannung zwischen ihnen gibt«, dachte der Kapitän in Beziehung auf Walter und Mr. Dombey, »so bedarf es nur eines Wortes von einem Freunde beider Parteien, um alles wieder ins Geleise zu bringen.«

Kapitän Cuttles Folgerung aus diesen Betrachtungen lief darauf hinaus, er habe bereits das Vergnügen gehabt, Mr. Dombey bei Gelegenheit einer sehr angenehmen halben Stunde kennenzulernen, die er zu Brighton in seiner Gesellschaft verbrachte – er meinte damit den Morgen, als sie das Geld borgten. Unter ein paar Männern von Welt also, die sich verständen und gegenseitig geneigt wären, einer Sache eine angenehme Wendung zu geben, lasse sich eine derartige kleine Schwierigkeit leicht ausgleichen, so daß man zu wirklichen Tatsachen übergehen könne. Die Aufgabe, die folglich seiner Freundschaft oblag, bestand darin, daß er, ohne vorderhand gegen Walter nur ein Wörtchen verlauten zu lassen, sich nach Mr. Dombeys Hause begab, den Diener ersuchte, den Kapitän Cuttle zu sternchenland.com melden, Mr. Dombey mit vertraulicher Miene entgegentrat, ihn mit seinem Haken am Knopfloch packte, die Sache besprach, sie zurechtbrachte und triumphierend wieder von hinnen zog.

Wie sich diese Erwägungen dem Geiste des Kapitäns vergegenwärtigten und ganz allmählich Form und Gestalt gewannen, klärte sich sein Gesicht auf wie ein zweifelhafter Morgen, der einem schönen Mittag Platz macht. Seine Brauen, die im höchsten Grade finster gewesen, verloren ihren rauhborstigen Anblick und wurden heiter, die Augen, die sich in dem Ernst der geistigen Anstrengung fast geschlossen, taten sich wieder auf, und ein Lächeln, das sich anfangs nur an drei Stellen gezeigt hatte – die eine rechts von seinem Mundwinkel und die andern an der Innenseite eines jeden Augen – breitete sich allmählich über sein ganzes Gesicht bis zur Stirn hinauf, wo es sogar den Glanzhut hob, als sei auch dieser mit Kapitän Cuttle auf den Strand gelaufen und jetzt gleich ihm wieder glücklich flott geworden. Endlich hörte Kapitän Cuttle auf, seine Nägel zu beißen, und sagte:

»Nun könnt Ihr mir zu meiner Geschichte da verhelfen, Wal’r.«

Er meinte damit seinen Rock und seine Weste.

Walter ließ sich wenig träumen, warum sich der Kapitän so viele Mühe mit dem Ordnen seiner Halsbinde gab, deren beide Enden er in die Form eines Schweineschwanzes brachte, indem er sie durch einen massiven goldenen Ring zog, den er zum Andenken an einen verstorbenen Freund trug und auf dem ein Grabstein mit einem zierlichen Eisengeländer und einem Baum abgebildet war. Ebensowenig konnte er sich denken, warum der Kapitän seinen Hemdkragen so weit herauszog, als es die irische Leinwand unten nur erlaubte, warum er sich mit ein Paar Brustknöpfen verzierte, warum er seine Schuhe wechselte und warum er ein unvergleichliches Paar Gamaschen anlegte, die er nur bei ganz besonderen Gelegenheiten zu tragen pflegte. Nachdem sich der alte Herr endlich zu seiner vollkommenen Zufriedenheit angekleidet und vom Kopf bis zu Fuß vor einem Rasierspiegel, den er zu diesem Zweck von einem Nagel herunternahm, gemustert hatte, griff er nach seinem Knotenstock und sagte, daß er bereit sei.

Die Haltung des Kapitäns war viel selbstgefälliger, als wenn er bei gewöhnlichen Gelegenheiten ausging; aber Walter meinte, die Gamaschen möchten wohl schuld daran sein, und achtete wenig darauf. Noch ehe sie sehr weit gekommen waren, begegneten sie einem Blumenmädchen. Als ob ihm plötzlich ein glücklicher Einfall gekommen wäre, machte der Kapitän jetzt halt und kaufte sich einen der größten Bündel in dem Korb – einen herrlichen Strauß von fächerartiger Form, der wohl dritthalb Fuß im Umfang hatte und aus den schönsten Blumen bestand, die man sehen konnte.

Mit diesem kleinen Angebinde bewaffnet, das Mr. Dombey zugedacht war, ging Kapitän Cuttle mit Walter weiter, bis sie die Haustür des Instrumentenmachers erreichten, vor der sie stehenblieben.

»Geht Ihr hinein?« fragte Walter.

»Ja,« entgegnete der Kapitän, der fühlte, er müsse sich zuerst Walter vom Halse schaffen, ehe er weitere Schritte tun könne, und dabei meinte, es werde am besten sein, wenn er seinen beabsichtigten Besuch auf eine spätere Stunde des Tages verlege.

»Und Ihr werdet nichts vergessen?« fragte Walter.

»Nein«, versetzte der Kapitän.

»So will ich denn meinen Spaziergang antreten«, sagte Walter. »Ich störe dann in keiner Weise.«

»Macht nur einen langen, mein Junge«, erwiderte der Kapitän, ihm nachrufend.

Walter nickte ihm mit der Hand seine Zustimmung zu und ging seines Weges.

In betreff des letzteren war es ihm so ziemlich gleichgültig, welchen er einschlug, indes meinte er doch, er wolle lieber auf das Feld hinausgehen, wo er über das unbekannte Leben, das ihm bevorstand, nachdenken, unter einem Baum sich niederlegen und ruhige Betrachtungen anstellen könne. Den besten Platz hierfür glaubte er in der Nähe von Hampstead zu finden, und um dahin zu gelangen, mußte er an Mr. Dombeys Hause vorbei.

Als er bei demselben anlangte und an der Vorderseite hinaufsah, nahm es sich so stattlich und düster wie nur je aus. Die Rouleaus waren niedergelassen, die oberen Fenster aber standen weit offen, und der sanfte Wind, der die Vorhänge hin und her wehte, war das einzige Lebenszeichen, das sich zeigte. Walter ging langsam vorüber und war froh, als er einige Haustüren weiter hinter sich hatte. Dann schaute er mit dem Interesse, das er schon manches Jahr seit dem Abenteuer mit dem verirrten Kinde stets für den Platz gefühlt hatte, wieder zurück und blickte namentlich nach den erwähnten oberen Fenstern hinauf. Während er so beschäftigt war, fuhr ein Wagen an der Tür vor, und ein stattlicher Gentleman in Schwarz mit einer schweren Uhrkette stieg aus, um sich in das Haus zu begeben. Als er sich nachher dieses Herrn und seiner Equipage wieder erinnerte, schien es ihm unzweifelhaft, daß dieser ein Arzt gewesen sein müsse, und nun machte er sich Gedanken darüber, wer wohl krank sei. Diese Entdeckung kam ihm übrigens nicht eher, bis er eine ziemliche Strecke weitergegangen und inzwischen sich achtlos mit andern Dingen beschäftigt hatte.

Allerdings nur mit Dingen, die das Haus ihm in die Erinnerung gerufen, denn Walter schwelgte gerne in der Betrachtung, es dürfte vielleicht eine Zeit kommen, wann seine alte Freundin, das schöne Kind, das stets so dankbar gegen ihn gewesen war und sich seitdem immer freute, ihn wiederzusehen, zu seinen Gunsten ihren Einfluß bei ihrem Bruder geltend machen könnte. Im gegenwärtigen Augenblick war ihm dieser Gedanke um so lieber, weil er es für eine weit größere Wonne hielt, in ihrem Andenken fortzuleben, als irgendeines zeitlichen Vorteils sich daraus zu erfreuen; doch eine weitere und sternchenland.com nüchternere Erwägung flüsterte ihm zu, wenn er dann über dem Meer und vergessen, sie aber verheiratet, reich, stolz und glücklich sei! Es war kein Grund vorhanden, warum sie bei einer so veränderten Lage mehr an ihn denken sollte, als an irgendein Spielzeug, das sie besessen – ja nicht einmal so viel.

Gleichwohl idealisierte sich Walter das hübsche Mädchen, das er verirrt auf offener Straße gefunden, und identifizierte es so sehr mit der unschuldigen Dankbarkeit, die es an jenem Abend so einfach und so wahr gegen ihn ausgedrückt hatte, daß er sich selbst den Vorwurf der Verleumdung machte, wenn er nur auf den Gedanken kam, sie könnte je stolz werden. Andererseits waren seine Betrachtungen so phantastischer Art, daß es kaum weniger verleumderisch schien, wenn er sie sich als erwachsene Dame dachte und damit in Verbindung brachte, sie könne dann in einem anderen Licht erscheinen, als in dem des nämlichen arglosen, gewinnenden kleinen Geschöpfs, das sie in den Tagen der guten Mrs. Brown gewesen war. Mit einem Wort, Walter machte die Entdeckung, daß es in der Tat sehr unvernünftig sei, über Florence überhaupt Folgerungen zu ziehen; er könne daher nichts Besseres tun, als seinem Innern ihr Bild einprägen, wie irgendeinen köstlichen, unerreichbaren, wandellosen und unbestimmten Gegenstand – unbestimmt in allem, nur nicht in seinem Vermögen, ihn mit Wonne zu erfüllen, einer Wonne, die ihn gleich der Hand eines Engels von allem Unwürdigen abhielt.

Walter machte an jenem Tage einen weiten Spaziergang durch die Felder, horchte auf den Gesang der Vögel, der Sonntagsglocken und das gedämpfte Getöse der Stadt, atmete den süßen Duft, blickte hin und wieder nach dem düstern Horizont, hinter dem sich der Ort seiner Bestimmung barg, und schaute dann wieder zurück auf das englische Gras und auf die vaterländische Landschaft. Aber auch nicht einer seiner Gedanken, nicht einmal der an die ihm bevorstehende Reise gewann eine bestimmte Klarheit, sondern er erging sich die ganze Zeit über in träumerischem Brüten, in dem er die gründlichere Betrachtung von Stunde zu Stunde, von Minute zu Minute aufzuschieben schien.

Die Felder lagen ihm bereits im Rücken, und er trat in derselben zerstreuten Stimmung den Heimweg an, als er den Schrei eines Mannes und dann die Stimme einer Frau vernahm, die ihn laut bei Namen nannte. Überrascht blickte er auf und wurde eines Wagens ansichtig, der die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen, aber in nicht großer Entfernung von ihm haltgemacht hatte. Der Kutscher schaute von seinem Bock aus zurück und winkte ihm mit seiner Peitsche; die Dame aber lehnte sich zum Schlag heraus und schwenkte mit Macht ihr Tuch gegen ihn hin. Er eilte heran und fand, daß die Person in der Kutsche niemand anders als Miß Nipper war, die sich vor Verwirrung nicht zu helfen wußte.

»Staggs Gärten, Mr. Walter!« rief Miß Nipper; »o, seid so gut!«

»Wie?« entgegnete Walter. »Was gibt es?«

»O, Mr. Walter, Staggs Gärten, wenn Ihr so gut sein wollt!« sagte Susanna.

»Da haben wir’s!« rief der Kutscher, sich mit einer Art triumphierender Verzweiflung auf Walter berufend. »So treibt’s die junge Dame wohl schon eine sterbliche Stunde lang und scheucht mich fortwährend auf weglose Pfade, auf denen sie durchaus fahren will. Vom ersten bis auf den letzten hab ich schon mancherlei Personen geführt, aber nie eine solche wie sie.«

»Wollt Ihr nach Staggs Gärten, Susanna?« fragte Walter.

»Ha, freilich will sie dahin! Aber wo sind sie?« brummte der Kutscher.

»Ich weiß es nicht!« rief Susanna außer sich. »Mr. Walter, ich war einmal mit Miß Floy und unserem armen Liebling, dem Master Paul, dort, an demselben Tage, als Ihr Miß Floy in der City fandet, denn wir verloren sie auf dem Heimweg, Mrs. Richards und ich, und ein wütender Stier, und Mrs. Richards‘ Ältester, und obgleich ich später wieder hinging, kann ich mich doch nicht erinnern, wo es ist, ich denke, es muß in den Boden gesunken sein, o Mr. Walter, verlaßt mich nicht, Staggs Gärten, wenn Ihr so gut sein wollt! Miß Floys Liebling – unserer aller Liebling – der kleine, sanfte, liebe Master Paul! O Mr. Walter!«

»Guter Gott!« rief Walter, »ist er denn sehr krank?«

»Die hübsche Blume« – rief Susanna, die Hände ringend – »hat sich’s in den Kopf gesetzt, er möchte seine alte Amme sehen, und ich komme, sie an sein Bett zu bringen, Mrs. Staggs von Polly Toodles Garten – weiß es denn niemand?«

Sehr aufgeregt von dem, was er hörte, und Susannas Unklarheit augenblicklich erfassend, eilte Walter mit einem Eifer, daß der Kutscher genug zu tun hatte, um ihm nachzukommen, voraus und erkundigte sich da, dort und überall nach dem Weg von Staggs Gärten.

Aber es gab keinen solchen Platz mehr. Er war von der Erde verschwunden. Wo vordem die alten, morschen Gartenhäuser gestanden, erhoben sich jetzt Paläste, und gigantische Granitsäulen eröffneten eine Aussicht nach der Eisenbahnwelt jenseits. Der erbärmliche Grund, wo vordem der Schutt aufgehäuft gewesen, war nicht mehr, und an der Stelle der Verwesung sah man Reihen von Magazinen, vollgestopft mit reichen, kostbaren Kaufmannsgütern. Die alten Nebenstraßen wimmelten nun von Fußgängern und Fuhrwerken aller Art, und die neuen, die entmutigt im Schlamm und in den Wagengeleisen steckengeblieben, bildeten nun ganze Städte und riefen eine gesunde Behaglichkeit hervor, die ganz ihr Eigentum war, und an die man nicht gedacht oder die man überhaupt kaum für möglich gehalten hatte, bis er sich einmal im wirklichen Dasein befand. Brücken, die früher nirgends hingeführt hatten, vermittelten nun den Weg zu Gärten, Landhäusern und gesunden öffentlichen Spaziergängen. Die Gerippe der Häuser und die Anfänge neuer Straßen hatten sich der Reihe nach mit der Geschwindigkeit des Dampfes ausgebildet und schossen ins Land hinein mit ungeheuren sternchenland.com Armen. Was die Bewohner jener Gegend betraf, die in den Tagen des Kampfes die Eisenbahn nicht hatten anerkennen wollen, so waren sie jetzt weise und reich geworden, wie es jedem Christen in solchem Falle ergehen kann: sie rühmten sich nun einer so mächtigen und Wohlstand versprechenden Verwandtschaft. In den Läden der Tuchhändler standen Eisenbahnmodelle und in den Fenstern der Zeitungsausträger waren Eisenbahn-Journale ausgebreitet. Die Gasthäuser, Kaffeehäuser, Mietwohnungen und Speisetische verdankten ihr Dasein der Eisenbahn; man sah Eisenbahnkarten, Ansichten, Fahrten-Tafeln, Packpapier, Flaschen und Schachteln – alles mit demselben Stempel; Eisenbahn-Mietkutschen und Kutschenstände, Eisenbahn-Omnibusse, Eisenbahn-Straßen und -Gebäude, Eisenbahn-Anhängsel und Eisenbahn-Schmeichler, so daß sie aller Berechnung Trotz boten. Auch auf den Uhren war die Eisenbahnzeit angemerkt, als ob die Sonne selbst den kürzeren gezogen hätte. Unter den Besiegten befand sich auch der in Staggs Gärten einst so ungläubige Meister Schornsteinfeger, der jetzt in einem drei Stock hohen, mit Stuck verzierten Hause wohnte und sich mit goldenen Schnörkeln auf einem gefirnißten Brett als einen Akkordanten zu erkennen gab, der die Eisenbahnkamine durch Maschinerie reinigte.

Zu dem Herzen dieser großen Veränderung und von demselben weg schossen Tag und Nacht Ströme gleich dem Blute seines Lebens. Scharen von Menschen und Berge von Warenvorräten, zu dutzend- und dutzendmalen im Laufe der 24 Tagesstunden wiederkehrend, bewirkten auf dem Platze ein Gewühl, das stets in Tätigkeit war. Sogar die Häuser schienen geneigt zu sein, aufzupacken und Ausflüge zu machen. Wundervolle Parlamentsmitglieder, die sich vor noch nicht zwanzig Jahren über die unsinnigen Eisenbahn-Theorien und -Ingenieure lustig gemacht und sie im Kreuz- und Querverhör tüchtig in die Enge getrieben hatten, brachen nun, die Uhren in der Hand, nach dem Norden auf und ließen zu gleicher Zeit durch die elektrischen Telegraphen ihre Ankunft melden. Tag und Nacht rasselten die erobernden Maschinen in unablässiger Tätigkeit, näherten sich ruhig dem Ziel ihrer Reise und schlüpften, gleich zahmen Drachen, in die ihnen auf den Zoll hin angewiesenen Ecken, wo sie fauchend schüchtern stehenblieben, die Wände zum Erzittern bringend, als seien sie stolz auf das Geheimnis der großen Kräfte, die man in ihnen noch gar nicht ahnte, und auf ihre noch nicht erfüllten Riesen-Entwürfe.

Aber Staggs Gärten waren mit Wurzel und Zweig abgetragen worden. Wehe dem Tage, wann »keine Rute englischen Grundes«, in Staggs Gärten angelegt, mehr Sicherheit bietet!

Endlich, nach vielem vergeblichen Nachfragen, fand Walter, hinter dem der Kutscher mit Susanna dreinrollte, einen Mann auf, der einmal in dem jetzt verschwundenen Lande gewohnt hatte. Dieser war niemand anders, als der vorerwähnte Meister Schornsteinfeger, der es inzwischen zu ziemlicher Beleibtheit gebracht und nunmehr sogar einen blanken Klopfer an seiner Tür hatte. Wie er sagte, kannte er Toodle wohl.

»Gehört zu der Eisenbahn, nicht wahr?«

»Ja, Sir, ja!« rief Susanna Nipper zum Kutschenschlag heraus.

»Und wo wohnt er?« fragte Walter hastig.

»Er wohnt in den Gebäuden der Kompanie, um die zweite Ecke herum rechts, den Hof hinunter, über denselben weg, dann die zweite Tür wieder rechts.« Es sei Nummer elf: sie könnten sich nicht täuschen, oder wenn auch, so brauchten sie nur nach dem Maschinenheizer Toodle zu fragen, dessen Haus ihnen jedermann zeigen könne. Nach diesem unerwartet glücklichen Ausgang stieg Susanna Nipper mit Eile aus dem Wagen, nahm Walters Arm und trat in atemloser Hast ihre weiteren Nachforschungen zu Fuß an. Die Kutsche sollte warten, bis sie zurückkäme.

»Ist der kleine Knabe schon lange krank, Susanna?« fragte Walter, während sie weiter eilten.

»Unwohl schon lange, aber niemand wußte, wie sehr«, versetzte Susanna und fügte dann mit großer Bitterkeit bei: »O, diese Blimbers!«

»Blimbers?« wiederholte Walter.

»In einer Zeit, wo man so viel über ernstes Unglück zu denken hat, könnte ich mir selbst nicht vergeben, Mr. Walter,« sagte Susanna, »wenn ich jemand zu hart verurteilte, namentlich Personen, von denen der liebe, herzige Paul nur Gutes sagt, aber ich möchte wünschen, diese Familie müßte in steinigem Boden neue Wege anlegen und Miß Blimber mit dem Pickel voraus.«

Miß Nipper schöpfte sodann Atem und beschleunigte ihre Hast, als ob sie in diesem außerordentlichen Erguß Erleichterung gefunden hätte. Walter, dem der Atem gleichfalls fast ausgegangen war, eilte mit ihr fort, ohne weitere Fragen zu stellen, und so gelangten sie in ihrer Ungeduld bald nach einer kleinen Tür, die sie nach einem reinlichen, mit Kindern angefüllten Wohnstübchen führte.

»Wo ist Mrs. Richards!« rief Susanna Nipper, sich umsehend. »O Mrs. Richards, Mrs. Richards, kommt doch sogleich mit mir, meine Liebe!«

»Ei, ist dies nicht Susanna?« rief Polly in großem Erstaunen, ihr ehrliches Gesicht und ihre mütterliche Gestalt aus der Gruppe der Kleinen erhebend.

»Ja, ich bin’s, Mrs. Richards«, sagte Susanna, »und wollte Gott, ich wär’s nicht, obgleich es nicht schmeichelhaft zu sein scheint, wenn ich so sage, aber der kleine Master Paul ist sehr krank und sagte heute zu seinem Papa, er möchte das Gesicht seiner alten Amme wiedersehen, und er und Miß Floy hoffen, Ihr werdet mit mir kommen – und Mr. Walter auch, Mrs. Richards – vergeßt, was vergangen ist, und erweist Liebe dem süßen Herz, das jetzt dahinschwindet – o Mrs. Richards, ja, dahinschwindet!«

Polly vergoß bei Susanna Nippers Anblick und ihrer Mitteilung Tränen, während sämtliche Kinder, einschließlich einiger neuer Kleinen, sich um die Gruppe sammelten. Auch Mr. Toodle, der eben von Birmingham zurückgekommen war und sein Mittagessen verzehrte, sternchenland.com legte Messer und Gabel nieder, holte hinter der Tür hervor Hut und Halstuch seines Weibes, klopfte ihr auf den Rücken und sagte mit mehr väterlichem Gefühl als mit Beredsamkeit:

»Polly, mach‘, daß du fortkommst!«

So langten sie weit früher, als der Kutscher erwartet hatte, bei dem Wagen an. Walter versorgte Susanna und Mrs. Richards im Innern, setzte sich, um weitere Irrtümer zu verhüten, auf den Bock und beförderte seine Fracht wohlbehalten nach der Flur von Mr. Dombeys Haus, wo er, beiläufig bemerkt, einen mächtigen Blumenstrauß liegen sah; er erinnerte sich dabei an den, den Kapitän Cuttle am Morgen in seiner Gegenwart gekauft hatte. Gar gern wäre er eine Weile dageblieben, um mehr von dem kleinen Patienten zu erfahren, oder zu warten, ob man nicht irgendwie seiner Dienste benötigte; da er aber schmerzlich fühlte, wie ein solches Benehmen von Mr. Dombey als anmaßend und aufdringlich angesehen werden dürfte, so wandte er sich langsam ab und ging traurig seines Weges.

Er war übrigens noch nicht fünf Minuten gegangen, als ihm ein Diener nachkam und ihn ersuchte, er möchte wieder umkehren. Walter eilte so schnell als möglich zurück und betrat mit wehmütigen Ahnungen das Haus. sternchenland.com sternchenland.com sternchenland.com sternchenland.com sternchenland.com

  1. Sir Richard Whittington, in der Ballade: Dick Whittington, berühmter Lord-Mayor von London, gest. 1423.

Sechzehntes Kapitel.


Sechzehntes Kapitel.

Was die Wellen immer sagten.

Paul hatte sich seitdem nie wieder von seinem Bettchen erhoben. Er lag ganz ruhig da, hörte auf den Lärm der Straße und kümmerte sich nicht viel um den Gang der Zeit, sondern beobachtete und beobachtete alles um ihn her mit aufmerksamem Auge.

Wenn durch die rasselnden Jalousien die Sonnenstrahlen in sein Zimmer drangen und an der entgegengesetzten Wand wie goldenes Wasser zitterten, wußte er, daß der Abend herankam und daß der Himmel rot und schön war. Der Reflex starb dahin, und ein Düster überkroch die Mauer; er folgte dem entschwindenden Licht und dem immer mehr sich vertiefenden Schatten bis in die Nacht hinein. Dann machte er sich Gedanken darüber, wie die lange Straße mit Lampen geziert sei und die friedlichen Sterne oben am Himmel flimmerten. Seine Einbildungskraft hatte eine seltsame Neigung, nach dem Flusse hinzuwandern, der, wie er wohl wußte, durch die große Stadt strömte, und nun dachte er darüber nach, wie schwarz er sein und wie tief er aussehen müsse, wenn sich die Unzahl von Sternen in ihm spiegelte; vor allem aber flößte es ihm Interesse ein, wie verstohlen er seine Wellen weiter rollte, bis sie von dem Meer aufgenommen wurden.

Später in der Nacht, als die Fußtritte in der Straße so selten wurden, daß man sie kommen hören konnte, zählte er sie nach ihren Pausen, bis sie sich in weiter Entfernung verloren, oder er lag da, den vielfarbigen Ring um das Licht betrachtend, und wartete geduldig auf den Tag. Sein einziger Plagegeist war der rasche reißende Fluß. Er fühlte sich bisweilen zu dem Versuch gedrungen, ihm Einhalt zu tun, ihn mit seinen Kinderhänden zu dämmen, oder ihm mit Sand den Weg zu sperren; wenn er dann widerstandslos heranbrauste, so schrie der Knabe laut auf. Aber ein Wort von Florence, die stets an seiner Seite war, brachte ihn wieder zu sich; er lehnte dann sein Köpflein an ihre Brust, erzählte ihr seinen Traum und lächelte.

Wenn der Tag zu grauen begann, so gab er auf die Sonne acht, und wenn ihr freundliches Licht das Zimmer erhellte, malte er sich – malte? nein, er sah – die hohen Kirchtürme, wie sie am Morgenhimmel in die Höhe stiegen, die Stadt, wie sie erwachend wieder in ein rühriges Leben trat, den Fluß, der so schnell wie nur je glänzend dahinrollte, und die im Tau blitzende Landschaft. Bekannte Töne ließen sich allmählich von der Straße herauf vernehmen; die Diener im Hause wurden rührig, Gesichter schauten zur Tür herein, und Stimmen fragten seine Wärter leise, wie es ihm gehe. Paul sternchenland.com antwortete dann gewöhnlich selbst: »Ich fühle mich besser – viel besser, danke schön! Sagt es auch dem Papa!«

Allmählich ermüdete ihn das Geräusch des Tages, das Rasseln der Wagen und Karren und die Fußtritte von hin und her Gehenden; er schlief entweder ein oder dachte immer wieder unruhig – er konnte kaum sagen, ob dies in schlafenden oder wachenden Augenblicken geschah – an den strömenden Fluß.

»Warum will er denn nie haltmachen, Floy?« konnte er dann die Schwester bisweilen fragen. »Ich glaube, er reißt mich mit fort.«

Aber Floy konnte ihn stets zur Ruhe bringen und seinen Mut wieder aufrichten; er war dann glücklich, wenn er sie bewegen konnte, daß sie ihr Köpfchen neben dem seinigen aufs Kissen legte und ein wenig ruhte.

»Du wachst immer für mich, Floy; laß mich jetzt auch für dich wachen.«

Man richtete ihn dann in einer Ecke seines Bettes mit Kissen auf, und so blieb er zurückgelehnt sitzen, während sie an seiner Seite lag. Er beugte sich oftmals vor, um sie zu küssen, und flüsterte denen, die sich in der Nähe befanden, zu, sie sei müde, denn sie sei so viele Nächte bei ihm auf und wach geblieben.

So ging es fort, bis das Licht und die Hitze des Tages abnahm und überall das goldene Wasser an der Wand tanzte.

Nicht weniger als drei gravitätische Ärzte pflegten ihn täglich zu besuchen. Sie versammelten sich gewöhnlich unten und kamen miteinander herauf. Das Zimmer war dabei so still, und Paul, obschon er niemanden fragte, was sie sagten, beobachtete sie so sorgfältig, daß er sogar den Unterschied in dem Picken ihrer Uhren kannte. Das hauptsächlichste Interesse flößte ihm jedoch Sir Parker Peps ein, der stets an seinem Bett Platz nahm, denn Paul hatte vor langer Zeit sagen hören, dieser Gentleman sei zugegen gewesen, als seine Mama vor ihrem Sterben Florence in ihre Arme schloß. Dies konnte er auch jetzt nicht vergessen, und er liebte ihn darum. Von Furcht war bei ihm keine Rede.

Die Personen um ihn her verwandelten sich in so unerklärlicher Weise, wie in jener ersten Nacht bei Doktor Blimber – die einzige Florence ausgenommen, die nie einen Wechsel erlitt. Was eben Sir Parker Peps gewesen, war jetzt sein Vater, der mit auf die Hand gestütztem Kopf dasaß. Die alte Mrs. Pipchin, die in einem Armstuhl schlummerte, verwandelte sich oft in Miß Tox oder in seine Tante, und Paul begnügte sich dann, seine Augen wieder zu schließen, um ruhig abzuwarten, was zunächst geschehen werde. Aber die Figur mit dem auf die Hand gestützten Kopfe kehrte so oft wieder, blieb so lange, saß so still und feierlich da, sprach nie, wurde nie angeredet und hob so selten das Gesicht auf, daß Paul sich zu wundern begann, ob sie wohl eine wirkliche Erscheinung sei; ja wenn sie nachts dasaß, schaute er nur mit Furcht nach ihr hin.

»Floy!« sagte er. »Was ist dies?«

»Wo, mein Lieber?«

»Dort – unten am Bett.«

»Da ist nichts als der Papa.«

Die Gestalt richtete den Kopf auf, erhob sich, kam an die Seite des Bettes und fragte:

»Mein Sohn, kennst du mich nicht?«

Paul blickte zu ihm auf und dachte, ob dies wohl sein Vater sei. Das Gesicht kam ihm so verändert vor, und es verzog sich, während er es ansah, wie im Schmerz. Aber ehe er seine Händchen ausstrecken konnte, um die Gestalt zu erfassen und ihr Antlitz zu sich herunterzuziehen, wandte sie sich rasch von dem Bettchen weg und ging zur Tür hinaus.

Paul blickte nun mit klopfendem Herzen auf Florence; er wußte, was sie sagen wollte, und tat ihr deshalb Einhalt, indem er seine Wange gegen ihre Lippen drückte. Als er das nächstemal die Gestalt wieder unten an seinem Bette sitzen sah, rief er sie an:

»Seid nicht bekümmert um mich, lieber Papa! Ich bin in der Tat ganz wohl.«

Sein Vater kam heran und beugte sich zu ihm nieder – dies geschah schnell und ohne daß er zuerst neben dem Bette haltmachte. Paul umschlang seinen Nacken und wiederholte die vorigen Worte mehreremal mit großer Innigkeit; auch sah er ihn später, mochte es Tag oder Nacht sein, nie wieder in seinem Zimmer, ohne daß er ihm zurief: »Seid um mich unbekümmert! Ich fühle mich in der Tat vollkommen wohl!« So kam es denn, daß er jeden Morgen erklärte, er befinde sich viel besser, und man solle es auch seinem Vater sagen.

Wievielmal das goldene Wasser an den Wänden tanzte, in wievielen Nächten der düstere dunkle Strom nach dem Meere hinrollte, ohne daß er ihm Einhalt zu tun vermochte – Paul zählte es nie und suchte es auch nicht zu erfahren. Wenn die Liebe, die man ihm erwies, oder seine Dankbarkeit dafür sich je steigern konnte, so war beides mit jedem Tage mehr und mehr der Fall; aber ob sich’s um viele Tage handelte oder um wenige, dies schien für den sanften Knaben völlig bedeutungslos zu sein.

Eines Abends hatte er über seine Mutter und über das Bild in dem Besuchzimmer drunten Betrachtungen angestellt; er dachte sich dabei, sie müsse die holde Florence weit mehr geliebt haben, als sein Vater, weil sie während ihres Sterbens das Mädchen in den Armen hielt; denn auch er, ihr Bruder, der sie so sehr liebte, hätte sich nichts Lieberes wünschen mögen, als dies. Die Kette seiner Gedanken brachte ihn auf die Frage, ob er jemals seine Mutter gesehen habe, denn er konnte sich nicht erinnern, ob man ihm mit Ja oder Nein darauf geantwortet hatte, weil der Fluß so gar schnell lief und seinen Sinn verwirrte.

»Floy, habe ich die Mama je gesehen?«

»Nein, mein Herz; warum?«

»Habe ich nie ein freundliches Gesicht gesehen, gleich dem der Mama, das auf mich niederschaute, als ich noch ein kleines Kind war?« sternchenland.com Er fragte ungläubig, als stehe die Vision irgendeines Gesichtes vor ihm.

»O ja, mein Lieber.«

»Und was war dies für eins, Floy?«

»Das deiner Amme. Oft.«

»Und wo ist meine Amme?« fragte Paul. »Ist sie auch tot? Floy, sind wir alle tot, du ausgenommen?«

Einen Augenblick – vielleicht auch länger – aber ihm kam es nur so vor, gab es ein Gewühl in dem Zimmer, und dann wurde wieder alles still. Florence, lächelnd, aber mit bleichem Antlitz, hielt seinen Kopf auf ihrem Arm. Der Arm zitterte sehr.

»Floy, sei so gut, mich die Amme sehen zu lassen!«

»Sie ist nicht hier, mein Herz; aber morgen wird sie kommen.«

»Danke dir, Floy.«

Mit diesen Worten schloß Paul die Augen und schlief ein. Als er wieder erwachte, stand die Sonne hoch am Himmel. Es war ein heller, warmer Tag. Er lag eine Weile da und schaute nach dem offenen Fenster hin, wo die Vorhänge rauschend in der Luft hin und her wehten. Dann fragte er:

»Floy, ist es Morgen? Kommt sie?«

Es deuchte ihm, als sei jemand gegangen, um sie aufzusuchen. Vielleicht war es Susanna. Paul meinte, er habe sie, als er seine Augen wieder schloß, zu ihm sagen hören, sie werde bald wieder zurück sein; aber er öffnete sie nicht wieder, um sich zu überzeugen. Sie hielt Wort – oder vielleicht war sie auch gar nicht fort gewesen; kurz, was er zunächst hörte, war ein Geräusch von Fußtritten auf der Treppe, und dann erwachte Paul körperlich und geistig. Er setzte sich in seinem Bette auf und erkannte alles um sich her deutlich. Es lag kein grauer Nebel vor seiner Umgebung, wie es bisweilen nachts gewesen, und er konnte alle bei ihren Namen nennen.

»Und wer ist dies?« fragte das Kind, mit strahlendem Lächeln nach einer hereinkommenden Gestalt hinsehend. »Ist dies meine Amme?«

Ja, ja. Keine andere fremde Person hätte bei seinem Anblick solche Tränen vergießen, ihn ihr liebes, ihr herziges, ihr armes krankes Kind nennen können. Keine andere Frau würde sich neben seinem Bette niedergebeugt, seine abgezehrte Hand ergriffen und sie an Brust und Lippen gedrückt haben – nur eine solche konnte es tun, die einiges Recht darauf hatte, ihn zu lieben. Welche andere Frau wäre auch wohl so voll von Zärtlichkeit und Mitleid gewesen, so daß sie außer ihm und Floy alles übrige vergaß!

»Floy, welch ein liebes, gutes Gesicht!« sagte Paul. »Ich freue mich, es wiederzusehen. O geh nicht fort, liebe Amme! Bleibe hier!«

Seine Sinne erfaßten alles schnell, und er hörte einen Namen, den er kannte.

»Wer hat da von Walter gesprochen?« fragte er, sich umsehend. »Jemand hat Walter gesagt. Ist er hier? Ich möchte ihn so gerne sehen.«

Für den Augenblick keine Antwort, aber bald nachher sagte sein Vater zu Susanna: »So ruft ihn zurück: er soll heraufkommen!«

Nach einer kurzen Pause der Erwartung, während welcher Paul mit freudiger Verwunderung seine Amme betrachtete und die Überzeugung gewonnen hatte, daß auch Floy von ihr nicht vergessen worden, trat Walter in das Zimmer. Sein offenes Gesicht und Wesen, wie auch seine heiteren Blicke hatten ihn Paul stets lieb gemacht, und als der Knabe seiner ansichtig wurde, streckte er ihm mit dem Rufe: »Lebt wohl!« die Hand entgegen.

»Lebt wohl, mein Kind!« rief Mrs. Pipchin, zu den Häupten seines Bettes eilend. »Wer wird so sagen?«

Einen Moment sah Paul mit dem schlauen Gesicht, mit dem er sie so oft in der Ecke beim Feuer betrachtet hatte, nach ihr hin.

»Ach ja«, sagte er ruhig, »lebt wohl! lieber Walter, lebt wohl!« Dann wandte er den Kopf wieder nach der Stelle, wo er stand, und streckte abermals seine Hand aus. »Wo ist der Papa?«

Er fühlte den Atem seines Vaters auf seiner Wange, ehe noch die Worte von seinen Lippen geglitten waren.

»Vergeßt Walter nicht, lieber Papa«, flüsterte er zu seinem Gesicht aufschauend. »Vergeßt Walter nicht. Walter ist lieb zu mir gewesen!« Dann schwenkte er die matte Hand in die Luft, als sollte sie Walter abermals ein ›Lebt wohl‹ zurufen.

»Legt mich jetzt nieder«, sagte er, »und Floy, komm zu mir her, damit ich dich sehe.«

Schwester und Bruder umarmten sich, und das goldene Licht kam strömend herein, die beiden mit ihren Strahlen übergießend.

»Wie schnell der Fluß zwischen seinen grünen Ufern und den Binsen läuft, Floy! Doch es ist nicht weit bis zur See. Ich höre die Wellen! Sie haben immer so gesprochen.«

Dann teilte er ihr mit, die Bewegung des Boots auf dem Strom wirke einschläfernd auf ihn. Wie grün waren nicht jetzt die Ufer, wie bunt die darauf wachsenden Blumen und wie hoch die Binsen! Jetzt hatte das Boot die See erreicht und glitt ruhig weiter. Dort sah er eine Küste vor sich. Wer stand an dem Gestade?

Er faltete seine Hände, wie er es beim Gebete zu tun pflegte. Seine Arme hielten Florence noch immer umschlossen, und er richtete seine zarten Finger hinter ihrem Nacken auf.

»Mama sieht ganz aus wie du, Floy. Ich kenne sie an dem Gesicht! Aber sage ihnen, der Kupferstich bei Blimbers oben sei nicht himmlisch genug. Der Schein um den Kopf folgt mir nach, wohin ich gehe!«

Das goldene Wogen an der Wand kam wieder zurück, und nichts anderes rührte sich im Zimmer. Die alte, alte Weise! Die Weise, die uns anfliegt mit unseren ersten Gewändern und unveränderlich weilt, bis unsere Pilgerfahrt vollendet ist und das weite Firmament sich wie ein Blatt Papier aufrollt. Die alte, alte Weise – der Tod!

O dankt Gott ihr alle, die ihr sie seht, für jene noch ältere Weise – die der Unsterblichkeit! Und schaut auf uns, ihr Engel sternchenland.com von kleinen Kindern, mit nicht ganz entfremdeten Blicken, wenn der rasche Strom uns in den Ozean hinaustreibt!

»Ach Himmel, ach Himmel!« rief Miß Tox, am selben Abend aufs neue sich in Jammer ergießend, als ob ihr das Herz brechen wollte,– »denken zu müssen, daß Dombey und Sohn zuletzt eine Tochter ist!«

Siebzehntes Kapitel.


Siebzehntes Kapitel.

Kapitän Cuttle macht ein kleines Geschäft für die jungen Leute.

Um jenes überraschende Talent für tief angelegte und unergründliche Pläne, mit dem nicht selten Leute von sehr augenfälliger Einfachheit allen Ernstes von Natur aus begabt zu sein wähnen, in Anwendung zu bringen, war Kapitän Cuttle an jenem ereignisvollen Sonntag nach Mr. Dombeys Haus gegangen. Unterwegs blinzelte er stets, um dem überströmenden Scharfsinn einen Abfluß zu gestatten, und so kam es denn, daß er sich bald in der vollen Herrlichkeit seiner Gamaschen Towlinson vorstellen konnte. Zu seinem großen Leidwesen mußte er übrigens von diesem Individuum erfahren, welch ein Unglück bevorstand, und sein Zartgefühl bewog ihn, ganz verdutzt und unverrichteter Dinge wieder abzuschweben. Indes ließ er doch als kleinen Beweis seiner Aufmerksamkeit den Blumenstrauß zurück und der Familie im allgemeinen seine achtungsvollen Komplimente vermelden, die er mit der Kundgebung seiner Hoffnung begleitete, sie möchten unter obwaltenden Umständen ihre Schnäbel gut an den Wind legen. Zugleich fügte er die freundschaftliche Andeutung bei, daß er morgen wieder vorsprechen wolle.

Auf die Komplimente des Kapitäns hatte niemand geachtet und sein Blumenstrauß war, nachdem er die Nacht über in der Halle gelegen, am andern Morgen in den Kehrichtwinkel geworfen worden. So konnte also die schlaue Einleitung des Kapitäns, an die er so große Hoffnungen und Entwürfe geknüpft hatte, als eine völlig vergebliche Mühe betrachtet werden. In ähnlicher Weise leiden Zweige und Büsche mit den zugrunde gehenden Blumen, wenn eine Lawine auf einen Gebirgswald niederstürzt.

Als Walter am Sonntagabend von seinem langen Spaziergang und dessen denkwürdigen Schluß nach Hause zurückkehrte, sah er sich anfangs von der Nachricht, die er zu überbringen hatte, und von den Erregungen, die die durchgemachte Szene zu wecken imstande war, dermaßen in Anspruch genommen, daß er weder bemerkte, sein Onkel sei augenscheinlich von der Kunde, die der Kapitän zu überbringen sich anheischig gemacht hatte, nicht unterrichtet, noch die Signale verstand, die Mr. Cuttle mit seinem Haken machte, um ihn vor einer Berührung des Gegenstandes zu warnen. Allerdings waren auch letztere, wie aufmerksam man auch auf sie achten mochte, nicht sternchenland.com sonderlich einleuchtend, denn gleich jenen chinesischen Weisen, die der Sage nach bei ihren Zusammenkünften gewisse völlig unaussprechbare gelehrte Worte in die Luft schreiben, machte der gute Mann solche Schnörkel und Winkelzüge, daß ihn niemand begreifen konnte, wenn man nicht schon zum voraus in sein Geheimnis eingeweiht war.

Als jedoch Kapitän Cuttle erfuhr, was vorgefallen war, gab er seine Versuche auf, denn er bemerkte wohl, daß er kaum darauf rechnen durfte, vor der Zeit von Walters Abreise den Gegenstand mit Mr. Dombey gemütlich besprechen zu können. Trotzdem er sich aber mit großer Niedergeschlagenheit klarmachen mußte, wie die Angelegenheit einmal stand, ohne im voraus aufgeklärt und durch die Behandlung eines weisen Freundes ins gleiche gebracht zu sein, müsse Sol Gills davon unterrichtet werden und Walter sich für den Aufbruch gefaßt halten, entschlug er sich doch nicht der edlen Selbstzuversicht, er, Ned Cuttle, sei der Mann für Dombey, und es gehöre nichts dazu, als daß sie beide zusammenkämen, um Walter glücklich zu machen. Er konnte nämlich nicht vergessen, wie gut er in Brighton mit Mr. Dombey zurechtgekommen war, mit welcher Feinheit jeder von ihnen das nötige Wörtlein eingeflochten habe, wie genau sie sich gegenseitig das Maß genommen und wie Ned Cuttle derjenige gewesen, der in der äußersten Not jenes Zufluchtsmittel getroffen und die Verhandlung zu einem erwünschten Schluß gebracht habe. Aus allen diesen Gründen beschwichtigte sich der Kapitän mit dem Gedanken, obgleich für die Gegenwart der Beistand Ned Cuttles durch den Drang der Ereignisse fast nutzlos werde, könne er doch in guter Zeit ein feuchtes Segel aufholen und triumphierend die Angelegenheit in Ordnung bringen.

Unter dem Einfluß dieser wohlgemeinten Selbsttäuschung ging Kapitän Cuttle, während ihm bei Walters Erzählung eine Träne auf den Hemdkragen niederträufelte, in seinem Innern sogar mit dem Gedanken um, ob es sich nicht ebensogut mit Höflichkeit als mit der Politik vertrage, Mr. Dombey auf einen beliebigen Tag zu einer Hammelkeule nach Brig-Place einzuladen und die Frage über die Aussichten seines jungen Freundes bei einem geselligen Glase zu besprechen. Aber das unsichere Temperament der Mrs. Mac Stinger und die Möglichkeit, sie könnte sich während einer solchen Unterhaltung auf dem Flur aufpflanzen und daselbst allerlei derbe Worte ausstoßen, legten dem gastfreundlichen Gedanken des Kapitäns einen kräftigen Zügel an, so daß er für seinen Entschluß nicht den gehörigen Mut aufbringen konnte.

Als Walter gedankenvoll über seinem unberührten Mittagessen saß und mit seiner Einbildungskraft bei den Vorgängen des Abends weilte, wurde dem Kapitän wenigstens eine Tatsache klar – daß nämlich der Neffe seines Freundes, wie sehr auch die Bescheidenheit desselben sich dagegen verwahren mochte, doch sozusagen als ein Mitglied von Mr. Dombeys Familie betrachtet werden konnte. Er war selbst in Beziehung gekommen zu dem Ereignis, das er so ergreifend zu schildern vermochte; sein Name war dabei berührt und empfohlen sternchenland.com worden, sein Glück mußte also für seinen Prinzipal ein besonderes Interesse haben. Wie sehr übrigens der Kapitän auch einige von seinen eigenen Schlußfolgerungen bezweifeln mochte, kam ihm doch darüber nicht der mindeste Zweifel, daß sie vollkommen gut für den inneren Frieden des Instrumentenmachers seien. Er benützte daher einen günstigen Augenblick, um seinem alten Freund die Reise nach Westindien als ein Zeichen außerordentlicher Bevorzugung darzustellen, indem er erklärte, er für seinen Teil gäbe, wenn er’s hätte, für das, was Walter im Laufe der Zeit gewinnen müsse, gern hunderttausend Pfund, und solch ein Kapital müsse natürlich schöne Renten abwerfen.

Solomon Gills war im Anfang völlig betäubt von dieser Kunde, die gleich einem Donnerschlag, der den heimischen Herd aufwühlte, in das kleine Hinterstübchen niederfiel. Aber der Kapitän wußte so schöne goldene Berge vor seinen düsteren Blicken zu entfalten, deutete so geheimnisvoll auf Whittingtonsche Folgen hin, legte so großen Nachdruck auf das, was Walter eben erzählt hatte, und berief sich so zuversichtlich darauf, als auf eine Bekräftigung seiner Prophezeiungen und einen großen Vorschub für die Verwirklichung der romantischen Legende von der lieblichen Peg, daß der alte Mann völlig verwirrt wurde. Walter erkünstelte für seinen Teil eine Fülle von Hoffnung und Freude, indem er im Ton der größten Zuversichtlichkeit seine Überzeugung aussprach, daß er bald wieder nach Haus zurückkehren werde; auch unterstützte er den Kapitän mit einem so ausdrucksvollen Nicken des Kopfes und Händereiben, daß Solomon, der anfangs ihn und dann seinen alten Freund ansah, wirklich zu glauben begann, auch er sollte vor Freude ganz außer sich sein.

»Aber Ihr begreift wohl, ich habe mich verspätet«, bemerkte er entschuldigend, indem er mit zitternder Hand über die lange Reihe blanker Knöpfe seines Rocks hinunter und dann wieder herauf fuhr, als wären es die Perlen eines Rosenkranzes, deren Paternoster er zweimal herbeten wollte, »und ich möchte weit lieber, daß mein lieber Junge hier bliebe. Ich will zwar glauben, daß dies Vorurteil ein altmodisches ist. Er hat immer so viel auf die See gehalten und ist« – er sah dabei mit einer Schmerzensmiene nach Walter hin – »er ist froh, daß er fortkommt.«

»Onkel Sol«, rief Walter hastig, »wenn du so sagst, so werde ich nicht gehen. Nein, Kapitän Cuttle, in diesem Fall gehe ich nicht. Wenn mein Onkel glaubt, ich könne froh sein, ihn zu verlassen, und handelte sich’s auch darum, Gouverneur aller Inseln Westindiens zu werden, so genügt das vollständig. Ich bleibe.

»Wal’r, mein Junge«, sagte der Kapitän. »Gemach! Sol Gills, macht eine Observation auf Euren Neffen.«

Mit den Augen der majestätischen Gebärde von Cuttles Haken folgend, blickte der alte Mann auf Walter.

»Hier ist ein gewisses Fahrzeug«, fuhr der Kapitän in großartigem Gefühl der Allegorie, in der er sich aufschwang, fort: »es soll ausziehen auf eine gewisse Reise. Welcher Name ist unauslöschlich sternchenland.com auf dieses Fahrzeug geschrieben? Ist es der Gay – oder«, fügte er hinzu, indem er seine Stimme erhob, als wollte er auf diesen Punkt hauptsächlich aufmerksam machen, »ist es der Gills?«

»Ned«, entgegnete der alte Mann, indem er Walter an seine Seite zog und dessen Arm zärtlich in den seinen nahm, »ich weiß, ich weiß. Es ist mir natürlich nicht unbekannt, daß Wally stets mehr Rücksicht auf mich als auf sich selbst nimmt. Ich vergesse es nie, und wenn ich sage, er freue sich auf das Fortkommen, so drücke ich damit bloß meine Hoffnung aus, daß es so sein möge. Ist’s nicht so? Ihr müßt wissen, Ned, und auch du mußt es wissen, mein lieber Wally, daß mir diese Kunde neu und unerwartet kommt; ich fürchte, der Umstand, daß ich so weit hinter der Zeit zurück und daß ich arm bin, ist daran schuld. Ihr sagt mir, er könne wirklich sein Glück finden?« fuhr der alte Mann fort, indem er ängstlich von dem einen auf den andern blickte. »Ist’s auch wirklich wahr und wahrhaftig? Ich kann mich fast in alles finden, was Wally vorwärts bringt, aber dies könnte ich nicht ertragen, daß Wally um meinetwillen Nachteil hätte oder mir irgend etwas vorenthielte. Ihr, Ned Cuttle« – sagte der Greis, den Kapitän anfassend, daß dieser Diplomat in die augenfälligste Verwirrung geriet – »geht Ihr auch ehrlich um mit Eurem alten Freunde? Sprecht Euch aus, Ned Cuttle, steckt nichts dahinter? Muß er gehen? Wie und warum erfahrt Ihr es zuerst?«

Da sich’s nunmehr um einen Wettstreit der Liebe und Selbstverleugnung handelte, so ergriff jetzt Walter zu des Kapitäns unendlicher Erleichterung mit bestem Erfolg das Wort, und der alte Sol Gills gewöhnte sich allmählich an den Gedanken, indem man ihn lang und breit besprach; oder vielmehr der Greis wurde darüber so verwirrt, daß sich nichts, nicht einmal der Schmerz der Trennung, seiner Seele mit Bestimmtheit vergegenwärtigte.

Er hatte nicht viel Zeit, die Sache zu erwägen, denn schon am andern Tage erhielt Walter von Mr. Carker, dem Geschäftsführer, die nötigen Briefschaften für seine Fahrt und Ausstattung, zugleich mit der Nachricht, daß der »Sohn und Erbe« in vierzehn oder spätestens sechzehn Tagen absegeln werde. In der Hast der Vorbereitungen, welche Walter absichtlich möglichst steigerte, verlor der alte Mann das bißchen Fassung, das er sonst hatte, vollends, und so kam die Zeit der Abreise schnell heran.

Der Kapitän, der nicht ermangelte, durch tägliche Erkundigungen bei Walter sich von allen Vorgängen zu unterrichten, fand, daß die Zeit bis zur Abfahrt noch immer nicht reiche, obschon sich nie eine Gelegenheit bot oder darzubieten schien, um ihm über die Sachlage eine klarere Einsicht zu geben. Dieser Umstand quälte ihn sehr, und nachdem er über die unglücklichen Verwicklungen reiflich nachgedacht hatte, tauchte ihm plötzlich eine glorreiche Idee auf. Wenn er nun einen Besuch bei Mr. Carker machte und aus diesem herauszulocken suchte, was eigentlich vorlag? Dieser Einfall erschien Kapitän Cuttle ganz herrlich. Er war ihm aufgestiegen in einem Augenblick der Begeisterung, als er eben in Brig-Place nach dem Frühstück seine sternchenland.com Morgenpfeife rauchte, und man muß sagen, daß die Idee dem Tabak Ehre machte. Hierdurch konnte er sein ehrliches Gewissen beruhigen, denn das, was ihm Walter vertraut und Sol Gills ihm gesagt hatte, wirkte doch etwas unheimlich auf ihn, und wenn er so handelte, beging er nur einen tief angelegten, verschmitzten Akt der Freundschaft. Er wollte Mr. Carker sorgfältig ausholen und viel oder wenig sagen, je nach dem Charakter des Gentleman und je nach den Umständen, ob diese nun gut oder nicht gut verliefen. Demgemäß legte Kapitän Cuttle, ohne von Walter etwas zu befürchten zu haben, da dieser, wie er wußte, zu Hause mit dem Packen beschäftigt war, seine Gamaschen und den Trauerhalstuchring wieder an, um den zweiten Versuch anzutreten. Diesmal kaufte er unterwegs keinen begütigenden Blumenstrauß, steckte aber eine kleine Sonnenblume in sein Knopfloch, um sich selbst einen lieblichen ländlichen Anflug zu geben, und so ging er denn, den Knotenstock in der Hand und den Glanzhut auf dem Kopf, schnurstracks auf das Geschäftslokal von Dombey und Sohn zu. Nachdem er zur Sammlung seiner Gedanken in einer nahe gelegenen Schenke ein Glas warmen Rums und Wassers genommen hatte, stürzte er, damit die guten Wirkungen nicht verdunsten möchten, auf den Hof los und zeigte sich plötzlich vor Mr. Perchs nichtsahnenden Augen.

»Kam’rad«, begann der Kapitän im Tone der Überredung, »nicht wahr, einer von Euren Herren heißt Carker?«

Mr. Perch räumte dies ein, machte ihm aber zugleich die pflichtliche Mitteilung, daß die Herren insgesamt beschäftigt seien und sich nicht wollten stören lassen.

»Na, so hört, Kam’rad«, sagte ihm der Kapitän ins Ohr: »mein Name ist Kap’tn Cuttle.«

Der Kapitän wollte Perch mit seinem Haken sanft zu sich heranziehen – ein Versuch, welchen Mr. Perch zu vereiteln wußte, nicht so absichtlich, sondern vielmehr bei dem plötzlichen Gedanken erschreckend, daß eine solche Waffe, plötzlich der Mrs. Perch vorgeführt, den Hoffnungen dieser Dame bei ihren dermaligen Umständen verderblich werden könnte.

»Wenn Ihr könntet und die Güte haben wolltet, nur zu melden, daß Kap’tn Cuttle hier ist«, sagte der Kapitän, »so will ich warten.«

Mit diesen Worten nahm der Kapitän auf Mr. Perchs Sitzbrett Platz, holte sein Schnupftuch aus der Krone des Glanzhutes, den er ohne Beschädigung der Form, weil ihn nichts Menschliches zu zerdrücken vermochte, zwischen seine Knie geklemmt hatte, rieb sich den ganzen Kopf und schien dann völlig erfrischt zu sein. Dann ordnete er sich das Haar mit seinem Haken, ließ seine Blicke durch das Bureau laufen und betrachtete sich die Handlungsdiener mit ruhigem Respekt. Der Gleichmut des Kapitäns war so unzerstörbar, er selbst aber durch und durch ein so geheimnisvolles Wesen, daß der beauftragte Perch eingeschüchtert wurde.

»Wie ist der Name, den Ihr mir genannt habt?« fragte Mr. Perch, indem er sich zu ihm nach dem Sitz niederbeugte.

»Kap’tn«, versetzte der andere in tiefem, heiserem Flüsterton.

»Ja«, versetzte Mr. Perch, mit seinem Kopfe nickend.

»Cuttle.«

»O«, entgegnete Mr. Perch in dem gleichen Tone, denn er hatte die eindrucksvolle Diplomatik de« Kapitäns notwendig begreifen müssen. »Ich will sehen, ob er jetzt freie Zeit hat. Ob’s so gut ist, weiß ich nicht; aber vielleicht könnte er doch eine Minute erübrigen.«

»Ja, ja, mein Junge – ich will ihn nicht länger als eine Minute in Anspruch nehmen«, erwiderte der Kapitän mit einem Kopfnicken, in welchem er die ganze Wichtigkeit, die er in sich fühlte, ausdrückte. Perch kehrte bald zurück und meldete:

»Will Kapitän Cuttle mit mir kommen?«

Mr. Carter, der Geschäftsführer, stand vor dem leeren Kamin, der mit einem großen Pappendeckel eingefaßt war, und blickte den hereinkommenden Kapitän nicht sehr ermutigend an.

»Mr. Carter?« fragte Kapitän Cuttle.

»Jawohl«, sagte Mr. Carter, alle seine Zähne zeigend.

Die Antwort, die von einem Lächeln begleitet war, gefiel dem Kapitän, denn daraus ließ sich etwas hoffen.

»Ihr seht«, begann der Kapitän, die Augen langsam durch das kleine Gemach gleiten lassend und so viel davon in sich ziehend, als sein Hemdkragen gestattete, »ich bin selbst ein seefahrender Mann, Mr. Carker, und Wal’r, der hier mit Buchführung beschäftigt war, könnte ich fast meinen Sohn nennen.«

»Walter Gay?« fragte Mr. Carter, aufs neue alle seine Zähne zeigend.

»Ja, Wal’r Gay – ganz richtig«, versetzte der Kapitän in einer Weise, als freue er sich höchlich über Mr. Carters rasche Auffassungsgabe. »Ich bin ein vertrauter Freund von ihm und seinem Onkel. Vielleicht« – fuhr der Kapitän fort – »habt Ihr Euer« Prinzipal schon meinen Namen nennen hören – Kapitän Cuttle?«

»Nein«, entgegnete Mr. Carter mit einer noch grinsenderen Demonstration als zuvor.

»Nun, ich erfreue mich des Vergnügens, von ihm gekannt zu sein«, versetzte der Kapitän. »Ich machte ihm an der Sussexküste drunten mit einem jungen Freunde meine Aufwartung, als – kurz, als sich’s um eine kleine Vermittlung handelte.« Der Kapitän nickte mit einer Miene, die sich ebenso behaglich, als gelassen und nachdrucksvoll ausnahm. »Vermutlich werdet Ihr Euch erinnern.«

»Ich glaube, ich hatte die Ehre, das Geschäft zu erledigen«, sagte Mr. Carker.

»Jawohl«, entgegnete der Kapitän, »wieder vollkommen richtig! Ihr wart es. Nun habe ich mir die Freiheit genommen, hier vorzusprechen« –

»Wollt Ihr nicht Platz nehmen?« fragte Mr. Carker lächelnd.

»Danke schön«, erwiderte der Kapitän, sich den Wink zunutze machend. »Man kommt vielleicht in der Unterhaltung nur um so sternchenland.com besser fort, wenn man sitzt. Wollt Ihr nicht auch einen Stuhl nehmen?«

»Nein, ich danke«, sagte der Geschäftsführer, vielleicht infolge der Wintergewohnheit stets den Rücken dem Kamin zukehrend und auf den Kapitän niederschauend, als hätte er in jedem Zahn ein Auge. »Ihr wolltet sagen, Ihr habet Euch die Freiheit genommen – obschon hier von einer besonderen Freiheit gerade nicht die Rede ist« –

»Danke herzlich, mein Junge«, versetzte der Kapitän – »um meines Freunde« willen, Walter, hierher zu kommen. Sein Onkel Sol Gills ist ein Mann von Wissenschaft, und in dieser Beziehung kann man von ihm sagen, daß er ein Ausbund von Tüchtigkeit sei; aber er ist nicht das, was ich überhaupt einen tüchtigen Seemann nennen möchte – kein Mann von Praxis. Wal’r ist ein so schmuckes Bürschlein, wie nur je eins in der Welt war; aber in einer Beziehung trägt er den Kopf viel zu niedrig – ich meine, er ist zu bescheiden. Was ich nun Euch mitzuteilen wünsche«, fuhr der Kapitän mit gedämpfter Stimme und in einer Art vertraulichen Grunzens fort – »natürlich ganz zwischen Euch und mir in freundlicher Weise, bis Euer Prinzipal ein bißchen herumgekriegt ist und ich bei ihm neben Bord kommen kann – besteht darin: ist hier alles recht und komfortabel und segelt Wal’r aus mit vollkommen günstigem Wind?«

»Da möchte ich Eure Meinung hören, Kapitän Cuttle«, sagte Carker, seine Rockschöße unter die Arme nehmend und in dieser Stellung verbleibend. »Ihr seid ein praktischer Mann – was haltet Ihr davon?«

Der verschmitzte bedeutsame Blick im Auge des Kapitäns, als er es zu Erwiderung blinzelte, wäre höchstens durch die früher erwähnten unaussprechlichen chinesischen Worte zu schildern.

»Na, was sagt Ihr?« fuhr der Kapitän höchlich ermutigt fort, »habe ich recht oder unrecht?«

Durch Mr. Carkers lächelnde Leutseligkeit ermutigt und angespornt, hatte der Kapitän so viel mit seinem Auge ausgedrückt, daß er zu einer derartigen Frage vollkommen befugt zu sein glaubte, als hätte er seine Meinung in schönsten Worten angebracht.

»Ihr habt recht«, sagte Mr. Carker: »ich zweifle nicht daran.«

»Also eine Fahrt mit günstigem Wetter?« rief Kapitän Cuttle.

Mr. Carker lächelte zustimmend.

»Den Wind voll im Stern und in gehöriger Menge!« fuhr Kapitän Cuttle fort.

Mr. Carker lächelte abermals beipflichtend.

»Schön, schön!« sagte der Kapitän Cuttle in froher Beruhigung. »Ich wußte ja, wie es stand, und sagte es auch Walter. Danke, danke.«

»Gay hat glänzende Aussichten«, bemerkte Mr. Carker, seinen Mund noch weiter auseinanderziehend: »die ganze Welt liegt vor ihm.«

»Die ganze Welt, und da bleibt das Weib nicht aus, wie es im Sprichwort heißt«, entgegnete der entzückte Kapitän.

Bei dem Worte »Weib«, welches ganz unabsichtlich ausgesprochen worden, hielt der Kapitän inne und blinzelte wieder mit dem Auge; dann setzte er den Glanzhut auf seinen Knotenstock, ließ ihn wirbelnd herumtanzen und schaute seitwärts nach seinem stets lächelnden Freund.

»Ich wette eine Maß alten Jamaika«, sagte der Kapitän, ihn aufmerksam beobachtend, »daß ich weiß, über was Ihr lächelt.«

Mr. Carker griff dieses Schlagwort auf und lächelte um so mehr.

»Es geht nicht weiter?« bemerkte der Kapitän, mit dem Knotenstock gegen die Tür hinstoßend, um sich zu überzeugen, daß sie geschlossen sei.

»Nicht um einen Zoll«, sagte Mr. Carker.

»Ihr denkt vielleicht an ein großes F?« meinte der Kapitän.

Mr. Carker stellte es nicht in Abrede.

»Vielleicht auch an ein L oder an ein O,«

Mr. Carker lächelte noch immer.

»Habe ich wieder recht?« fragte der Kapitän flüsternd, und der Scharlachring um seine Stirne vertiefte sich im Triumph der Freude.

Da Mr. Carker zur Erwiderung noch immer lächelte und jetzt zustimmend mit dem Kopf nickte, erhob sich Kapitän Cuttle, drückte ihm die Hand und gab ihm die warme Zusicherung, sie seien beide auf demselben Wege, und was ihn (Cuttle) betreffe, so habe er stets auf diesen Kurs angelegt. »Zum erstenmal hat er sie in einer sehr ungewöhnlichen Weise kennengelernt«, sagte er mit der ganzen Geheimnisfülle und Wichtigkeit, welche der Gegenstand erforderte. – »Ihr erinnert Euch, wie er sie, noch als kleines Kind, auf der Straße fand! sie ist seitdem immer sein Augapfel gewesen, und auch sie hatte ihn so gern, wie es bei zwei so jungen Leutchen nur möglich ist. Wir haben immer gesagt, Sol Gills und ich, sie seien für einander gemacht.«

Eine Katze, ein Affe, eine Hyäne oder ein Totenkopf hätten auf einmal dem Kapitän nicht mehr Zähne zeigen können, als Mr. Carker bei dieser Höhe der Unterhaltung blicken ließ.

»Ihr seht, alles findet sich zusammen«, bemerkte der überglückliche Kapitän. »Wind und Wasser schlagen in dieselbe Richtung. Wenn ich nur denke, daß er letzthin auch mit anwesend war.«

»Sehr günstig für seine Hoffnungen«, sagte Mr. Carker.

»Daß er an selbigem Tage auch ins Kielwasser getaut wurde«, fuhr der Kapitän fort. »Was kann ich jetzt triftig kappen?«

»Nichts«, versetzte Mr. Carker.

»Ihr habt abermals recht«, erwiderte der Kapitän mit einem weiteren Händedruck. »Nichts. Also nur fest ausgehalten. Ein Sohn ist dahin, das liebe kleine Geschöpf: ist’s nicht so?«

»Ja, ein Sohn ist dahin«, stimmte Mr. Carker mit ein.

»So laßt nur den Ruf erschallen, und Ihr habt einen andern zur Hand«, bemerkte der Kapitän; »den Neffen eines wissenschaftlichen Onkels! den Neffen von Sol Gills, Wal’r, den Wal’r, der bereit in Eurem Geschäft ist, und« – fügte der Kapitän hinzu, indem er sternchenland.com sich allmählich zu der Phrase aufschwang, die er als Schlußstein vorbereitet hatte – »der von Sol Gills aus täglich in den Schoß Eures Geschäftslebens kommt.«

Die Selbstgefälligkeit, mit welcher der Kapitän seine ebengenannten Sentenzen schloß und dabei Mr. Carter stets mit seinem Ellenbogen anstieß, konnte nur durch die Miene des Entzückens übertroffen werden, mit welcher er nach der glanzvollen Entfaltung seiner Beredsamkeit und seines Scharfsinns zurücktrat und den Geschäftsführer ins Auge faßte. Seine große blaue Weste klopfte unter den Geburtswehen eines solchen Meisterstücks, und aus derselben Ursache befand sich seine Nase im Zustande einer ungestümen Kongestion.

»Habe ich recht?« fragte der Kapitän.

»Kapitän Cuttle«, versetzte Mr. Carker, der sich in seltsamer Weise für einen Moment bis zu seinen Knien niederbeugte, als falle er zusammen, um sein ganzes Ich mit einem Male zu umarmen – »Eure Ansicht inbetreff Walter Gays ist durchaus und aufs Haar hin richtig. Ich nehme an, daß wir vollkommen im Vertrauen miteinander sprechen.«

»Auf Ehre«, erwiderte der Kapitän. »Nicht ein Wort.«

»Gegen ihn oder irgend jemand?« fügte der Geschäftsführer hinzu.

Kapitän Cuttle runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf.

»Es geschieht bloß zu Eurer eigenen Beruhigung und damit Ihr Euch danach richten möget – natürlich könnt Ihr Euch danach richten«, wiederholte Mr. Carker, »und demgemäß Eure künftigen Schritte ordnen.«

»Ich bin Euch in der Tat sehr zu Dank verpflichtet«, sagte der Kapitän, der ganz Ohr war.

»Ich nehme keinen Anstand zu sagen, daß die Sache sich wirklich so verhält. Die Wahrscheinlichkeiten sind von Euch aufs genaueste erfaßt worden.«

»Und was Euern Prinzipal betrifft«, sagte der Kapitän, »ei, da liegt’s wohl in der Natur der Sache, daß es zwischen uns zu einer Verständigung komme. Doch dafür ist noch immer Zeit.«

Mr. Carker wiederholte mit einem Munde, der von Ohr zu Ohr ging: »noch immer Zeit« – nicht gerade in artikulierten Worten, denn er beugte nur leutselig den Kopf und bildete den Satz mit der Zunge und den Lippen.

»Und da ich jetzt weiß – ich Habs auch immer gesagt – daß Wal’r auf dem Punkt ist, sein Glück zu machen –« sagte der Kapitän.

»Sein Glück zu machen«, wiederholte Mr, Carker in derselben stummen Weise.

»Und daß Walter diese Reise sozusagen in seinem Amte und als ein Teil seiner allgemeinen Aussichten hier antritt«, sagte der Kapitän.

»Seiner allgemeinen Aussichten hier«, pflichtete Mr. Carker ebenso lautlos wieder bei.

»Je nun, da ich dies weiß«, fuhr der Kapitän fort, »hat’s keine Eile, und ich kann mich zufrieden geben.«

Mr. Carker fuhr fort, in derselben lautlosen Weise seinen geschmeidigen Beifall zu erkennen zu geben, und Kapitän Cuttle gewann die feste Überzeugung, der Geschäftsführer sei einer der angenehmsten Menschen, mit denen er je zusammengetroffen sei, denn selbst Mr. Dombey könne von einem solchen Musterbild noch lernen. Der Kapitän streckte daher mit großer Herzlichkeit abermals seine ungeheure Hand aus, die an Farbe einem alten Block nicht unähnlich war, und ließ auf dem weicheren Fleische seines neuen Freundes einen Abdruck von all den Spalten und Ritzen zurück, mit welchen besagtes Tastorgan des alten Seemanns freigebig tätowiert war.

»Lebt wohl«, sagte der Kapitän. »Ich bin kein Mann von vielen Worten, weiß es aber sehr zu schätzen, daß Ihr Euch so freundschaftlich und offen gegen mich benommen habt. Ihr werdet mir’s zuguthalten, wenn ich überhaupt lästig gefallen bin?« fügte er bei.

»Durchaus nicht lästig«, entgegnete der andere.

»Danke schön. Meine Berth ist zwar nicht sehr geräumig«, sagte der Kapitän, indem er sich noch einmal umwandte, »aber doch leidlich geborgen, und wenn Ihr einmal in die Nähe von Brig-Place kommt, Nummer neun – wollt Ihr’s Euch nicht aufzeichnen? – so werde ich mir’s zu hoher Ehre anrechnen, wenn Ihr mich besuchen wollt. Ich wohne eine Treppe hoch, und Ihr müßt Euch nicht an das kehren, was etwa die Person an der Tür sagen mag.«

Mit dieser gastfreundlichen Einladung verabschiedete sich der Kapitän, verließ das Zimmer und drückte die Tür hinter sich zu, während Mr. Carker, noch immer an den Kaminsims gelehnt, zurückblieb. In der schlauen Miene und in dem lauernden Benehmen des letzteren, in seinem falschen Mund, der sich, ohne zu lachen, ausdehnte, in seiner schneeweißen Halsbinde und in seinem Backenbart, sogar in der Art, wie er mit der weichen Hand über seine weiße Leinwand und über sein glattes Gesicht fuhr, lag etwas verzweifelt Katzenartiges.

Der arglose Kapitän zog mit einem Triumphgefühl ab, das seinem weiten blauen Anzug einen ganz neuen Schnitt verlieh. »Ich muß dich loben, Ned!« sagte er zu sich selbst. »Du hast heute für die jungen Leute ein Geschäftchen geordnet, und dies macht dir Ehre, mein guter Bursche!«

In dem Entzücken seines Herzens und im Hinblick auf die gegenwärtige und zukünftige Beziehung zum Haus konnte sich der Kapitän, als er das äußere Bureau erreichte, nicht enthalten, Mr. Perch ein wenig zu necken und ihn zu fragen, ob er wohl noch immer glaube, daß keiner von seinen Herren etwas übrige Zeit finden könne. Da er übrigens einem Mann, der nur seine Pflicht erfüllt hatte, nicht wehe tun wollte, so flüsterte er ihm zu, wenn er Lust zu einem Gläschen Grog habe und ihm folgen wolle, so werde er sich glücklich schätzen, ihn damit zu traktieren.

Ehe der Kapitän das Bureau verließ, sah er sich, zum großen Erstaunen der Handlungsdiener, von einem Zentralteile des Gelasses um und musterte den Platz, der so wesentlich mit zu dem Projekte, das er für seinen jungen Freund ausgesponnen hatte, gehörte. Das Kassenzimmer erregte seine besondere Bewunderung; um übrigens nicht aufzufallen, begnügte er sich in dieser Beziehung nur mit einem beifälligen Blicke und ging sodann auf den Hof hinaus, nachdem er zuvor mit einer höflichen Gönnermiene sämtlichen Handlungsdienern seine Verbeugung gemacht hatte. Mr. Perch schloß sich ihm sogleich an, und er führte sofort diesen Gentleman nach der bewußten Schenke, wo er sein Versprechen erfüllte. Freilich mußte die Sache in größter Hast abgetan werden, da Perchs Zeit kostbar war.

»Ich will einen Toast ausbringen«, sagte der Kapitän. »Wal’r!«

»Wer?« fragte Mr. Perch.

»Wal’r!« wiederholte der Kapitän mit einer Donnerstimme.

Mr. Perch, der sich von seiner Jugend her zu erinnern schien, daß es einmal einen Poeten dieses Namens gegeben habe, erhob keine Einwendung, war aber doch sehr erstaunt, daß der Kapitän in die City kam, um die Gesundheit eines Dichters auszubringen. In der Tat, wenn er den Vorschlag gemacht hätte, die Statue irgendeines Musensohns – die Shakespeares zum Beispiel – an einer öffentlichen Straße aufzustellen, so hätte er kaum gegen Mr. Perchs Erfahrung mehr verstoßen können. Indes war der alte Gentleman ein so geheimnisvoller und unbegreiflicher Charakter, daß Mr. Perch den Entschluß faßte, seiner gegen Mrs. Perch in keiner Weise Erwähnung zu tun, damit nicht mißliebige Folgen daraus hervorgehen möchten.

Und richtig blieb der Kapitän in seinem lebhaften Gefühl, für die jungen Leute ein kleines Geschäft abgemacht zu haben, den ganzen Tag selbst gegen seine vertrautesten Freunde geheimnisvoll und unbegreiflich; hätte übrigens Walter nicht seinem Blinzeln, Grinsen und anderen pantomimischen Selbsterleichterungen im Interesse der unschuldigen Täuschung gegen Sol Gills nachgegeben, so würde er sich zuverlässig noch vor Abend verraten haben. Wie jedoch die Sachen standen, blieb er im Besitze seines Geheimnisses und verließ erst spät das Haus des Instrumentenmachers. Bei dieser Gelegenheit saß der Glanzhut so weit auf der einen Seite, und der Kapitän hatte einen so leuchtenden Ausdruck in seinem Auge, daß Mrs. Mac Stinger, eine wahrhaft römische Matrone, die recht gut in Doktor Blimbers Etablissement gepaßt hätte, beim ersten Anblick ihres Hausherrn sich hinter der offenen Straßentür verschanzte und zum Trost ihrer lieben Kindlein nicht wieder hervorkommen wollte, bis sie die Überzeugung gewonnen hatte, der alte Gentleman sei nun wohlbehalten in seinem eigenen Zimmer einquartiert. sternchenland.com

Achtzehntes Kapitel.


Achtzehntes Kapitel.

Vater und Tochter.

In Mr. Dombeys Haus herrscht ein gedrücktes Schweigen. Diener gleiten die Treppen hinauf und herab, aber mit lautlosen Tritten. Sie flüstern stets miteinander, sitzen lang bei Tische, genießen viel Fleisch und Getränk und tun sich in grimmiger, unheiliger Weise gütlich. Mrs. Wickham erzählt mit tränenden Augen viele traurige Anekdoten und teilt mit, sie habe bei Mrs. Pipchin stets gesagt, daß es so kommen werde. Sie trinkt dabei ungewöhnlich viel Tafelbier und ist sehr betrübt, aber dennoch gesellig. Der Gemütszustand der Köchin verhält sich ungefähr ebenso. Sie verspricht ein Brätlein zum Nachtessen und kämpft in gleicher Weise gegen ihre Gefühle und gegen die Zwiebel. Towlinson fängt an, zu glauben, es liege ein Fatum darin, und wünscht zu wissen, ob ihm jemand sagen kann, daß aus dem Wohnen in einem Eckhause je etwas Gutes erwachsen sei. Die Sache kommt allen vor, als habe sie sich schon vor langer Zeit zugetragen, und doch liegt das Kind noch auf seinem Bettchen – ruhig und schön.

Nach Einbruch der Dunkelheit kommen einige Besuche – lautlose Gäste mit Filzschuhen, die früher schon dagewesen waren, und mit ihnen trifft jenes Ruhebett ein, das an kindlichen Schläfern so befremdlich ist. Die ganze Zeit über hat sich der unglückliche Vater nicht einmal vor seiner Dienerschaft blicken lassen; er sitzt in einer Ecke seines dunkeln Gemachs, ohne sich anders zu rühren, als daß er hin und wieder aufsteht, um im Zimmer hin und her zu gehen. Am andern Morgen flüstert sich das Gesinde zu, man habe ihn mitten in der Nacht hinaufgehen hören, und er sei droben geblieben in dem Stübchen, bis die Sonne sich zeigte.

In dem Geschäftslokal der City sind die unteren Fenster durch Läden verdunkelt, und während die angezündeten Lampen auf den Pulten halb in dem vorrückenden Tag erblinden, wird der Tag halb durch die Lampen ausgelöscht. Es herrscht ein ungewöhnliches Düster, und von Geschäft ist nicht sonderlich die Rede. Die Handlungsdiener haben keine Lust, zu arbeiten, und machen unter sich aus, daß sie nachmittags Hammelrippchen essen und es mit einer Flußpartie versuchen wollen. Der Ausläufer Perch will fast gar nicht mehr zurückkommen; er weilt in der Schenkstube des Wirtshauses, wohin er von Freunden eingeladen ist, und ergießt sich in Reden über die Unsicherheit menschlicher Angelegenheiten. Abends kommt er von Balls Pond früher als gewöhnlich nach Hause und traktiert Mrs. Perch mit einem Kalbskotelett und schottischem Ale. Mr. Carker, der Geschäftsführer, traktiert niemanden und wird nie traktiert; er sitzt allein in seinem Gemach und zeigt den ganzen Tag seine Zähne. Fast gewinnt es den Anschein, als sei sein Pfad gesäubert, irgendein Hindernis weggeräumt worden, und die Aussicht liege jetzt frei vor ihm.

Jetzt schauen die rosigen Kinder, welche Mr. Dombeys Hause gegenüber wohnen, aus den Fenstern der Kinderstube auf die Straße herunter, denn vor der Tür stehen vier Rappen mit Federn auf den Köpfen. Federbüsche zittern auf dem Wagen, den sie ziehen, und diese sowohl, als ein Häuflein von Männern mit Schärpen und Stäben locken einen Volkshaufen herbei. Der Gaukler, der auf der Degenspitze einen Teller tanzen lassen wollte, wirft seinen Mantel wieder über den schönen Anzug, der seine Kunst bezeichnet, und sein müdes Weib, das von dem schweren Bübchen auf ihrem Arme krumm geworden ist, folgt ihm nach, um den Zug herauskommen zu sehen. Sie drückt den Kleinen inniger an ihre schmutzige Brust, während die leichte Last fortgeführt wird, und das jüngste von den rosigen Kindern an dem hohen Fenster gegenüber bedarf keiner zügelnden Hand für seine Unbändigkeit, während es mit seinem Grübchenfinger niederdeutet und mit der Frage zu dem Gesicht seiner Wärterin aufblickt: »Was ist das?«

Durch den Haufen der in Trauer gekleideten Diener und der weinenden Weiber in der Halle tritt jetzt Mr. Dombey heraus und auf den andern Wagen zu, der ihn erwartet. Die Zuschauer glauben, er sei nicht niedergedrückt von Kummer und Schmerz, da er so aufrecht und steif einhergeht, wie nur je. Er verbirgt sein Gesicht hinter keinem Taschentuch, sondern schaut vor sich hin; seine Züge aber sind etwas eingesunken und starr – er sieht blaß aus, im übrigen aber ganz so wie sonst. Er nimmt Platz in dem Wagen, und drei andere Gentlemen folgen ihm. Dann bewegt sich der großartige Leichenzug langsam die Straße hinunter. Man sieht die Federbüsche noch in der Ferne nicken, während der Gaukler bereits seine Teller auf einem Stock tanzen läßt, und derselbe Volkshaufe steht bewundernd um ihn her. Aber das Weib des Gauklers ist nicht so hurtig wie sonst mit der Geldbüchse, denn die Beerdigung eines Kindes hat den Gedanken in ihr rege gemacht, der Säugling unter ihrem schäbigen Halstuch wachse vielleicht nicht zu einem Mann heran, um dann in einem himmelblauen Barett auf dem Kopf und in lackfarbigen Trikots auf der Gasse Purzelbäume zu machen.

Die Federn nicken düster die Straße entlang und kommen endlich in den Bereich der Kirchturmglocke. In derselben Kirche hatte der Knabe das erhalten, was bald allein von ihm auf Erden zurückgeblieben sein wird – einen Namen. Dort legen sie in der Nähe der verweslichen Substanz seiner Mutter den toten Leib nieder. Ihm ist wohl. Die Asche von Mutter und Sohn liegt da, wo Florence in ihren, ach, so einsamen Spaziergängen jeden Tag einen Besuch machen kann.

Die Gebete sind vorüber, und der Geistliche hat sich entfernt. Mr. Dombey sieht sich um und fragt mit gedämpfter Stimme: ob die Person da sei, an welche der Auftrag ergangen, sich zur Entgegennahme der Weisungen für Besorgung des Grabsteins einzufinden.

Ein Mann tritt vor und sagt: »Ja.«

Mr. Dombey deutet an, wo er das Monument haben will, und sternchenland.com bezeichnet an der Mauer neben dem Denkstein der Mutter die Gestalt und den Umfang. Dann holt er einen Bleistift heraus, schreibt die Inschrift auf einen Streifen Papier, gibt sie dem Arbeiter und fügt die Bemerkung bei:

»Ich wünsche, daß es schleunigst besorgt werde.«

»Ich werde mich bestens beeilen, Sir.«

»Ihr seht, es ist nichts anzubringen als der Name und das Alter.«

Der Mann verbeugt sich und wirft einen Blick auf das Papier, scheint aber jetzt Anstand zu nehmen. Mr. Dombey, der sein Zaudern nicht bemerkt, wendet sich ab und geht auf das Kirchhofportal zu.

»Ich bitte um Verzeihung, Sir«, sagt der Mann, der ihm folgt und die Hand sanft auf den Ärmel seiner Trauerkleider legt; »aber da Ihr alsbaldige Besorgung wünscht und der Gegenstand unmittelbar in Angriff genommen werden soll –«

»Nun?«

»Vielleicht habt Ihr die Güte, es noch einmal zu übersehen? Ich glaube, es waltet hier ein Irrtum ob.«

»Wo?«

Der Steinmetz gibt ihm das Papier zurück und deutet mit einem Taschenlineal auf die Worte: »Geliebtes und einziges Kind«.

»Es muß wohl ›Sohn‹ heißen, glaube ich, Sir?«

»Ihr habt recht. Natürlich. Korrigiert es.«

Mit hastigeren Schritten setzte der Vater seinen Weg nach der Kutsche fort. Wie die anderen drei, welche ihm auf dem Fuße folgen, ihre Sitze einnehmen, ist sein Gesicht zum ersten Male verhüllt; er hat es in den Mantel verborgen. Auch werden sie desselben am nämlichen Tage nicht wieder ansichtig. Er steigt zuerst aus und begibt sich unverweilt nach seinem Zimmer. Die andern Leidtragenden, welche nur aus Mr. Chick und zwei von den Ärzten bestehen, verfügen sich in den Salon, wo sie von Mrs. Chick und Miß Tox empfangen werden. Wie das Gesicht in dem verschlossenen Gemache unten aussah, welche Gedanken dort weilen, wie es in dem Herzen aussah, und welcher Kampf, welche Leiden daselbst stattfanden – man weiß es nicht.

Aber so viel weiß man unten in der Küche, daß es im Haus »wie an einem Sonntag« ist. Man kann sich kaum überzeugen, daß in dem Benehmen der Leute auf der Straße, die ihren gewöhnlichen Beschäftigungen nachgehen und ihren Alltagsanzug tragen, nicht etwas Unanständiges, wo nicht gar etwas Gottloses liege. Es ist etwas so Neues, daß die Blenden niedergelassen und die Läden offen sind; man tut sich unheimlich gütlich über den Weinflaschen, die herbeigebracht werden, wie an einem Festtag. Die Hausgenossenschaft ist sehr zum Moralisieren geneigt. Mr. Towlinson bringt mit einem Seufzer den Trinkspruch aus: »es möchte besser werden mit ihnen allen«; und die Köchin erwiderte darauf gleichfalls mit einem Seufzer: »Gott wisse es, daß man’s brauchen könne.« Abends greifen Mrs. Chick und Miß Tox wieder zu ihrem Strickzeug, während Mr. Towlinson, von der Hausmagd begleitet, die ihren Trauerhut sternchenland.com noch nicht probiert hat, auf einem Spaziergang ein wenig Luft schöpfen will. Sie benehmen sich an der düstern Straßenecke sehr zärtlich gegeneinander, und Towlinson ergeht sich in Gesichten, wie er ein anderes und makelloses Dasein als frommer Gemüsehändler auf dem Oxfordmarkt führen wolle.

In Mr. Dombeys Hause schläft man in dieser Nacht weit tiefer, als seit lange. Die Morgensonne erweckt den alten Haushalt, der mit einem Male wieder in die alte Weise einbiegt. Die rosigen Nachbarskinder tummeln mit Reifen umher, und nach der Kirche hin zieht eine prunkvolle Hochzeit. Das Weib des Gauklers ist in einem andern Viertel der Stadt mit der Geldbüchse sehr rührig, und der Steinmetz meißelt singend und pfeifend die Buchstaben PAUL in die vor ihm liegende Marmorplatte ein.

Und ist es möglich, daß in einer so vollen, so rührigen Welt der Verlust eines einzigen so schwachen Lebens in irgendeinem Herzen eine Leere zurücklassen konnte, weit und tief genug, daß nichts als die Weite und Tiefe einer endlosen Ewigkeit es ausfüllen kann! Florence in ihrem unschuldigen Schmerz hätte vielleicht geantwortet: »O mein Bruder, o mein heißgeliebter, mein liebevoller Bruder! Einziger Freund und Gefährte meiner verachteten Kindheit! Könnte nur irgendeine kleinere Idee das Licht ausgießen, das schon über deinem frühen Grabe dämmert, oder den Schmerz mildern, der unter diesem Tränenregen ins Leben tritt!«

»Mein liebes Kind«, sagte Mrs. Chick, die es für ihre Pflicht hielt, die sich darbietende Gelegenheit zu benützen, »wenn du so alt bist, wie ich, –«

»Das heißt, in der eigentlichen Blüte des Lebens stehend«, bemerkte Miß Tox.

»So wirst du erfahren haben«, fuhr Mrs. Chick fort, indem sie in Anerkennung der freundlichen Bemerkung Miß Tox die Hand drückte, »daß der Gram zu nichts führt, und daß es unsere Pflicht ist, sich voll Ergebung in alles zu finden.«

»Ich will es versuchen, liebe Tante. Ich will es versuchen«, antwortete Florence schluchzend.

»Freut mich, dies zu hören«, sagte Mrs. Chick; »denn, meine Liebe, unsere gute Miß Tox, über deren gesundes Gefühl und über deren treffliches Urteil unmöglich eine geteilte Ansicht bestehen kann –«

»Meine teure Luisa, Ihr werdet mich nächstens stolz machen«, flocht Miß Tox ein.

»– wird dir gleichfalls sagen und aus ihrer Erfahrung bestätigen«, fuhr Mrs. Chick fort, »daß wir dazu berufen sind, bei allen Gelegenheiten eine Anstrengung zu machen. Dies liegt uns ob. Wenn irgendein – meine Liebe«, sich an Miß Tox wendend, »ich brauche ein Wort – Miß –, Miß –«

»Mißverhalten!« ergänzte Miß Tox.

»Nein, nein, nein«, sagte Mr«. Chick. »Wie könnt Ihr auch! Du, mein Himmel, es liegt mir auf der Zungenspitze. Miß –« sternchenland.com »Mißverstand?« deutete Miß Tox schüchtern an.

»Ach, gütiger Gott, Lukretia!« erwiderte Mrs. Chick, »wie ganz ungeheuer! Misanthrop heißt das Wort, das ich brauche. Die Idee! Mißverstand! Ich sage, wenn ein Misanthrop in meiner Gegenwart die Frage stellen wollte: ›Warum sind wir geboren?‹ so würde ich antworten: ›Um Anstrengungen zu machen‹.«

»In der Tat sehr gut«, sagte Miß Tox, durch die Originalität dieser Ansicht höchlich erbaut. »Sehr gut!«

»Leider«, fuhr Mrs. Chick fort, »schwebt unseren Blicken stets ein warnendes Beispiel vor. Wir haben nur zu viel Grund zur Annahme, mein liebes Kind, daß dieser Familie, wenn zu rechter Zeit eine Anstrengung gemacht worden, eine Kette der betrübendsten und bedauerlichsten Umstände erspart geblieben wäre. Nichts wird mich je von dem Gegenteil überzeugen«, bemerkte die gute Matrone mit entschlossener Miene, »daß nicht das liebe arme Herzenskind wenigstens eine kräftigere Konstitution gehabt hätte, wenn die gute selige Fanny diese Anstrengung gemacht hätte.«

Mrs. Chick gab sich einen Moment ganz ihren Gefühlen hin, unterbrach sich aber plötzlich, um eine praktische Illustration ihrer Doktrin zu geben, mitten in einem tiefen Seufzer und fuhr fort:

»Deshalb zeige uns, Florence, daß du einige geistige Kraft besitzest und nicht selbstsüchtig den Kummer noch schwerer machst, unter welchem dein armer Papa fast erliegt.«

»Teure Tante«, sagte Florence, indem sie hastig vor ihr niederkniete, um desto besser und angelegentlicher aufblicken zu können. »Erzählt mir mehr von Papa. Ich bitte, sprecht mit mir von ihm! Ist er ganz trostlos?«

Miß Tox besaß ein sehr zartes Gemüt, und es lag in diesem Ausruf etwas, was sie sehr ergriff. Sah sie vielleicht an dem vernachlässigten Kinde eine Folge des innigen Leides, das der tote Bruder so oft ausgedrückt hatte, – erkannte sie darin eine Liebe, welche sich an das Herz anzuschmiegen suchte, das ihn geliebt hatte, und das es nicht zu ertragen vermochte, von der wehmütigen Gemeinschaft der Liebe und des Schmerzes ausgeschlossen zu sein, – oder bemerkte sie nur die anspruchslose Innigkeit eines Geistes, der, obgleich vernachlässigt und zurückgewiesen, erfüllt war mit lange unerwiderter Zärtlichkeit, in der einsamen Öde ihrer Verwaisung aufrufend zu dem Vater, um bei ihm auch nur durch eine kleine Annäherung Trost zu suchen und ihm Trost zu geben, – was auch Miß Tox dabei denken mochte, genug, sie fühlte sich ergriffen. Für den Augenblick vergaß sie ganz die Majestät von Mrs. Chick, streichelte hastig Florences Wangen, wandte sich zur Seite und ließ ihren Tränen freien Lauf, ohne damit erst auf den Vorgang der weisen Matrone zu warten.

Mrs. Chick selbst verlor für einen Moment die Geistesgegenwart, auf die sie sich so viel zu gut tat, und blickte stumm auf das Gesicht nieder, das so lang, so stetig und so geduldig dem kleinen Wesen zugekehrt gewesen. Sobald sie jedoch ihre Stimme, was bei sternchenland.com ihr gleichbedeutend und überhaupt identisch mit Geistesgegenwart war, wiedergewonnen hatte, versetzte, sie mit Würde:

»Florence, mein liebes Kind, dein armer Papa ist zuweilen sonderbar, und wenn du mich über ihn fragst, so gilt deine Frage einem Gegenstand, den zu begreifen in der Tat ich mir nicht anmaßen will. Ich glaube, ich habe auf deinen Papa so viel Einfluß, wie nur irgend jemand, und dennoch kann ich weiter nichts sagen, als daß er sich nur sehr kurz gegen mich ausgesprochen hat. Ich bekam ihn kaum ein- oder zweimal für eine Minute zu Gesicht, und kann auch da nicht einmal sagen, daß ich ihn gesehen habe, weil sein Zimmer verdunkelt war. Ich habe deinem Papa bemerkt: ›Paul‹ – dies ist genau der Ausdruck, den ich gebrauchte – ›Paul, warum nimmst du nicht etwas Stimulierendes?‹ und dein Papa antwortete mir stets: ›Luisa, hab die Güte, mich zu verlassen. Ich brauche nichts und fühle mich besser, wenn ich allein bin.‹ Wenn ich morgen von einem Friedensrichter darauf beeidigt werden sollte, Lukretia«, fügte Mrs. Chick bei, »so zweifle ich nicht, daß ich auf die Identität dieser Worte schwören könnte.«

Miß Tox drückte ihre Bewunderung durch die Bemerkung aus: »Meine Luisa ist stets methodisch.«

»Kurz, Florence«, fuhr Mrs. Chick fort, »bis heute ist buchstäblich nichts zwischen deinem armen Papa und mir vorgegangen. Erst als ich deinem Papa mitteilte, Sir Barnet und Lady Skettles haben ungemein wohlwollende Briefe geschickt – ach, unser süßer Knabe! Lady Skettles liebte ihn wie ein – – wo ist mein Taschentuch?«

Miß Tox brachte das Gewünschte herbei.

»Ungemein freundliche Briefe mit dem Vorschlag, du sollest sie besuchen um der Luftveränderung willen. Als ich deinem Papa sagte: ich meine, Miß Tox und ich könnten nun nach Hause gehen – worin er vollkommen mit mir einverstanden war –, fragte ich, ob er etwas gegen eine Annahme dieser Einladung von deiner Seite einzuwenden habe. Er sagte: ›Nein, Luisa, durchaus nichts‹.«

Florence schlug die tränenvollen Augen auf.

»Wenn du es aber gleichwohl vorziehen würdest, hier zu bleiben – wenn du weder vorderhand diesen Besuch machen, noch zu mir in mein Haus kommen willst – –«

»O, ich will lieber hier bleiben, Tante«, lautete die tonlose Antwort.

»Nun, das kannst du auch, mein Kind«, sagte Mrs. Chick. »Ich muß zwar gestehen, daß mir die Wahl befremdlich vorkommt: aber du bist immer sonderbar gewesen. Man sollte glauben, jede andere Person deines Alters würde nach dem, was vorgegangen ist – meine liebe Miß Tox, ich habe schon wieder mein Taschentuch verloren, – froh sein, wenn sie von hier fortkommen könnte.«

»Es fiele mir schwer, wenn ich denken sollte, daß ich das Haus meiden müsse«, versetzte Florence. »Die Vorstellung käme mir bitter vor, daß die – seine – die Stube oben ganz leer und traurig sei, sternchenland.com Tante. Und so will ich lieber vorderhand hier bleiben. O mein Bruder! o mein Bruder!«

Diese natürliche Erregung ließ sich nicht unterdrücken und brach sich sogar durch die Finger der Hände, mit denen sie ihr Antlitz bedeckte, Bahn. Die übervolle Brust muß sich bisweilen in solcher Weise Luft machen, wenn das arme, verwundete, einsame Herz im Innern nicht flattern soll, wie ein Vogel mit durchschossenem Flügel, der bald in den Staub niedersinkt.

»Schon gut, mein Kind«, sagte Mrs. Chick nach einer Pause. »Ich möchte dir um alles in der Welt nichts Unliebes sagen und bin auch überzeugt, daß du dies selbst weißt. So bleib denn hier und tu, was dir gefällt. Sicherlich wird dich niemand belästigen oder überhaupt nur den Wunsch dazu hegen, Florence.«

Florence nickte in wehmütiger Zustimmung mit dem Kopf.

»Ich habe dem Papa geraten, er solle in einer Luftveränderung Zerstreuung und neue Kraft suchen«, bemerkte Mrs. Chick, »worauf er mir erwiderte, er habe sich bereits vorgenommen, eine Zeitlang aufs Land zu gehen. Ich hoffe, er wird seinen Entschluß bald ausführen, denn er kann nicht zu sehr damit eilen. Ich denke übrigens, er hat infolge des Leidens, das uns alle so sehr heimsuchte, manches in seinen Privatpapieren und dergleichen zu ordnen – ich kann mir nicht denken, was aus meinem Taschentuch geworden ist, meine liebe Lukretia, leiht mir das Eure – und dies wird ihn für einen oder zwei Abende auf seinem Zimmer festhalten. Wenn es je einen Dombey gab, mein Kind, so ist dein Papa einer«, fügte Mrs. Chick bei, indem sie mit großer Sorgfalt ihre beiden Augen mit den entgegengesetzten Enden von Miß Toxs Taschentuch trocknete. »Er wird eine Anstrengung machen, und wir brauchen also für ihn nichts zu fürchten.«

»Kann ich nichts für ihn tun, Tante?« fragte Florence zitternd.

»Himmel, mein liebes Kind«, fiel ihr Mrs. Chick hastig ins Wort, »was sprichst du? Wenn dein Papa zu mir sagte – ich habe genau seine Worte angeführt: ›Luisa, ich brauche nichts, ich bin am liebsten allein‹ – was glaubst du wohl, daß er zu dir sagen werde? Du mußt dich vor ihm gar nicht blicken lassen, Kind. Laß dir ja nichts derart einfallen.«

»Tante«, sagte Florence, »ich will gehen und mich zu Bett legen.«

Mrs. Chick lobte diesen Entschluß und entließ sie mit einem Kuß; aber Miß Tox folgte dem Mädchen unter dem Vorwand, das verlegte Taschentuch zu suchen, die Treppe hinauf und bemühte sich in einigen verstohlenen Minuten, sie zu ermutigen, ohne auf die finstere Miene von Susanna Nipper zu achten. Miß Nipper hielt nämlich in ihrem glühenden Eifer Miß Tox für ein Krokodil; aber gleichwohl schien die Teilnahme der letzteren echt zu sein, da sie wenigstens den Vorteil der Uneigennützigkeit für sich hatte, sintemal damit wenig Gunst zu gewinnen war.

Und war niemand da, der ihr näher stand oder lieber war, als Susanna, um das ringende Herz in seinem Weh aufzurichten? sternchenland.com Konnte sie sich nicht an einen andern Hals anklammern, keinem andern Gesicht zuwenden, bei niemanden sonst Trost suchen in ihrem herben Schmerz? Stand Florence so ganz allein, daß in der frostigen Welt ihr sonst nichts übrig blieb? Nichts. Jetzt der Mutter und des Bruders beraubt – denn in dem Verlust des kleinen Paul trat ihr wieder jener erste und größte schwer vors Herz – hatte sie nur noch diese einzige Helferin; und wer kann sagen, wie sehr sie jetzt der Hilfe bedurfte!

Nachdem das Hauswesen wieder seinen gewohnten Gang eingeschlagen und mit Ausnahme des Gesindes alles sich entfernt hatte, konnte Florence, da sich ihr Vater in seinen eigenen Gemächern einschloß, nichts tun, als weinen und umherwandern. Im plötzlichen Schmerzgefühl bitterer Erinnerung pflegte sie dann hin und wieder in ihr Zimmer hinaufzueilen, wo sie die Hände rang, ihr Gesicht auf das Bett legte und keines Trostes sich erfreuen durfte in ihrem herben, herben Schmerz. Dies geschah gemeiniglich dann, wenn irgendein Ort oder ein Gegenstand besonders zärtliche Erinnerungen an den Verstorbenen geweckt hatte; und das Haus wurde ihr dadurch anfangs zu einem wahren Folterplatz.

Es liegt jedoch nicht in der Natur einer reinen Liebe, lange so ungestüm und verzehrend zu lodern. Die Flamme, die in ihrer gröberen Zusammensetzung den Charakter der Erde trägt, kann wohl die Brust verzehren, in der sie sich birgt: aber das heilige Feuer vom Himmel zuckt so mild im Herzen, wie es einst auf den Häuptern der versammelten Zwölf ruhte, die von den Umstehenden mit der hehren Leuchte geziert gesehen wurden, ohne daß sie Schaden davon nahmen. Das heraufbeschworene Bild gewann bald wieder das ruhige Antlitz, die sanfte Stimme, den liebenden Blick und den ruhigen Frieden der Zuversicht; Florence weinte zwar noch, aber ihre Tränen wirkten beschwichtigend, und sie fühlte sich glücklicher in der Erinnerung.

Es dauerte nicht sehr lange, bis das goldene Wasser, welches an dem alten Platz und in der alten heiteren Weise tanzte, in seinem Fortebben ihre Augen fesselte. Das Gemach wurde ihr wieder traulicher; denn wie oft hatte sie allein dagesessen und geduldig und milde an der Seite des kleinen Bettchens gewacht. Kam ihr dann der bittere Gedanke, daß es jetzt leer sei, so kniete sie wie sonst neben dem Lager nieder und betete aus voller Seele zu Gott, er möchte nur einem einzigen Engel gestatten, sie zu lieben und ihrer eingedenk zu sein.

Bald erscholl in Mitte des weiten, traurigen, unheimlichen Hauses ihre gedämpfte Stimme wieder, und im Zwielicht sang sie, langsam und oft sich unterbrechend, die alte Weise, auf die er so oft gelauscht hatte, während sein müdes Köpfchen auf ihrem Arm ruhte. Und wenn es dann ganz dunkel war, erzitterten melodische Akkorde im Zimmer – so weich gespielt und gesungen, daß sie sich mehr wie die traurige Erinnerung dessen ausnahmen, was sie am letzten Abend auf sein Geheiß getan hatte, als wie eine wiederholte Wirklichkeit. Die Wiederholung aber geschah oft, sehr oft in der schattigen Einsamkeit, sternchenland.com und die Tasten zitterten noch nach, wenn auch die süße Stimme in Tränen erstickt war.

So gewann sie auch den Mut, auf die Arbeit zu blicken, mit welcher ihre Finger neben ihm am Seeufer beschäftigt gewesen, und es dauerte nicht lange, bis sie dieselbe wieder aufnahm – mit einer Art Liebe dazu, als liege auch Gefühl in dem leblosen Material, wie wenn es den hingeschiedenen Bruder gleichfalls gekannt hätte. Sie setzte sich dabei in der Nähe des Bildes ihrer Mutter an ein Fenster, und so entschwanden ihr in dem ungebrauchten, so lange verödeten Gemach die gedankenvollen Stunden.

Warum wandten sich die dunklen Augen so oft von dieser Arbeit ab, nach der Seite hin, wo die rosigen Kinder wohnten? Sie konnten sie nicht unmittelbar an ihren Verlust erinnern, denn es waren lauter Mädchen – vier kleine Schwestern; aber sie waren mutterlos, wie sie selbst – und hatten einen Vater.

Man konnte leicht merken, wann dieser ausgegangen war und zu Haus erwartet wurde; denn das ältere Kind sah stets von den Fenstern des Salons oder von dem Balkon nach ihm aus; und wenn er erschien, strahlten ihre sehnsuchtsvollen Augen vor Freude, während die andern, die gleichfalls an den hohen Fenstern auf der Lauer lagen, in ihre Hände klatschten, auf den Sims trommelten und ihm zuriefen. Das älteste Mädchen kam dann in die Halle herunter, streckte ihm die Händchen entgegen und führte ihn die Treppe hinauf. Florence sah sie später an seiner Seite sitzen, auf seinem Knie sich tummeln oder in liebevoller Umarmung seines Halses mit ihm plaudern. Zwar waren sie immer heiter zusammen, aber doch kam es ihr oft vor, als betrachte er ihr Gesicht, wie wenn er sich ihrer hingeschiedenen Mutter erinnere. Wenn Florence Zeuge von solchen Szenen war, verbarg sie sich bisweilen unter hervorquellenden Tränen hinter dem Vorhang oder eilte vom Fenster weg, konnte aber nicht umhin, wieder zurückzukehren, und ihre Arbeit entsank dann unbeachtet ihren Händen.

Dieses Haus hatte vor Jahren leer gestanden und war lange unbewohnt geblieben. Endlich wurde es während Florences Abwesenheit von dieser Familie bezogen, ausgebessert und neu angestrichen. Man sah in den Fenstern Vögel und Blumen, so daß es ganz anders aussah, wie vor alters. Aber Florence dachte nie an das Haus – die Kinder und ihr Vater waren ihr alles in allem.

Nach dem Mittagsmahl konnte sie durch die offenen Fenster sehen, wie die kleinen Mädchen mit ihrer Gouvernante oder Wärterin hinuntergingen und sich um den Tisch sammelten. Bei schönem Sommerwetter drang der Ton ihrer kindlichen Stimmen und ihr klares Lachen über die Straße hinüber bis in die schwüle Luft des Zimmers, in welchem sie saß. Dann kletterten sie wieder dem Vater nach, zerrten ihn auf dem Sofa herum oder setzten sich auf seine Knie – ein wahrer Blumenstrauß von kleinen Gesichtern, während er ihnen ein Märchen zu erzählen schien; oder sie eilten auch auf den Balkon hinauf, und dann pflegte sich Florence hastig sternchenland.com zu verbergen, damit ihre Freude nicht gestört werde, wenn die Kleinen sie so einsam und in ihrem schwarzen Kleide dasitzen sahen. Hatten sich die jüngeren entfernt, so blieb das ältere Töchterchen bei dem Vater, um ihm den Tee zu machen – die glückliche kleine Haushälterin! – Dann plauderte sie mit ihm zuweilen unter dem Fenster, zuweilen im Zimmer, bis die Lichter kamen. Er machte sie zu seiner Gefährtin, obschon sie einige Jahre jünger war als Florence, und sie konnte mit ihrem kleinen Buch oder ihrem Strickkörbchen so gesetzt sein wie eine Frau. Wenn die Lichter brannten, scheute sich Florence nicht mehr, aus ihrem dunkeln Zimmer hinüberzuschauen; sobald aber die Zeit kam, in welcher das Kind vor dem Schlafengehen: »Gute Nacht, Papa!« sagte, konnte Florence nicht mehr hinsehen; sie schluchzte und zitterte, wenn die Kleine ihr Antlitz zu ihm erhob. Dennoch kehrte sie, ehe sie selbst schlafen ging, von der einfachen Arie, die Paul so oft in Schlummer gelullt, und von den bebenden Tönen ihres Pianos wieder und wieder zu diesem Hause zurück. Was sie aber davon dachte, was sie daselbst beobachtete – dies war ein Geheimnis, das sie tief in ihrer jugendlichen Brust bewahrte.

Und barg nicht die Brust Florences, dieses edlen Mädchens, das so würdig der Liebe war, die er zu ihr gehegt und mit seinen letzten sterbenden Lauten ihr ins Ohr geflüstert hatte – deren schuldloses Herz sich spiegelte in der Schönheit ihres Antlitzes und in jedem Akzent ihrer sanften Stimme atmete – barg diese Brust nicht noch ein anderes Geheimnis? Ja. Noch eines.

Wenn niemand im Hause mehr auf und das Licht überall gelöscht war, pflegte sie leise ihr Zimmer zu verlassen, mit lautlosen Tritten die Treppen hinunterzugehen und sich der Tür ihres Vaters zu nähern. Kaum atmend lehnte sie ihr Gesicht daran und küßte sie in der Sehnsucht ihrer Liebe. Sie kauerte sich jede Nacht auf dem kalten Steinpflaster vor derselben nieder, um nur seine Atemzüge zu hören, und in ihrem alles verzehrenden Wunsche, ihm nur einige Liebe erzeigen, ihn trösten und durch ihre Innigkeit einiges Gefühl für sie wecken zu können, wäre sie gerne in demütiger Bitte vor ihm auf die Knie niedergesunken; aber sie konnte sich nicht so weit ermutigen.

Niemand wußte davon und niemand wäre je auf diesen Gedanken gekommen. Die Tür war stets zu, und er hatte sie von innen abgeschlossen. Ein- oder zweimal ging er aus, und unter dem Gesinde sagte man sich, er werde bald seine Reise aufs Land antreten; aber er bewohnte einsam seine Zimmer, sah sie nie und fragte auch nicht nach ihr. Vielleicht wußte er nicht einmal, daß sie im Hause war.

Eines Tages, ungefähr eine Woche nach der Beerdigung, saß Florence eben bei ihrer Arbeit, als Susanna mit einem halb lachenden, halb weinerlichen Gesicht eintrat, um einen Besuch anzumelden.

»Ein Besuch? Und er sollte mir gelten?« sagte Florence, erstaunt aufblickend.

»Ja; und ist es nicht ein eigentliches Wunder, Miß Floy?« versetzte sternchenland.com Susanna. »Wollte Gott, Ihr hättet viele Besuche; denn es würde Euch weit besser dabei, und das ist meine Ansicht, daß wir beide recht wohl daran tun würden, wenn Ihr und ich auch nur zu den alten Skettlesen gingen, Miß. Ich bin zwar keine Freundin davon, unter einem großen Haufen zu leben, Miß Floy; aber dennoch bin ich keine Auster.«

Um Miß Nipper Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, müssen wir sagen, daß sie mehr im Interesse ihrer kleinen Gebieterin als für sich selbst sprach, und aus ihrem Gesicht war dies deutlich zu entnehmen.

»Aber der Besuch, Susanna?« bemerkte jetzt Florence.

Mit einem hysterischen Losbrechen, das ebensoviel von einem Gelächter als vom Schluchzen, und soviel vom Schluchzen als von einem Gelächter hatte, antwortete Susanna:

»Mr. Toots!«

Das Lächeln, das für einen Augenblick auf Florences Antlitz aufgetaucht war, entschwand wieder, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Jedenfalls aber war ein Lächeln dagewesen, und dies gereichte Miß Nipper zu großer Befriedigung.

»Ganz meine eigenen Gefühle«, sagte Susanna, die Schürze vor ihre Augen bringend und den Kopf schüttelnd. »Sobald ich diesen Unschuldigen in der Halle sah, brach ich anfangs in ein Lachen aus, und dann ist mir’s in der Kehle stecken geblieben.«

Susanna Nipper wiederholte unwillkürlich und unverweilt denselben Prozeß. Inzwischen war Mr. Toots ohne eine Ahnung von dem Eindruck, den er hervorgebracht hatte, die Treppe heraufgekommen, hatte sich mit den Fingerknöcheln an der Tür selbst angekündigt und trat nun sehr rasch ein.

»Wie befindet Ihr Euch, Miß Dombey?« begann Mr. Toots. »Ich bin sehr wohl, danke Euch – aber wie geht es Euch?«

Es gab wenige bessere Burschen in der Welt, als Mr. Toots, obschon sich hin und wieder ein gescheidterer finden mochte, und er hatte diesen langen Ausbruch von Beredsamkeit in der Absicht erfunden, sowohl seine eigenen als die Gefühle von Florence zu erleichtern. Da er jedoch die Entdeckung machen mußte, er habe sein ganzes Eigentum sozusagen in unvorsichtiger Weise aufgebraucht, indem er das Ganze verausgabte, noch ehe er einen Stuhl genommen, oder bevor Florence ein Wort gesprochen hatte – ja, sogar ehe er noch recht zur Türe hereingekommen war – dünkte es ihm rätlich, wieder von vorn anzufangen.

»Wie befindet Ihr Euch, Miß Dombey?« sagte Mr. Toots. »Ich, bin sehr wohl, danke Euch; wie geht es Euch?«

Florence reichte ihm die Hand und erwiderte darauf, daß sie sich sehr wohl befinde.

»Ich mich auch«, sagte Mr. Toots, indem er einen Stuhl nahm. »In der Tat sehr wohl. Kann mich nicht erinnern«, fügte er nach einem kurzen Besinnen bei, »daß ich mich je besser befunden hätte: danke Euch.«

»Es ist sehr freundlich von Euch, daß Ihr kommt, mich zu besuchen«, sagte Florence, ihre Arbeit aufnehmend. »Ich freue mich, Euch zu sehen.«

Mr. Toots antwortete mit einem Kichern, und als ihm dabei der Gedanke kam, diese Äußerung möchte zu lebhaft gewesen sein, verbesserte er sie mit einem Seufzer. Da ihm jedoch dieser zu melancholisch deuchte, so korrigierte er ihn wieder mit einem Kichern; und keineswegs zufrieden sowohl über die eine als die andere Art der Antwort, atmete er schwer auf.

»Mein lieber Bruder hat Euch sehr gern gehabt«, sagte Florence, einem natürlichen Gefühl folgend, um seine Unbehaglichkeit einigermaßen zu bannen. »Er erzählte mir oft von Euch.«

»O, hievon ist gar nicht die Rede«, bemerkte Mr. Toots hastig. – »warm – nicht wahr?«

»Es ist schön Wetter«, versetzte Florence.

»Namentlich mir sagt es sehr zu«, meinte Mr. Toots. »Ich glaube, es ist mir in meinem Leben nie so wohl gewesen, wie gegenwärtig; danke Euch schönstens.«

Nach Berührung dieser denkwürdigen und unerwarteten Tatsache versank Mr. Toots in einen tiefen Abgrund des Schweigens.

»Ich glaube, Ihr seid nicht mehr bei Doktor Blimber?« fragte Florence in der Absicht, ihm durchzuhelfen.

»Will’s meinen«, entgegnete Mr. Toots und purzelte wieder in die vorige Tiefe. Auf dem Boden derselben blieb er auch, augenscheinlich ganz ertränkt, wenigstens zehn Minuten lang. Nach Ablauf dieser Periode wurde er plötzlich wieder flott und sagte:

»Na, guten Morgen, Miß Dombey.«

»Wollt Ihr schon wieder gehen?« fragte Florence, von ihrem Sitz aufstehend.

»Ich weiß wahrhaftig nicht. Nein, nicht eben jetzt«, entgegnete Mr. Toots, indem er höchst unerwartet wieder Platz nahm. »Es handelt sich davon – ich meine, Miß Dombey –«

»Sprecht Euch unverhohlen gegen mich aus«, entgegnete Florence mit ruhigem Lächeln. »Es wäre mir sehr lieb, wenn Ihr von meinem Bruder mit mir reden wolltet.«

»Wirklich?« erwiderte Mr. Toots, und jede Linie seines sonst ausdruckslosen Gesichts zuckte in lebhafter Teilnahme. »Der arme Dombey! Ich hätte in der Tat nicht gedacht, daß Burgeß & Komp. – fashionable Schneider, aber sehr teuer, von denen wir oft zu sprechen pflegten – mir für einen solchen Anlaß dieses Kleid machen würden.« Mr. Toots trug einen Traueranzug. »Der arme Dombey! Jawohl, Miß Dombey!« heulte Toots.

»Ja!« versetzte Florence.

»Es gibt einen Freund, für den er sich in letzter Zeit sehr interessierte, und ich meinte, Ihr möchtet ihn als eine Art Andenken vielleicht gern besitzen. Ihr erinnert Euch, daß er noch von Diogenes sprach.«

»O ja! o ja!« rief Florence.

»Der arme Dombey – jawohl«, sagte Mr. Toots.

Als Mr. Toots Florence in Tränen schwimmen sah, hatte er große Not, über diesen Punkt wegzukommen, und wäre ums Haar wieder in den Abgrund hinuntergepurzelt; aber ein Kichern rettete ihn noch am Rande.

»So hört, Miß Dombey«, fuhr er fort. »Ich hätte ihn für zehn Schillinge stehlen lassen können, wenn man ihn nicht hergegeben hätte. Und so würde ich’s auch gehalten haben; aber ich glaube, man ist froh gewesen, ihn loszuwerden. Wenn Ihr ihn haben wollt, er ist an der Tür. Ich brachte ihn absichtlich für Euch mit. Freilich, Ihr wißt, er ist kein Damenhund«, fügte Mr. Toots bei; »aber ich denke, Ihr werdet Euch hieran nicht kehren.«

Wie man sich alsbald durch den Augenschein überzeugen konnte, wenn man in die Straße hinuntersah, glotzte Diogenes in demselben Augenblick durch das Fenster einer Kutsche heraus, in die man ihn zum Zweck der Beförderung nach London unter dem falschen Vorwand, es seien Ratten unter dem Stroh, verlockt hatte. Wenn man die Wahrheit sagen will, so sah er einem Damenhund so wenig ähnlich, als dies überhaupt bei einem Hund möglich war. Auch erwies er sich sehr ungehalten über seine Haft und nahm sich dabei gar nicht lieblich aus, denn er kläffte durch die eine Seite seines Rachens heraus, überschlug sich bei jeder von seinen vergeblichen Anstrengungen, um in das Stroh niederzupurzeln, und sprang dann wieder keuchend empor, wobei er die Zunge herausstreckte, als sei er expreß in eine Klinik gekommen, um daselbst seine Gesundheit untersuchen zu lassen.

Diogenes war ein so lächerlicher Hund, wie man nur immer einen an einem Sommertag treffen kann – ein belferndes, bösartiges, plumpes, stierköpfiges Tier, das sich unaufhörlich mit der irrtümlichen Idee trug, es befinde sich ein Feind in der Nachbarschaft, den anzubellen verdienstlich sei. Aber trotz dieser üblen Eigenschaften und des Umstandes, daß seine Augen ganz von Haaren beschattet waren, und er nicht nur eine ganz ungewöhnliche Nase, sondern auch einen sehr widerspenstigen Schwanz und eine unangenehme Stimme hatte, wurde er infolge jener letzten Mahnung dessen, der gebeten hatte, man möchte Sorge für ihn tragen, unserm Mädchen doch teurer, als das wertvollste und schönste Tier seiner Art. Ja, derselbe häßliche Diogenes war ihr so willkommen, daß sie Mr. Toots‘ beringte Hand ergriff und sie in ihrer Dankbarkeit küßte.

Endlich wurde Diogenes losgelassen. Es kostete anfangs keine geringe Mühe, ihn aus der Kutsche herauszubringen; aber jetzt kam er polternd die Treppe herauf, schoß, eine lange eiserne Kette nachschleppend, die ihm vom Halse herunterhing, unter das Möbelwerk des Zimmers, wobei er sich mit seinem Anhängsel an den Tisch- und Stuhlfüßen verfing, und zerrte so sehr daran, bis seine Augen infolge ihres Hervorquellens aus dem Kopfe natürlich sichtbar wurden. Mr. Toots, der Vertraulichkeit gegen ihn äußerte, wurde von ihm angeknurrt, und dann ging’s wild auf Towlinson los, von dem er sternchenland.com moralisch überzeugt war, dies sei der Feind, den er sein ganzes Leben um die Ecke herum angebellt und gleichwohl noch nie zuvor gesehen hatte. Aber dennoch hatte Florence eine so große Freude an ihm, als wäre er ein wahres Wunder von einem herzigen Hund gewesen.

Mr. Toots fühlte sich überglücklich bei dem Eindruck, den sein Geschenk gemacht hatte, und war ganz entzückt, als er sah, daß Florence sich zu Diogenes niederbeugte und mit ihrer zarten, kleinen Hand seinen rauhen Rücken streichelte – eine Liebkosung, die sich Diogenes vom ersten Augenblick ihrer Bekanntschaft an in Gnaden gefallen ließ. In seiner Verzückung fand es der junge Gentleman schwer, zu einer Verabschiedung zu kommen, und würde ohne Zweifel noch viel länger unschlüssig dageblieben sein, wenn er nicht von Diogenes selbst unterstützt worden wäre, der sich’s plötzlich in den Kopf setzte, Mr. Toots anzubellen und ihn mit offenem Rachen zu umwandeln. Da er nicht sah, wie zuletzt diese Demonstrationen enden mochten, und den Pantalons, die er der Kunst von Burgeß & Komp. verdankte, große Gefahr zu drohen schien, so huschte er zuletzt unter Kichern zur Tür hinaus, durch welche er allerdings noch zwei- oder dreimal ohne irgendeinen besonderen Zweck wieder hereinsah. Weil aber bei jeder solchen Gelegenheit Diogenes ihn mit einem neuen Sturm begrüßte, so gewann er es endlich über sich, völlig abzuziehen.

»So komm denn, Di! Lieber Di! schließe Freundschaft mit deiner neuen Gebieterin. Laß uns einander lieben, Di!« sagte Florence, indem sie seinen zottigen Kopf streichelte.

Und der rauhe, bissige Di, als fühlte er durch seine haarige Haut die Träne, die darauf niederträufelte, und als schmölze sein Hundeherz darüber, legte seine Nase an ihr Gesicht und schwur ihr Treue.

Diogenes, der Mensch, redete nicht deutlicher zu Alexander dem Großen, als Diogenes, der Hund, zu Florence sprach. Er nahm das Erbieten seiner kleinen Herrin mit Freuden auf und widmete sich ihrem Dienste. Sofort wurde in einer Ecke für ihn eine Bank besorgt, und nachdem er sich gehörig an Speis und Trank erlabt hatte, begab er sich nach dem Fenster, wo Florence saß; er schaute zu ihr auf, erhob sich auf seine Hinterbeine, legte seine täppischen Vorderpfoten auf ihre Schulter, leckte ihr Gesicht und Hände, schmiegte seinen dicken Kopf an ihr Herz und wedelte mit dem Schwanze, bis er müde war. Endlich kauerte er sich zu ihren Füßen nieder und fing an zu schlafen.

Zwar war Miß Nipper in Beziehung auf Hunde sehr furchtsam, sintemal sie es für nötig hielt, nur mit sorgfältig aufgehobenen Rockschößen, als sollte sie vermittels einiger Trittsteine über einen Bach setzen, ins Zimmer zu kommen; auch stieß sie manchen kleinen Schrei aus und sprang auf Stühle, so oft Diogenes sich streckte; aber gleichwohl war sie in ihrer eigenen Weise von Mr. Toots‘ wohlwollender Gesinnung gerührt und konnte von der Anhänglichkeit und Gesellschaft dieses rauhen Freundes des kleinen Paul unmöglich Zeuge sein, sternchenland.com sternchenland.com ohne dadurch auf geistige Betrachtungen geführt zu werden, die ihr das Wasser in die Augen brachten. Wenn sie ihrem Gedankengange folgte, sah sie sich genötigt, Mr. Dombey mit dem Hund in Verbindung zu bringen; denn nachdem sie den ganzen Abend Diogenes und seine Gebieterin beobachtet, auch mit herzlich gutem Willen ihr Äußerstes getan hatte, in dem Vorzimmer für den Hund ein ordentliches Bett zu bereiten, sagte sie noch hastig, ehe sie sich für die Nacht verabschiedete, zu Florence:

»Morgen früh reist Euer Pa ab, Miß Floy.«

»Morgen früh, Susanna?«

»Ja, Miß; so lautet der Befehl, den er gegeben hat. Mit dem frühesten.«

»Wißt Ihr, wohin Papa geht, Susanna?« fragte Florence, ohne zu ihr aufzublicken.

»Nicht mit Bestimmtheit, Miß. Zuerst will er mit jenem merkwürdigen Major zusammentreffen, und ich muß sagen, wenn ich mit was immer für einem Major bekannt wäre – was der Himmel verhüten möge – so dürfte es wenigstens kein blauer sein.«

»Bst, Susanna!« verwies ihr Florence mit Sanftmut.

»Nun ja, Miß Floy«, entgegnete Miß Nipper voll glühender Entrüstung und sogar weniger als gewöhnlich ihrer Komma-Pausen eingedenk. »Was kann ich dafür? Blau ist er, und solange ich – wenn auch nur eine geringe Christin bin, müßte ich entweder Freunde von natürlicher Farbe haben, oder gar keine.«

Aus dem, was sie noch hinzufügte und vom Hörensagen in der Gesindestube aufgegriffen hatte, schien hervorzugehen, daß es ein Werk von Mrs. Chick gewesen war, den Major als Mr. Dombeys Gesellschafter vorzuschlagen – ein Antrag, auf den Mr. Dombey nach einigem Zögern so weit einging, daß er an den besagten Gentleman eine Einladung erließ.

»Von ihm als von einem Wechsel zu sprechen – jawohl!« bemerkte Miß Nipper vor sich hin mit grenzenloser Verachtung, »Wenn dieser ein Wechsel ist, so will ich’s mit dem Bestand halten.«

»Gute Nacht, Susanna«, sagte Florence.

»Gute Nacht, meine liebe, teure Miß Floy.«

Der mitleidige Ton ihrer Stimme ergriff lebhaft die so oft rauh berührte Saite, obschon sie nie erklang, wenn Miß Nipper oder sonst jemand zugegen war. Florence blieb allein, stützte den Kopf auf die eine Hand, drückte die andere an ihr pochendes Herz und hielt ungehinderte Zwiegespräche mit ihrem Gram.

Es war eine unfreundliche Nacht, und der melancholische Regen fiel mit schwerfälligem, plätscherndem Ton nieder. Der Wind umwehte mit gedehntem Stöhnen das Haus, als sei er selbst schmerzlich berührt, und ein schrilles Getöse zitterte durch die Bäume. Unter Florences Tränen wurde es immer später und später, bis die traurige Stunde der Mitternacht von den Kirchtürmen herunter ihren Ruf vernehmen ließ.

Den Jahren nach – sie zählte noch nicht vierzehn – war sternchenland.com Florence wenig mehr als ein Kind, und die düstere Einsamkeit einer solchen Stunde in dem großen Haus, wo der Tod kürzlich erst so furchtbar gewaltet, hätte wohl eine ältere Phantasie mit Schreckbildern zu erfüllen vermocht. Aber die unschuldige Einbildungskraft des Mädchens war zu voll von einem einzigen Thema, um andern Zutritt zu gestatten. Nur Liebe beschäftigte ihre Gedanken – eine unstete, ja sogar eine verstoßene Liebe, die stets zu ihrem Vater zurückkehrte. In dem fallenden Regen, in dem Stöhnen des Windes, in dem Schaudern der Bäume oder in dem Schlag der feierlichen Glocke lag nichts, was diesen einen Gedanken erschütterte oder seine Überwucht minderte. Zwar konnte sie sich nie der Erinnerung an den teuern toten Knaben entschlagen; aber ach, so verwaist, so ausgeschlossen zu sein – nie ihrem Vater ins Gesicht geschaut oder ihn berührt zu haben seit dieser Stunde!

Von dem Tage der Beerdigung an war das arme Kind nie zu Bett gegangen, ohne ihre nächtliche Pilgerfahrt nach seiner Tür zu machen. Es wäre wohl ein befremdlich wehmütiger Anblick gewesen, wenn man sie jetzt gesehen hätte, wie sie sich die Treppe hinunterschlich durch das dichte Dunkel, mit klopfendem Herzen, tränentrüben Augen und aufgelösten Haaren vor seinem Zimmer haltmachte und die feuchte Wange außen an die Tür legte. Doch die Nacht warf ihren Mantel darüber, und niemand sah sie.

Als Florence in jener Nacht die Tür berührte, fand sie, daß sie offen stand und innen Licht war – das erstemal offen, aber nur um die Breite eines Haars. Anfänglich wollte sich das schüchterne Kind schleunigst zurückziehen und folgte auch diesem Impulse, aber unschlüssig blieb sie dann auf der Treppe stehen und stellte Erwägungen an, ob sie nicht wieder umkehren und eintreten sollte.

Aus dem Umstand, daß ihr auch nur durch einen so schmalen Spalt Licht entgegenkam, glaubte sie Hoffnung schöpfen zu dürfen; es stahl sich über der dunkeln Schwelle weg und lief wie ein Faden auf dem Marmorboden fort. Kaum wissend, was sie tat, aber angetrieben von der Liebe ihres Innern und von dem Rückblick auf den gemeinsamen, wenn schon nicht gemeinschaftlich gefühlten Verlust, kehrte sie zurück, erhob zitternd ihre Hände und glitt hinein.

Ihr Vater saß im mittleren Zimmer allein an dem alten Tisch. Er hatte einige Papiere in Ordnung gebracht und andere, die jetzt in Fetzen um ihn her lagen, zerrissen. Der Regen schlug schwer an die Scheiben des äußeren Fensters, wo er so oft dem armen Paul, als dieser noch ein kleines Kind war, zugeschaut hatte, und draußen ließ sich das dumpfe Klagen des Windes vernehmen.

Aber er hatte kein Ohr dafür, denn er saß so sehr in seinen Gedanken vertieft, mit auf den Tisch gerichteten Augen da, daß wohl ein schwererer Tritt als der leichte Fuß seines Kindes nötig gewesen wäre, ihn aufzuwecken. Sein Gesicht war ihr zugekehrt, und bei der düstern Lampe sah er in der späten Stunde der Nacht wie auch in seiner einsamen Umgebung so abgehärmt und niedergeschlagen aus, daß Florence aufs tiefste ergriffen wurde.

»Papa! Papa!« rief sie. »O sprecht mit mir, teurer Papa!«

Er stutzte bei dem Ton ihrer Stimme und sprang von seinem Sitz auf. Sie stand dicht vor ihm mit ausgebreiteten Armen; er aber wich zurück.

»Was gibt’s?« fragte er finster. »Warum kommst du hierher? Was hat dich erschreckt?«

Wenn sie etwas erschreckt hatte, war es das Gesicht, das er jetzt ihr zuwandte. Die glühende Liebe in der Brust seiner jungen Tochter erstarrte davor zu Eis, und sie stand vor ihm und sah ihn an, als sei sie in Stein verwandelt.

Kein Zug von Zärtlichkeit oder Mitleid, kein Strahl von Teilnahme, väterlicher Anerkennung oder Milde lag darin. Allerdings hatte sich das Gesicht verändert, aber nicht auf eine den eben gedachten Eigenschaften entsprechende Weise. Die alte Gleichgültigkeit und der kalte Zwang hatten etwas anderem Platz gemacht; was aber dies war, hierüber wagte sie nicht einmal zu denken, obschon sie die ganze Macht davon fühlte und es kannte, ohne ihm einen Namen geben zu können; es schien auf sie niederzuschauen und einen Schatten über ihrem Haupte wegzuwerfen.

Sah er vor sich die glückliche Nebenbuhlerin seines Sohnes, lebend und in frischer Gesundheit? Sah er in ihr seine eigene Nebenbuhlerin in der Liebe desselben Sohnes? Vergiftete vielleicht eine wilde Eifersucht und zurechtgewiesener Stolz die süßen Erinnerungen, die das Mädchen ihm lieb und teuer hätten machen sollen? War’s möglich, daß ihn der Anblick ihrer Schönheit und ihrer Hoffnungsfülle erbitterte, während er an den hingeschiedenen Knaben dachte?

Florence hegte keine solche Gedanken; aber die Liebe fühlt gar bald, wenn sie verachtet wird und nichts zu hoffen hat. Die Hoffnung erstarb in der ihren, als sie so dastand und zu dem Gesicht ihres Vaters aufblickte.

»Ich frage dich, Florence, ob dich etwas erschreckt hat? Ist etwas vorgefallen, was dich hierher führte?«

»Ich bin gekommen, Papa –«

»Gegen meine Wünsche. Warum?«

Sie sah – sie wußte warum; es stand deutlich auf seinem Gesicht geschrieben. Mit langem, gedämpftem Stöhnen ließ sie ihr Köpfchen auf ihre Hände sinken.

Möge das Zimmer sich noch viele künftige Jahre dessen erinnern. Der Wehlaut war in der Luft bereits verhallt, ehe noch der Vater das Schweigen brach. Er glaubte vielleicht, er werde sich desselben schnell entschlagen können; aber es hatte einen Haftpunkt gefunden in seinem Gehirn. Möge er sich dessen in diesem Zimmer erinnern noch viele kommende Jahre!

Er nahm sie beim Arm. Seine Hand war kalt, schlaff und schloß sich kaum über der ihren.

»Ich kann mir denken, daß du müde bist und der Ruhe bedarfst«, sternchenland.com sagte er, indem er das Licht aufnahm und sie nach der Tür führte. »Wir alle brauchen Ruhe. Geh, Florence, du hast geträumt.«

Gott helfe ihr – der Traum, den sie gehabt hatte, war jetzt vorüber, und sie fühlte, daß er nicht mehr wiederkommen konnte.

»Ich will hier bleiben und dir die Treppe hinaufleuchten. Dort oben ist das ganze Haus dein«, sagte der Vater langsam. »Du bist jetzt seine Gebieterin. Gute Nacht.«

Schluchzend und noch immer das Antlitz mit ihren Händen bedeckend, antwortete sie: »Gute Nacht, teurer Papa!« und stieg dann schweigend hinan. Einmal noch schaute sie zurück, als wäre sie gern zurückgekommen, wenn sie sich nicht gefürchtet hätte. Es war ein augenblicklicher Gedanke, zu hoffnungslos, um Ermutigung zu finden; und ihr Vater stand mit dem Licht da, hart, stumm und regungslos – bis sich das flatternde Gewand seines schönen Kindes in der Dunkelheit verloren hatte.

Möge er sich des erinnern in jenem Zimmer noch viele kommende Jahre. Der Regen, der aufs Dach niederfällt, der Wind, der draußen trauert – ihr wehmütiger Ton schien anzuzeigen, als hätten sie eine Ahnung von dem, was hier vorging. Möge ihn jenes Zimmer daran mahnen noch viele künftige Jahre!

Als er sie das letztemal von demselben Platz aus die Treppe hinansteigen sah, hatte sie ihren Bruder in ihren Armen. Dieser Umstand war nicht geeignet, jetzt sein Herz für sie zu erweichen, sondern stählte es vielmehr. Er ging in sein Zimmer zurück, schloß die Tür ab, setzte sich in seinen Stuhl und weinte um den verlorenen Knaben.

Diogenes war hell wach und auf seinem Posten; er erwartete seine junge Gebieterin.

»O Di! o lieber Di! Liebe mich um seinetwillen!«

Diogenes liebte sie bereits um ihrer selbst willen und nahm es nicht sehr genau damit, wie er dies an den Tag legte. Er machte sich daher ungeheuer lächerlich, indem er in dem Vorzimmer allerlei ungeschlachte Sprünge tat; und als endlich Florence eingeschlafen war, um von den rosigen Kindern auf der andern Seite der Straße zu träumen, schloß er damit, daß er die Tür ihres Zimmers aufkratzte. Er rollte sein Bett in einen Ballen zusammen, legte sich an der vollen Länge seines Stricks auf die Dielen nieder, hielt den Kopf ihr zugekehrt und schaute, auf dem Rücken liegend, durch die Zotteln seiner Augen nach ihr hin, bis er endlich selbst nach langem Blinzeln und Nicken einschlief und mit dumpfem Knurren von seinem Feind träumte.

Neunzehntes Kapitel.


Neunzehntes Kapitel.

Walters Abreise.

Der hölzerne Midshipman an der Tür des Instrumentenmachers war ein sehr hartherziger kleiner Midshipman; denn er blieb über die Maßen gleichgültig gegen Walters Aufbruch und war selbst am Abend sternchenland.com des allerletzten Tages, den unser junger Freund im Hinterstübchen verlebte, nicht aus seiner Fassung zu bringen. Mit seinem Quadranten vor dem schwarzen, knopfartigen Auge und mit einer Figur in der Haltung einer ungeheuern Heiterkeit entfaltete der Midshipman seine Nanking-Beinkleider im vorteilhaftesten Lichte und hatte, ganz und gar von seinen wissenschaftlichen Bestrebungen in Anspruch genommen, durchaus keinen Sinn für weltliche Angelegenheiten, Insoweit war er ein Geschöpf der Umstände, daß ein trockener Tag ihn mit Staub bedeckte, ein nebeliger aber ihn mit kleinen Rußkörnchen pfefferte, während ein nasser Tag seine schmutzige Uniform für den Augenblick wusch und ein heißer Wind auf seinem Ölfarbenanstrich Blasen zog; im übrigen aber war er ein hartschlägiger, eingebildeter Midshipman, der nur seine Entdeckungen im Auge hatte und sich so wenig um das, was auf Erden um ihn vorging, kümmerte, als Archimedes bei der Einnahme von Syrakus.

Ein solcher Midshipman schien er wenigstens bei der damaligen Lage der häuslichen Angelegenheiten zu sein. Walter pflegte oftmals, wenn er ein- und ausging, heiter nach ihm aufzublicken; und wenn der Neffe nicht da war, so kam der arme, alte Sol heraus, lehnte sich an den Türpfosten und ließ seine müde Perücke so nahe als nur möglich bei den Schuhschnallen dieses schützenden Genius seines Gewerbes und seines Ladens ausruhen. Aber kein wilder Götze mit einem Mund von einem Ohr zum andern, kein mörderisches Gesicht unter einer Krone von Papageienfedern konnte je so gleichgültig sein gegen die Bitten wilder Heiden, wie der Midshipman gegen solche Merkzeichen von Anhänglichkeit.

Es war Walter schwer ums Herz, als er sich von seinem alten Schlafgemach aus unter den benachbarten Böschungen und Firsten umsah; denn er konnte sich des Gedankens nicht entschlagen, daß die Nacht, die bereits zu dunkeln begann, seine Bekanntschaft mit ihnen vielleicht für immer schließen dürfte. Der kleine Vorrat von Büchern und Bildern war bereits entfernt; das Gemach sah deshalb so kalt und vorwurfsvoll auf den Deserteur nieder, als ahne es bereits die bevorstehende Entfremdung. »Nur noch einige Stunden«, dachte Walter, »und die Träume, die ich in meiner Knabenzeit hier hatte, werden ebensowenig mir gehören, wie dieses alte Zimmer. Möglich, daß sie wieder in meinem Schlaf zurückkehren, und vielleicht fügt sich’s auch, daß ich als Wachender abermals diesen Platz betrete. Nun, der Traum wenigstens wird keinem andern Herrn dienen, aber das Zimmer beherbergt möglicherweise Dutzende, von denen jeder Veränderungen darin vornimmt, es vernachlässigt oder mißbraucht.«

Aber sein Onkel durfte nicht verlassen in dem kleinen Hinterstübchen bleiben, wo er eben damals allein saß; denn trotz seines rauhen Wesens rücksichtsvoll, war Kapitän Cuttle gegen seine Neigung weggeblieben, damit Onkel und Neffe sich ungestört noch sprechen könnten. Walter, der eben von dem Geschäft des letzten Tages zurückgekehrt war, stieg deshalb schleunig wieder hinunter, um ihm Gesellschaft zu leisten.

»Onkel«, sagte er heiter, indem er die Hand auf die Schulter des alten Mannes legte, »was soll ich Euch von Barbados senden?«

»Hoffnung, mein lieber Wally – die Hoffnung, daß wir uns wiedersehen auf dieser Seite des Grabes. Von ihr schicke mir, soviel du kannst.«

»Soll geschehen, Onkel. Ich habe genug davon, und sogar noch übrig; ich will deshalb nicht damit kargen! Auch rührige Schildkröten, Limonen für Kapitän Cuttles Punsch, Eingemachtes für Euch an Sonntagen, und was dergleichen mehr ist. Ihr sollt ganze Schiffslasten davon erhalten, Onkel, wenn ich reich genug bin.«

Der alte Sol wischte seine Brille und lächelte matt vor sich hin.

»So ist’s recht, Onkel!« rief Walter in fröhlichem Tone, indem er ihn ein halbdutzendmal weiter auf die Schulter klopfte. »Ihr macht mir frohen Mut, und ich will ein gleiches an Euch tun! Morgen wollen wir so fröhlich ausfliegen, wie die Lerchen, Onkel, und ebenso hoch. Ich denke, sie singen lustig, obschon wir sie noch nicht sehen.«

»Wally, mein lieber Knabe«, entgegnete der Greis, »ich will mein Bestes tun – ich will mein Bestes tun.«

»Und Euer Bestes, Onkel«, sagte Walter mit frohem Lachen, »ist das Beste, was es meines Wissens geben kann. Ihr vergeßt doch nicht, was Ihr mir zu senden habt, Onkel?«

»Nein, Wally, nein«, erwiderte der alte Mann. »Alles, was ich über Miß Dombey höre – über das arme Lamm, das jetzt so verlassen ist – will ich dir schreiben. Freilich fürchte ich, es wird nicht viel sein, Wally.«

»Ich will Euch was sagen, Onkel«, versetzte Walter nach einem kurzen Stocken, »ich bin eben erst oben gewesen.«

»So? – ei, ei!« murmelte der alte Mann, seine Augenbrauen und mit ihnen die Brille erhebend.

»Nicht, um sie zu sprechen«, sagte Walter, »obgleich mir dies wahrscheinlich wohl möglich gewesen wäre, wenn ich darum nachgesucht hätte, denn Mr. Dombey befindet sich nicht in der Stadt. Ich wollte mich bloß von Susanna verabschieden. Ihr wißt, etwas der Art konnte ich unter den obwaltenden Umständen wohl wagen – die Art, wie ich Miß Dombey zum letzten Male sah, gibt mir einige Berechtigung dazu.«

»Ja, mein Junge, ja«, entgegnete sein Onkel, sich aus seiner augenblicklichen Zerstreutheit aufraffend.

»Ich sprach sie also«, fuhr Walter fort – »Susanna nämlich, und sagte ihr, daß ich morgen meine Reise antreten werde. Auch sagte ich ihr, Onkel, seit dem Abend ihres Hierseins habt Ihr Euch stets für Miß Dombey sehr interessiert, innigen Anteil an ihrem Glück, an ihrem Wohlbefinden genommen, und Ihr würdet es Euch stets zum Stolz und zur Freude rechnen, wenn sich für Euch nur die mindeste Gelegenheit biete, ihr Dienste zu leisten. Wie die Sachen stehen, glaubte ich wohl, soviel sagen zu dürfen. Seid Ihr nicht auch dieser Meinung?«

»Ja, mein Junge, ja«, erwiderte der Onkel in demselben Tone, wie früher.

»Und ich fügte hinzu«, sagte Walter, »wenn sie – Susanna nämlich – entweder in eigener Person, oder durch Mrs. Richards, oder durch irgend jemand, der vielleicht dieses Wegs käme, Euch zu wissen tun könne, daß Miß Dombey wohl und glücklich sei, so würde es Euch sehr freuen, und Ihr würdet es auch mir schreiben, und auch ich würde mich glücklich darüber fühlen. So steht’s also! Auf mein Wort, Onkel«, fuhr Walter fort, »der Gedanke, wie ich dies ausführen wolle, ließ mich die letzte Nacht kaum schlafen, und selbst nachdem ich mich auf den Weg gemacht hatte, konnte ich nicht mit mir einig werden, ob ich’s tun sollte oder nicht. Und doch war mein Herz so ganz von diesem Drange erfüllt, daß ich mich später recht unglücklich gefühlt hätte, wenn es mir nicht möglich geworden wäre, ihm Erleichterung zu verschaffen.«

Der ehrliche Ton und das treuherzige Wesen bekräftigten, was er sagte, so daß man an der Aufrichtigkeit seiner Worte nicht zweifeln konnte.

»Wenn Ihr sie also je seht, Onkel«, sagte Walter, »ich meine jetzt Miß Dombey – und wer weiß, vielleicht geschieht es! – so sagt ihr, wie tief ich für sie gefühlt habe und wie sehr sie stets der Gegenstand meiner Gedanken gewesen, solange ich mich in Eurem Hause befand; ja, sagt ihr, wie ich noch in der letzten Nacht vor meiner Abreise mit Tränen in den Augen von ihr gesprochen, und wie ich nie ihr edles Wesen, ihr schönes Antlitz, oder das Beste von allem, ihren lieblichen, wohlwollenden Charakter, vergessen könne. Und da ich sie nicht von den Füßen einer Jungfrau oder einer jungen Dame, sondern von denen eines kleinen, unschuldigen, jungen Kindes genommen habe«, fügte Walter bei, »so könnt Ihr auch, wenn Ihr meint, daß es angehe, gegen sie bemerken, ich habe jene Schuhe – sie wird sich noch erinnern, wie oft sie dieselben an jenem Abend verlor – aufbewahrt und als Andenken mitgenommen.«

Sie traten eben mit einem von Walters Koffern die Wanderung an. Ein Lastträger führte das Gepäck auf einem Schubkarren fort, damit es in den Docks an Bord des Sohnes und Erben geschafft werden konnte. Dies geschah unter den Augen des gefühllosen Midshipmans, noch ehe der Eigentümer die vorigen Worte zu Ende gebracht hatte. Freilich mußte man dem ehrenwerten Midshipman seine Unempfindlichkeit gegen den Schatz, der eben fortgerollt wurde, zugute halten; denn in demselben Moment und genau im Gesichtskreis seiner Beobachtung zeigte sich seinen erstaunten, weit offenen Blicken Florence und Susanna Nipper. Florence schaute halb schüchtern zu seinem Gesicht auf, und wurde deshalb mit dem ganzen hölzernen Glotzen seines hölzernen Auges beehrt.

Noch mehr als dies – sie gingen in den Laden hinein und kamen durch die Tür des Wohnstübchens, noch ehe sie von jemand als von dem Midshipman bemerkt worden waren. Auch würde Walter, der den Rücken der Tür zugekehrt hielt, auch jetzt noch nichts von ihrem sternchenland.com sternchenland.com Erscheinen erfahren haben, wenn er nicht gesehen hätte, daß sein Onkel plötzlich von seinem Stuhl aufsprang und beinahe über einen andern gestrauchelt wäre.

»Was habt Ihr, Onkel?« rief Walter. »Was gibt’s?«

Der alte Solomon versetzte:

»Miß Dombey.«

»Wär’s möglich!« rief Walter, sich rasch umschauend, und die Reihe des Erstaunens kam jetzt an ihn. »Hier!«

Nun ja, es war so möglich und so wirklich, daß, während die Worte noch auf seinen Lippen schwebten, Florence an ihm vorbeieilte, in jede Hand einen von Onkel Sols schnupftabakfarbigen Rockärmeln nahm, ihn auf die Wange küßte und dann sich umwandte, um mit einer einfachen Offenheit, wie sie auf der ganzen Welt an niemandem als an ihr zu finden war, Walter die Hand zu reichen.

»Ihr wollt fort, Walter?« sagte Florence.

»Ja, Miß Dombey«, versetzte er, aber nicht so hoffnungsvoll, als er sich anzustellen bemühte. »Es steht mir eine Reise bevor.«

»Und Euer Onkel«, sagte Florence, auf Sol zurückschauend. »Ich bin überzeugt, es muß ihm leid tun, daß Ihr geht. Ja, ich seh‘ es! Lieber Walter, auch ich bedaure es sehr.«

»Der Himmel weiß«, rief Miß Nipper, »es gibt viele, die wir dafür entbehren könnten, wenn Zahlen dabei in Frage kämen, Mrs. Pipchin als Aufseherin wäre noch wohlfeil, wenn man sie in Gold aufwöge, und sofern Kenntnis der schwarzen Sklaverei erforderlich wäre, würde niemand besser für diesen Posten passen, als jene Blimbers.«

Mit diesen Worten band Miß Nipper ihr Hutband auf, guckte ein Weilchen mit großen Augen in einen kleinen schwarzen Teetopf, der zum Zwecke des gewöhnlichen häuslichen Dienstes auf dem Tisch stand, schüttelte den Kopf zugleich mit einer zinnernen Büchse und begann unaufgefordert den Tee zu bereiten.

Mittlerweile hatte sich Florence wieder an den Instrumentenmacher gewandt, der vor Bewunderung und Überraschung kaum zu sich kommen konnte. »So gewachsen!« sagte der alte Sol. »So schön geworden! Und doch nicht verändert! Just noch dieselbe!«

»Wirklich?« versetzte Florence.

»J – ja«, entgegnete der alte Sol, langsam seine Hände reibend und den Gegenstand halblaut in Erwägung ziehend, da etwas Sinniges in den klaren Augen, die ihn ansahen, seine Aufmerksamkeit fesselte. »Ja, dieser Ausdruck war auch in dem jüngeren Gesicht!«

»Ihr erinnert Euch meiner noch!« sagte Florence mit einem Lächeln, Ihr wißt noch, was ich damals für ein kleines Geschöpf war!«

»Meine teure junge Lady«, erwiderte der Instrumentenmacher, »wie hätte ich Euch vergessen können, da ich seitdem so oft an Euch dachte und von Euch hörte! Ja, sogar in demselben Augenblick, als sternchenland.com Ihr hereinkamt, sprach Walter mit mir von Euch und gab mir Aufträge an Euch und –«

»Tat er das?« sagte Florence. »Ich danke Euch, Walter – o, ich danke Euch, Walter! Ich fürchtete, Ihr könntet abreisen und dabei kaum an mich denken.«

Abermals reichte sie herzlich und aufrichtig ihre kleine Hand Walter hin, der sie einige Momente festhielt und sie fast nicht wieder loslassen wollte.

Und doch hielt er sie nicht so fest, wie er es vielleicht vordem getan haben würde. Jene alten Träume seiner Knabenzeit, die sogar später noch hin und wieder an ihm vorbeiglitten, traten nicht aufs neue ins Leben, um ihn mit ihren unbestimmten Formen zu verwirren. Die Reinheit und Unschuld ihres herzlichen Wesens, ihre Zutraulichkeit und die unverhüllte Achtung für ihn, die sich so tief in ihrem treuen Auge aussprach und über ihr schönes Gesicht durch das beschattende Lächeln glimmte – denn leider sprach sich zu viel Wehmut in diesem Lächeln aus, als daß es hätte leuchten können –, alles dies hatte nichts Romantisches an sich. Seine Gedanken wurden dadurch zurückgeführt an das frühe Sterbebett, an dem sie geweint, an die Liebe, die das Kind zu ihr gehegt hatte; und auf den Schwingen solcher Erinnerungen schien sie sich weit über seine eiteln Träumereien in eine klarere und heiterere Luft zu erheben.

»Ich – ich fürchte, ich muß Euch Walters Onkel nennen, Sir«, sagte Florence zu dem alten Mann – »wenn Ihr es mir gestatten wollt.«

»Meine teure junge Dame«, rief der alte Sol, »du mein Himmel, wie kommt Ihr zu einer solchen Frage?«

»Wir haben Euch stets unter diesem Namen gekannt und von Euch gesprochen«, entgegnete Florence, indem sie sich mit einem leichten Seufzer in dem Zimmer umsah. »Das alte nette Stübchen! Ganz so, wie früher! Wie gut erinnere ich mich seiner!«

Der alte Sol schaute zuerst nach ihr, dann nach seinem Neffen hin, rieb sich die Hände, putzte seine Brille und sagte halblaut vor sich hin:

»O Zeit, Zeit, Zeit!«

Es fand ein kurzes Stillschweigen statt, und Susanna Nipper holte inzwischen ganz geschickt zwei Extra-Tassen aus dem Seitenschrank heraus, worauf sie mit gedankenvoller Miene dem Ziehen des Tees zusah.

»Es liegt mir etwas auf dem Herzen, was ich Walters Onkel mitteilen muß«, sagte Florence, indem sie schüchtern ihre Hand auf die des alten Mannes, die auf dem Tisch ruhte, legte, um seine Aufmerksamkeit zu fesseln. »Er bleibt allein zurück, und wenn er mir erlauben will – nicht gerade Walters Platz einzunehmen, denn dies wäre unmöglich, aber doch sein treuer Freund zu sein und ihm während Walters Abwesenheit Beihilfe zu leisten, so werde ich’s ihm in der Tat sehr Dank wissen. Erlaubt Ihr mir dies? Darf ich, Walters Onkel?«

Ohne eine Silbe der Erwiderung erhob der Instrumentenmacher ihre Hand zu seinen Lippen; Susanna aber lehnte mit gekreuzten Armen in dem Präsidentenstuhl, den sie sich selbst zugeeignet hatte, zurück bis auf das eine Ende ihres Hutbandes und schaute mit einem kurzen Seufzer nach dem hohen Fenster hinauf.

»Ihr müßt mir gestatten, daß ich Euch besuchen darf, wenn ich kann«, fuhr Florence fort, »und Ihr erzählt mir alles von Euren Angelegenheiten und von Walter. Auch vor Susanna braucht Ihr kein Geheimnis zu haben, wenn sie an meiner Statt kommt. Schenkt uns Euer Vertrauen und baut auf uns. Nicht wahr, Walters Onkel, Ihr erlaubt uns, daß wir Euch trösten dürfen?«

Das süße Gesicht, das zu dem seinigen aufsah, die sanft bittenden Augen, die weiche Stimme und die leichte Berührung seines Armes, noch ansprechender gemacht durch die Achtung und Ehrerbietung eines Kindes vor seinem Alter, wodurch das Ganze den Ausdruck anmutigen Zweifelns und bescheidenen Zauderns erhielt – alles dies in Vereinigung mit der natürlichen Innigkeit des Mädchens überwältigte den armen, alten Instrumentenmacher dermaßen, daß er nur antworten konnte:

»Wally, sprich ein Wort für mich, mein Lieber. O, wie dankbar bin ich!«

»Nein, Walter«, entgegnete Florence mit ihrem ruhigen Lächeln, »ich muß mir’s verbitten, daß Ihr für ihn einsteht. Ich begreife ihn vollkommen, und wir müssen lernen, miteinander zu reden, ohne daß wir Euch dabei haben, lieber Walter.«

Der schmerzliche Ton, in dem sie die letzteren Worte sprach, ergriff Walter mehr als alles übrige.

»Miß Florence«, versetzte er, indem er sich alle Mühe gab, das heitere Wesen beizubehalten, das er bisher seinem Onkel gegenüber zur Schau gestellt hatte, »ich kann in der Tat ebensowenig sagen, wie mein Onkel, um Euch für so viele Güte den gebührenden Dank abzustatten. Ja, wenn ich eine ganze Stunde fortsprechen müßte, so vermöchte ich wahrhaftig nicht weiter auszudrücken, als daß es Euch so ganz gleich sieht!«

Susanna Nipper machte nun mit einem neuen Teil ihres Hutbandes den Anfang und nickte beifällig über die ausgesprochene Rede nach dem Hochfenster hinauf.

»Aber, Walter«, sagte Florence, »ich muß Euch noch etwas sagen, ehe Ihr abreist. Seid so gut, mich künftighin Florence zu nennen, und nicht mit mir zu sprechen, als wäre ich eine Fremde.«

»Eine Fremde?« entgegnete Walter. »Nein. Euch dafür anzunehmen, wäre mir unmöglich. Wenigstens widerstritte es allen meinen Gefühlen.«

»Damit bin ich noch nicht zufrieden, und es ist nicht das, was ich meine. Ach, Walter«, fügte Florence, in Tränen ausbrechend, bei, »er liebte Euch so sehr und legte noch vor seinem Sterben Zeugnis davon ab, als er sagte: ›Vergeßt Walter nicht!‹ Wenn Ihr mir also statt dessen, der hingegangen ist, ein Bruder sein wollt, sternchenland.com Walter – denn ich habe jetzt keinen mehr auf Erden –, so will ich mein ganzes Leben über Eure Schwester sein und stets mit schwesterlicher Liebe an Euch denken, wo immer wir auch sein mögen! Dies habe ich Euch sagen wollen, lieber Walter, obschon ich es nicht vorzubringen weiß, wie ich gern möchte, weil mir das Herz zu voll ist.«

Und in der Überfülle und in der holden Einfachheit dieses Herzens bot sie ihm ihre beiden Hände hin. Walter ergriff sie, beugte sich darauf nieder und berührte das tränenvolle Antlitz, das weder zurückwich, noch sich abwandte, ja nicht einmal darob errötete, sondern voll Vertrauen und Zuversicht zu ihm aufschaute. In diesem einzigen Augenblick entwich jeder Schatten von Zweifel aus Walters Seele. Es kam ihm vor, er antworte auf ihre unschuldige Bitte neben dem Lager des toten Kindes, und in dem Hinblick auf jene ernste Szene gelobte er sich, auch in seiner Verbannung sogar ihr Bild mit brüderlicher Liebe zu hegen und zu pflegen, ihr edles Vertrauen unverletzt zu erhalten und sich selbst vor der Herabwürdigung zu bewahren, daß er je einem Gedanken Raum geben könnte, der nicht ihrer eigenen Brust entquollen.

Susanna Nipper, die inzwischen ihre beiden Hutbänder schwer zerarbeitet und während dieser Verhandlung einen großen Teil von Privaterregung nach dem Hochfenster entsandt hatte, brachte nun die Unterhandlung auf einen andern Gegenstand, indem sie fragte, wem Milch und wem Zucker beliebe. Nachdem sie über diesen Punkt belehrt worden, schenkte sie den Tee ein. Alle vier sammelten sich gesellig, um den kleinen Tisch und genossen die kleine Labung unter der tätigen Leitung vorgedachter jungen Dame. Die Gegenwart Florences aber in dem Hinterstübchen übte sogar einen erheiternden Eindruck auf die Tartaren-Fregatte an der Wand.

Eine halbe Stunde früher wäre Walter ums Leben nicht imstande gewesen, sie bei ihrem Vornamen anzureden; jetzt aber konnte er es tun, da sie ihn selbst darum gebeten hatte. Er konnte an ihre Gegenwart denken, ohne daß ihn ängstliche Ahnungen beschlichen, es wäre vielleicht besser gewesen, wenn sie nicht gekommen wäre. Mit aller Ruhe durfte er jetzt dem Gedanken nachhängen, wie schön, wie hoffnungsvoll sie sei, und welch eine glückliche Heimat seinerzeit einem sterblichen Mann in ihrem Herzen vorbehalten war. Er konnte mit Stolz Betrachtungen anstellen über seinen eigenen Platz in ihrem Herzen; und wenn er sich auch nicht gerade sagen durfte, daß er diese Auszeichnung verdiene, weil sie so hoch über ihm stand, so kam er doch zu dem mannhaften Entschluß, derselben keine Unehre zu machen.

Irgendein zauberhafter Einfluß mußte wohl die Hände von Susanna Nipper umschwebt haben, als sie den Tee machte; denn er sprach sich aus in der ruhigen Haltung, die während obiger Verhandlungen in dem Hinterstübchen herrschte. Eine feindselige Gegenwirkung beherrschte aber sicherlich die Zeiger von Onkel Sols Chronometer und bewegte sie schneller, als die Tartaren-Fregatte je vor dem Wind lief. Dem mochte übrigens sein, wie ihm wolle, sternchenland.com nicht fern in einer ruhigen Ecke wartete eine Kutsche auf die beiden Gäste, und als man zufällig den Chronometer zu Rate zog, gab er eine so entschiedene Meinung ab, daß man nach einer so unanfechtbaren Autorität unmöglich die Tatsache bezweifeln konnte, sie warte schon sehr lange. Hätte Onkel Sol nach seinem eigenen Stundenglas gehängt werden sollen, so würde er sicherlich nicht zugegeben haben, daß der Chronometer auch nur um den kleinsten Bruchteil einer Sekunde zu schnell gehe.

Zum Abschied wiederholte Florence dem alten Mann alles, was sie bereits gesagt hatte, und verpflichtete ihn hoch und teuer auf Haltung seines Vertrags. Onkel Sol begleitete sie liebevoll bis zu den Beinen des hölzernen Midshipman und überantwortete sie dort an Walter, der sie und Susanna Nipper nach der Kutsche führte.

»Walter«, sagte Florence unterwegs, »ich scheute mich, Euch vor Eurem Onkel zu fragen. Glaubt Ihr, daß Ihr sehr lange abwesend sein werdet?«

»Ich weiß es in der Tat nicht«, entgegnete Walter, »obschon ich es fürchte. Wenn ich nicht irre, so hat Mr. Dombey darauf hingedeutet, als er mich für diesen Posten bestimmte.«

»Trifft Euch dadurch eine Vergünstigung, Walter?« fragte Florence nach kurzem Stocken, indem sie zugleich ängstlich zu seinem Gesicht aufsah.

»Durch die Stelle?« erwiderte Walter.

»Ja.«

Walter würde gerne eine Welt darum gegeben haben, wenn er hätte ja antworten können; aber sein Gesicht antwortete, ehe dies seinen Lippen möglich wurde, und Florence war zu achtsam, um diese Antwort nicht zu verstehen.

»Ich fürchte, Ihr seid kaum ein Liebling meines Papas gewesen?« fragte sie schüchtern.

»Ich wüßte auch keinen Grund, warum ich es hätte sein sollen«, versetzte Walter lächelnd.

»Keinen Grund, Walter?«

»Es war wenigstens kein Grund vorhanden«, entgegnete Walter, der wohl begriff, was sie meinte. »Das Haus beschäftigt viele Leute, und zwischen Mr. Dombey und einem jungen Manne, wie ich bin, findet ein weiter Abstand statt. Erfülle ich meine Schuldigkeit, so tue ich nur, was mir obliegt, und bei allen übrigen ist dies der gleiche Fall.«

Hatte vielleicht Florence eine Ahnung, deren sie sich kaum recht bewußt gewesen – eine Ahnung, die unbestimmt und unbestimmbar ins Dasein trat seit jener Nacht, in der sie nach dem Zimmer ihres Vaters hinuntergegangen war – daß nämlich Walters zufälliges Interesse an ihr und der Umstand, daß er sie früh kennengelernt, ihm die folgenreiche Abneigung Mr. Dombeys zugezogen habe? Trug sich Walter mit einer solchen Idee, oder flog ihn der plötzliche Gedanke an, in diesem Augenblicke könnte etwas der Art ihren Geist beschäftigen? Keins von beiden deutete darauf hin, und eine kurze sternchenland.com Weile herrschte tiefes Schweigen. Susanna ging auf der andern Seite von Walter und faßte ihn sowohl als ihre Schutzbefohlene scharf ins Auge. Sicherlich wanderten Miß Nippers Gedanken in dieselbe Richtung, und zwar mit großer Zuversichtlichkeit.

»Ihr kommt vielleicht bald wieder zurück, Walter«, sagte Florence.

»Es kann sein, daß ich als alter Mann wiederkehre«, sagte Walter, »und daß ich Euch dann als alte Dame treffe. Wir wollen übrigens auf Besseres hoffen.«

»Papa wird«, sagte Florence nach einer kurzen Pause – »er wird sich von seinem Schmerz erholen und – und vielleicht mit der Zeit offener gegen mich sprechen. Geschieht dies, so will ich ihm sagen, wie lieb es mir wäre, wenn Ihr wieder zurückkämet; ich will ihn dann bitten, daß er Euch um meinetwillen von Eurem Posten abberufe.«

Als sie von ihrem Vater sprach, lag in den Worten eine rührende Modulation, die Walter nur zu wohl verstand. Sie waren in der Nähe der Kutsche angelangt, und er würde sie verlassen haben, ohne zu sprechen, denn er fühlte jetzt, was Scheiden war. Aber nachdem Florence schon Platz genommen, hielt sie noch immer seine Hand fest, und Walter bemerkte jetzt, daß sie ein kleines Paket in der ihrigen hatte.

»Walter«, sagte sie, mit seelenvollem Blicke zu ihm aufschauend, »gleich Euch will ich auf etwas Besseres hoffen. Ich will darum beten und den Glauben festhalten, daß es nicht ausbleiben werde. Diese kleine Gabe habe ich für Paul gemacht. Ich bitte Euch, nehmt es mit der Liebe auf, mit der es gegeben wird, und seht es nicht an, bis Ihr Eure Reise angetreten. Jetzt Gott befohlen, Walter! Vergeßt mich nicht, Ihr seid mir ein lieber Bruder.«

Walter war froh, daß Susanna Nipper dazwischenkam, da er sonst nicht den günstigsten Eindruck zurückgelassen haben dürfte. Er war froh, daß sie nicht wieder zur Kutsche heraussah, sondern statt dessen nur mit ihrer kleinen Hand ihm zuwinkte, solange der Wagen in seinem Gesichtskreise blieb.

Trotz ihrer Bitten konnte er nicht umhin, noch am selben Abend vor Schlafengehen das Paket zu öffnen. Es enthielt eine kleine Börse.

Hell erhob sich am andern Morgen die Sonne nach ihrer Wanderung durch fremde Länder, und mit ihr stand Walter auf, um den Kapitän einzulassen, der bereits an der Tür stand. Letzterer war nämlich weit früher, als nötig gewesen wäre, aus den Federn gekrochen, um unter Segel zu kommen, solang Mrs. Mac Stinger noch schlummerte. Der Kapitän tat äußerst aufgeräumt und brachte in einer der Taschen seines weiten blauen Rocks eine sehr hart geräucherte Zunge zum Frühstück mit.

»Und Wal’r«, sagte der Kapitän, als sie an dem Tische Platz nahmen, »wenn Euer Onkel der Mann ist, für den ich ihn halte, so wird er für den gegenwärtigen Anlaß jene letzte Madeira-Flasche heraufholen.«

»Nein, nein, Ned«, versetzte der alte Mann. »Nein. Sie wird erst angebrochen, wenn Walter wieder zurückkommt.«

»Wohl gesprochen!« rief der Kapitän. »Da höre man ihn.«

»Drunten liegt sie«, sagte Sol Gills, »in dem kleinen Keller, mit Staub und Spinnweben bedeckt. Vielleicht liegen Staub und Spinnweben über Euch und mir, Ned, ehe sie das Licht erblickt.«

»Höre man ihn!« entgegnete der Kapitän. »Eine gute Moral, Wal’r, mein Junge. Zieht den Feigenbaum in der Art, wie er wachsen soll, und wenn Ihr alt seid, könnt Ihr unter seinem Schatten sitzen. Nachzusehen – na«, fügte der Kapitän nach weiterem Besinnen bei, »ich weiß nicht ganz gewiß, wo dies zu finden ist; aber wenn Ihr’s gefunden habt, so biegt ein Ohr ein. Macht nur fort, Sol Gills!«

»Aber da oder irgendwo anders soll sie liegen bleiben. Und bis Wally zurückkommt, um sie in Anspruch zu nehmen«, erwiderte der alte Mann. »Dies ist alles, was ich sagen wollte.«

»Und ist obendrein gut gesagt«, versetzte der Kapitän. »Wenn wir drei die Flasche nicht gemeinschaftlich anbrechen, so gebe ich Euch beiden die Erlaubnis, meinen Anteil zu trinken.«

Ungeachtet der großen Heiterkeit des Kapitäns wußte er doch mit der hart geräucherten Zunge nicht gut zurechtzukommen, obschon er sich dabei alle Mühe gab und, wenn man ihm zuschaute, tat, als esse er mit gewaltigem Appetit. Zugleich hatte er große Angst, mit einem von beiden, entweder mit dem Onkel oder mit dem Neffen, allein zu bleiben; denn sichtlich bestand seine einzige Hoffnung, den Schein zu wahren, in dem Umstand, daß von dem Kleeblatt keins fortging. Diese Besorgnis bewog ihn zu so sinnreichen Ausweichungen, daß er, wenn Solomon sich entfernte, um seinen Rock anzuziehen, unter dem Vorwand nach der Tür lief, er habe eine außerordentliche Kutsche vorbeifahren sehen; und als sich Walter die Treppe hinaufbegab, um von den Hausleuten Abschied zu nehmen, eilte Ehren Cuttle auf die Straße hinaus, weil er meinte, er habe aus einem benachbarten Schornstein einen Brandgeruch wahrgenommen. Natürlich mußten dergleichen Kunstgriffe jedem uninspirierten Beobachter ganz unergründlich sein.

Als Walter von seiner Verabschiedung wieder herunterkam und durch den Laden nach dem kleinen Hinterstübchen gehen wollte, bemerkte er ein bekanntes verblichenes Gesicht, das durch die Tür hereinsah. Er eilte darauf zu.

»Mr. Carker!« rief Walter, John Carker dem Jüngeren die Hand drückend. »Bitte, kommt herein! Es ist sehr freundlich von Euch, daß Ihr so früh hierher kommt, um mir Lebewohl zu sagen. Ihr wußtet wohl, wie es mich freuen mußte, vor meinem Abgange Euch noch einmal die Hand reichen zu können, und daß mir diese Gelegenheit noch wird, macht mich überglücklich. Bitte, kommt herein.«

»Es ist nicht wahrscheinlich, daß wir uns je wiedersehen, Walter«, entgegnete der andere, ohne der Einladung Folge zu geben. »Auch ich freue mich über diese Gelegenheit, und am Vorabende der Trennung darf ich es wohl wagen, mit Euch zu sprechen und Euch die Hand zu reichen. Fürderhin brauche ich mich vor Euren zutraulichen Annäherungen nicht mehr zu hüten, Walter.«

Diese Worte begleitete er mit einem wehmütigen Lächeln, das zeigte, daß er auch hierin schon einen freundlichen Anhaltspunkt für seine Gedanken gefunden habe.

»Ach, Mr. Carker«, entgegnete Walter, »und warum seid Ihr denn so behutsam gewesen? Ich bin überzeugt, daß ich von Euch nur gute Eindrücke empfangen hätte.«

Mr. Carker schüttelte den Kopf.

»Wenn ich auf Erden noch etwas Gutes tun könnte«, sagte er, »so geschähe es sicherlich um Euretwillen herzlich gern, Walter. Der Umstand, daß ich Euch Tag für Tag sah, ist mir zugleich Wonne und Vorwurf gewesen, aber das erstere Gefühl hat das andere bei weitem überboten. Ich empfinde dies erst jetzt recht, nachdem ich weiß, was ich verliere.«

»Kommt herein, Mr. Carker, damit ich Euch mit meinem guten alten Onkel bekannt mache«, drängte Walter. »Ich habe oft mit ihm von Euch gesprochen, und er wird sich freuen, wenn er Euch alles erzählen kann, was er von mir hörte. Von unserem letzten Gespräch«, fügte Walter mit einiger Verlegenheit hinzu, als er das Zögern des andern bemerkte, »habe ich ihm nichts mitgeteilt, Mr. Carker. Ihr dürft mir glauben, nicht einmal gegen ihn wurde etwas davon geäußert.«

Der graue Junior drückte ihm die Hand, und Tränen stiegen ihm in die Augen.

»Wenn ich ihn kennenlerne, Walter«, entgegnete er, »so soll es um deswillen geschehen, damit ich Nachrichten von Euch höre. Verlaßt Euch darauf, daß ich von Eurer Nachsicht und Eurer Rücksichtnahme keinen Mißbrauch mache. Es wäre aber wirklich unrecht, wenn Ihr ihm nicht die volle Wahrheit mitteilt, ehe ich ein Wort des Vertrauens von ihm nachsuchte. Ich habe keinen Freund, keinen Bekannten, als Euch; und selbst wenn es um Euretwillen geschehen müßte, wäre wenig Wahrscheinlichkeit vorhanden, daß ich einen gewänne.«

»Wollte Gott«, versetzte Walter, »Ihr hättet mir gestattet, in Wirklichkeit Euer Freund zu sein. Ihr wißt, Mr. Carker, daß ich es stets wünschte, aber nie nur halb so viel als jetzt, nun wir uns verabschieden sollen.«

»Es ist genug«, entgegnete der andere, »daß Ihr der Freund meines Herzens gewesen seid; denn wenn ich Euch am meisten mied, zog mich dieses am meisten zu Euch hin und war übervoll von Euch. Lebt wohl, Walter!«

»Lebt wohl, Mr. Carker! Gott sei mit Euch!« rief Walter in warmer Erregung.

»Wenn Ihr zurückkommt«, sagte der andere, während des Sprechens Walters Hand festhaltend, »und mich an meiner alten Ecke vermißt – wenn Ihr dann von irgend jemand hört, wo ich liege, so macht einen Besuch an meinem Grabe, denkt dabei, daß ich ebenso ehrlich und glücklich hätte sein können, wie Ihr, und laßt mich, wenn mein Stündlein kommt, mit der Hoffnung sterben, daß sternchenland.com ein Abbild meines früheren Ichs einstens für einen Moment an meine Ruhestätte treten werde, um sich meiner mit Mitleid und Nachsicht zu erinnern. Lebt wohl, Walter!«

Seine Gestalt schlich wie ein Schatten die Straße hinab, die klar und feierlich an diesem frühen Morgen von der Sonne beschienen war. Langsam entschwand sie dem Blick.

Endlich meldete der unbarmherzige Chronometer, daß Walter dem hölzernen Midshipman seinen Rücken kehren müsse. Er stieg daher mit seinem Onkel und dem Kapitän in eine Kutsche, um sich nach der Werft hinführen zu lassen, wo sie vermittels eines Dampfboots nach irgendeiner Flußbiegung aufzubrechen gedachten, deren Name, wie der Kapitän meinte, für die Ohren der Landbewohner ein hoffnungsloses Geheimnis sei. Nach der beabsichtigten Stelle war das Schiff mit der Flut der letzten Nacht gekommen, und wie sie den Platz erreichten, wurden sie von unterschiedlichen aufgeregten Bootsführern, darunter namentlich einem Zyklopen von des Kapitäns Bekanntschaft, geentert, der mit seinem einzigen Auge den alten Freund schon auf tausend Ellen hin erspäht und seitdem fortwährend ein unverständliches Gebrüll mit demselben gewechselt hatte. Nachdem sie die gesetzliche Prise dieser Person geworden, die schrecklich heiser war und sich vielleicht seit Monaten nicht rasiert hatte, wurde das gesamte Kleeblatt an Bord des Sohns und Erben gebracht. Der Sohn und Erbe aber befand sich in großer Verwirrung; denn die Segel lagen bunt durcheinander auf dem nassen Deck; man strauchelte über die losen Taue, und Matrosen in roten Hemden liefen barfuß ab und zu, um jeden Fuß Raum mit Fässern zu versperren. Und wo die Unordnung am größten war, stand ein schwarzer Koch in einer schwarzen Kombüse, vom Rauch fast geblendet und unter einem Haufen von Gemüsepflanzen, die ihm bis zu den Augen reichten.

Der Kapitän nahm sofort Walter in eine Ecke und zog daselbst mit großer Anstrengung, so daß sein Gesicht ganz rot darüber wurde, die große silberne Uhr heraus, die so fest in seiner Tasche stak, daß sie bei der gedachten Operation wie ein Faßspund klappte.

»Wal’r«, sagte der Kapitän, indem er ihm die Uhr hinbot und ihm zugleich herzlich die Hand drückte, »ein Andenken auf die Reise, mein Junge. Rückt sie jeden Morgen um eine halbe Stunde und jeden Abend um eine Viertelstunde zurück, so ist’s eine Uhr, daß Ihr Freude daran haben werdet.«

»Kapitän Cuttle, an etwas der Art dürft Ihr nicht denken«, rief Walter, indem er den alten Gentleman am Rocke festhielt, weil derselbe Reißaus nehmen wollte. »Ich bitte, nehmt sie zurück. Ich bin bereits mit einer Uhr versehen.«

»So nehmt« – entgegnete der Kapitän, plötzlich in seine Tasche greifend und die beiden Teelöffel nebst der Zuckerzange hervorlangend, mit denen er sich zur Begegnung eines solchen Einwurfes bewaffnet hatte – »so nehmt statt dessen diese Kleinigkeiten von Silber.«

»Nein, nein, auch dieses kann ich nicht«, erwiderte Walter, »obschon ich die gute Meinung mit tausendfältigem Dank anerkenne.

O, laßt das doch, Kapitän Cuttle!« denn der Kapitän war im Begriff, die Pretiosen über Bord zu werfen. »Euch werden sie von größerem Nutzen sein, als mir. Gebt mir Euern Stock; diesen hätte ich schon längst besitzen mögen. So! Lebt wohl, Kapitän Cuttle! Tragt Sorge für meinen Onkel! Onkel Sol, Gott behüte Euch!«

Sie waren in dem Getümmel über die Schiffsseite hinuntergekommen, noch ehe Walter einen weiteren Blick von ihnen auffangen konnte; und als er nach dem Stern hinaufeilte, um ihnen nachzusehen, bemerkte er, wie sein Onkel den Kopf ins Boot niederhängen ließ, während Kapitän Cuttle ihm mit der großen silbernen Uhr – sicherlich nicht ohne blaue Male – den Rücken zerklopfte und dabei hoffnungsvoll mit den Teelöffeln und der Zuckerzange gestikulierte. Als letzterer Walters ansichtig wurde, ließ er mit der größten Sorglosigkeit das wertvolle Eigentum auf den Boden des Nachens niederfallen, als ob es für ihn gar nicht vorhanden sei, zog den Glanzhut ab und rief ihm aus Leibeskräften zu. Der Glanzhut blitzte in der Sonne, und der Kapitän fuhr fort, ihn zu schwenken, bis er nicht mehr gesehen werden konnte. Dann erreichte das Getümmel an Bord, das rasch zugenommen hatte, seine Höhe. Zwei oder drei andere Boote fuhren mit lautem Hurra ab, die Segel blähten sich oben unter der günstigen Brise, das Wasser sprühte funkelnd von dem Schnabel weg, und der Sohn und Erbe trat so hoffnungsvoll und fröhlich seine Reise an, wie vor ihm so mancher andere Sohn und Erbe, der aber gleichwohl zugrunde gegangen war.

Tag um Tag hielten der alte Sol und Kapitän Cuttle in dem kleinen Hinterstübchen den Lauf des Schiffes, und berechneten nach der Karte, die sie auf dem runden Tische vor sich liegen hatten, seinen Kurs. Und nachts, wenn der alte Sol so einsam nach dem Dachstübchen, wo es bisweilen grobes Geschütz blies, hinaufstieg, schaute er nach den Sternen, lauschte auf das Wehen des Windes und hielt weit längere Wacht, als ihm an Bord eines Schiffes zuteil geworden wäre. Mittlerweile blieb die Flasche alten Madeiras, der seinerzeit auch Seefahrten gemacht und die Gefahren der Tiefe kennengelernt hatte, stumm und ungestört unter dem Staub und den Spinngeweben liegen.

Zehntes Kapitel.


Zehntes Kapitel.

Enthält die Folgen, die das Unglück des Midshipman nach sich zieht.

Major Bagstok hatte oft und lang über den Prinzessinnenplatz hinüber durch seinen doppeltstarken Fernstecher unsern Paul beobachtet und hatte durch den Eingeborenen, der deshalb einen beharrlichen Verkehr mit dem Dienstmädchen der Miß Tox unterhielt, täglich, wöchentlich und monatlich ausführliche Berichte über den fraglichen Gegenstand erhalten. So gelangte er zu dem Schlusse, daß Dombey, Sir, ein Mann sei, den man kennenlernen müsse, und daß J.B. diese Bekanntschaft nicht versäumen dürfe.

Miß Tox jedoch behauptete ihr zurückhaltendes Benehmen und wies den Major mit großer Kälte zurück, so oft er sie – was zu sternchenland.com verschiedenen Malen geschah – über diesen Gegenstand auszuforschen versuchte. Der Major wollte daher, trotz seiner angeborenen Zähigkeit und Schlauheit, lieber die Erfüllung seines Wunsches einigermaßen dem Zufall überlassen, der, wie er in seinem Klub kichernd zu bemerken pflegte, »fünfzig gegen einmal stets zugunsten des Joey B. stand, Sir, seit sein älterer Bruder in Westindien an dem gelben Jack starb.«

Es dauerte lange, bis er ihm in dem gegenwärtigen Falle zu Hilfe kam. Am Ende aber hatte er doch Glück. Als der schwarze Diener mit allen Einzelheiten berichtete, daß Miß Tox im Brightondienst abwesend sei, wandelten den Major plötzlich zärtliche Erinnerungen an seinen Freund Bill Bitherstone in Bengalen an, der ihm geschrieben hatte, wenn er je in diese Gegend käme, möchte er doch seinen einzigen Sohn besuchen. Zur Zeit übrigens, als derselbe schwarze Diener meldete, Paul befinde sich bei Mrs. Pipchin. Dadurch gab er dem Major Anlaß, sich des Briefes zu erinnern, den ihm Master Bitherstone bei seiner Ankunft in England überreicht hatte. Zwar war er damals nicht entfernt geneigt, diesem je Aufmerksamkeit zu schenken. Der ehrenwerte Krieger lag nun gerade an einem Gichtanfall danieder, und er wurde über die Meldung so wütend, daß er zum Dank dem Schwarzen einen Fußschemel nachwarf und hoch und teuer schwur, er wolle den Kerl noch eigenhändig umbringen – eine Drohung, die der Schwarze mehr als halb zu glauben geneigt war.

Endlich war der Anfall vorübergegangen, und der Major begab sich eines Sonnabends, den Eingeborenen hinter sich, nach Brighton hinunter, unterwegs stets Miß Tox anredend und über der Aussicht die Augen aufreißend, daß er jetzt den ausgezeichneten Freund, mit dem sie so geheimnisvoll getan und um dessen willen sie ihn verlassen hatte, im Sturm erobern könne.

»Meint Ihr, Ma’am – meint Ihr?« sagte der Major, von Rachsucht glühend, während die dicken Adern seines Kopfes noch mehr aufquollen. »Glaubt Ihr, Ihr könnt Joe B. den Laufpaß geben, Ma’am? Es ist noch nicht so weit, Ma’am, noch lange nicht! Zum Teufel, noch nicht, Sir. Joe hat die Augen offen, Ma’am. Bagstok ist wachsam. J.B. versteht sich auch auf einen und den andern Schachzug, Ma’am. Ihr werdet Josh zäh finden, Ma’am. Zäh, Sir, zäh ist Joseph und verteufelt schlau.«

Sehr zäh fand ihn jedenfalls Master Bitherstone, als er diesen jungen Gentleman zu einem Spaziergang mitnahm. Der Major nämlich mit seinem Gesicht wie ein Stiltonkäse und seinen Augen ähnlich denen eines Kabeljaus streifte, völlig gleichgültig gegen Master Bitherstones Unterhaltung, umher und schleppte ihn mit sich, während er sich allenthalben nach Mr. Dombey und dessen Kindern umsah.

Da er übrigens zuvor von Mrs. Pipchin unterrichtet war, so erspähte er bald Paul und Florence, auf die er unverzüglich zusteuerte. Sie hatten einen stattlichen Gentleman (ohne Zweifel Mr. sternchenland.com Dombey) in ihrer Gesellschaft. Während er mit Mr. Bitherstone in das Herz dieses kleinen Geschwaders brach, traf es sich natürlich, daß der kleine Begleiter die Genossen seiner Leiden anredete. Der Major machte sofort halt, um ihnen seine Aufmerksamkeit und Bewunderung zu schenken, erinnerte sich erstaunt, daß er sie bei seiner Freundin Miß Tox auf dem Prinzessinnenplatz gesehen und gesprochen habe, meinte, Paul sei ein verteufelt hübscher Bursche und sein kleiner Freund, fragte, ob sich dieser des Majors Joey B. entsinne. Schließlich wandte er sich, plötzlich die gesellschaftliche Etikette berücksichtigend, an Mr. Dombey, um sich gegen ihn zu entschuldigen.

»Aber mein kleiner Freund hier, Sir«, sagte der Major, »macht mich wieder zu einem Knaben. Ein alter Soldat, Sir – Major Bagstok, Euch zu dienen – scheut sich nicht, dies einzugestehen.« Der Major lüftete dabei seinen Hut. »Gott verdamm‘ mich, Sir«, fügte der Major mit unerwarteter Wärme bei, »ich beneide Euch.« Dann besann er sich jäh und sagte: »Entschuldigt meine Freimütigkeit.«

Mr. Dombey bat ihn, nicht davon zu reden.

»Ein alter Lagergesell, Sir«, sagte der Major, »ein von Rauch ausgedorrter, sonnverbrannter, verbrauchter, invalider, alter Hund von Major, Sir, wird allerdings nicht zu fürchten haben, wegen seiner Grille von einem Mann, wie Mr. Dombey, verurteilt zu werden. Ich glaube doch, daß ich die Ehre habe, Mr. Dombey anzureden?«

»Ich bin gegenwärtig der unwürdige Repräsentant dieses Namens, Major«, entgegnete Mr. Dombey.

»Bei Gott, Sir!« erwiderte der Major, »es ist ein großer Name. Es ist ein Name, Sir«, fügte er mit Bestimmtheit bei, als wolle er Mr. Dombey zum Widerspruch herausfordern, um alsdann die schmerzliche Pflicht zu erfüllen, mit ihm anzubinden, »den man in allen auswärtigen Besitzungen des britischen Reichs kennt und ehrt. Es ist ein Name, Sir, den man mit Stolz tragen darf. Joseph Bagstok hat nichts von Schmeichelei an sich, Sir. Seine Königliche Hoheit der Herzog von York bemerkte bei mehr als einer Gelegenheit, ›Joey ist kein Schmeichler. Joe ist ein einfacher, alter Soldat. Joseph ist zäh, daß man es fast bedauern möchte.‹ Aber es ist ein großer Name, Sir. Bei dem Allmächtigen, es ist ein großer Name«, fügte der Major feierlich bei.

»Ihr seid gütig genug, ihn vielleicht höher anzuschlagen, als er es verdient, Major«, versetzte Mr. Dombey.

»Nein, Sir«, sagte der Major. »Mein kleiner Freund hier, Sir, wird es Joseph Bagstok bezeugen, daß er ein durchgreifender, fadengerader, ehrlicher, alter Tropf ist, Sir, weiter nichts. Dieser Knabe, Sir«, fuhr der Major in gedämpftem Ton fort, »wird in der Geschichte leben. – Dieser Knabe, Sir, ist keine gewöhnliche Erscheinung. Tragt Sorge für ihn, Mr. Dombey.«

Mr. Dombey schien andeuten zu wollen, daß er sich bemühen werde, es zu tun.

»Da ist auch ein Junge, Sir«, fuhr der Major vertraulich fort sternchenland.com und versetzte dem gemeinten einen Stoß mit seinem Rohr. »Sohn von Bitherstone in Bengalen. Bill Bitherstone, vormals einer der Unsrigen, Der Vater dieses Knaben und ich, wir waren geschworne Freunde. Wohin Ihr auch gehen mochtet, Sir, hörtet Ihr von nichts, als von Bill Bitherstone und Joe Bagstok. Bin ich blind gegen die Mängel dieses Knaben? Keineswegs. Er ist ein Einfaltspinsel, Sir.«

Mr. Dombey blickte nach dem geschmähten Master Bitherstone hin, von dem er wenigstens ebensoviel wußte wie der Major, und versetzte in selbstgefälliger Weise:

»Wirklich?«

»Ja, das ist er, Sir«, sagte der Major. »Er ist ein Einfaltspinsel. Joe Bagstok ist nicht der Mann, etwas zu bemänteln. Der Sohn meines alten Freundes Bill Bitherstone in Bengalen ist ein geborener Einfaltspinsel, Sir.« Dabei lachte der Major, bis er fast blau wurde. »Mein kleiner Freund ist vermutlich für eine öffentliche Schule bestimmt?« fügte er hinzu, nachdem er sich wieder erholt hatte.

»Ich bin noch nicht ganz schlüssig«, entgegnete Mr. Dombey, »Ich glaube nicht. Er ist so zart.«

»Wenn er so zart ist, Sir«, sagte der Major, »so habt Ihr recht. Nur zähe Kameraden können es in Sandhurst aushalten, Sir. Jeder andere wurde dort eigentlich gefoltert. Wir brieten die neuen Ankömmlinge bei einem langsamen Feuer und hingen sie, den Kopf unter sich, zu einem drei Treppen hohen Fenster hinaus. Joseph Bagstok, Sir, wurde gleichfalls für die Dauer von dreizehn Minuten nach der Kollegsuhr an den Fersen seiner Stiefel zum Fenster hinausgehalten.«

Zur Bekräftigung dieses Umstandes hätte sich der Major wohl auf sein Gesicht berufen können, denn dieses schien wirklich den Beweis zu liefern, als hätte er ein bißchen zu lang gehangen.

»Aber es machte uns zu dem, was wir waren«, sagte der Major, den Busenstreif seines Hemdes ordnend, »Wir waren von Eisen, Sir, und solche Übungen dienten als Schmiede. Wohnt Ihr hier, Mr. Dombey?«

»Ich komme in der Regel einmal wöchentlich herunter, Major«, erwiderte dieser Gentleman. »Mein Wohnquartier ist an dem Bedford.«

»So werde ich die Ehre haben. Euch an dem Bedford meine Aufwartung zu machen, Sir, wenn Ihr es mir gestattet«, sagte der Major. »Joe B., Sir, hält im allgemeinen nicht viel auf Besuche, aber Mr. Dombeys Name gehört nicht unter die gewöhnlichen. Ich bin meinem kleinen Freunde sehr viel verpflichtet für die Ehre dieser Bekanntschaft.«

Mr. Dombey gab eine sehr gnädige Erwiderung, und Mr. Bagstok tätschelte Paul auf den Kopf, worauf er gegen Florence bemerkte, »ihre Augen würden bald mit den jungen Burschen ein Teufelsspiel anfangen. Und mit den alten dazu, Sir, wenn wir nun mal darauf kommen«, fügte er unter vielem Kichern bei, störte dann Master Bitherstone mit seinem Spazierstock auf und entfernte sich sternchenland.com mit diesem jungen Gentleman in einer Art von Halbtrab, wobei er mit großer Würde seinen Kopf rollte und hustete, in seinem Marsch die Füße sehr weit auseinander spreizend.

In Erfüllung seiner Zusage machte der Major Mr. Dombey später einen Besuch, der von Mr. Dombey, nachdem er die Armeeliste zu Rate gezogen hatte, erwidert wurde. Dann sprach der Major auch in Mr. Dombeys Stadthaus vor und machte seinen nächsten Besuch zu Brighton in Mr. Dombeys Kutsche. Mit einem Worte, die Bekanntschaft dieser beiden Ehrenmänner nahm einen ungemein schnellen Fortgang, und Mr. Dombey bemerkte in betreff des Majors gegen seine Schwester, daß er zwar ein ganz militärischer Mann sei, aber trotzdem etwas mehr in sich trage, sintemal er eine ganz bewunderungswürdige Vorstellung über die Wichtigkeit von Dingen habe, die zu seinem Beruf in keiner Beziehung stünden.

Als später Mr. Dombey seine Schwester und Miß Tor nach Brighton nahm und den Major daselbst bereits vorfand, lud er ihn zum Diner nach dem Bedford ein und machte schon im voraus Miß Tor große Komplimente wegen ihres Nachbars und Bekannten. Ungeachtet des Herzklopfens, das dergleichen Anspielungen hervorriefen, waren sie doch Miß Tor durchaus nicht unangenehm, da sie sich dabei ungemein interessant machen und eine gelegentliche Verwirrtheit zur Schau tragen konnte, die sie nicht ungern blicken ließ. Der Major gab ihr reichlichen Anlaß, diese Erregung zu entfalten; denn er beklagte sich beim Diner sehr, daß sie von ihm und dem Prinzessinnenplatze desertiert sei, und da ihm dergleichen Klagen große Freude zu machen schienen, so lief alles ganz herrlich ab.

Bei Tafel übernahm der Major die Aufgabe der ganzen Unterhaltung und zeigte hierfür eine ebenso große Gier wie in Beziehung auf die verschiedenen Leckerbissen, in denen er sich, sozusagen, fast wälzte – sehr zur Steigerung seiner inflammatorischen Liebhabereien. Mr. Dombey ließ sich bei seinem gewöhnlichen, abgemessenen Schweigen diese Anmaßung gern gefallen, und der Major fühlte, daß er sich mit Glanz ausnahm. Auch entrang ihm der Schwung seines Geistes eine so endlose Anzahl von neuen Wechseln in seinem Namen, daß er selbst darüber erstaunte. Mit einem Wort, alles vergnügte sich recht gut. Man betrachtete den Major als einen Mann, der eine unerschöpfliche Unterhaltungsgabe habe, und als er endlich nach einer langen Partie Whist sich verabschiedete, machte Mr. Dombey Miß Tor abermals ein Kompliment über ihren Nachbar und Bekannten. Aber auf dem ganzen Weg zu dem Hotel sagte der Major unaufhörlich zu sich und von sich selbst: »Schlau, Sir – schlau, Sir – verteufelt schlau!« Und als er daselbst angelangt war, setzte er sich auf einen Stuhl nieder und brach in ein stummes Gelächter aus – ein Anfall, dem er hin und wieder ausgesetzt war und der ihn stets in einem besonders schauerlichen Licht erscheinen ließ. Bei der erwähnten Gelegenheit hielt er so lange an, daß ihn der schwarze Diener, der ihm aus der Ferne zusah und um keinen Preis der Welt heranzutreten sich erdreistete, zwei- oder dreimal für verloren gab. sternchenland.com Seine ganze Gestalt, namentlich aber sein Gesicht und sein Kopf, erweiterte sich über alle frühere Erfahrung und boten dem Schwarzen einen Anblick, der sich wie eine keuchende Masse von Indigo ausnahm. Endlich verfiel er in einen ungestümen Hustenanfall, und als es damit etwas besser wurde, brach er in nachstehende Ergießung aus:

»Möchtet Ihr, Ma’am – möchtet Ihr? Mistreß Dombey, eh, Ma’am? Ich denke nicht, Ma’am, solange Joe B. eine Speiche in Euer Rad einsetzen kann, Ma’am. J. B. ist jetzt quitt mit Euch, Ma’am. Er ist noch nicht ganz ausgekegelt, Sir – nein, Bagstok ist’s noch nicht. Sie ist gerissen, gerissen, Sir, aber Josh ist noch gerissener. Der alte Joe hat die Augen offen – hell offen – sperrangelweit offen, Sir!«

Die letzte Versicherung war ohne Zweifel bis zu einem furchtbaren Umfang wahr, und so blieb sie es auch während des größten Teils der Nacht, die der Major hauptsächlich in ähnlichen Ausrufen und unter unterschiedlichen Husten- oder Erstickungsanfällen verbrachte, womit er das ganze Haus aufstörte.

Am Tage nach diesem Vorgang, der ein Sonntag war, saßen Mr. Dombey, Mrs. Chick und Miß Tor eben beim Frühstück und ergingen sich in Lobeserhebungen über den Major, als Florence mit glührotem Gesicht und vor Freude funkelnden Augen hereingeeilt kam.

»Papa! Papa!« rief sie. »Hier ist Walter – er will nicht hereinkommen.«

»Wer?« entgegnete Mr. Dombey. »Was meint sie damit? Was soll das heißen?«

»Walter, Papa«, versetzte Florence schüchtern, denn sie fühlte wohl, daß sie mit allzu großer Vertraulichkeit ihrem Vater unter die Augen getreten war, »der mich fand, als ich mich verirrt hatte.«

»Meint sie den jungen Gay, Louisa?« fragte Mr. Dombey, seine Augenbrauen runzelnd. »In der Tat, das Benehmen dieses Kindes ist sehr lärmend geworden. Unmöglich kann sie den jungen Gay meinen. Sieh nach, was es gibt – willst du so gut sein?«

Mrs. Chick eilte in den Flur hinaus und kehrte mit der Kunde zurück, daß allerdings der junge Gay da sei und eine sehr seltsam aussehende Person zum Begleiter habe. Der Knabe wolle sich nicht die Freiheit nehmen, hereinzukommen, weil er gehört habe, daß Mr. Dombey beim Frühstück sei – er warte deshalb, bis ihm von Mr. Dombey die Erlaubnis dazu erteilt werde.

»Bemerke dem Jungen, er solle nur jetzt hereinkommen«, sagte Mr. Dombey. »Nun, Gay, was gibt es? Wer hat Euch heruntergeschickt? Hat niemand anders kommen können?«

»Ich bitte um Verzeihung«, entgegnete Walter, »ich bin nicht geschickt worden. Aus eigenem Antrieb habe ich mich erdreistet, zu kommen, und ich hoffe, Ihr werdet mir vergeben, wenn ich den Grund dazu erzählt habe.«

Aber Mr. Dombey blickte, ohne auf die Worte des Knaben zu achten, ungeduldig rechts und links von ihm, als wäre Walter ein Pfeiler in seinem Weg, nach einem dahinter befindlichen Gegenstand. sternchenland.com »Was ist das?« fragte Mr. Dombey. »Wer ist das? Vermutlich habt Ihr die Tür verfehlt, Sir.«

»O, es tut mir sehr leid, wenn ich Euch mit irgend jemandem aufdringlich bin, Sir«, rief Walter hastig – »aber dies ist – dies ist Kapitän Cuttle, Sir.«

»Wal’r, mein Junge«, bemerkte der Kapitän mit tiefer Stimme, »halt stand!«

Zu gleicher Zeit kam er ein wenig weiter herein und stellte seinen weiten blauen Anzug, den segelförmigen Hemdkragen und die knaufige Nase ins volle Licht. Nachdem er sich gegen Mr. Dombey verbeugt hatte, schwenkte er, den harten Glanzhut in der einen Hand und den Eindruck desselben in einem roten Ring um seine Stirne zur Schau tragend, höflich seinen Haken gegen die Damen.

Mr. Dombey schaute mit Staunen und Unwillen auf diese Erscheinung; seine Blicke schienen anzudeuten, als wolle er Mrs. Chick und Miß Tox zur Abwehr aufbieten. Der kleine Paul, der hinter Florence hereingekommen war, ging, als der Kapitän seinen Hut schwenkte, rücklings auf Miß Tox zu und hielt sich auf Verteidigung gefaßt.

»Nun, Gay«, sagte Mr. Dombey, »was habt Ihr mir zu sagen?«

Abermals bemerkte der Kapitän gleichsam als allgemeine Einleitung zu dem Gespräch, die nicht verfehlen sollte, alle Parteien günstig zu stimmen:

»Wal’r, halt stand!«

»Ich fürchte, Sir«, begann Walter mit Zittern und mit zu Boden geschlagenen Augen, »daß ich mir eine große Freiheit nehme – ja ich weiß sogar, daß ich es tue. Auch würde ich, fürchte ich, kaum den Mut gehabt haben, bei Euch vorzusprechen, Sir, selbst nachdem ich heruntergekommen war – wenn mir nicht Miß Dombey begegnet wäre und –«

»Schon gut«, sagte Mr. Dombey, seinen Augen folgend, als der Knabe nach der aufmerksamen Florence hinblickte, und unwillkürlich die Stirne runzelnd, als er bemerkte, daß sie ihn mit einem Lächeln ermutigte. »Fahrt fort, wenn ich bitten darf.«

»Ja, ja«, bemerkte der Kapitän in der Meinung, es liege ihm ob, seine gute Erziehung zu zeigen und Mr. Dombey zu unterstützen. »Wohl gesprochen! fahrt fort, Wal’r.«

Kapitän Cuttle hätte eigentlich bei dem Blick, den ihm Mr. Dombey zum Dank für diesen Beistand zuwarf, in den Boden sinken sollen; aber etwas der Art fiel ihm nicht ein; denn er schloß bloß zur Erwiderung das eine Auge und gab Mr. Dombey durch gewisse bedeutsame Bewegungen mit seinem Hut zu verstehen, Walter sei zwar anfangs ein bißchen verschämt, werde übrigens bald mit der Farbe herausrücken.

»Es ist ausschließlich eine persönliche Angelegenheit, die mich hierher geführt hat, Sir«, fuhr Walter stockend fort, »und Kapitän Cuttle –«

»Hier!« fiel der Kapitän ein – gleichsam zur Versicherung, daß er zur Hand sei und man sich auf ihn verlassen könne.

»Ein langjähriger Freund von meinem armen Onkel und ein ganz vortrefflicher Mann, Sir«, fuhr Walter fort, indem er seine Augen erhob, um einen Blick der Bitte zugunsten des Kapitäns zu entsenden, »war so gütig, mir seine Begleitung anzubieten, die ich kaum zurückweisen konnte.«

»Nein, nein, nein«, bemerkte der Kapitän selbstgefällig. »Natürlich nicht, war kein Grund zu einer Zurückweisung da. Fahrt fort, Wal’r.«

»Und deshalb, Sir«, sagte Walter, der es nun wagte, zu Mr. Dombeys Auge aufzusehen, und mit größerem Mut fortfuhr, weil er sah, daß der Fall verzweifelt und nicht mehr zu umgehen war, »deshalb bin ich mit ihm gekommen, Sir, um Euch zu sagen, daß mein armer, alter Onkel in sehr großer Not und Bedrängnis ist. Seine Kundschaft hat sich allmählich verloren, und er ist nun nicht imstande, eine Zahlung zu machen, die, wie ich wohl weiß, ihm schon seit Monaten schwer auf dem Herzen gelegen hat. Er hat jetzt Konkurs in seinem Haus und steht in Gefahr, alles, was er hat, zu verlieren. Natürlich muß ihm dies das Herz brechen. Ihr kennt ihn schon längst als einen achtbaren Mann, und wenn Ihr so gütig sein wolltet, etwas zu tun, um ihm aus seiner Schwierigkeit zu helfen, Sir, so könnten wir Euch nie dankbar genug dafür sein.«

Während Walter dies sprach, füllten sich seine Augen mit Tränen, und ebenso erging es Florence. Der Vater bemerkte den Tau an den Wimpern seiner Tochter, obschon er sich den Anschein gab, als sehe er bloß nach Walter hin.

»Es ist eine sehr große Summe, Sir«, sagte Walter. »Mehr als dreihundert Pfund. Mein Onkel ist durch sein Unglück völlig zu Boden gedrückt und außerstande, etwas zu seiner eigenen Erleichterung zu tun. Ja, er weiß nicht einmal, daß ich hier bin, um mit Euch über die Sache zu sprechen. Ihr verlangt wahrscheinlich, Sir«, fügte Walter nach einem kurzen Stocken bei, »ich solle sagen, was ich denn eigentlich wolle. Ich weiß es in der Tat selbst nicht, Sir. Wir haben noch das Warenlager meines Onkels, und ich glaube mit Zuversicht sagen zu können, daß keine weiteren Forderungen darauf haften; auch ist hier Kapitän Cuttle, der sich gleichfalls zur Bürgschaft erbietet. Ich – ich mag kaum einen Verdienst, wie der meine es ist, berühren«, fügte Walter bei; »aber wenn Ihr erlauben wolltet, – stehen lassen – Zahlung – Vorschuß – der Onkel – ein darbender, ehrlicher, alter Mann –«

Von diesen gebrochenen Sätzen aus ging Walter in ein Schweigen über und blieb mit gesenktem Haupt vor seinem Chef stehen.

Kapitän Cuttle hielt diesen Augenblick für günstig, seine Pretiosen zu entfalten, weshalb er an den Tisch trat, unter den Frühstücktassen neben Mr. Dombey einen Platz räumte, die silberne Uhr, das bare Geld, die Teelöffel und die Zuckerzange herausholte und sie in einem Haufen aufschichtete, damit sie sich so wertvoll als möglich ausnehmen möchten. Dabei brachte er folgende Worte hervor:

»Ein halber Laib ist besser, als gar kein Brot, und dieselbe Bemerkung hält auch stich bei den Krumen. Da sind einige. Ein Jahresgehalt von hundert Pfund sieht gleichfalls zur Verfügung, Wenn es in der ganzen Welt einen Mann gibt, der voller Wissenschaft steckt, so ist’s der alte Sol Gills. Und wenn es einen hoffnungsvollen Jungen gibt – einen Jungen, der von Milch und Honig fließt«, fügte der Kapitän in einer von seinen glücklichen Wendungen hinzu – »so ist’s sein Neffe.«

Der Kapitän zog sich nach seinem frühern Platz zurück, wo er stehenblieb und seine wirren Haare mit der Miene eines Mannes ordnete, der in einem schwierigen Geschäft den Schlußpunkt gesetzt hat.

Nachdem Walter zu sprechen aufgehört hatte, wurden Mr. Dombeys Blicke durch den kleinen Paul gefesselt, der, als er seine Schwester aus Mitleid über das vorgetragene Unglück mit gesenktem Haupte stumm weinen sah, zu ihr hinging und sie zu trösten versuchte. Dann blickte er mit einem sehr ausdrucksvollen Gesicht nach Walter und seinem Vater hin. Von Kapitän Cuttles Anrede, die er mit stolzer Geringschätzung aufnahm, auf einen Augenblick abgelenkt, schaute Mr. Dombey wieder nach seinem Sohn hin und blieb einige Momente, das Kind stetig betrachtend, stumm sitzen.

»Aus welchem Anlaß wurde diese Schuld kontrahiert?« fragte endlich Mr. Dombey. »Wer ist der Gläubiger?«

»Er weiß es nicht«, versetzte der Kapitän, seine Hand auf Walters Schulter legend. »Wohl aber ich. Es handelte sich darum, einem Manne, der jetzt tot ist, zu helfen, und dies hat meinem Freund Gills bereits etliche hundert Pfund gekostet. Weiteres unter vier Augen, wenn es erlaubt ist.«

»Leute, die genug mit ihren eigenen Angelegenheiten zu schaffen haben«, sagte Mr. Dombey, der noch immer nach seinem Sohn hinsah, ohne auf die geheimnisvollen Winke zu achten, die der Kapitän hinter Walter machte, »täten am besten, wenn sie sich mit dem, was ihnen selbst obliegt, begnügten und ihre Stellung nicht dadurch erschwerten, daß sie sich für andere Leute verbindlich machen. Es ist ein Akt der Unehrlichkeit und obendrein der Anmaßung«, fügte Mr. Dombey streng hinzu; »eine große Anmaßung, denn auch der Wohlhabende könnte nicht mehr tun. Paul, komm her.«

Der Knabe gehorchte, und Mr. Dombey nahm ihn auf seine Knie.

»Wenn du jetzt Geld hättest«, sagte Mr. Dombey. »Sieh mich an!«

Paul, dessen Blicke nach seiner Schwester und nach Walter hingewandert waren, schaute jetzt seinem Vater ins Gesicht.

»Wenn du jetzt Geld hättest«, sagte Mr. Dombey – »so viel Geld, wie das, von dem der junge Gay gesprochen hat – was würdest du tun?«

»Es seinem alten Onkel geben«, versetzte Paul.

»Es seinem alten Onkel leihen, he?« entgegnete Mr. Dombey. »Gut! du weißt, wenn du alt genug bist, wirst du mein Geld teilen, und wir benützen es dann gemeinschaftlich.«

»Dombey und Sohn«, unterbrach ihn Paul, dem früh diese Phrase eingelernt worden war.

»Dombey und Sohn«, wiederholte sein Vater. »Möchtest du jetzt schon anfangen, Dombey und Sohn zu sein, und dieses Geld dem Onkel des jungen Gay borgen?«

»O gewiß, Papa, wenn ich darf«, sagte Paul; »und ebenso würde es auch Florence machen.«

»Mädchen haben nichts mit Dombey und Sohn zu schaffen«, erwiderte Mr. Dombey. »Du möchtest also –?«

»Ja, Papa, ja.«

»Dann sollst du auch –« erwiderte sein Vater. »Du siehst nun, Paul«, fügte er mit gedämpfter Stimme bei, »wie mächtig das Geld ist und wie sehr es sich die Leute angelegen sein lassen, welches zu erhalten. Der junge Gay ist so weit gekommen, um darum zu bitten, und du, der du es hast, bist so großmütig, es ihm zu geben. Du erweisest ihm damit eine große Gunst, und er muß dir sehr dankbar sein.«

Paul erhob für einen Moment das alte Gesicht, in dem sich aussprach, daß er den Sinn dieser Worte vollkommen begreife; unmittelbar darauf aber wurde sein Antlitz wieder jung und kindlich. Er glitt von dem Knie seines Vaters herunter und eilte auf Florence zu, um ihr zu sagen, sie solle nicht mehr weinen; denn er gehe jetzt, um dem jungen Gay das Geld zu bringen.

Mr. Dombey trat an einen Seitentisch, schrieb einige Zeilen und versiegelte sie. Inzwischen flüsterten Paul und Florence mit Walter, und Kapitän Cuttle schaute auf das Kleeblatt mit so hochstrebenden und unaussprechlich anmaßenden Gedanken herab, daß Mr. Dombey nie daran geglaubt haben würde. Nachdem dieser mit seiner Note zustande gekommen war, kehrte er nach seinem vorigen Platze zurück und hielt sie Walter hin.

»Das erste, was Ihr morgen früh zu tun habt«, sagte er, »ist, daß Ihr Mr. Carker dies übergebt. Er wird Sorge dafür tragen, daß jemand von meinen Leuten durch Bezahlung des Betrags Euern Onkel aus seiner gegenwärtigen Verlegenheit befreit und für die Rückerstattung Vorkehrungen trifft, wie sie sich mit den Umständen Eures Onkels vertragen. Vergeßt dabei nicht, daß Master Paul das für Euch getan hat.«

In der Freude, die Mittel zur Erlösung seines guten Onkels in der Hand zu haben, wollte Walter die Gefühle seines frohen Dankes aussprechen; aber Mr. Dombey fiel ihm ins Wort.

»Vergeßt nicht, daß es durch Master Paul geschehen ist«, wiederholte er. »Ich habe ihm dies auseinandergesetzt, und er begreift es. Ich wünsche, daß kein Wort mehr darüber falle.«

Da der Chef jetzt nach der Türe hin winkte, so konnte sich Walter nur verbeugen und entfernen, Miß Tor aber, als sie sah, daß der Kapitän das gleiche tun wollte, legte sich ins Mittel.

»Mein teurer Sir«, sagte sie zu Mr. Dombey, über dessen Großmut sowohl sie als Mrs. Chick in einen reichlichen Tränenguß ausbrachen, sternchenland.com »ich glaube, Ihr habt etwas übersehen. Verzeiht mir, Mr. Dombey – ich denke, in dem Edelmut Eures Charakters und in dem hohen Ziele, das Ihr Euch setztet, habt Ihr eine Kleinigkeit außer acht gelassen.«

»Wirklich, Miß Tor?« versetzte Mr. Dombey.

»Der Gentleman mit dem – – Instrument«, fuhr Miß Tor fort, indem sie nach Kapitän Cuttle hinsah, »hat neben Euch etwas auf dem Tisch gelassen – –«

»Gütiger Himmel!« sagte Mr. Dombey, das Eigentum des Kapitäns vor sich wegstreifend, als wären es in der Tat nur Brotkrumen gewesen. »Nehmt diese Dinge zurück. Ich bin Euch verbunden, Miß Tor; ich sehe darin ganz Eure gewöhnliche Besonnenheit. Habt die Güte, diese Gegenstände wegzunehmen, Sir!«

Dem Kapitän blieb keine andere Wahl, als zu willfahren. Die Großmut Mr. Dombeys übrigens, der die neben ihm aufgehäuften Schätze zurückwies, erfüllte ihn dermaßen, daß er, sobald er die Teelöffel samt Zuckerzange in der einen, das bare Geld in der andern und die silberne Uhr in der eigens für sie angefertigten Tasche versorgt hatte, sich nicht enthalten konnte, die rechte Hand dieses Gentleman mit der ihm noch gebliebenen Linken zu ergreifen. Während er sie noch offen in seinen gewaltigen Fingern hielt, brachte er in einem Übermaß von Bewunderung den Hut auf den Kopf, und diese Berührung von warmem Gefühl und kaltem Eisen machte auf Mr. Dombey einen Eindruck, daß ihm ein Schauder durch alle Adern rann.

Kapitän Cuttle schwenkte sodann mehreremal mit größter Zierlichkeit und Galanterie seinen Hut gegen die Damen, nahm ganz besonders Abschied von Paul und Florence und folgte Walter nach. Florence wollte in der Fülle ihres Herzens gleichfalls hinaus, um dem alten Sol einen Gruß sagen zu lassen; aber Mr. Dombey rief ihr zu und befahl ihr zu bleiben, wo sie sei.

»Wirst du nie eine Dombey werden, mein liebes Kind?« sagte Mrs. Chick im Ton pathetischen Vorwurfs.

»Liebe Tante, seid nicht böse«, versetzte Florence. »Ich bin dem Papa so dankbar.«

Wie gerne wäre sie auf ihn zugelaufen und hätte ihre Arme um seinen Hals geschlungen; aber sie wagte es nicht, sondern entsandte nur einen Blick des Dankes gegen ihn, wie er sinnend dasaß. Zuweilen schaute er unruhig nach ihr hin; hauptsächlich aber hatte er Paul im Auge, der mit frohem Stolz im Zimmer umherstolzierte, weil er dem jungen Gay das Geld gegeben hatte.

Und der junge Gay – Walter – was ist mit ihm?

Er war überfroh, daß es in seiner Macht lag, das Heim des alten Mannes von Auspfändern und Gerichtsdienern zu reinigen; er eilte daher zurück, um seinem Onkel die gute Kunde zu bringen. Welche Wonne, daß am andern Morgen noch vor dem Mittagessen alles bereinigt und beseitigt sein sollte – daß er abends wieder mit dem alten Sol und dem Kapitän im kleinen Hinterstübchen sitzen – daß er Zeuge sein konnte, wie der Instrumentenmacher wieder sternchenland.com auflebte und einer besseren Zukunft entgegensah, in dem Bewußtsein, daß der hölzerne Midshipman noch immer sein Eigentum war. Ohne daß übrigens seiner Dankbarkeit gegen Mr. Dombey dadurch ein Abtrag geschehen wäre, müssen wir doch gestehen, daß sich Walter gedemütigt und niedergeschlagen fühlte. Wenn unsere knospenden Hoffnungen unwiederbringlich durch einen rauhen Windstoß geknickt sind, fühlen wir uns am meisten geneigt, uns zu vergegenwärtigen, wie später die Blüten ausgefallen sein würden, und als sich jetzt Walter durch die Tiefe des neuen schrecklichen Sturzes so weit von der großen Dombey-Höhe abgeschnitten sah – als er empfand, daß seine alten, wirren Lieblingsvorstellungen bei dem Fall in die Winde zerstreut worden, begann er zu argwöhnen, sie hätten ihn zu harmlosen Visionen verleiten können, deren Ziel in irgendeiner späten Zeit Florences Hand gewesen wäre.

Der Kapitän betrachtete den Gegenstand von einem ganz andern Gesichtswinkel. Er nährte augenscheinlich die Ansicht, die Begegnung, in der er eine so befriedigende und ermutigende Rolle gespielt hatte, stehe nur um ein paar Schritt ab von einer regelmäßigen Verlobung zwischen Florence und Walter. Auch habe das kürzliche Geschäft die Whittingtonschen Hoffnungen ungemein gefördert, wo nicht gar völlig fest begründet. Von dieser Überzeugung, wie auch durch die Freude seines alten Freundes und die folgerichtig daraus fließende eigene Heiterkeit gespornt, versuchte er sogar, als er an demselben Abend die Ballade von der »lieblichen Peeg« zum dritten Male vortrug, aus dem Stegreif den Namen »Florence« einzusetzen. Da ihm das aber schwer wurde, weil das Wort Peeg unabänderlich auf Leg (Bein) reimte – ein Glied, durch dessen Schönheit die besungene Person alle andern Mitbewerberinnen ausstach –, so geriet er auf den glücklichen Gedanken, den Namen in Fle–e–eg umzuwandeln. Er tat dies mit einer fast übernatürlichen Schalkhaftigkeit und mit sehr lärmender Stimme, trotzdem die Zeit nahe war, die ihn nach der Wohnung der schrecklichen Mrs. Mac Stinger zurückbrachte.

Elftes Kapitel.


Elftes Kapitel.

Paul betritt einen neuen Schauplatz.

Obschon Mrs. Pipchin der fleischlichen Schwäche unterworfen war, nach ihren Hammelrippchen der Ruhe zu bedürfen und sich durch die einschläfernde Tätigkeit von Zuckerbrot in Schlummer wiegen zu lassen, war ihre Konstitution doch von so hartem Metall, daß ihr Mrs. Wickhams Prophezeiungen nichts anhaben konnten und sich auch nicht eine Spur von Hinfälligkeit einstellen wollte. Gleichwohl währte Pauls aufrichtige Teilnahme an der alten Dame ungemindert fort, und Mrs. Wickham ließ sich´s nicht nehmen, daß ihre Behauptung sich sicherlich bewahrheiten müsse. Stets sich auf die Seite ihres Onkels Betsey Jane stellend, riet sie Miß Berry als sternchenland.com Freundin, sich aufs Schlimmste gefaßt zu machen, indem sie ihr andeutete, ihre Tante werde einmal so plötzlich und unerwartet absegeln wie eine Pulvermühle.

Die arme Berry schenkte solchen Winken ängstlich Glauben und plackte sich wie gewöhnlich fort, vollkommen überzeugt, daß Mrs. Pipchin eine von den verdienstvollen Personen in der Welt sei, der sie jeden Tag unzählige Male sich selbst zum Opfer bringen müsse. Aber alle diese Hingabe der Nichte wurde von Mrs. Pipchins Freunden und Bewunderern nur der letzteren zur Ehre angerechnet und in Einklang gebracht mit der traurigen Tatsache, daß dem hingeschiedenen Mr. Pipchin die peruanischen Minen das Herz gebrochen hatten.

So gab es zum Beispiel einen ehrlichen Krämer und Kleinhändler, der mit dem Kastell durch ein kleines viel gebrauchtes Abrechnungsbüchlein mit schmieriger roter Decke in Verbindung stand, und die betreffenden Personen hielten oft auf der Matte in dem Flur oder im Besuchzimmer bei geschlossenen Türen unterschiedliche geheime Beratungen und Konferenzen über den Inhalt dieses Registers. Auch fehlte es Master Bitherstone nicht, dessen Temperament durch die Hitze Indiens in seinem Blute rachsüchtig geworden war, an dunkeln Andeutungen auf eine unausgeglichene Bilanz und auf einen Anlaß, dessen er sich noch erinnern konnte, das Fehlen des Zuckers beim Tee betreffend. Dieser Krämer war ein Junggeselle und hatte, da er sich aus dem oberflächlichen Verdienst der Schönheit nichts machte, einmal um Berrys Hand angehalten, war aber von Mrs. Pipchin mit Schimpf und Schande abgewiesen worden. Jedermann lobte diese Handlung der Mrs. Pipchin außerordentlich, da es der Hinterbliebenen eines Mannes, der an den peruanischen Minen starb, ganz würdig sei und den vornehmen, hohen Geist der Dame bekunde. Aber niemand sprach etwas von der armen Berry, die sechs Wochen hindurch weinte – natürlich diese ganze Zeit über von ihrer guten Tante tüchtig ausgeschimpft wurde – und sich endlich in das hoffnungslose Geschick der alten Jungfern ergab.

»Berry hat Euch sehr lieb, nicht wahr?« fragte Paul eines Tages Mrs. Pipchin, als sie wieder mit der Katze beim Feuer zusammensaßen.

»Ja«, antwortete Mrs. Pipchin.

»Warum?« fragte Paul.

»Warum?« erwiderte die alte Dame erstaunt. »Wie könnt Ihr nur solche Dinge fragen? Warum liebt Ihr Eure Schwester Florence?«

»Weil sie sehr gut ist«, sagte Paul. »Es gibt niemand, der mit Florence zu vergleichen wäre.«

»Gut«, entgegnete Mrs. Pipchin etwas pikiert, »und es gibt vermutlich auch niemand, der mit mir zu vergleichen wäre.«

»Gibt es wirklich niemand?« fragte Paul, indem er sich in seinem Stuhl nach vorn beugte und sie mit sehr ernstem Blick ansah.

»Nein«, erwiderte die alte Dame.

»Ich bin froh darüber«, bemerkte Paul, gedankenvoll seine Hände reibend. »Dies ist sehr gut.«

Mrs. Pipchin wagte es nicht, ihn nach dem Grund zu fragen, weil sie Angst hatte, eine völlig vernichtende Antwort zu erhalten. Zur Schadloshaltung für ihre verwundeten Gefühle aber plagte sie bis zum Schlafengehen Master Bitherstone in so hohem Grade, daß dieser noch in derselben Nacht Vorbereitungen zu einer Landreise nach Indien traf, indem er von seinem Abendessen einen Viertels-Weck und ein Stückchen Edamer Käse aufsparte, damit er sich unterwegs davon ernähren könne.

Mrs. Pipchin hatte den kleinen Paul und seine Schwester beinahe zwölf Monate in ihrer Obhut gehabt, ohne daß die Geschwister öfter als zweimal und auch dann nur für einige Tage einen Besuch in der Heimat gemacht hätten. Dagegen hatte Mr. Dombey nicht versäumt, sich jede Woche in dem Hotel einzufinden und seine Kinder zu sich rufen zu lassen. Inzwischen hatten Pauls Kräfte allmählich etwas zugenommen, so daß er seinen Wagen nicht mehr brauchte, gleichwohl aber sah er noch immer sehr schmächtig und blaß aus. Er war dasselbe alte, ruhige, träumerische Kind wie damals, als er Mrs. Pipchin übergeben wurde. Eines Sonntags, zur Zeit der Abenddämmerung, entstand eine große Bestürzung in dem Kastell durch die unerwartete Ankündigung, daß Mr. Dombey Mrs. Pipchin zu besuchen wünsche. Die Bevölkerung des Wohnzimmers wurde wie auf den Flügeln einer Windsbraut eine Treppe höher hinausgejagt, und nach vielem Zuschlagen der Schlafzimmertüren, vielem Getrampel oben und einigen Rippenstößen, die Mrs. Pipchin zur Erleichterung der Verstörtheit ihres Geistes an Master Bitherstone austeilte, zeigten sich die schwarzen Bombasingewänder der würdigen alten Dame in dem Audienzgemach, wo Mr. Dombey den leeren Lehnstuhl seines Sohnes und Erben betrachtete.

»Wie geht’s Euch, Mrs. Pipchin?« fragte Mr. Dombey.

»Danke schön, Sir«, versetzte Mrs. Pipchin; »beziehungsweise ziemlich gut.«

Mrs. Pipchin pflegte sich stets dieser Formel zu bedienen. Sie wollte damit sagen in Beziehung auf ihre Verdienste, Opfer usw.

»Ich kann nicht erwarten, Sir, mich ganz gut zu befinden«, fuhr Mrs. Pipchin fort, indem sie sich auf einen Stuhl setzte und ihren Atem sammelte; »aber wie meine Gesundheit eben ist, bin ich dankbar dafür.«

Mr. Dombey neigte den Kopf mit der selbstzufriedenen Miene eines Gönners, der fühlte, daß dies gerade der rechte Schlag war, für den er so große Summen vierteljährlich bezahlte. Nach einer kurzen Pause ergriff er das Wort.

»Mrs. Pipchin«, sagte er, »ich habe mir die Freiheit genommen, Euch zu besuchen, um mich mit Euch wegen meines Sohnes zu beraten. Ich habe es schon früher tun wollen, verschob es aber immer wieder, bis seine Gesundheit ganz hergestellt wäre. Über diesen Gegenstand hegt Ihr doch keine Besorgnisse mehr, Mrs. Pipchin?«

»Brighton ist ihm sehr gut bekommen, Sir«, erwiderte Mrs. Pipchin.

»Ich habe deshalb im Sinn«, sagte Mr. Dombey, »ihn hier zu lassen.«

Mrs. Pipchin rieb sich die Hände und suchte mit ihren grauen Augen das Feuer.

»Aber«, fuhr Mr. Dombey fort, indem er seinen Zeigefinger ausstreckte, »aber es ist möglich, daß dennoch eine Veränderung vor sich geht und er hier eine andere Lebensweise führen soll. Kurz, Mrs. Pipchin, dies ist die Ursache meines Besuches. Mein Sohn kommt vorwärts, Mrs. Pipchin, In der Tat, er kommt vorwärts.«

Es lag etwas Schwermütiges in der triumphierenden Miene, denn man sah daraus, wie lang ihm Pauls kindliches Leben geworden war, und wie alle seine Hoffnungen nur auf ein späteres Stadium in seinem Dasein hinwiesen. Bei einem so stolzen, kalten Menschen dürfte das Wort Mitleid befremdend erscheinen, und doch hätte man in jenem Augenblick ihn als einen Gegenstand betrachten können, bei dem ein solches Gefühl sehr am rechten Orte war.

»Sechs Jahre alt!« sagte Mr. Dombey, an seiner Halsbinde zupfend – vielleicht um ein ununterdrücktes Lächeln zu verbergen, das über der Oberfläche seines Gesichts eher ruhlos hinzuhuschen, als daß es für einen Moment zu spielen schien. »Du meine Güte, die sechs werden zu sechzehn umgewandelt sein, ehe wir Zeit haben, uns umzuschauen,«

»Zehn Jahre«, krächzte die unsympathische Pipchin mit einem kalten Blick ihrer starren Augen und einem traurigen Schütteln des gesenkten Kopfes – »zehn Jahre sind eine lange Spanne.«

»Dies hängt von den Umständen ab«, entgegnete Mr. Dombey. »Jedenfalls ist mein Sohn sechs Jahre, und leider besteht kein Zweifel, daß er in seinen Studien hinter vielen Kindern seines Alters weit zurück ist – seiner Jugend, sollte ich vielmehr sagen«, fügte Mr. Dombey in rascher Beantwortung eines schlauen Zwinkerns, das er in dem frostigen Auge der alten Dame zu bemerken glaubte, bei: »denn dies ist ein passenderer Ausdruck. Statt aber seinesgleichen nachzustehen, Mrs. Pipchin, sollte mein Sohn ihnen vielmehr voraus sein – weit voraus. Er hat eine große Höhe zu ersteigen, und in der Laufbahn, die meinem Sohne bevorsteht, ist kein Wandel möglich. Seine Lebensrichtung war schon klar vorbereitet und festgestellt, eh‘ er ins Dasein trat. Die Erziehung eines solchen jungen Gentleman darf nicht verzögert werden – darf nicht unvollkommen bleiben. Man muß immer und mit allem Fleiße daran gehen, Mrs. Pipchin.«

»Gut, Sir«, versetzte Mrs. Pipchin, »ich kann nichts dagegen sagen.«

»Darum habe ich mich auch einer so verständigen Person anvertraut, Mrs. Pipchin«, versetzte Mr. Dombey beifällig.

»Man spricht viel Unsinn – wenn’s nicht etwa gar noch etwas Ärgeres ist – von zu großer Anstrengung junger Menschen in ihrem zarten Alter, von zu vielen Versuchungen und dergleichen, Sir«, fuhr sternchenland.com Mrs. Pipchin fort, indem sie ungeduldig ihre Hakennase rieb. »Zu meiner Zeit dachte man nie daran, und man könnte es auch jetzt unterlassen. Meine Ansicht ist, ihnen nichts zu schenken.«

»Meine gute Madame«, erwiderte Mr. Dombey, »Ihr erfreut Euch nicht unverdient Eures Rufes. Glaubt mir, Mrs. Pipchin, daß ich mit Eurem trefflichen Erziehungsverfahren mehr als zufrieden bin, und daß es mir die größte Freude machen wird, Sie zu empfehlen, wo immer mein geringes Wissen« – Mr. Dombeys Stolz, als er seine eigene Bedeutsamkeit herabzusetzen sich anstellte, überstieg alle Grenzen – »von einigem Nutzen sein kann. Ich habe an Doktor Blimber gedacht, Mrs. Pipchin.«

»Mein Nachbar, Sir?« versetzte Mrs. Pipchin. »Ich halte die Anstalt des Doktors für ganz ausgezeichnet. Wie ich höre, ist die Leitung sehr streng, und man muß lernen vom Morgen bis in die Nacht.«

»Auch ist sie sehr teuer«, fügte Mr. Dombey bei.

»Ja, sehr teuer, Sir«, erwiderte Mrs. Pipchin, sich an diese Tatsache haltend, als hätte sie bei Umgehung derselben das Hauptverdienst des Instituts weggelassen.

»Ich habe schon mit dem Doktor Rücksprache genommen, Mrs. Pipchin«, sagte Mr. Dombey, indem er seinen Stuhl vorsichtig ein wenig näher ans Feuer rückte, »und er ist der Meinung, Paul sei keineswegs zu jung. Er nannte mir einige Knaben, die im gleichen Alter schon Griechisch können. Wenn mich in Beziehung auf diesen Wechsel eine kleine Unruhe quält, Mrs. Pipchin, so liegt der Grund nicht hierin. Da mein Sohn seine Mutter nicht kannte, so hat er allmählich viel – zu viel – von seiner Liebe auf seine Schwester übertragen. Ob ihre Trennung –«

Mr. Dombey sprach nicht weiter, sondern blieb stumm sitzen.

»Papperlapapp!« rief Mrs. Pipchin, ihre schwarzen Bombasinschöße auseinanderschlagend und den ganzen Werwolf, der in ihr stak, entfaltend. »Wenn’s ihr nicht ansteht, Mr. Dombey, so muß man ihr’s eintränken.«

Die gute Dame entschuldigte sich gleich darauf, daß sie eine so gemeine Redewendung brauche, fügte aber – und das war vollkommen der Wahrheit gemäß – bei, daß sie so mit den Kindern zu sprechen pflege.

Mr. Dombey wartete, bis sich an Mrs. Pipchin das Ungestüm, das Kopfschütteln und das Niederzürnen auf eine Legion von Bitherstones und Pankeys gelegt hatte; dann sagte er bloß ruhig, aber zurechtweisend:

»Er, meine gute Madame, er.«

Mrs. Pipchins System würde so ziemlich dieselbe Heilmethode für jede Unruhe bei Paul in Anwendung gebracht haben; da übrigens das harte graue Auge scharf genug war, um zu bemerken, daß das Rezept, wie sehr Mr. Dombey auch dessen Wirksamkeit im Falle der Tochter anerkennen mochte, kein souveränes Mittel für den Sohn war, so erörterte sie den folgenden Punkt und stellte die Behauptung sternchenland.com auf, daß der Wechsel, die neue Gesellschaft und die andere Lebensweise, die er bei Doktor Blimber führen würde, in Vereinigung mit den dort gepflegten Studien ihn sehr bald von diesem Gegenstande abbringen müßten. Dieses stand mit Mr. Dombeys eigenem Hoffen und Glauben in völligem Einklang, weshalb denn auch in den Augen dieses Gentleman die Einsicht der Mrs. Pipchin nur um so höher stand, und da letztere zu gleicher Zeit den Verlust ihres lieben kleinen Freundes beklagte – keine allzugroße Erschütterung für sie, da sie einen ähnlichen Ausgang längst erwartet und von Anfang an sich’s nicht anders gedacht hatte, als daß er etwa drei Monate bei ihr bleiben werde – so bildete sich bei Mr. Dombey eine ebenso gute Meinung über die Uneigennützigkeit der Dame. Es schien deutlich genug, daß er diese Sache sorgfältig erwogen hatte; denn der Plan, welchen er der Werwölfin mitteilte, ging darauf hinaus, Paul nur für das erste halbe Jahr als einen Wochenpensionär in die Anstalt des Doktors zu schicken. Während dieser Zeit sollte Florence in dem Kastell bleiben, damit sie an Sonnabenden von ihrem Bruder besucht werden könne. Hierdurch werde er allmählich entwöhnt, meinte Mr. Dombey – möglicherweise im Hinblick auf einen früheren Anlaß, bei welchem die Entwöhnung sehr plötzlich vor sich gegangen war. Mr. Dombey schloß diese Besprechung, indem er gegen Mrs. Pipchin die Hoffnung aussprach, sie möge stets seinen Sohn in der Zeit seiner Studien zu Brighton überwachen. Nachdem er nun Paul geküßt, Florence die Hand gegeben, Master Bitherstone in seinem Staatskragen gesehen und Miß Pankey durch Tätscheln ihres Kopfes zum Weinen gebracht hatte – sie war nämlich in dieser Gegend ungemein empfindlich, weil Mrs, Pipchin dieselbe gleich einem Fasse mit ihren Fingerknöcheln zu untersuchen pflegte – zog er sich nach seinem Hotel zum Diner zurück, fest entschlossen, daß Paul, der nun alt und kräftig genug sei, eifrig die Schule besuchen solle, welche imstande war, ihn für die Lage zu befähigen, in welcher er einst glänzen sollte. Es war ausgemacht, daß er sofort in Doktor Blimbers Anstalt eintrete.

So oft ein junger Gentleman von Doktor Blimber zur Hand genommen wurde, konnte er eines tüchtigen Drucks versichert sein. Der Doktor übernahm den Unterricht von nur zehn jungen Gentlemen, hatte aber im niedrigsten Anschlag stets eine Gelehrsamkeit für Hunderte in Bereitschaft, und es bildete das Amt und den Genuß seines Lebens, damit die unglücklichen zehn übermäßig zu stopfen.

Doktor Blimbers Institut war in der Tat ein großes Treibhaus, in welchem der Treibapparat sich in steter Tätigkeit befand. Die Knaben blühten insgesamt vor ihrer Zeit. Man sah hier geistige Brockelerbsen um Weihnachten, und intellektueller Spargel war das ganze Jahr über zu finden. Mathematische Stachelbeeren – und zwar sehr saure – ließen sich zu allen Jahreszeiten blicken unter Doktor Blimbers Führung, und zwar an ganz frischen, noch wurzellosen Stöcklingen. Alle Arten von griechischen und lateinischen Gemüsen gediehen an den dürrsten Zweigen von Jungen selbst unter sternchenland.com den frostigsten Umständen. Die Natur spielte dabei durchaus keine Rolle. Gleichviel, wofür auch ein junger Gentleman nach seinen Anlagen bestimmt sein mochte – Doktor Blimber zwang ihn in einer oder der anderen Weise, sich nach seinen idealen Mustern zu bilden.

Das war alles sehr schön und geistreich; aber das Treibhaussystem brachte die gewöhnlichen nachteiligen Folgen mit sich. Die frühreifen Erzeugnisse hatten nicht den rechten Geschmack und hielten sich auch nicht gut. Außerdem hörte ein junger Gentleman mit einer geschwollenen Nase und einem ungemein großen Kopfe – der älteste von den zehn, welcher bereits »alles durchgemacht hatte« – eines Tages plötzlich auf zu blühen, und blieb nur noch als ein bloßer Strunk in der Anstalt. Auch raunten sich die Leute zu, der Doktor habe es mit dem jungen Toots übermacht, und als bei diesem der Backenbart zu sprossen begann, sei ihm das Gehirn auf die Neige gegangen.

Nun, jedenfalls war der junge Toots da. Er besaß die rauheste aller Stimmen und die mißtönendste von allen Geistesrichtungen. In seinem Hemd waren stets Nadeln mit funkelnden Steinen, und in seiner Westentasche hielt er einen Ring verborgen, den er heimlich an den kleinen Finger steckte, wenn die Zöglinge spazierengingen. Er hatte die Gewohnheit, bei dem Anblick eines jeden kleinen Mädchens, das nicht die entfernteste Ahnung von seinem Dasein hatte, in Liebesverzückungen zu geraten, und nahm sich, wenn er nach Schlafengehenszeit aus seinem drei Treppen hohen linken Eckstübchen durch das Eisengitter des Fensters auf die gasbeleuchtete Welt niederschaute, wie ein gewaltig aufgeschossener Cherub aus, der viel zu lange so weit oben gesessen hatte.

Der Doktor war ein stattlicher Gentleman in schwarzem Anzug, Kniehosen und Strümpfen. Er hatte eine sehr glänzende Glatze auf dem Kopf, eine tiefe Stimme und ein so runzeliges Doppelkinn, daß man sich nur wunderte, wie er’s angriff, um sich in den Falten zu rasieren. Dabei war sein kleines Augenpaar fast immer halb geschlossen und der Mund zu einem leichten Grinsen verzogen, als habe er gerade zuvor einen Knaben ins Verhör genommen und laure nun auf Gelegenheit, ihn mit seinen eigenen Worten zu überführen. Wenn man den Doktor so beobachtete, wie er die rechte Hand in die Brust seines Rockes steckte, die andere auf den Rücken hielt, seinen Kopf ein wenig schüttelte und gegen einen Fremden auch nur die gewöhnlichste Bemerkung fallen ließ, so konnte man sich des Gedankens an die Sphinx nicht erwehren und im Augenblick über sein Geschäft ins klare kommen. Er besaß ein sehr schönes Haus gegen die Seeküste gelegen, obschon es im Innern nichts weniger als einen aufheiternden Charakter zeigte. Dunkelfarbige Vorhänge von sehr ärmlich-bescheidenem Aussehen versteckten sich zaghaft hinter den Fenstern. Die Tische und Stühle standen in Reihen wie die Ziffern einer Additionsaufgabe; Feuer wurde so selten in den Zeremonienzimmern angezündet, daß man in einem Brunnen zu sein glaubte, in dem der Gast den Wassereimer vorstellte; der Speisesaal schien der letzte sternchenland.com Platz in der Welt zu sein, wo einem möglicherweise Essen oder Trinken zufließen konnte, und durchs ganze Haus hörte man keinen anderen Laut, als das Picken einer großen Wanduhr in dem Flur, die sich bis in das Dachstübchen hinauf hörbar machte.

Diese Eintönigkeit wurde nur hin und wieder durch ein dumpfes Knurren junger Menschen unterbrochen, die gleich einem Flug melancholischer Tauben über ihren Aufgaben murmelten.

Auch Miß Blimber, obschon eine schlanke, anmutige Jungfrau, trug nicht dazu bei, die kalte Sphäre des Hauses zu mildern. Sie war keine Person, die sich mit leichtfertigen Dingen beschäftigte, hatte krause, kurz geschnittene Haare und trug eine Brille. Die Arbeit in den Gräbern erstorbener Sprachen hatte sie dürr und sandig gemacht. Was wollte auch Miß Blimber von lebendigen Sprachen? Sie mußten tot sein – steintot – erst dann grub sie Miß Blimber aus.

Mistreß Blimber, ihre Mama, besaß selbst keine Gelehrsamkeit, tat aber doch dergleichen, und das lief ungefähr aufs gleiche hinaus. Bei Abendgesellschaften pflegte sie zu sagen, wenn sie das Glück gehabt hätte, Cicero zu kennen, so glaubte sie imstande zu sein, ihr Haupt zufrieden ins Grab niederlegen zu können. Es war immer eine neue Freude für sie, mitanzusehen, wie der Doktor seine jungen Gentlemen spazieren führte – letztere so gar nicht wie alle anderen jungen Gentlemen, sondern in möglichst großen Vatermördern und möglichst steifen Krawatten. Es sei so klassisch, sagte sie.

Was den Mr. Feeder, B. A. Doktor Blimbers Lehrgehilfen, betraf, so war dieser eine Art menschlicher Drehorgel mit einer geringen Anzahl von Weisen, die sich ohne Unterlaß und ohne Abänderung stets aufs neue abhaspelten. Vielleicht hätte er in seinem früheren Leben, wenn sein Geschick günstiger gewesen wäre, sein Glück beim Militär machen können; da es ihm aber nicht so gut geworden, mußte er statt dieser Laufbahn sich auf eine andere einlassen, die ihn zwang, die unreifen Ideen von Doktor Blimbers jungen Gentlemen zu verwirren. Die jungen Gentlemen mußten sich schon früh mit quälenden Ängsten tragen. Die Einübung herzloser Verba, wilder Substantiven, unbeugsamer syntaktischer Sätze und gespenstischer Argumente, die ihnen wie ebenso viele Alpe in den Träumen wiederkamen, ließen sie nicht zur Ruhe kommen, und unter dem Treibhaussystem war in der Regel schon nach drei Wochen der Frohsinn eines jeden jungen Gentleman abgeschnürt. Ein Vierteljahr reichte aus, ihm alle Sorgen der Welt in den Kopf zu pflanzen. Nach vier Monaten lernte er seine Eltern oder Vormünder hassen, nach fünfen war er ein Misanthrop, nach sechsen beneidete er den Curtius, der im Innern der Erde eine glückliche Zufluchtsstätte fand, und am Ende des ersten Jahres war er zu dem Schluß gekommen, von dem er später nie wieder abging, daß alle Produktionen der Dichter und Lehren der Weisen weiter nichts seien, als eine Sammlung von Wörtern und grammatischen Regeln, die in der Welt keinen andern Sinn hätten.

Gleichwohl fuhr er fort, in dem Treibhause des Doktors zu blühen, und groß war der Ruhm und die Herrlichkeit des Doktors, wenn der winterliche Wuchs zu seinen Freunden und Verwandten zurückkehrte.

Eines Tages stand Paul mit klopfendem Herzen, mit der kleinen rechten Hand sich an der seines Vaters haltend, auf der Türschwelle des Doktors. Seine linke war von der seiner Schwester umfaßt. Wie fest und innig war der Druck der einen – wie schlaff und kalt der der andern.

Gleich einem unheilverkündenden Vogel schwebte Mrs. Pipchin mit ihrem schwarzen Gefieder und ihrem krummen Schnabel hinter dem Opfer. Sie war außer Atem – denn Mr. Dombey hatte in der Überfülle seiner großen Gedanken rasch ausgeholt – und heiser erscholl ihr Krächzen, als sie unter dem Hause auf das Aufgehen der Tür harrte.

»Nun, Paul«, sagte Dombey mit einer Siegermiene, »dies ist in der Tat der Weg, um Dombey und Sohn zu werden und zu Geld zu kommen. Du bist jetzt schon fast ein Mann.«

»Fast«, wiederholte das Kind.

Sogar seine kindliche Aufregung konnte den schlauen und doch ergreifenden Blick, mit welchem er die Antwort begleitete, nicht meistern. Über Mr. Dombeys Gesicht flog ein unbestimmter Ausdruck der Unzufriedenheit; als aber die Tür aufging, war alles plötzlich verschwunden.

»Doktor Blimber ist wohl zu Hause?« sprach Mr. Dombey. Der Diener bejahte es, und als sie vorbeigingen, blickte er auf Paul, als wäre dieser ein Mäuschen und das Haus eine Mausefalle. Der Diener war ein etwas blöder junger Mensch, mit einem schwachen Dämmern von Grinsen in seinem Gesichte. Das war aber bloße Einfältigkeit von ihm; aber Mrs. Pipchin setzte es sich in den Kopf, daß es eine Unverschämtheit sei, und machte eine Attacke auf ihn.

»Wie kann Er sich unterstehen, hinter dem Gentleman herzulachen?« fragte Mrs. Pipchin, »und für was hält Er mich?«

»Ich lache über niemanden und halte Sie gewiß für nichts, Madame«, entgegnete der junge Mensch bestürzt.

»Das müßige Hundepack!« rief Mrs. Pipchin, »ist für nichts da, als den Bratspieß zu drehen. Geh und sag deinem Herrn, daß Mr. Dombey hier ist, oder es soll Ihm übel bekommen.«

Der schwachsinnige junge Mensch ging ganz kleinlaut ab, um sich seines Auftrags zu entledigen, und kam alsbald zurück, damit er sie in des Doktors Studierzimmer einlüde.

»Schon wieder gelacht, Sir!« zischte Mrs. Pipchin, als die Reihe an sie kam, in der Nachhut an ihm vorbeizugehen.

»Ich lache nicht«, entgegnete der junge Mensch ganz bekümmert.

»So was ist mir noch nie begegnet!«

»Was gibt es, Mrs. Pipchin?« fragte Mr. Dombey zurückblickend, »seien Sie doch leise, wenn ich bitten darf.«

Mrs. Pipchin murmelte untertänig gegen den jungen Menschen, als sie an ihm vorüberging, nur die Worte: »Das ist ein sauberer Bursche«, und verließ den jungen Menschen, der ganz zerknirscht und vernichtet war, durch den Vorfall bis zu Tränen gerührt. Aber Mrs. Pipchin hatte die Eigenschaft, über alle untertänigen Leute herzufallen; und ihre Freunde fanden das nach den Vorgängen in den peruanischen Bergwerken ganz in Ordnung.

Der Doktor saß in seinem unheimlichen Studierzimmer, einen Globus bei jedem Knie und zwischen Büchern vergraben; die Büsten von Homer und Minerva thronten über der Tür und auf dem Kamingesims.

»Und wie befinden Sie sich, Sir?« sprach er zu Mr. Dombey, »und wie geht’s meinem kleinen Freund?« Feierlich wie eine Orgel war die Stimme des Doktors, und als er aufhörte, schien die große Uhr (für Paul wenigstens) seine Worte aufzunehmen und zu wiederholen; wie – geht – es – mei – nem – klei – nen – Freund; wie – geht – es – mei – nem – klei – nen – Freund?

Da der Freund etwas zu klein war, um von dem Sitze des Doktors über die Bücher seines Tisches hinweg sichtbar zu sein, so machte der Doktor verschiedene vergebliche Versuche, ihn hinter den Tischfüßen zu erspähen. Als Mr. Dombey dies gewahrte, befreite er ihn aus seiner Verlegenheit, indem er Paul auf die Arme nahm und auf einen andern kleinen Tisch dem Doktor gegenüber mitten ins Zimmer setzte.

»Ah!« rief der Doktor, indem er sich mit der Hand auf der Brust in seinem Stuhl zurücklehnte.

»Nun seh‘ ich meinen kleinen Freund, wie geht es, mein kleiner Freund?«

Die Uhr in dem Saale wollte auf diese Veränderung der Worte nicht noch eingehen und fuhr fort zu wiederholen: Wie – geht – es mei – nem – klei – nen – Freund, wie – geht – es – mei – nem – klei – nen – Freund?

»Ganz wohl, ich danke Ihnen, Sir«, erwiderte Paul, der Uhr wie dem Doktor antwortend.

»Ha!« sagte der Doktor Blimber. »Sollen wir einen Mann aus ihm machen?«

»Hörst du, Paul?« fügte Mr. Dombey hinzu.

Paul blieb stumm.

»Sollen wir einen Mann aus ihm machen?« wiederholte der Doktor nochmals.

»Ich möchte lieber ein Kind bleiben«, erwiderte Paul.

»Der Tausend!« sagte der Doktor. »Warum?«

Das Kind blickte, wie es so am Tische saß, mit einem sonderbaren Zug unterdrückter Bewegung in seinem Gesicht nach ihm hin und klopfte mit der einen Hand stolz auf sein Knie, als hätte es die aufsteigenden Tränen bezwungen, die andere Hand aber irrte inzwischen ein wenig weiter ab – noch weiter von ihm weg, bis sie Florences Hals erreichte. ›Dies ist das Warum‹ schien seine Gebärde sternchenland.com zu sagen; aber dann war es mit dem festen Blick vorbei – die zuckenden Wimpern wurden ruhiger, und reichliche Tränen quollen dazwischen hervor.

»Mrs. Pipchin«, sagte sein Vater vorwurfsvoll, »es tut mir in der Tat leid, das zu sehen.«

»Tretet weg von ihm, Mr. Dombey«, bemerkte die Matrone.

»Macht nichts«, sagte der Doktor mit einem milden Kopfnicken, um Mrs. Pipchin zurückzuhalten. »Macht nichts. Wir werden bald neue Sorgen und neue Eindrücke an die Stelle der alten zu pflanzen wissen, Mr. Dombey. Ihr wünscht also, mein Freund solle lernen – –«

»Alles, alles, Doktor«, entgegnete Mr. Dombey fest.

»Ja«, sagte der Doktor und schien mit seinen halbgeschlossenen Augen, mit seinem gewöhnlichen Lächeln Paul zu mustern, als hätte er irgendein seltenes kleines Tier vor sich, das ausgestopft werden sollte. »Ja, ganz recht. Ha! wir werden unserem kleinen Freund eine umfassende Bildung mitteilen, und ich kann wohl behaupten, daß es mit ihm rasch vorwärts gehen wird. Ja, das wage ich zu behaupten. Ganz jungfräulicher Boden, habt Ihr, glaube ich, gesagt, Mr. Dombey?«

»Mit Ausnahme einiger gewöhnlicher Vorbereitungen zu Hause und von seiten dieser Dame«, erwiderte Mr. Dombey mit einem Kopfnicken auf Mrs. Pipchin, die gerade ihrer ganzen Haltung eine große Starrheit verlieh und trotzig anfing zu schnauben, im Fall der Doktor sie herabzuwürdigen versuchen sollte. »Mit solchen Ausnahmen hat sich Paul bis jetzt noch gar keinem Studium zugewendet.«

Doktor Blimber neigte in milder Toleranz gegen eine unbedeutende Wilddieberei, wie die der Mrs. Pipchin sein konnte, das Haupt und entgegnete, es freue ihn, solches zu hören, da es weit befriedigender sei, mit dem Grundbau den Anfang zu machen. Und abermals schielte er nach Paul hin, als wollte er ihm nur gar zu gern das griechische Alphabet abfragen.

»Dieser Umstand, Doktor Blimber«, fuhr Mr. Dombey fort, indem er nach seinem kleinen Sohn hinblickte, »und die Unterredung, die ich bereits mit Euch zu halten das Vergnügen hatte, macht in der Tat jede weitere Aufklärung, folglich auch jeden weiteren Anspruch an Eurer wertvollen Zeit so unnötig, daß –«

»Nun, Miß Dombey!« sagte die essigscharfe Pipchin.

»Erlaubt mir«, bemerkte der Doktor – »nur einen Augenblick. Ich möchte gern Mrs. Blimber und meine Tochter vorstellen, die mit dem häuslichen Leben unseres jungen Pilgers auf dem Parnaß in nahe Beziehung treten werden. Mrs. Blimber«, denn die Dame, die vielleicht gewartet hatte, trat jetzt ganz gelegen ein und brachte ihre Tochter, jene schöne Totengräberin in der Brille, mit sich, »Mr. Dombey: meine Tochter Cornelia, Mr. Dombey. Mr. Dombey, meine Liebe«, fuhr der Doktor gegen seine Gattin fort, »hat zu uns das Vertrauen – siehst du unsern kleinen Freund?«

Mrs. Blimber hatte in einem Anfall von Höflichkeit, der Mr sternchenland.com Dombey galt, nichts gesehen, denn sie wich rücklings gegen den kleinen Freund hin und gefährdete durch dieses Manöver sehr seinen Sitz auf dem Tisch. Auf diesen Wink aber wandte sie sich um, um seine klassischen und intellektuellen Lineamente zu bewundern: dann drehte sie sich mit einem Seufzer wieder gegen Mr. Dombey und sagte, sie beneide seinen lieben Sohn.

»Wie die Biene, Sir«, sagte Mrs. Blimber mit aufwärts geschlagenen Augen, »die sich umhertreibt in einem Garten mit den herrlichsten Blumen, um daselbst zum erstenmal die Süßigkeiten zu kosten: Virgil, Horaz, Ovid, Terenz, Plautus, Cicero. Welch eine Welt von Honig haben wir hier. Das mag merkwürdig erscheinen, Mr. Dombey, von einer Frau – aber von einer Frau eines solchen Gatten –«

»Pst, pst!« machte der Doktor Blimber. »Pfui! Mr. Dombey wird Nachsicht haben mit der Parteilichkeit einer Gattin«, versetzte Mr. Blimber mit einem ermutigenden Lächeln.

»Durchaus nicht«, antwortete Mr. Dombey, seine Worte vermutlich auf die Parteilichkeit, nicht aber auf die Nachsicht beziehend.

»Und vielleicht erscheint es ebenso merkwürdig an einer Person, die zugleich Mutter ist«, sprach Mrs. Blimber weiter.

»Und solch eine Mutter«, entgegnete Mr. Dombey, sich ob dieser verwirrten Idee, als müsse er Cornelia ein Kompliment machen, vorbeugend.

»Aber in der Tat«, fuhr Mrs. Blimber fort, »ich denke, wenn ich Cicero gekannt hätte, wenn ich seine Freundin und mit ihm in seiner Abgeschiedenheit in Tusculum gewesen wäre – in jenem herrlichen Tusculum – so könnte ich mein Haupt zufrieden ins Grab legen.«

Ein gelehrter Enthusiasmus ist manchmal ansteckend, daß Mr. Dombey halb glaubte, es könne ihr Ernst sein, und sogar Mrs. Pipchin, die, wie wir bereits gesehen haben, in der Regel nicht sehr fügsamen Charakters war, stieß einen leichten Laut aus, mitten inne schwebend zwischen einem Stöhnen und einem Seufzer, als wolle sie damit andeuten, nichts als Cicero hätte ihr nach dem Fehlschlagen der peruanischen Minen einen bleibenden Trost gewähren können; dieser aber wäre in der Tat eine wahre Davysche Sicherheitslampe.

Cornelia sah durch ihre Brille nach Mr. Dombey hin, als hätte sie gute Lust, mit ihm aus der berührten Autorität einige philologische Nüsse zu knacken. Wenn sie aber wirklich einen derartigen Gedanken unterhielt, so wurde seine Ausführung durch ein Pochen an der Tür des Zimmers unterdrückt.

»Was ist das«, fragte der Doktor. »O, herein, Toots – herein. Mr. Dombey, Sir.« Toots verneigte sich. »Welch ein schönes Zusammentreffen«, fuhr Doktor Blimber fort. »Hier haben wir den Anfang und da« Ende – das Alpha und das Omega. Unser ältester Knabe, Mr. Dombey.«

Der Doktor hatte wohl allen Grund, ihn so zu nennen, denn er war mindestens um einen Kopf und um eine Schulter höher als sternchenland.com alle übrigen. Toots errötete sehr, als er diesem Fremden gegenüber stand, und kicherte vor sich hin.

»Ein Zuwachs zu unserem kleinen Portikus, Toots«, sagte der Doktor. »Mr. Dombeys Sohn.«

Der junge Toots errötete abermals, und da er aus dem feierlichen Schweigen, welches jetzt herrschte, entnahm, man erwarte von ihm eine Erwiderung, so sagte er zu Paul: »Wie geht’s Euch?« Das geschah aber mit so tiefer Stimme und in so schwerfälliger Weise, daß man wohl kaum in größeres Staunen hätte geraten können, wenn auf einmal ein Lamm zu brüllen angefangen haben würde.

»Wenn Ihr so gut sein wollt, Toots, so könnt Ihr Mr. Feeder bedeuten«, sagte der Doktor, »er solle für einige Elementarbücher sorgen und Mr. Dombeys Sohn einen bequemen Sitz zum Studieren anweisen. Meine Liebe, ich glaube, Mr. Dombey hat die Dormitorien noch nicht gesehen.«

»Wenn Mr. Dombey mich die Treppe hinaufbegleiten will«, versetzte Mrs. Blimber, »so wäre es mir eine große Ehre, ihm die Domänen des Schlafgottes zu zeigen.«

Mit diesen Worten schritt Mrs. Blimber, eine Dame von auffallender Leutseligkeit, deren Drahtpuppenfigur eine Haube von himmelblauem Stoffe krönte, voran und führte Mr. Dombey die Treppe hinauf. Cornelia war gleichfalls von der Partie, und Mrs. Pipchin folgte nach, unterwegs sich scharf nach ihrem Feinde, dem Bedienten, umsehend.

Während sie fort waren, blieb Paul, der Florences Hand festhielt, auf dem Tisch sitzen und warf von da aus scheue Blicke in dem Zimmer umher, während der Doktor selbst, in seinen Stuhl zurückgelehnt und die eine Hand wie gewöhnlich in die Brusttasche steckend, ein Buch auf Armeslänge vor sich hin hielt und las. Diese Art zu lesen hatte etwas Schauerliches an sich. Es sah so entschlossen, so leidenschaftslos, so unbeugsam und kaltblütig aus, das Gesicht des Doktors war dabei allen Blicken freigegeben, und wenn der Doktor gar argwöhnisch über seinen Autor lächelte, die Stirn runzelte, den Kopf schüttelte oder den Mund verzog, als wolle er sagen – ›kommt mir nicht so, Sir; ich weiß das besser‹ – so war er in der Tat fürchterlich anzusehen.

Auch Toots hatte draußen nichts zu tun und untersuchte nun der Schaustellung halber den Mechanismus seiner Uhr, oder zählte seine halben Kronen. Doch das währte nicht lange; denn als Doktor Blimber zufälligerweise die Lage seiner stämmigen, knapp eingehüllten Beine wechselte, als wollte er aufstehen, verschwand Toots mit aller Behendigkeit und kam nicht wieder zum Vorschein.

Bald nachher hörte man Dombey mit all seinen Begleiterinnen, die sich unterwegs mit ihm unterhielten, die Treppe herunterkommen, und unmittelbar darauf traten sie wieder in das Studierzimmer des Doktors.

»Ich hoffe, Mr. Dombey«, sagte der Doktor, sein Buch niederlegend, »daß die Anordnungen Euren Beifall finden.«

»Sie sind vortrefflich«, sagte Mr. Dombey.

»In der Tat recht ordentlich«, fügte Mrs. Pipchin in gedämpfter Stimme bei, da sie nie Lust zeigte, allzuviel Ermutigung zu geben.

»Mrs. Pipchin«, fuhr Mr. Dombey fort, indem er sich im Kreise drehte, »wird mit Eurer Erlaubnis, Mr. Blimber, Paul hin und wieder besuchen.«

»So oft es immer Mrs. Pipchin belieben«, antwortete Doktor Blimber.

»Werde mich stets glücklich schätzen, sie zu sehen«, sagte Mrs. Blimber.

»Ich glaube«, ergriff Mr. Dombey wieder das Wort, »ich habe Euch nun mehr aufgehalten als nötig war, und will mich jetzt verabschieden. Paul, mein Kind«, er ging auf den Knaben zu, der noch immer auf dem Tische saß. »Leb‘ wohl.«

»Adieu, Papa.«

Das schwache nachlässige Händchen, das Mr. Dombey in der seinigen hielt, stand in einem auffallenden Einklang mit dem dazu gehörigen sehnsüchtig blickenden Antlitz. Der Vater hatte aber nicht teil an dem kummervollen Ausdruck – ihm galt er nicht. Nein, nein, der Schwester – einzig nur der Schwester.

Hätte sich Mr. Dombey in dem Übermut seines Reichtums je einen grimmigen und unversöhnlichen Feind gemacht, so wäre sicherlich auch diesem für alles geschehene Unrecht reichliche Schadloshaltung zugegangen in dem Schmerz, der in jenem Augenblicke das stolze Herz durchdrang. Mr. Dombey beugte sich über seinen Sohn und küßte ihn. Wenn sein Gesicht dabei trüber wurde durch etwas, das ihm für einen Moment das kleine Antlitz undeutlich machte, so sah vielleicht für diese kurze Zeit sein geistiges Auge um so klarer.

»Ich besuche dich bald wieder, Paul. Du weißt, an Sonnabenden und Sonntagen hast du Ferien.«

»Ja, Papa«, entgegnete Paul, nach seiner Schwester hinsehend. »An Sonnabenden und an Sonntagen.«

»Und du wirst dir Mühe geben, hier viel zu lernen und ein gescheiter Mann zu werden«, sagte Mr. Dombey. »Nicht wahr, das willst du?«

»Ich will mir Mühe geben«, versetzte das Kind in mattem Ton.

»Und du wirst jetzt bald groß sein!« sagte Mr. Dombey.

»O! sehr bald!« entgegnete das Kind.

Wieder zuckte der alte, alte Blick rasch über seine Züge, wie ein fremdes Licht. Er traf auf Mrs. Pipchin und erlosch daselbst in deren schwarzem Anzug. Die treffliche Werwölfin trat vor, um Abschied zu nehmen und Florence fortzuführen – ein Genuß, nach dem sie längst gedürstet hatte. Ihre Bewegung weckte Mr. Dombey auf, dessen Augen an Paul hafteten. Nachdem er dem Knaben den Kopf gestreichelt und abermals dessen kleine Hand gedrückt hatte, verabschiedete er sich von Dr. Blimber, Mrs. Blimber und Miß Blimber mit seiner gewohnten höflichen Kälte und verließ das Studierzimmer.

Ungeachtet seiner Bitte, man möchte sich ja nicht stören lassen, drängten sich doch Doktor Blimber, Mrs. Blimber und Miß Blimber vor, um den reichen Gast nach der Halle zu geleiten, und so kam es denn, daß Mrs. Pipchin zwischen Miß Blimber und den Doktor geriet, und von demselben aus dem Studierzimmer hinausgedrängt wurde, ehe sie Florence zu packen imstande war. Diesem glücklichen Zufall verdankte Paul später die teure Erinnerung, daß Florence auf ihn zulief, um ihren Arm um seinen Nacken zu schlingen, und daß ihr Gesicht das letzte war, dessen er auf der Schwelle ansichtig wurde. Dort wandte sie sich noch einmal mit einem Lächeln der Ermutigung gegen ihn hin – mit einem Lächeln, das durch den Tau der Tränen nur um so heller glänzte.

Sein kindliches Herz wogte, als dieser Anblick vor seinen Augen entschwand, und alles im Zimmer umher, die Globusse, die Bücher, der blinde Homer und Minerva schienen in dem Zimmer zu verschwimmen. Dann aber machten sie auf einmal plötzlich halt, und er hörte die laute Uhr in der Halle noch immer die ernste Frage stellen: ›was, macht, mein, klei, ner, Freund: was, macht, mein, klei, ner, Freund?‹

Mit gefalteten Händen saß er auf seinem Tische und hörte stumm zu. Er hätte antworten mögen: ›ich bin müde, müde, sehr einsam und sehr traurig!‹ Und da saß er nun mit dem schmerzlichen Weh in seinem jungen Herzen – außen alles so kalt, so kahl und fremd – als habe er ein unmöbliertes Leben gemietet und als wolle der Tapezierer um keinen Preis kommen.

Zwölftes Kapitel.


Zwölftes Kapitel.

Pauls Erziehung.

Nach Ablauf von einigen Minuten, die dem kleinen auf dem Tisch sitzenden Paul wie eine Ewigkeit vorkamen, kehrte Doktor Blimber wieder zurück. Wie stattlich war der Gang des Doktors – wie so ganz darauf berechnet, das jugendliche Gemüt mit feierlichen Empfindungen zu erfüllen. Es war eine Art Marsch; aber wenn der Doktor seinen rechten Fuß ausstreckte, so drehte er ihn mit einer halbzirkelförmigen Schwenkung gravitätisch nach links um seine Achse, und wenn der linke Fuß an die Reihe kam, so wurde er in derselben Weise nach rechts geschwenkt. Auch schien er bei jedem Schritt, den er tat, umherzuschauen, als wollte er sagen:

»Kann wohl jemand die Güte haben, mir, in was immer für einer Richtung, einen Gegenstand anzudeuten, über den ich nicht unterrichtet wäre? – Ich denke, es wird schwer fallen.«

Mit dem Doktor kamen auch Mrs. Blimber und Miß Blimber zurück. Der Doktor hob nun seinen neuen Zögling vom Tisch herunter und übergab ihn seiner Tochter.

»Cornelia«, sagte er, »Dombey wird anfangs deiner Sorge überlassen bleiben. Nimm ihn fort, Cornelia, nimm ihn fort.«

Miß Blimber nahm ihren Mündel aus des Doktors Händen in Empfang, und Paul schlug die Augen nieder, weil er fühlte, daß ihn die Brille musterte.

»Wie alt bist du, Dombey?« fragte Miß Blimber.

»Sechs«, antwortete Paul mit einem verstohlenen Blick auf die Dame, und in nicht geringer Verwunderung, warum ihre Haare nicht lang wuchsen, wie die seiner Schwester, und warum sie so ganz wie ein Knabe aussah.

»Was hast du schon aus der lateinischen Grammatik gelernt, Dombey?« fragte Miß Blimber.

»Nichts«, antwortete Paul.

Da er übrigens fühlte, diese Erwiderung sei ein herber Schlag für Miß Blimbers Zartgefühl, so schaute er zu den drei Gesichtern auf, die zu ihm herniedersahen, und fuhr fort:

»Ich bin nicht gesund gewesen. Ich war ein schwächliches Kind und konnte nicht in der lateinischen Grammatik lernen, weil ich alle Tage mit dem alten Glubb ausfuhr. Es wäre mir lieb, wenn Sie so gut sein wollten, dem alten Glubb zu sagen, er solle auch herkommen und mich besuchen.«

»Welch ein schrecklich gemeiner Name!« sagte Mrs. Blimber. »Unklassisch in höchstem Grade! Wer ist dieses Ungeheuer, Kind?«

»Welches Ungeheuer?« fragte Paul.

»Der Glubb«, entgegnete Mrs. Blimber mit großem Unbehagen.

»Er ist so wenig ein Ungeheuer wie Sie«, erwiderte Paul.

»Wie?« rief der Doktor mit schrecklicher Stimme. »Was sagst du da? Aha! was soll das heißen?«

Paul erschrak heftig, ergriff aber doch die Partei des abwesenden Glubb, obschon es nur mit Zittern geschah.

»Er ist ein sehr lieber alter Mann, Ma’am«, sagte er, »und pflegte meine Kutsche zu ziehen. Er weiß alles von dem tiefen Meer, von den Fischen, die darin sind, und von den großen Ungeheuern, die da kommen und sich auf Felsen sonnen, wenn man sie aber aufschreckt, wieder ins Wasser stürzen und so blasen und plätschern, daß man sie auf weithin hören kann. Es gibt auch einige Tiere«, fuhr Paul fort, der über seinen Gegenstand warm wurde – »weiß nicht, wie viele Ellen lang, habe ihre Namen vergessen; aber Florence weiß es wohl – diese tun, wie wenn ein Mensch in der Not ist, und wenn Leute aus Mitleid sich ihnen nähern, so öffnen sie ihren großen Rachen und packen sie an. Man braucht aber dann nichts zu tun«, fuhr Paul fort, indem er seine Gelehrsamkeit keck sogar vor dem Doktor glänzen ließ – »als in anderer Richtung wegzulaufen: denn weil sie so lang sind und sich nicht biegen können, drehen sie sich nur langsam um, und man kann ihnen gut entgehen. Zwar weiß der alte Glubb nicht, warum das Meer meine Gedanken auf meine Mutter richtet, die tot ist, und auch nicht, was die See sagt und in einem fort sagt – aber dennoch weiß er viel von dem großen Wasser. Und sternchenland.com es wäre mir lieb«, schloß endlich Paul mit kleinlauter Miene, als er wie ein verirrtes Wesen auf die drei fremden Gesichter hinsah, »wenn Ihr den alten Glubb herkommen ließet, damit er mich besuche, denn ich kenne ihn sehr gut, und er kennt mich.«

»Ha!« rief der Doktor, seinen Kopf schüttelnd – »aber das Studieren wird viel ausrichten.«

Mrs. Blimber gab in einer Art Schauderanfall ihre Ansicht dahin ab, daß Paul ein unerklärliches Kind sei, und sah ihn – wenn man den Unterschied der Züge in Rechnung brachte – fast so an, wie es Mrs. Pipchin zu tun pflegte.

»Mach‘ einen Gang mit ihm durchs Haus, Cornelia«, sagte der Doktor, »damit er mit seiner neuen Sphäre vertraut werde. Geh mit dieser jungen Dame, Dombey.«

Dombey gehorchte und gab der geheimnisvollen Cornelia die Hand, sah sie aber unterwegs stets mit schüchterner Neugierde von der Seite an. Wegen der glänzenden Gläser ihrer Brille hatte sie nämlich ein so mysteriöses Aussehen, daß er nie wußte, wohin sie schaute: ja er konnte nicht einmal zu der Gewißheit kommen, ob wirklich Augen dahinter verborgen seien.

Cornelia führte ihn zuerst nach dem Schulzimmer, das an der hintern Seite der Halle lag. Der Zugang wurde durch zwei mit Tuch überzogene Türen vermittelt, welche die Stimmen der jungen Gentlemen dämpften und erstickten. Hier saßen nun acht junge Herrlein in unterschiedlichen Abstufungen geistiger Bedrücktheit, und man konnte deutlich sehen, wie schwer ihnen ihre Arbeit wurde. Toots, als der älteste, hatte in einer Ecke ein Pult für sich, und es kam unserem Paul vor, als befinde sich hinter demselben ein vornehmer sehr alter Mann.

Mr. Feeder, B.A. der an einem andern kleinen Pult saß, studierte seinen Virgil und suchte vier jungen Gentlemen das Versmaß verständlich zu machen. Von den übrigen vieren zupften sich zwei krampfhaft an den Haaren ob der Lösung eines mathematischen Problems; einer mit einem Gesicht, von vielem Weinen einem schmutzigen Fenster ähnlich, gab sich Mühe, vor dem Mittagessen durch eine hoffnungslose Anzahl von Zeilen durchzuzappeln, und ein anderer saß in versteinerter und verzweifelter Betäubung, die sich vom Frühstück an seiner bemächtigt zu haben schien, über seiner Aufgabe.

Da« Erscheinen eines neuen Knaben erregte nicht das Aufsehen, wie man es hätte erwarten sollen. Mr. Feeder, B.A., der um der größeren Abkühlung willen seinen Kopf zu rasieren pflegte, so daß man statt der Haare nur kurze Stoppeln sah, reichte ihm seine knöcherne Hand mit der Bemerkung, es freue ihn, den neuen Ankömmling zu sehen – eine Begrüßung, die Paul herzlich gern erwidert haben würde, wenn es ihm nur ein bißchen von Herzen gegangen wäre. Von Cornelia dazu aufgefordert, reichte sodann Paul den vier jungen Gentlemen an Mr. Feeders Pult die Hand, eine sternchenland.com Prozedur, die später auch an den fieberischen Mathematikern, an dem tintigen jungen Gentleman, der mit der Zeit um die Wette arbeitete, und zuletzt auch an dem betäubten Knaben, der sich ganz kalt und welk anfühlte, vorgenommen wurde.

Da Paul dem jungen Toots bereits vorgestellt war, so erging sich dieser junge Gentleman seiner Gewohnheit nach nur in einem schweratmigen Kichern und fuhr in seiner Beschäftigung fort. Letztere war nicht eben schwer zu nennen; denn da Toots bereits in mehr als einem Sinne so viel »durchgemacht« und auch, wie schon früher angedeutet wurde, in seinem Lenze zu blühen aufgehört hatte, so stand es ihm jetzt frei, seine Studien nach Belieben zu verfolgen. Letztere bestanden hauptsächlich darin, daß er lange Briefe von vornehmen Personen unter der Adresse ›P. Toots, Esquire, Brighton, Sussex‹ an sich selbst schrieb und sie mit großer Sorgfalt in seinem Pult aufbewahrte.

Nach Beendigung dieser Förmlichkeit führte Cornelia Paul nach dem Hausgiebel hinauf – eine etwas langsame Wanderung, weil der Knabe auf jeder Treppe mit beiden Füßen anlangen mußte, ehe er eine weitere ersteigen konnte. Endlich erreichten sie jedoch das Ziel der Reise und traten in ein Vorderstübchen, das gegen die wilde See hinausging. Cornelia zeigte ihm daselbst ein reinliches kleines Bett mit weißen Behängen dicht am Fenster. Oben stak bereits eine Karte, auf welche mit sehr dicken Schatten- und sehr feinen Haarstrichen der Name »Dombey« geschrieben war. Durch eine ähnliche Belehrung erfuhr man, daß die beiden andern kleinen Bettstellen desselben Zimmers beziehungsweise einem Briggs und Tozer gehörten.

Als sie wieder in der Halle unten anlangten, sah Paul den blödsichtigen jungen Menschen, welcher Mrs. Pipchin so tödlich beleidigt hatte, plötzlich einen sehr großen Trommelschlegel ergreifen und auf eine aufgehängte Metallplatte loshämmern, als sei er wahnsinnig geworden oder als wolle er Rache üben. Statt jedoch einen Verweis zu erhalten oder augenblicklich in Haft genommen zu werden, blieb besagter Übeltäter, trotz des schrecklichen Getöses, das er verursacht hatte, völlig unangefochten. Cornelia Blimber sagte jetzt zu Dombey, in einer Viertelstunde werde das Mittagessen aufgetragen, und er tue am besten, wenn er jetzt ins Schulzimmer gehe zu seinen »Freunden«.

Demgemäß ging Dombey ehrerbietig an der Uhr vorbei, die sich stets mit gleicher Besorgnis nach seinem Befinden erkundigte, öffnete die Schulzimmertür ein klein wenig und schlich sich wie ein verirrter Knabe ein, obschon ihm hintendrein das Zuschließen einige Mühe machte. Seine Freunde standen, mit Ausnahme des steinernen, der unbeweglich an seiner Stelle sitzenblieb, im Zimmer umher, und Mr. Feeder streckte sich in seinem grauen Schlafrock, als sei er ohne Rücksicht auf die Unkosten fest entschlossen, die Ärmel abzureißen.

»Heih ho hum!« rief Mr. Feeder, indem er sich wie ein Karrengaul schüttelte. »Jawohl, jawohl! Y-a-a-ah!«

Paul erschrak sehr über Mr. Feeders Gähnen, denn es war ein Gähnen in großartigem Maßstab, und der betreffenden Person schien es fürchterlich ernst damit zu sein. Auch die Knaben insgesamt – mit Ausnahme des einzigen Toots – schienen ganz schachmatt zu sein und bereiteten sich für das Mittagessen vor. Einige banden sich ihre sehr steifen Krawatten neu um, und andere wuschen ihre Hände oder bürsteten sich in einem anstoßenden Vorzimmer die Haare, sahen aber dabei aus, als ob sie sich nicht sonderlich auf die Mahlzeit freuten.

Der junge Toots, der bereits fertig war und deshalb nichts zu tun hatte, konnte allein etwas von seiner Zeit für Paul aufwenden und sagte deshalb mit schwerfälliger Gutmütigkeit:

»Setz dich, Dombey.«

»Danke, Sir«, entgegnete Paul.

Die Mühe, die er sich nun gab, auf einen hohen Fenstersitz hinaufzuklettern, an dem er wieder herunterglitt, schien Toots‘ Geist für die Rezeption einer Entdeckung vorzubereiten.

»Du bist ein sehr kleines Bürschlein«, sagte Mr. Toots.

»Ja, Sir, ich bin klein«, entgegnete Paul. »Danke, Sir.«

Denn Toots hatte ihm auf den Sitz geholfen und noch obendrein diesen Akt in recht liebevoller Weise erfüllt.

»Wer ist dein Schneider?« fragte Toots, nachdem er ihn eine Weile gemustert hatte.

»Bis jetzt hat stets ein Frauenzimmer meinen Anzug gemacht«, sagte Paul. »Die Schneiderin meiner Schwester.«

»Mein Schneider ist Burges und Co.«, versetzte Toots. »Fash’nabl. Aber sehr teuer.«

Paul hatte Verstand genug, seinen Kopf zu schütteln, als wollte er damit sagen, dies sei leicht begreiflich; und in der Tat, so dachte er auch.

»Dein Vater ist notorisch reich, nicht wahr?« fragte Mr. Toots.

»Ja, Sir«, antwortete Paul. »Er ist Dombey und Sohn.«

»Und wer?« fragte Toots.

»Und Sohn, Sir«, versetzte Paul.

Mr. Toots machte in gedämpfter Stimme einige Versuche, die Firma seinem Gedächtnis einzuprägen, da ihm übrigens dies nicht gelang, so bemerkte er gegen Paul, er möchte ihm den Namen morgen früh wieder sagen, da er einigen Wert darauf lege. Und in der Tat sann er auf nichts Geringeres, als augenblicklich ein vertrauliches Privatschreiben von Dombey und Sohn an sich selbst abzufassen.

Mittlerweile hatten sich die übrigen Zöglinge – den steinernen Knaben stets ausgenommen – um ihn versammelt. Sie waren sehr höflich, aber alle blassen Aussehens, sprachen nur in gedämpften Lauten und schienen geistig so niedergedrückt zu sein, daß im Vergleich mit dem allgemeinen Ton dieser Gesellschaft Master Bitherstone ein wahrer Eulenspiegel genannt werden konnte. Und doch wußte Bitherstone, wie hart man mit ihm umging.

»Nicht wahr, du schläfst in meinem Zimmer?« fragte ein feierlicher junger Gentleman, dessen Hemdkragen bis über die Ohrläppchen hinaufstieg.

»Master Briggs?« fragte Paul.

»Tozer«, sagte der junge Gentleman.

Paul antwortete mit Ja, und Tozer deutete auf den steinernen Zögling mit der Bemerkung, daß dieser Briggs sei. Paul hatte bereits die Überzeugung in sich getragen, daß derselbe entweder Briggs oder Tozer sein müsse, obschon er sich für die Stimme in seinem Innern keine Rechenschaft zu geben vermochte.

»Hast du eine starke Konstitution?« fragte Tozer.

Paul entgegnete, er glaube kaum. Tozer erwiderte hierauf, es komme ihm gleichfalls so vor, wenn er Paul ansah; es sei übrigens schade, denn man könne sie hier brauchen. Er fragte sodann Paul, ob Cornelia mit ihm den Anfang machen werde, und als dieser mit Ja antwortete, brachen alle jungen Gentlemen, Briggs ausgenommen, in dumpfes Stöhnen aus.

Es wurde jedoch erstickt durch das Klingen der Metallplatte, welche jetzt ganz wütend erdröhnte, und nun fand ein allgemeiner Aufbruch nach dem Speisezimmer statt – mit Ausnahme des steinernen Knaben Briggs, welcher blieb, wo er war und wie er war. Paul bemerkte noch, wie demselben eine Schnitte Brot vornehm samt Teller und Serviette nebst einer silbernen Gabel, die quer darüber lag, vorgelegt wurde.

Doktor Blimber befand sich bereits an seinem Platz im Speisezimmer; er saß oben an dem Tisch, während Miß Blimber und Mrs. Blimber rechts und links von ihm ihre Plätze einnahmen. Mr. Feeder in einem blauen Rocke befand sich zu unterst. Paul hatte seinen Stuhl zunächst der Miß Blimber; als er jedoch hinaufgestiegen war, zeigte sich, daß seine Augenbrauen nicht viel über dem Niveau des Tafeltuchs standen. Es wurde daher aus dem Studierzimmer des Doktors eine Anzahl Bücher herbeigeholt und er fortan stets auf diese Weise erhoben, obschon er das Material bei späteren Gelegenheiten selbst herbeischleppen mußte, wie ein Elefant seinen Turm.

Nachdem der Doktor das Gebet gesprochen hatte, begann die Mahlzeit. Sie bestand aus etwas Suppe, gebratenem Fleisch, gesottenem Fleisch, Gemüse, einer Pastete und Käse. Jeder junge Gentleman hatte eine schwere silberne Gabel und eine Serviette; auch im übrigen waren die Einrichtungen stattlich und schön. Namentlich servierte ein Diener in blauer Livree mit blanken Knöpfen, welcher dem Tafelbier durch die stolze Art, wie er es einschenkte, eine wahrhafte Weinblume verlieh.

Niemand sprach, ohne angeredet zu werden. Doktor Blimber, Mrs. Blimber und Miß Blimber ausgenommen, welche gelegentlich eine Unterhaltung anknüpften. So oft übrigens einer der jungen Gentlemen nicht tatsächlich mit seinem Messer, seiner Gabel oder seinem Löffel beschäftigt war, suchte sein Blick, wie infolge unwiderstehlicher sternchenland.com Anziehung, das Auge von Doktor Blimber, Mrs. Blimber oder Miß Blimber, wo er bescheiden haften blieb. Nur Toots schien eine Ausnahme von dieser Regel zu machen. Er hatte auf der Seite, wo Paul saß, seinen Platz zunächst neben Mr. Feeder und schaute oft hinter oder vor der dazwischenliegenden Knabenreihe hin, um sich unsern Paul zu betrachten.

Nur einmal während der Mahlzeit fand eine Unterhaltung statt, an der sich auch die jungen Gentlemen beteiligen konnten. Sie fiel in die Epoche des Käses; denn nachdem der Doktor ein Glas Portwein genommen hatte, räusperte er sich etlichemal und begann:

»Es ist merkwürdig, Mr. Feeder, daß die Römer –«

Bei Erwähnung dieses schrecklichen Volks, ihrer unversöhnlichen Feinde, hefteten sämtliche jungen Gentlemen mit dem Anschein des tiefsten Interesses ihre Blicke auf den Doktor. Einer darunter, welcher eben trank und durch die Wandung des Glases das Auge des Doktors sah, welches ihn scharf fixierte, hörte so plötzlich auf, daß er für einige Augenblicke zu ersticken drohte und in der Folge den Faden von Doktor Blimbers Vortrag völlig verwirrte.

»Es ist merkwürdig, Mr. Feeder«, nahm der Doktor langsam wieder auf, »daß die Römer bei jenen prunkvollen und schlemmerischen Mahlzeiten, von denen wir aus den Tagen der Kaiser lesen, als die Üppigkeit eine vor- oder nachher nie mehr bekannte Höhe erreicht hatte, und als ganze Provinzen verwüstet wurden, um ein einziges kaiserliches Bankett mit allem nur erdenklichen gaumenkitzelnden Material zu versehen – –«

Hier brach der kleine Verbrecher, welcher fortwährend den Krampf hinunterzuwürgen versucht hatte, in ein ungestümes Husten aus.

»Johnson«, sagte Feeder mit gedämpfter vorwurfsvoller Stimme, »nehmt etwas Wasser.«

Der Doktor machte eine finstere Miene, hielt inne, bis das Wasser gebracht wurde, und hub dann wieder an:

»Und als, Mr. Feeder –«

Aber Mr. Feeder, welcher bemerkte, daß Johnson mit einem neuen Ausbruch bedroht war, wußte wohl, daß der Doktor wegen des jungen Gentleman nicht zum Schluß seiner Rede kommen konnte, und verwandte deshalb seine Blicke nicht von dem letzteren. So fügte sich’s dann, daß der Doktor seinen Gehilfen über der Tat ertappte, wie er ihn nicht ansah, und hielt deshalb inne.

»Ich bitte um Verzeihung, Sir«, sagte Mr. Feeder errötend. »Ich bitte um Verzeihung, Doktor Blimber.«

»Und als«, fuhr der Doktor mit erhöhter Stimme fort, »als, Sir, wie wir lesen, ohne daß wir einen Grund zum Zweifeln dafür fänden, so unglaublich es auch unsern ordinären Zeiten erscheinen mag – der Bruder des Vitellius demselben ein Fest bereitete, bei welchem Fische aufgetragen wurden in zweitausend Gerichten – –«

»Nehmt etwas Wasser, Johnson – Gerichten, Sir«, sagte Mr. Feeder.

»Fünftausend Schüsseln mit den verschiedenartigsten Vögeln –«

»Oder versucht’s mit einem Bissen Brot«, sagte Mr. Feeder.

»Und eine Schüssel«, fuhr Doktor Blimber fort, indem er seine Stimme noch mehr erhob und sich am ganzen Tisch umsah, »die wegen ihres ungeheuern Umfangs den Namen Schild der Minerva führte, angefüllt unter andern kostbaren Ingredienzen mit dem Gehirn von Fasanen –«

»Kwh, kwh, kwh«, ertönte es von Johnson.

»Schnepfen –«

»Kwh, kwh, kwh.«

»Den Schwimmblasen der Fische, Scari genannt –«

»Es wird Euch in Eurem Kopf eine Ader springen«, sagte Mr. Feeder. »Tut Euch lieber keinen Zwang an.«

»Und dem Rogen der Lamprete, von dem karpathischen Meer hergeholt«, fuhr der Doktor in seiner strengsten Stimme fort; »wenn wir von solchen kostbaren Mahlzeiten lesen und uns dabei erinnern, daß wir einen Titus haben –«

»Wie würde Eure Mutter jammern, wenn Ihr an einem Schlagfluß stürbet!« sagte Mr. Feeder.

»Einen Domitian –«

»Ihr seid ja ganz blau«, sagte Mr. Feeder.

»Einen Nero, einen Tiberius, einen Caligula, einen Heliogabalus und noch viele andere«, fügte der Doktor hinzu, »so ist es, Mr. Feeder – wenn Ihr mir die Ehre erweisen wollt, mir Gehör zu schenken – merkwürdig, sehr merkwürdig, Sir –«

Aber Johnson, der außerstande war, länger an sich zu halten, brach jetzt in einen so überwältigenden Hustenanfall aus, daß er vor fünf Minuten nicht wieder zur Ruhe kommen konnte, obschon seine Nachbarn ihn auf den Rücken klopften, Mr. Feeder ihm ein Glas Wasser an die Lippen hielt und der Aufwärter mehreremal zwischen dem Stuhl des Delinquenten und dem Seitentische wie eine Schildwache hin und her ging. Dann aber folgte tiefes Schweigen.

»Gentlemen«, sagte Doktor Blimber, »erhebt Euch zum Gebet. Cornelia, hilf Dombey hinunter.«

Infolge davon sah man nichts als dessen Skalp über dem Tischtuch. »Johnson wird mir morgen früh vor dem Frühstück das erste Kapitel aus dem Brief des heiligen Paulus an die Epheser in griechischer Sprache auswendig hersagen. Mr. Feeder, in einer halben Stunde wollen wir unsere Studien wieder aufnehmen.«

Die jungen Gentlemen verbeugten sich und traten ab. Mr. Feeder tat desgleichen.

Während der halben Stunde schlenderten die Zöglinge Arm in Arm paarweise auf einem kleinen Stück Rasen hinter dem Hause auf und ab oder bemühten sich, in der Brust von Briggs einen Funken Leben zu entzünden. Von etwas so Gemeinem, wie Spielen war, konnte natürlich keine Rede sein. Pünktlich zu der anberaumten Zeit ertönte die Metallplatte, und die Studien wurden unter der vereinten Leitung des Doktor Blimber und des Mr. Feeder wieder aufgenommen.

Da heute wegen Johnson das olympische Spiel des Auf- und Abschlenderns verkürzt worden war, so durften sie insgesamt vor dem Tee einen Spaziergang machen. Sogar Briggs – obschon er bis jetzt noch nicht angefangen hatte – nahm an dieser Zeitverschwendung teil, und als er unter den Spaziergängern dahinging, schaute er zwei- oder dreimal düster über die Klippe hinunter. Doktor Blimber begleitete sie, und Paul hatte die Ehre, von ihm an der Hand geführt zu werden – eine hohe Auszeichnung, obschon er sich darin gar klein und gebrechlich ausnahm.

Der Tee wurde in ebenso feinem Stil aufgetragen wie das Mittagsmahl. Nach demselben standen die jungen Gentlemen auf, machten wie zuvor ihre Bücklinge und entfernten sich, um die unvollendeten Arbeiten des Tages wieder aufzunehmen oder sich auf die, welche für morgen in Aussicht standen, vorzubereiten. Mr. Feeder zog sich jetzt in sein eigenes Zimmer zurück, und Paul nahm in einer Ecke Platz, bei sich Betrachtungen anstellend, ob wohl Florence auch an ihn denke, und was man in Mrs. Pipchins Kastell treibe.

Mr. Toots wurde anfänglich durch einen wichtigen Brief von dem Herzog von Wellington in Anspruch genommen, suchte aber später Paul auf und fragte ihn, nachdem er ihn wie früher geraume Zeit gemustert hatte, ob er gern Westen trage.

Pauls Antwort lautete:

»Ja, Sir.«

»Ich auch«, versetzte Toots.

Den ganzen Abend sprach Toots kein Wort mehr, blieb aber oft vor Paul stehen und sah ihn an, als ob er Gefallen an ihm fände. Doch auch hierin lag Gesellschaft, und da Paul gleichfalls nicht zum Reden geneigt war, so entsprach dieser stumme Verkehr seinem Zwecke weit besser als die Konversation.

Gegen acht Uhr rief die Metallplatte wieder zum Gebet im Speisezimmer, und nachher erschien der Aufwärter an einem Seitentisch, wo Brot, Käse und Bier für diejenigen jungen Gentlemen, die dergleichen wünschten, aufgestellt war. Die Feierlichkeit schloß mit den Worten des Doktors: »Gentlemen, morgen früh sieben Uhr wollen wir unsere Studien wieder aufnehmen!« und jetzt zum erstenmal sah Paul Cornelia Blimbers Auge, das auf ihm haftete. Nachdem der Doktor seine ermutigende Rede gehalten hatte, verbeugten sich die Zöglinge wieder und begaben sich zu Bett.

In der vertraulichen Abgeschiedenheit des obern Stübchens sagte Briggs, sein Kopf schmerze ihn zum Zerspringen, und er möchte gern tot sein, wenn nur zu Haus seine Mutter und seine Amsel nicht wären. Tozer sprach nicht viel, seufzte aber desto mehr und gab Paul zu verstehen, er solle nur acht haben, denn morgen werde die Reihe an ihn kommen. Nach diesen prophetischen Worten entkleidete er sich und verbarg seine düstere Stimmung in den Laken seines Bettes. Auch Briggs und Paul hatten bereits ihr Lager eingenommen, als der blödsichtige junge Mann erschien, um das Licht zu holen; er sternchenland.com sternchenland.com wünschte ihnen dabei gute Nacht und angenehme Träume. Soweit Briggs und Tozer in Frage kamen, war dies ein sehr eitler Wunsch; denn Paul, der lange wach blieb und nur mit Unterbrechungen schlief, bemerkte jedesmal, daß Briggs von seiner Aufgabe wie von einem Alp gedrückt wurde, während Tozer, dessen Gemüt auch im Schlaf von ähnlichen Ursachen aufgeregt war, obschon nicht in so hohem Grade, fremde Worte ausstieß. Paul meinte, dies müsse Griechisch oder Lateinisch sein; aber wie dem auch sein mochte, dieser Somnoloquismus übte in dem Schweigen der Nacht eine höchst unheimliche Wirkung aus.

Paul war endlich in einen süßen Schlaf versunken und träumte von Florence, mit welcher er Hand in Hand durch schöne Gärten ging. Da kamen sie plötzlich zu einer großen Sonnenblume, die sich im Nu zu einer großen, runden, laut tönenden Messingplatte verwandelte. Er öffnete die Augen und fand, daß es noch dunkel, ein windiger, regnerischer Morgen war. Aber die wirkliche Platte ließ ihre schrecklichen Töne erschallen, welche die Zöglinge nach der Halle hinunterrief.

Er stand augenblicklich auf und fand, daß Briggs mit einem von Alp und Kummer gedunsenen Gesicht, so daß man kaum seine Augen sah, eben die Stiefel anzog, während Tozer in sehr übler Laune schaudernd dastand und sich die Schultern rieb. Weil Paul nicht daran gewöhnt war, konnte er sich nicht leicht selbst ankleiden und bat daher seine Zimmergenossen, sie möchten die Güte haben, ihm einige Schnüre zuzuknöpfen. Da aber Briggs bloß hierauf erwiderte: »Possen« und Tozer meinte: »Sonst nichts!« ging er, sobald er im übrigen fertig war, nach dem nächsten Stockwerk hinunter, wo er ein hübsches junges Frauenzimmer in ledernen Handschuhen an einem Ofen lehnen sah. Das Mädchen schien sich über sein Aussehen zu verwundern und fragte ihn, wo seine Mutter sei; als ihr aber Paul sagte, sie sei tot, nahm sie ihre Handschuhe ab und tat, was er verlangte. Außerdem rieb sie ihm die Hände, um ihn zu wärmen, gab ihm einen Kuß und bedeutete ihm, so oft er etwas der Art brauche – sie meinte damit seinen Anzug – so solle er nur nach Melia fragen. Nachdem Paul herzlich gedankt und ihr versprochen hatte, er werde dies gewiß tun, schlich er nach dem Zimmer hinunter, in welchem die Gentlemen ihre Studien aufnehmen sollten; als er aber auf diesem Wege an einer halb angelehnten Tür vorbeikam, rief ihm hinter derselben eine Stimme zu: »Ist dies Dombey?«

»Ja, Ma’am«, versetzte Paul, denn er erkannte darin die Stimme der Miß Blimber.

»Nur herein, Dombey«, versetzte die junge Dame.

Und Paul entsprach der Aufforderung.

Miß Blimber sah genau wieder so aus wie gestern, nur daß sie jetzt ein großes Halstuch anhatte. Ihre kleinen blonden Locken waren so kraus wie nur je; auch hatte sie bereits ihre Brille auf, so daß Paul gar zu gern hätte wissen mögen, ob sie sich am Ende nicht auch mit derselben schlafen lege. Das Stübchen war ihr eigenes sternchenland.com und hatte einige Bücher als Ausstattung; aber Feuer war nirgends zu sehen. Miß Blimber fror es nie, und sie wurde nie schläfrig.

»Nun, Dombey«, sagte Miß Blimber, »ich mache einen Ausgang wegen meiner Konstitution.«

Paul wunderte sich, was dies sein möchte und warum sie bei so schlechtem Wetter nicht lieber den Bedienten fortschickte, um es zu holen; indes enthielt er sich jeder Bemerkung über den Gegenstand, da seine Aufmerksamkeit ganz von einem Häufchen neuer Bücher in Anspruch genommen war, mit denen sich Miß Blimber kürzlich beschäftigt zu haben schien.

»Es sind die deinen, Dombey«, sagte Miß Blimber.

»Alle, Ma’am?« fragte Paul.

»Ja«, entgegnete Miß Blimber; »und Mr. Feeder wird bald noch mehr für dich auftreiben, wenn du so fleißig studierst, als ich von dir erwarte, Dombey.«

»Danke schön«, sagte Paul.

»Ich mache also einen Ausgang wegen meiner Konstitution«, nahm Miß Blimber wieder auf, »und während ich fort bin – das heißt, von jetzt an bis zum Frühstück, Dombey – wünsche ich, daß du alles überliest, was ich dir in diesen Büchern angemerkt habe. Du sagst mir dann, ob du vollkommen verstanden hast, was du daraus lernen sollst. Verliere keine Zeit damit, denn du hast keine übrig, sondern nimm die Bücher hinunter und fange augenblicklich an.«

»Ja, Ma’am«, antwortete Paul.

Es waren ihrer so viele, daß das mittlere, obgleich Paul die eine Hand unter das unterste, die andere aber und sein Kinn auf das oberste legte, hinausglitt, noch ehe er die Tür erreicht hatte, und dann purzelten sie alle auf den Boden. Miß Blimber sagte: »O Dombey, Dombey, dies ist in der Tat sehr unachtsam«, und schichtete sie von neuem auf. Diesmal gelang es auch unter sorgfältiger Beachtung des Gleichgewichts, daß Paul zum Zimmer hinauskam und schon einige Treppen zurückgelegt hatte, ehe wieder einige davon Reißaus nahmen. Die übrigen packte er aber so fest, daß bloß auf dem ersten Boden und dann in dem Hausflur wieder eins abhanden kam. Die Hauptmasse legte er sodann in dem Schulzimmer nieder, worauf er abermals die Treppen hinaufstieg, um die Nachzügler zu sammeln. So war denn endlich die ganze Bibliothek beisammen, und er kletterte auf seinen Stuhl hinauf, um die Arbeit zu beginnen, ermutigt durch eine Bemerkung Tozers, der meinte, jetzt fange es bei ihm an. Dies war übrigens die einzige Unterbrechung, die bis zur Frühstückszeit stattfand. Bei dieser Mahlzeit, für die er jedoch keinen Appetit mitbrachte, war alles ebenso feierlich und gentil wie bei den andern, und nachdem sie beendigt war, nahm ihn Miß Blimber die Treppe hinauf.

»Nun, Dombey«, sagte Miß Blimber, »wie bist du mit diesen Büchern zurechtgekommen?«

Sie enthielten ein wenig Englisch und viel Lateinisch – Namen von Dingen, die Deklination von Artikeln und Substantiven, Übungen sternchenland.com darüber und einleitende Regel – ein bißchen Orthographie, einen Blick in die alte Geschichte, ein paar in die neue, etliche Tabellen, zwei oder drei Tafeln über Maß und Gewicht und endlich einige allgemeine Belehrungsgegenstände. Nachdem der arme Paul Nummer zwei durchbuchstabiert hatte, fand er, daß er auch nicht die mindeste Vorstellung von Nummer eins hatte; Bruchstücke davon drängten sich ihm nachher in Nummer drei auf, und dies glitt mit in Nummer vier hinüber, welche sich ihrerseits auf Nummer zwei gründete. Er konnte deshalb durchaus nicht mit sich klar werden, ob zwanzig Romulusse einen Remus machten, ob hic, haec, hoc zum Apothekergewicht gehöre, ob ein Verbum stets sich nach einem alten Britonen richte, oder ob dreimal vier taurus ein Stier sei.

»O Dombey, Dombey!« rief Miß Blimber. »Dies ist ja entsetzlich!«

»Wenn Ihr’s erlauben wolltet«, sagte Paul, »ich glaube, es würde schon besser gehen, wenn ich nur bisweilen ein wenig mit dem alten Glubb mich unterhalten dürfte.«

»Unsinn, Dombey«, sagte Miß Blimber. »Ich will nichts davon hören. Dies ist kein Platz für Glubbse irgendeiner Art. Ich sehe schon, Dombey, du mußt die Bücher eines nach dem andern vornehmen und dich zuerst mit dem Gegenstande A bekannt machen, ehe du überhaupt zu dem Gegenstande B übergehst, und nun sei so gut, das oberste Buch mitzunehmen, Dombey; du kommst dann wieder zu mir, wenn du den Stoff gemeistert hast.«

Miß Blimber drückte ihre Ansicht über Pauls Unwissenheit mit einer gewissen düstern Wonne aus, als hätte sie ein solches Resultat erwartet und freue sich, zu finden, daß sie in stetigem Verkehr bleiben würden. Paul entfernte sich, wie ihm geheißen worden, mit dem ersten Buche und arbeitete in dem Schulzimmer drauflos. Hin und wieder war ihm jedes Wort darin gegenwärtig; dann vergaß er sie aber insgesamt wieder und alles andere mit, und als er es zuletzt wagte, wieder hinaufzugehen, um das Gelernte herzusagen, verlor sich fast alles wieder aus seinem Kopfe, noch ehe er angefangen hatte; denn Miß Blimber schloß das Buch und sagte: »Nur zu, Dombey!« – ein Verfahren, das so deutlich ihre Bekanntschaft mit dem Inhalt verriet, daß Paul die junge Dame bestürzt ansah, als sei sie eine Art gelehrter Guy Faux oder eine künstliche Vogelscheuche, mit schulgerechtem Stroh dick ausgestopft. Gleichwohl machte er seine Sache nicht übel, und Miß Blimber, die ihn wegen des verheißungsvollen Anfangs lobte, versah ihn sogleich mit dem Gegenstand B, von dem er noch vor dem Mittagessen zu C und sogar zu D überging. Daß er so bald nach der Mahlzeit seine Studien wieder aufnehmen sollte, kam ihm sehr hart vor, denn er fühlte sich schwindlig, verwirrt und schläfrig. Indes erging es sämtlichen jungen Gentlemen ebenso, und dennoch mußten auch sie an ihre Studien gehen – einiger Trost wenigstens, wenn man’s so nennen kann. Es war ein Wunder, daß die große Uhr in der Halle stets nur auf ihrer ersten Frage beharrte sternchenland.com und nie sagte: »Gentlemen, wir wollen jetzt unsere Studien aufnehmen«; denn diese Phrase wurde jedenfalls oft genug in ihrer Umgebung wiederholt. Die Studien machten ihren Umgang wie ein großes Rad, und die jungen Gentlemen waren stets darauf geflochten.

Nach dem Tee fingen die Übungen abermals an, und bei Kerzenlicht wurden die Vorbereitungen für den nächsten Tag vorgenommen. Im Laufe der Zeit kam denn nun das Zubettgehen, und auf dem Lager fand man Ruhe und süßes Vergessen, wenn sich nicht die Wiederaufnahme der Studien in die Träume mischte.

O Sonnabende! o glückliche Sonnabende, an denen Florence stets nachmittags kam und selbst beim schlechtesten Wetter nicht wegbleiben mochte, gleichviel wie sehr Mrs. Pipchin darüber schalt, knurrte und das arme Mädchen quälte. Diese Sonnabende waren neben der ganzen Judenschaft zugleich auch Sabbate für zwei kleine Christen und dienten dem heiligen Sabbatwerke, die Liebe eines Bruders und einer Schwester inniger zu knüpfen.

Nicht einmal die Sonntagabende – die schweren Sonntagabende, deren Schatten den ersten erwachenden Lichtstrahl der Sonntagmorgen verdüsterten – konnten diese köstlichen Sonnabende vergällen. Paul kümmerte sich nicht darum, ob sie an der weiten Seeküste zugebracht wurden, wo sie beieinander saßen und miteinander lustwandelten, oder ob sie sich nur in Mrs. Pipchins öder Hinterstube befanden, wo sie ihm so sanft zusang, während er das schläfrige Köpfchen auf ihren Arm lehnte. Alles andere war ihm nichts – nur Florence sein einziger Gedanke. Wenn dann an Sonntagabenden die unheimliche Tür des Doktors offen stand, um ihn wieder für eine Woche zu verschlingen, so fand er nur noch Zeit zum Abschied für Florence, für niemand anders.

Mrs. Wickham war nach dem Hause in London zurückversetzt worden, und Miß Nipper, nunmehr ein stattliches junges Frauenzimmer, hatte in Brighton ihre Stelle ersetzen müssen. Wie manchem Einzelkampfe mit Mrs. Pipchin widmete sich nicht Miß Nipper ritterlich, und wenn je erstere in ihrem ganzen Leben einen ebenbürtigen Gegenpart gefunden hatte, so war dies jetzt der Fall. Miß Nipper warf schon am ersten Morgen, den sie in Mrs. Pipchins Hause zubrachte, die Scheide ihres Säbels weg und verlangte ebensowenig Pardon, als sie ihn selbst gewährte. Sie sagte, es müsse Krieg sein, und so war es auch. Mrs. Pipchin lebte von Stunde an unter einem fortwährenden System von Überraschungen, Plackereien und Herausforderungen; ja, die Scharmützel trafen sie sogar von dem Flur aus in dem unbewachten Augenblicke der Hammelrippchen und vergällten ihr jede Röstschnitte.

Als nach einem Abendgang mit Paul nach dem Hause des Doktors Sonntags Miß Nipper mit Florence nach Hause zurückkehrte, holte letztere aus ihrem Busen einen kleinen Papierstreifen hervor, auf dem sie einige Worte aufgezeichnet hatte.

»Seht her, Susanna«, sagte sie. »Dies sind die Titel der kleinen Bücher, die Paul noch lernen soll, wenn er schon von den langen sternchenland.com Übungen ermattet ist. Ich habe sie gestern abend aufgezeichnet, als er schrieb.«

»O, seid so gut, es mir nicht zu zeigen, Miß Floy«, entgegnete Nipper. »Ich möchte ebensogern Mrs. Pipchin sehen.«

»Ich möchte Euch bitten, Susanna, daß Ihr sie morgen früh für mich kauft«, sagte Florence. »Mein Geld reicht wohl.«

»Ei, du meine Güte, Miß Floy«, erwiderte Miß Nipper, »wie mögt Ihr nur auch so sprechen, da Ihr schon Bücher über Bücher habt, und Lehrer und Lehrerinnen dazu, die Euch ohne Unterlaß alles lehren, obschon ich glaube, Miß Dombey, Euer Papa würde nie daran gedacht haben, Euch etwas lernen zu lassen, wenn Ihr ihn nicht darum gebeten hättet und er es deshalb nicht gut abschlagen konnte. Ja, Miß, es ist ein großer Unterschied, etwas zu tun, wenn man darum angegangen wird, und sich zu etwas unaufgefordert zu erbieten. Ich habe vielleicht nichts dagegen einzuwenden, wenn mir ein junger Mann Gesellschaft leistet, und sage vielleicht ja, falls er mich darum ersucht; dies ist aber etwas ganz anderes, als wenn ich sagen wollte: ›Mögt Ihr nicht so gut sein, mich gerne zu haben‹.«

»Aber Ihr könnt mir ja die Bücher kaufen, Susanna, und Ihr werdet es auch tun, wenn Ihr wißt, warum ich sie wünsche.«

»Gut, Miß; und warum wünscht Ihr sie?« versetzte Nipper und fügte dann in gedämpfter Stimme bei: »Handelt sich’s darum, sie Mrs. Pipchin an den Kopf zu werfen, so will ich Euch eine ganze Wagenlast bringen.«

»Ich glaube, Susanna, wenn ich diese Bücher habe, bin ich vielleicht imstande, Paul einige Hilfe zu leisten«, sagte Florence. »Möglich, daß ihm für die nächste Woche eine kleine Erleichterung dadurch kommt. Ich möchte es wenigstens versuchen. Kauft mir sie also, meine Liebe, und ich werde Euch diese Freundlichkeit nie vergessen.«

Es hätte ein härteres Herz dazu gehört, als das von Susanna Nipper war, um die kleine Börse, die Florence ihr bei diesen Worten darbot, zurückzuweisen, oder dem flehenden Blicke, womit sie ihr Gesuch begleitete, zu widerstehen. Susanna nahm ohne Widerrede das Geld zu sich und machte sich unverweilt auf den Weg, um dem Anliegen zu entsprechen.

Die Bücher waren nicht leicht zu bekommen, denn in den Buchläden lautete in der Regel die Antwort, sie seien eben erst ausgegangen, würden gar nicht geführt, haben sich im letzten Monat in großer Menge vorgefunden oder es würde nächste Woche reichlich Vorrat sein. Susanna war übrigens nicht so bald zu ermüden; denn nachdem sie einen weißhaarigen Jüngling in einer schwarzen Kattunschürze, der in einer ihr bekannten Buchhandlung angestellt war, veranlaßt hatte, sie bei ihrem Nachforschungsgange zu unterstützen, führte sie ihn auf eine Weise hin und her, daß er, nur um sie endlich loszuwerden, sein Äußerstes aufbot und sie dadurch in die Lage setzte, zuletzt einen triumphierenden Heimzug zu feiern.

Nach Beendigung der eigenen täglichen Aufgaben setzte sich nun sternchenland.com Florence abends mit diesen Schätzen nieder, um Pauls Fußstapfen über die dornigen Wege der Gelehrsamkeit zu folgen. Sie besaß von Natur gute Anlagen, und Dank sei es jenem wunderbaren Lehrer, der Liebe – es dauerte nicht lange, bis sie Paul nachgekommen und ihn sogar überholt hatte.

Nicht eine Silbe hiervon verlautete zu Mrs. Pipchin. Aber manche Nacht, wenn alle andern Leute im Bett lagen und Miß Nipper mit aufgewickelten Locken und in sehr unbequemer Stellung an ihrer Seite schlummerte – wenn die Asche im Kamin kalt und grau, die Kerze aber fast niedergebrannt war, gab sich Florence so angelegentlich Mühe, für einen kleinen Dombey zu arbeiten, daß ihr Eifer und ihre Ausdauer ihr fast ein gutes Recht hätten erringen können, diesen Namen selbst zu tragen.

Und wie groß war ihr Lohn, als sie eines Sonnabends, als der kleine Paul in der gewohnten Weise »seine Studien wieder aufnehmen« wollte, an seiner Seite Platz nahm und ihm zeigte, wie für ihn alles Rauhe geebnet und alles Dunkle klar und deutlich gemacht worden sei. Es war nur der Ausdruck der Verwunderung in Pauls bleichem Gesicht – ein Erröten, ein Lächeln – und dann eine innige Umarmung; aber Gott weiß, wie ihr das Herz hupfte bei dieser reichen Belohnung für ihre Mühe.

»O Floy!« rief ihr Bruder. »Wie liebe ich dich! wie liebe ich dich, Floy!«

»Und ich dich, mein Teurer!«

»O, dies weiß ich wohl, Floy!«

Er sprach nicht weiter darüber, aber jenen ganzen Abend saß er in größter Ruhe bei ihr, und nachts rief er aus dem kleinen Alkoven, in dem er schlief, ihr drei- oder viermal zu, daß er sie liebe.

Und fortan war Florence regelmäßig vorbereitet, an Sonnabenden mit Paul zu lernen und in größter Geduld für die Arbeit der nächsten Woche ihm einen möglichst großen Vorsprung zu gewinnen. Der ermunternde Gedanke, daß er an dem weiterspinne, was Florence kurz zuvor um seinetwillen getan hatte, war natürlich unserem Paul ein Sporn für die stetige Aufnahme seiner Studien; da aber hieraus noch eine wesentliche Erleichterung seiner Last erwuchs, so verdankte er diesem Beistand wahrscheinlich, daß er nicht unter der Bürde erlag, die die blonde Cornelia Blimber seinem Rücken im Übermaße auflud.

Wir wollen damit nicht sagen, daß Miß Blimber ihn hart behandelte oder Doktor Blimber seine jungen Gentlemen allzu schwer anzuspannen beabsichtigte. Cornelia hielt sich allein an das Glaubensbekenntnis, in dem sie erzogen worden war, und der Doktor betrachtete in einer teilweisen Verwirrung seiner Ideen die jungen Gentlemen in einem Lichte, als wären sie lauter Doktoren und mit den Eigenschaften dieser akademischen Würde schon in die Welt getreten. Der Beifall, den ihm die nächsten Verwandten der jungen Gentlemen zollten, trug natürlich nur dazu bei, die blinde Eitelkeit und unüberlegte Hast der Familie zu steigern; es hätte daher allerdings sternchenland.com wundernehmen müssen, wenn Doktor Blimber seinen Irrtum entdeckt oder seine schwellenden Segel in anderer Weise angeholt haben würde.

Und so ging es nun auch mit Paul. Sobald Doktor Blimber die Meldung machte, der Knabe habe von Natur gute Anlagen und schreite rasch voran, war Mr. Dombey nur um so mehr darauf versessen, daß man seinen Sohn ansporne und alles mögliche in ihn hineinstopfe; aber ebenso unerbittlich ließ sich der alte Mr. Briggs in ähnlicher Art vernehmen, als ihm der Lehrer berichtete, daß Briggs junior nur geringe Anlagen habe und schlechte Fortschritte mache. Mit einem Worte, wie hoch und wie unzweckmäßig auch die Temperatur sein mochte, in der der Doktor sein Treibhaus erhielt – die Eigentümer der Pflanzen waren stets bereit, an die Blasbälge Hand zu legen und das Feuer zu schüren.

Der Frohsinn, den Paul im Anfang mitgebracht hatte, ging natürlich bald verloren. Dagegen aber erhielt sich alles Seltsame, Alte und Gedankenvolle in seinem Charakter; ja es entwickelte sich sogar noch weit stärker, da die Umstände hierzu sogar förderlich waren.

Der einzige Unterschied, der stattfand, bestand darin, daß er seinen Charakter für sich behielt. Er wurde zwar mit jedem Tage gedankenvoller und zurückhaltender, gewann aber nicht dieselbe Teilnahme an irgendeinem lebenden Wesen in dem Hause des Doktors, wie dies bei Mrs. Pipchin der Fall gewesen. Er blieb gern allein, und in den kurzen Zwischenräumen, in denen er nicht von seinen Büchern in Anspruch genommen war, beschäftigte er sich am liebsten damit, daß er einsam im Hause umherlief oder auf der Treppe saß, um der großen Uhr in der Halle zuzuhören. Die Tapeten der Zimmer hatte er durch und durch studiert; er sah in den Bildern Dinge, die niemand sonst bemerkte, fand kleine Tiger und Löwen, die an den Wänden der Schlafzimmer hinausliefen, und entdeckte sogar schielende Gesichter in den Vierecken der Bodenteppiche. Kurz, der Knabe lebte einsam fort, umgeben von der Arabeskenarbeit seiner sinnenden Phantasie, und niemand begriff ihn. Mrs. Blimber hielt ihn für »wunderlich«, und bisweilen sagten die Dienstboten unter sich, mit dem kleinen Dombey sei es nicht richtig; damit aber hatte es sein Bewenden.

Vielleicht hatte nur der junge Toots in betreff der Sache den Schatten einer Idee, obschon er durchaus nicht imstande war, ihr einen Ausdruck zu verleihen. Wie mit Gespenstern muß man sich auch mit Ideen vorher ein wenig benehmen, ehe sie sich selbst aufklären, und Toots hatte längst aufgehört, an seinen Geist Fragen zu stellen. Mag sein, daß hin und wieder aus dem bleiernen Helm seines Schädels ein Nebel hervorging, der, wenn er Form und Gestalt hätte gewinnen können, den Mann zu einem Genie gemacht haben würde; da aber dies nicht der Fall war, so ahmte er nur das Beispiel des Rauchs in dem Märchen der Scheherezade nach, der in einer dicken Wolke herauswogte und in der Luft schweben blieb. Immerhin blieb übrigens auf einer einsamen Küste eine kleine Figur sichtbar, und Toots stierte unaufhörlich darnach hin.

»Wie geht’s dir?« konnte er wohl fünfzigmal des Tages unsern kleinen Paul fragen.

»Ganz gut, Sir, danke«, pflegte Paul zu antworten.

»Gib mir deine Hand«, ließ Toots darauf folgen.

Natürlich tat Paul dies ohne Zögern, und Mr. Toots sagte dann in der Regel, nachdem er den Kleinen unter schwerem Atmen eine lange Weile angestiert hatte, »wie geht’s dir?« Paul antwortete dann wieder, »ganz wohl, Sir, danke.«

Eines Abends saß Mr. Toots, von seiner Korrespondenz gewaltig in Anspruch genommen, an seinem Pult, als ein großer Gedanke in ihm aufzublitzen schien. Er legte seine Feder nieder und machte sich auf, um Paul zu suchen, den er endlich nach langem Spähen in dem Schlafstübchen fand, wie er eben zum Fenster hinaussah.

»He!« rief Toots in dem Moment, in dem er das Stübchen betrat, um seinen Zweck nicht zu vergessen; »an was denkst du?«

»O, ich denke an sehr viele Dinge«, versetzte Paul.

»Wirklich?« entgegnete Toots; und es hatte den Anschein, als ob er in dieser Tatsache etwas ungemein Überraschendes finde.

»Wenn Ihr sterben müßtet –« sagte Paul zu seinem Gesicht aufblickend.

Mr. Toots stutzte und war sichtlich sehr beunruhigt.

»Glaubt Ihr nicht, Ihr würdet es lieber tun in einer mondhellen Nacht, wenn der Himmel vollkommen klar wäre und der Wind bliese wie in der letzten Nacht?«

Mr. Toots sah Paul zweifelnd an, schüttelte den Kopf und versetzte, er wisse nicht, was er damit meine.

»Es war wenigstens kein Stürmen«, fuhr Paul fort, »sondern die Luft tönte, wie das Rauschen des Meeres in den Muscheln. Eine schöne Nacht! Nachdem ich geraume Zeit dem Wasser zugehört hatte, stand ich auf und sah hinaus. Dort drüben schwamm ein Boot in vollem Licht des Mondes – ein Boot mit einem Segel.«

Das Kind sah ihn fest an und sprach so eifrig, daß Mr. Toots wohl fühlte, er müsse etwas über dieses Boot sagen. Seine Erwiderung lautete daher »Schmuggler«; weil er sich aber unparteiisch erinnerte, daß jede Frage zwei Seiten habe, so fügte er hinzu: »oder Zollschutzwache«.

»Ein Boot mit einem Segel im vollen Licht des Monds«, wiederholte Paul. »Das Segel sah aus wie ein Arm ganz von Silber. Es entfernte sich mehr und mehr, und was glaubt Ihr wohl, was es zu tun schien, als es sich mit den Wellen bewegte?«

»Es schwankte«, sagte Mr. Toots.

»Es schien zu winken«, sagte das Kind, »als wünsche es, daß ich komme! – Da ist sie! – Da ist sie!«

Nach den Vorgängen entsetzte sich Toots höchlich ob diesem plötzlichen Ausruf und erwiderte:

»Wer?«

»Meine Schwester Florence!« rief Paul. »Sie sieht herauf und sternchenland.com winkt mit ihrer Hand. Sie sieht mich! Sie sieht mich – gute Nacht, Liebe, gute Nacht, gute Nacht!«

Der rasche Übergang in einen Zustand überschwenglicher Freude, während der Knabe unter Kußhändchen und Händeklatschen am Fenster stand, wie auch die Art, in der das Licht bei dem Verschwinden der Schwester sich in seinen Zügen verlor und eine geduldige Schwermut auf dem Gesichtchen zurückließ, war zu auffallend, um nicht auch auf einen Menschen wie Toots Eindruck zu machen. Sie wurden jedoch in diesem Augenblick durch einen Besuch von Mrs. Pipchin unterbrochen, die ein- oder zweimal in der Woche Paul just vor Einbruch der Dunkelheit mit ihren schwarzen Gewändern zu erfreuen pflegte, und Toots hatte daher nicht Zeit, die Gelegenheit weiter zu benützen; sie machte übrigens auf sein Gemüt einen so tiefen Eindruck, daß er nach dem Austausch der gewöhnlichen Begrüßungen zweimal wieder zurückkehrte, um Mrs. Pipchin zu fragen, wie sie sich befinde. Die zornige alte Dame nahm dies für eine tief angelegte und lang beabsichtigte Kränkung, hervorgegangen aus dem diabolischen Erfindungsgeist des blödsichtigen jungen Mannes drunten, und legte deshalb noch selbigen Abend gegen letzteren bei Doktor Blimber Beschwerde ein, worauf dieser den beschuldigten jungen Menschen vorlud und ihm zu verstehen gab, wenn er je wieder Ähnliches sich zu Schulden kommen lasse, werde er ihn fortjagen müssen.

Da die Abende jetzt länger wurden, schlich sich Paul regelmäßig nach seinem Fenster hinauf, um sich nach Florence umzusehen. Sie ging stets zu einer gewissen Stunde hin und her, bis sie seiner ansichtig wurde, und das wechselseitige Erkennen war ein Sonnenstrahl in Pauls täglichem Leben. Nach Einbruch der Dunkelheit ging oft auch eine andere Gestalt einsam vor dem Hause des Doktors hin und her. Mr. Dombey suchte jetzt nur selten an Sonnabenden die Gesellschaft der Kleinen, denn er konnte es nicht ertragen. Lieber wollte er unerkannt kommen und zu dem Fenster hinaufsehen, wo sein Sohn sich zu einem Manne bildete – wartend und harrend, Pläne schmiedend und hoffend.

O hätte er nur sehen können – oder hätte er mit den Augen anderer gesehen, wie der zarte schmächtige Knabe oben im Dämmerlicht nach den Wellen und Wolken hinschaute – mit welch sehnsüchtigen Blicken er sich zum Fenster seines einsamen Käfigs hinausbog, wenn die Vögel vorbeiflogen, als wünsche er sich selbst Schwingen, um mit ihnen wetteifern zu können, im Fluge hinaus in die Freiheit. sternchenland.com

Dreizehntes Kapitel.


Dreizehntes Kapitel.

Mr. Dombeys Bureau.

Mr. Dombeys Geschäftslokale befanden sich in einem Hofraum, an dessen Ecke eine altmodische Bude stand, wo auserlesene Früchte feilgeboten wurden. Man sah daselbst herumziehende Händler beiderlei Geschlechts, die zwischen den Stunden zehn und fünf unaufhörlich Pantoffel, Taschentücher, Schwämme, Hundehalsbänder und Windsor-Seife, bisweilen auch einen Hühnerhund oder ein Ölgemälde verkaufen wollten.

Der Hühnerhund mußte stets diesen Weg machen als Spekulation auf die Stockbörse, weil daselbst eine gewisse Wettlust, die ursprünglich aus dem Halten auf neue Hüte hervorging, sehr im Schwung ist. Die übrigen Handelsartikel galten dem Publikum im allgemeinen, wurden aber von den Verkäufern nie Mr. Dombey angeboten. Im Gegenteil, wenn er auftrat, zogen sich diejenigen, die in solchen Waren Geschäfte machten, achtungsvoll zurück. Der Haupt-Pantoffel- und Hundehalsbandmann, der sich selbst für einen öffentlichen Charakter hielt, und dessen Porträt an der Tür eines Künstlers in Cheapside befestigt war, fuhr mit dem Zeigefinger an den Rand seines Hutes, so oft Mr. Dombey vorbeiging, und der Zettelträger, falls er nicht eben in einem Geschäft abwesend war, lief stets diensteifrig voraus, um Mr. Dombeys Bureautür so weit als möglich zu öffnen, und sie mit abgezogenem Hut offen zu halten, bis der große Mann eingetreten war. Die Angestellten im Innern blieben gleichfalls nicht um ein Tüpfelchen zurück in ihren Achtungsbezeugungen. Feierliches Schweigen herrschte, wenn Mr. Dombey durch das äußere Bureau kam, und der Witzling des Kontors wurde im Nu so stumm, wie die Reihe lederner Feuereimer, die hinter ihm hing. Das schale, dumpfe Licht, das durch die Fenster sickerte und auf den Scheiben einen schwarzen Bodensatz zurückließ, zeigte die Bücher, die Papiere und die darüber hingebeugten Gestalten in ein eifriges Halbdunkel gehüllt und dem Anschein nach von der Außenwelt so abgeschieden, als wären sie auf dem Boden des Meeres versammelt, während ein modriger kleiner Raum in dunkler Perspektive, wo stets eine beschirmte Lampe brannte, die Höhle irgendeines Seeungeheuers darstellen konnte, das mit rotem Auge alle diese Geheimnisse der Tiefe betrachtete.

So oft Perch, der Ausläufer, dessen Platz auf einem kleinen Tritt von der Größe eines Zifferblattes war, Mr. Dombey hereinkommen sah – oder vielmehr, so oft er fühlte, daß er komme, denn gewöhnlich empfand er instinktartig dessen Annäherung – so eilte er in das Zimmer des Prinzipals, schürte das Feuer, brachte frische Kohlen aus der Kohlentruhe, hing die Zeitung zum Lüften über den Ständer, rückte den Stuhl zurecht, brachte den Schirm an seinen Platz und hatte bei Mr. Dombeys Eintritt schon rechtsum gemacht, um ihm sternchenland.com Hut und Überrock abzunehmen. Dann griff er nach der Zeitung, faltete sie vor dem Feuer zurecht und legte sie ehrerbietig neben Mr. Dombey hin. Ja, Perch hatte so wenig dagegen, im höchsten Grad unterwürfig zu sein, daß er nur um so glücklicher gewesen sein würde, wenn er sich selbst zu Mr. Dombeys Füßen legen oder ihn mit einem Titel hätte anreden können, wie er vorzeiten dem Kalifen Harun al Raschid verliehen wurde.

Da übrigens eine solche Ehrenbezeugung eine Neuerung und ein Experiment gewesen wäre, so mußte sich Perch zufrieden geben, die Phrase »du bist das Licht meiner Äugen – du bist der Atem meiner Seele – du bist der Beherrscher des gläubigen Perch!« so gut er konnte, in seiner eigenen Weise auszudrücken. Mit diesem nur unvollkommen ermutigenden Glücksgefühl pflegte er sachte die Tür zu schließen, auf den Zehen hinwegzuschleichen und seinen großen Häuptling zurückzulassen, damit derselbe durch ein gotisch geformtes Fenster in den Bleidächern, durch häßliche Schornsteinfirste und Hinterhäuser, namentlich aber durch das kecke Fenster eines Haarschneidesalons auf dem ersten Stock angestiert werden könne, wo eine Wachsfigur, am Morgen kahl wie ein Muselmann und mittags nach elf Uhr mit üppigem Haar und Backenbart in der neuesten christlichen Mode, ihm stets die Hinterseite seines Kopfes zeigte.

Zwischen Mr. Dombey und der gemeinen Außenwelt, sofern sie zugänglich war durch das Medium des äußeren Bureaus, auf das Mr. Dombeys Gegenwart in seinem eigenen Zimmer sozusagen wie feuchte oder kalte Luft einwirkte, gab es zwei Höhenabstufungen. Mr. Carker in seinem Geschäftszimmer bildete die erste, Mr. Morfin in dem seinigen die zweite. Jeder von diesen Gentlemen nahm ein kleines Gemach ähnlich einem Badstübchen ein, die beide an der Außenseite von Mr. Dombeys Tür nach dem Flur hinausgingen. Mr. Carker bewohnte als Großvezier dasjenige Gelaß, das dem des Sultans am nächsten war, und Mr. Morfin als ein Beamter von untergeordneter Stellung behauptete das Stübchen, das an das Geschäftslokal der Angestellten grenzte.

Der letztgenannte Gentleman war ein heiter aussehender ältlicher Junggeselle mit nußbraunem Auge, der seine oberen Partien in Schwarz, die Beine aber gewöhnlich in eine Pfeffer- und Salzfarbe kleidete. Sein dunkles Haar zeigte da und dort einen Anflug von Grau, als hätte der Tritt der Zeit seine Sprenkeln zurückgelassen, und sein Backenbart war bereits schneeweiß. Er hatte gewaltigen Respekt vor Mr. Dombey und zollte ihm die gebührende Huldigung; da er aber ein heiteres Temperament hatte und sich in der stattlichen Gegenwart seines Prinzipals nie recht behaglich fühlen konnte, so quälte ihn keine Eifersucht wegen der vielen Konferenzen, deren sich Mr. Carker zu erfreuen hatte. Im Gegenteil, er fühlte sich in seinem Innern befriedigt, daß er Obliegenheiten zu verrichten hatte, die ihm nur selten eine derartige Auszeichnung zukommen ließen. Nach den Geschäftsstunden zeigte er sich als eifriger musikalischer Dilettant, und er hatte eine wahrhaft väterliche Zuneigung zu seinem sternchenland.com Violoncello, das jede Woche einmal aus seiner Wohnung zu Islington nach einem gewissen Klubzimmer in der Nähe der Bank geschafft wurde, wo an Dienstagabenden von einer Privatgesellschaft die ohrzerreißendsten Quartette aufgeführt wurden.

Mr. Carter mochte etwa achtunddreißig oder vierzig Jahre zählen. Er war ein Mann von blühender Gesichtsfarbe und hatte zwei ununterbrochene Reihen glänzender Zähne, deren Regelmäßigkeit und Weiße einem eigentlich Besorgnisse einflößten. Es war unmöglich, daß sie sich dem Beobachter entzogen; denn der Besitzer zeigte sie stets, so oft er sprach, und hatte in seinem Gesicht ein so breites Lächeln – ein Lächeln, das sich übrigens selten über die Grenzen seines Mundes hinaus erstreckte – daß man unwillkürlich an das Pfauchen einer Katze erinnert wurde. Nach dem Beispiel seines Prinzipals hatte er eine große Vorliebe für eine steife, weiße Halsbinde; auch war er stets in einen knapp anliegenden und vollständig zugeknöpften Anzug gekleidet. Sein Benehmen gegen Mr. Dombey war tief durchdacht und darnach abgemessen; er stand vertraut mit ihm bis an die äußerste Grenze seines Gefühls der Entfernung, die zwischen ihnen stattfand. »Mr. Dombey, einem Mann von Eurer Stellung gegenüber gibt es für einen Mann von der meinigen in Geschäftssachen keinen Grad von Dienstwilligkeit, den ich für zureichend halten könnte, und sage Euch daher offen, Sir, daß ich das Erforderliche lieber vornweg aufgebe. Ich empfinde, daß ich mein inneres Gefühl doch nicht befriedigen kann, und der Himmel weiß, Mr. Dombey, Ihr seid in der Lage, mir die Mühe zu erlassen.« Wenn er diese Worte auf einem Plakat gedruckt mit sich herumgetragen und auf der Brust seines Rockes unaufhörlich Mr. Dombey zum Lesen dargeboten haben würde, so hätte er sich unmöglich bestimmter erklären können, als dies in seinem ganzen Verhalten ausgedrückt war. Dies war Mr. Carker, der Geschäftsführer, Mr. Carker junior, Walters Freund, war sein Bruder und zwei oder drei Jahre älter als der erstgenannte, stand aber vermöge seiner Stellung weit unter ihm. Der Posten des jüngeren Bruders bildete den obersten Teil in der offiziellen Leiter, die des ältesten den untersten. Der ältere Bruder hatte nie eine Sprosse errungen oder auch nur einen Fuß erhoben, um sie zu ersteigen. Junge Menschen gingen ihm über den Kopf weg, stiegen und fielen; er aber befand sich stets zu unterst. Er hatte sich vollkommen in dieses niedrige Verhältnis gefügt, beklagte sich nie darüber und hoffte auch sicherlich nicht, ihm je zu entkommen.

»Wie befindet Ihr Euch heute morgen?« fragte Mr. Carker eines Tages, als er bald nach Mr. Dombeys Ankunft mit einer Handvoll Papiere in dessen Zimmer trat.

»Wie geht’s Euch, Carker?« versetzte Mr. Dombey, sich von seinem Stuhl erhebend und den Rücken gegen das Feuer kehrend. »Habt Ihr da etwas für mich?«

»Ich weiß nicht, ob ich Euch behelligen muß«, entgegnete Carker, indem er in den Papieren blätterte. »Ihr wißt, heute um drei Uhr sollt Ihr einem Komitee beiwohnen.«

»Und einem anderen um dreiviertel auf vier«, fügte Mr. Dombey bei.

»Ja, ehe Ihr etwas vergeßt!« rief Carker noch immer in seinen Papieren blätternd. »Wenn Mr. Paul Euer Gedächtnis erbt, so wird er in diesem Hause ein lästiger Patron werden. Ein einziger ist schon genug.«

»Ihr habt ja selbst ein so gutes Gedächtnis«, sagte Mr. Dombey.

»O, ich?« erwiderte der Geschäftsführer. »Nun, es ist das einzige Kapital eines Mannes von meiner Stellung.«

Mr. Dombey sah nicht weniger pomphaft oder überhaupt mißvergnügt aus, als er so dastand, den Rücken gegen den Kaminsims gelehnt und seinen nichts ahnenden Buchhalter vom Kopf bis zu den Füßen musternd. Das Steife, die Nettigkeit in Mr. Carkers Anzug und eine gewisse Anmaßung in seinem Wesen, mochten diese nun natürlich oder einem nicht fernliegenden Vorbilde nachgeahmt sein, verliehen seiner Demut einen gewissen Nachdruck. Er sah wie ein Mann aus, der, wenn er könnte, gern ankämpfen möchte gegen die Gewalt, die ihn besiegte, sich aber dennoch durch die Größe und Überlegenheit Mr. Dombeys völlig niedergedrückt fühlte.

»Ist Morfin da?« fragte Mr. Dombey nach einer kurzen Pause, während der Mr. Carker mit seinen Papieren gerasselt und einiges aus deren Inhalt vor sich hin gemurmelt hatte.

»Jawohl«, antwortete er, mit einem sehr breiten plötzlichen Lächeln aufblickend; »er summt musikalische Reminiszenzen – wahrscheinlich von der Quartett-Partie des gestrigen Abends – durch die uns trennenden Wände und macht mich dadurch halb toll. Ich wünschte, er brauchte sein Violoncello zu einem Freudenfeuer und verbrennte seine Notenhefte darin.«

»Ich glaube, Ihr habt vor niemand Achtung, Carker«, sagte Mr. Dombey.

»Meint Ihr?« entgegnete Carker mit einem abermaligen breiten, katzenartigen Zeigen seiner Zähne. »Nun ja – ich glaube selbst auch, vor nicht vielen. Ich möchte vielleicht« – fügte er murmelnd hinzu, als spreche er nur in Gedanken für sich hin – »nicht für mehr als für Einen einstehen.«

Eine gefährliche Eigenschaft, wenn sie wirklich, und nicht minder gefährlich, wenn sie geheuchelt war. Aber Mr. Dombey, wie er so dastand, in voller Höhe aufgerichtet, den Nacken gegen das Feuer gekehrt und den Geschäftsführer mit einer würdevollen Fassung musternd, aus der mehr als gewöhnlich das verborgene Bewußtsein der Macht hervorzulauern schien – kam wohl kaum auf diesen Gedanken.

»Da wir eben von Morfin sprechen«, nahm Mr. Carker wieder auf, indem er aus den übrigen eines der Papiere sonderte – »er meldet, daß ein jüngerer Angestellter zu Barbados gestorben sei, und bittet darum, daß man in dem Sohn und Erben, der nach einem Monat ungefähr aussegeln wird, einen Platz als dessen sternchenland.com Nachfolger freihalten möchte. Ich kann mir denken, daß es Euch gleichgültig ist, wer geht. Hier haben wir niemand der Art.«

Mr. Dombey schüttelte mit supremer Gleichgültigkeit den Kopf.

»Es ist kein sehr schätzenswerter Posten«, bemerkte Mr. Carker, indem er eine Feder nahm, um auf der Hinterseite des Papiers eine Bemerkung aufzuzeichnen. »Ich hoffe, er wird sie einem verwaisten Neffen eines seiner musikalischen Freunde übertragen. Diesem kann auf solche Weise vielleicht das Fiedeln gelegt werden, wenn er etwa eine derartige Gabe besitzt. Wer ist da? Herein!«

»Ich bitte um Verzeihung, Mr. Carker. Ich wußte nicht, daß Ihr hier seid, Sir«, entgegnete Walter, der mit einigen unerbrochenen, neuangelangten Briefen hereinkam. »Mr. Carker junior, Sir – Sir –«

Bei Erwähnung dieses Namens durchzuckte es – wenigstens hatte es so den Anschein – Mr. Carker, den Geschäftsführer, bis ins Mark vor Scham und Demütigung. Er heftete seine Augen mit einem ganz veränderten abbittenden Blick auf Mr. Dombey, schlug sie sodann zu Boden und blieb für eine Weile stumm.

»Ich glaubte, Sir«, sagte er plötzlich in ärgerlicher Aufwallung zu Walter, »man habe Euch schon früher ersucht, Mr. Carker junior nicht in Eure Konversation zu mischen.«

»Ich bitte um Verzeihung«, entgegnete Walter. »Meine Absicht war bloß zu sagen, Mr. Carker junior habe mir mitgeteilt, er glaube, Ihr wäret ausgegangen, sonst würde ich mir nicht die Freiheit genommen haben, an die Tür zu klopfen, während Ihr mit Mr. Dombey etwas zu verhandeln hattet. Hier sind Briefe für Mr. Dombey.«

»Gut, Sir«, erwiderte Mr. Carker, der Geschäftsführer, indem er sie hastig seiner Hand entriß. »Geht wieder an Euer Geschäft.«

Als übrigens dem Überbringer die Briefschaften mit so wenig Umständen abgenommen wurden, entfiel ein Stück davon Carkers Hand, ohne daß es dieser bemerkte, und auch Mr. Dombey wurde des Papiers nicht gewahr, obschon es unmittelbar vor seine Füße hingeflogen war. Walter zögerte einen Augenblick, weil er glaubte, einer oder der andere werde darauf achthaben; da jedoch dies nicht geschah, machte er halt, kam zurück, hob den Brief auf und legte ihn auf Mr. Dombeys Pult. Die Briefe waren mit der Post eingelaufen, und zufälligerweise enthielt der letztere Mrs. Pipchins regelmäßigen Bericht, der, weil die gedachte Dame sich nicht gern mit der Feder abgab, wie gewöhnlich von Florence überschrieben war. Mr. Dombey, dessen Aufmerksamkeit in dieser stummen Weise von Walter auf die Handschrift seiner Tochter gelenkt worden war, wurde betroffen und warf dem jungen Menschen einen finstern Blick zu, als glaubte er, derselbe habe ihn absichtlich von den übrigen ausgelesen.

»Ihr könnt das Zimmer verlassen, Sir«, sagte Mr. Dombey stolz und zerknitterte den Brief in seiner Hand; sobald Walter das Zimmer verlassen hatte, steckte er ihn in die Tasche, ohne das Siegel zu erbrechen.

»Ihr sagtet«, bemerkte Mr. Dombey hastig, »man brauche jemand nach Westindien?«

»Ja«, versetzte Mr. Carker.

»So schickt den jungen Gay.«

»Gut – in der Tat sehr gut. Nichts leichter«, sagte Mr. Carker, ohne eine Spur von Überraschung zu zeigen. Er nahm die Feder abermals auf, um mit derselben Gelassenheit wie früher auf der Hinterseite des Schreibens die Bemerkung aufzuzeichnen: ›Der junge Gay soll geschickt werden‹.

»Ruft ihn zurück«, sagte Mr. Dombey.

Mr. Carker zögerte nicht, und Walter war ebenso schnell wieder im Zimmer.

»Gay«, sagte Mr. Dombey, indem er sich ein wenig drehte, um über die Achsel nach ihm hinzusehen. »Es gibt hier einen –«

»Guten Anfang«, fügte Mr. Carker bei, während sich sein Mund so weit wie möglich verzog.

»In Westindien. Zu Barbados. Ich habe im Sinne, Euch hinzuschicken«, fuhr Mr. Dombey fort, indem er es verschmähte, die kahle Wahrheit zu bemänteln, »damit Ihr die Stelle eines jüngeren Angestellten in dem Kontor zu Barbados ersetzet. Bemerkt Eurem Onkel, ich lasse ihm sagen, daß ich Euch dazu ausersehen habe, nach Westindien zu gehen.«

Das Erstaunen benahm Walter so vollständig den Atem, daß er kaum die Worte hervorzubringen vermochte: »Nach Westindien!«

»Irgend jemand muß gehen«, sagte Mr. Dombey. »Ihr seid jung und gesund – Euer Onkel aber befindet sich in keinen guten Umständen. Bedeutet Eurem Onkel, daß ich Euch für den Posten ausersehen habe. Jetzt braucht Ihr noch nicht zu gehen – es dauert möglicherweise noch einen Monat, vielleicht noch zwei.«

»Soll ich dort bleiben, Sir?« fragte Walter.

»Ob Ihr dort bleiben sollt, Sir?« wiederholte Dombey, sich ein wenig mehr zu ihm hinwendend. »Was wollt Ihr damit sagen? Was meint er damit, Carker?«

»Dort leben, Sir«, stotterte Walter.

»Allerdings«, erwiderte Mr. Dombey.

Walter verbeugte sich.

»Genug jetzt«, sagte Mr. Dombey, seine Briefe nehmend. »Ihr werdet ihn natürlich zur Zeit über die gewöhnliche Ausstattung usw. belehren, Carker. Er braucht nicht zu warten, Carker.«

»Ihr braucht nicht zu warten, Gay«, bemerkte Mr. Carker, die Zähne bis zum Zahnfleisch weisend.

»Es sei denn«, versetzte Mr. Dombey, der in seinem Lesen innehielt, ohne übrigens von dem Brief aufzuschauen, gleichsam als wollte er hören – »es sei denn, daß er etwas zu sagen hätte.«

»Nein, Sir«, erwiderte Walter in großer Verwirrung, Aufgeregtheit und halber Betäubung, da sich eine endlose Abwechslung von Bildern seinem Geiste vergegenwärtigte. Unter diesen befanden sich namentlich Kapitän Cuttle mit seinem Glanzhut, wie er vor sternchenland.com Überraschung fast versteinert in Mrs. Mac Stingers Wohnung die Kunde vernahm, und sein Onkel, wie er in dem kleinen Hinterstübchen den Verlust seines Neffen beklagte. »Ich weiß kaum – ich – ich bin Euch sehr verbunden, Sir.«

»Er braucht nicht zu warten, Carker«, sagte Mr. Dombey.

Da nun Mr. Carker die Worte abermals wiederholte und seine Papiere sammelte, als wolle er gleichfalls gehen, so fühlte Walter, daß sein längeres Zögern als eine unverzeihliche Aufdringlichkeit erscheinen mußte, namentlich da er nichts zu sagen wußte. Er verließ daher in großer Verwirrung das Zimmer.

Mit dem gemischten Bewußtsein und der Hilflosigkeit eines Traums den Flur entlang gehend, hörte er Mr. Dombeys Tür abermals zugehen, und unmittelbar darauf lief ihm Mr. Carker, der herausgekommen war, zu:

»Seid so gut, Sir, Euern Freund Mr. Carker junior in mein Zimmer zu bringen.«

Walter begab sich nun nach dem äußeren Bureau und richtete Mr. Carker junior seinen Auftrag aus. Dieser kam sofort hinter der Scheidewand, neben der er allein in einer Ecke saß, hervor und begab sich mit dem jungen Gay nach dem Zimmer Mr. Carkers, des Geschäftsführer«.

Der letztgenannte Gentleman stand, die Hände unter den Schößen seines Fracks, mit dem Nacken gegen das Feuer gekehrt, und sah über seiner weißen Krawatte so unverheißungsvoll weg, wie es kaum jemand anders als Mr. Dombey möglich war. Er empfing die Eintretenden, ohne seine Stellung zu wechseln oder den rauhen düstern Ausdruck irgendwie zu mildern, indem er Walter nur durch einen Wink bedeutete, die Tür zu schließen.

»John Carker«, begann der Geschäftsführer, der sich, nachdem sein Geheiß erfüllt war, mit seinen zwei Reihen Zähnen plötzlich so wild gegen seinen Bruder wandte, als hätte er ihn beißen mögen, »was ist dies für ein Komplott zwischen Euch und diesem jungen Manne, kraft dessen ich durch die Erwähnung Eures Namens gehetzt und geplagt werden muß? Ist es nicht genug für Euch, John Carker, daß ich Euer naher Verwandter bin und mich nicht entschlagen kann dieses –«

»Sage immerhin ›dieses Schimpfes‹, James«, entgegnete der andere in gedämpfter Stimme, als er fand, daß der Geschäftsführer um ein Wort verlegen war. »Es liegt dir auf der Zunge, und du hast ein Recht, diesen Ausdruck zu gebrauchen.«

»Ja, dieses Schimpfes«, pflichtete sein Bruder mit scharfem Nachdruck bei. »Aber muß diese Tatsache austrompetet und ohne Unterlaß vor dem ganzen Hause ausgeschrien werden? Und noch dazu in Augenblicken des Vertrauens! Glaubt Ihr, Euer Name sei darauf berechnet, an diesem Platze mit Verantwortlichkeit und Vertrauen im Einklang zu stehen, John Carker?« »Nein«, erwiderte der andere, »nein, James. Gott weiß, ich habe keinen solchen Gedanken.«

»Und was denkt Ihr sonst?« entgegnete der Bruder. »Warum drängt Ihr Euch mir in den Weg? Habt Ihr mir nicht bereits genug Schaden zugefügt?«

»Mit Willen ist dies nie geschehen, James.«

»Ihr seid mein Bruder«, sagte der Geschäftsführer. »Dieser Umstand allein steht mir überall im Wege.«

»Ich wollte, ich könnte es ungeschehen machen, James.«

»Auch mir wäre es lieb, wenn Ihr’s könntet und wolltet.«

Während dieses Gesprächs hatte Walter mit den Gefühlen schmerzlichen Erstaunens abwechselnd die beiden Brüder angesehen. Der eine, den Jahren nach der ältere, aber in dem Hause der Junior, stand mit zu Boden geschlagenen Augen und gesenktem Kopfe da, um in aller Demut die Vorwürfe des anderen anzuhören. Sie wurden sowohl durch den Ton, als durch den Blick, womit sie über ihn hereinbrachen, sehr bitter; da aber Walter, den sie in gleicher Weise überraschten und erschütterten, zugegen war, so ließ sich der Gekränkte auf nichts anderes ein, als daß er in bittender Weise die rechte Hand erhob, als wollte er sagen: »Schone mich!« So hätte sich vielleicht ein tapferer Soldat, gebunden und durch körperliche Leiden erschöpft, unter den Händen eines prügelnden Profosen benommen.

Edel und rasch in allen seinen Erregungen ergriff nun Walter, der sich selbst für die unschuldige Ursache dieser Beschimpfungen hielt, mit dem ganzen Ernste seiner Gefühle das Wort.

»Mr. Carker«, sagte er, sich an den Geschäftsführer wendend, »in der Tat, die Schuld liegt ganz allein an mir. In einer Unbedachtsamkeit, die ich mir selbst nicht genug vorwerfen kann, habe ich ohne Zweifel den Namen des Mr. Carker junior weit öfter erwähnt, als nötig war, und ihn bisweilen über meine Lippen gleiten lassen, obschon ich mich dadurch gegen Euren ausgesprochenen Wunsch verfehlte. Der Irrtum liegt übrigens nur auf meiner Seite, Sir – wir haben überhaupt nie über den Gegenstand gesprochen – ja, im ganzen nur noch sehr wenige Worte miteinander gewechselt. Ich muß zwar sagen,« fügte Walter nach einer kurzen Pause hinzu, »ganz aus Unachtsamkeit geschah es nicht, Sir, denn seit meinem Hiersein fühlte ich stets ein Interesse für Mr. Carker, und da ich so viel an ihn dachte, war es kaum anders möglich, als daß ich auch zuweilen von ihm sprach.«

Walter sprach dies aus voller Seele und mit der innigsten Ehrlichkeit. Er sah auf das gebeugte Haupt, die niedergeschlagenen Blicke, die erhobene Hand und dachte: ›Ich habe es gefühlt, und warum sollte ich es nicht zugestehen um dieses freundlosen, unglücklichen Mannes willen‹!

»Um die Wahrheit zu sagen. Ihr habt mich sogar gemieden, Mr. Carker«, sagte Walter, dem in der Wärme seines Mitleids Tränen in die Augen traten. »Ich bemerkte es wohl, und es tat mir schmerzlich leid. Von meinem Eintritt im Hause an und stets habe ich mir Mühe gegeben. Euch ein Freund zu sein, wie dies ein sternchenland.com Mensch in meinem Alter sich herausnehmen durfte; aber alle meine Versuche sind vergeblich gewesen.«

»Und merkt Euch wohl«, entgegnete nun der Geschäftsführer, ihm rasch ins Wort fallend, »es wird noch unnützer sein, Gay, wenn Ihr darauf besteht, Mr. John Carkers Namen der Aufmerksamkeit der Leute aufzudringen. Dies ist nicht die Art, sich mit Mr. John Carker zu befreunden. Fragt ihn selbst, ob er nicht auch dieser Ansicht ist.«

»Ein Dienst erwächst mir nicht daraus«, sagte der Bruder, »sondern es führt im Gegenteil zu Erörterungen, wie die gegenwärtige, und ich brauche nicht zu sagen, daß ich sie recht gern hätte missen mögen. Man kann mir keinen besseren Freundschaftsdienst leisten«, fügte er mit großer Bestimmtheit hinzu, als wolle er seine Worte Walter besonders ans Herz legen, »als wenn man mich vergißt und mich ohne Beachtung oder Frage meiner Wege gehen läßt.«

»Da Ihr für das, was Euch andere zu verstehen geben, ein so kurzes Gedächtnis habt, Gay«, sagte Mr. Carker der Geschäftsführer, der in einer sich steigernden Selbstzufriedenheit wärmer wurde, »so hielt ich es für gut, daß Euch das, um was es sich handelt, von der besten Autorität bedeutet werde« – er nickte dabei nach seinem Bruder hin. »Hoffentlich werdet Ihr’s jetzt nicht mehr vergessen. Damit gut, Gay. Ihr könnt gehen.«

Walter trat ab und war eben im Begriff, die Tür hinter sich zu schließen, als er aufs neue die Stimmen der Brüder vernahm und dabei auch seinen Namen nennen hörte; er blieb daher, die Hand auf der Klinke und bei halb offener Tür unschlüssig stehen, nicht wissend, ob er umkehren oder sich entfernen sollte. In dieser Stellung konnte ihm das, was nun folgte, nicht wohl entgehen.

»Denke milder von mir, wenn du kannst, James«, sagte John Carker, »wenn ich dir sage, daß mein ganzes Herz wieder aufwachte – wie konnte es auch anders sein bei der Geschichte, die hier geschrieben steht« – er schlug sich dabei auf die Brust – »als mir dieser junge Mensch, der Walter Gay, in den Weg kam. Ich betrachtete ihn, als er zum erstenmal hierher kam, fast wie mein anderes Ich.«

»Dein anderes Ich!« wiederholte der Geschäftsführer im Tone der Verachtung.

»Nicht wie ich bin, sondern wie ich war beim Eintritt in dies Haus – so hoffnungsvoll, so schwindelig und in so frischer unerfahrener Jugend – glühend von denselben rastlosen abenteuerlichen Vorstellungen, voll von denselben Eigenschaften und reich an der gleichen Befähigung, zum Guten oder Schlimmen vorwärts zu schreiten.«

»Will nicht hoffen«, sagte sein Bruder mit einem geheimen sarkastischen Sinn in seiner Betonung.

»Du triffst mich schwer. Deine Hand ist fest, und dein Stoß geht tief«, entgegnete der andere mit einer Stimme – wenigstens kam es Walter so vor – als habe ihn bei diesen Worten irgendeine sternchenland.com grausame Waffe durchbohrt. »Ich vergegenwärtigte mir all dieses, als er noch ein Knabe war. Ich glaubte es. Für mich war es eine Wahrheit. Ich sah ihn leichten Fußes hineilen an dem Rande eines unbemerkten Abgrundes, an dem so viele andere mit gleicher Heiterkeit hingleiten und von dem –«

»Die alte Entschuldigung«, unterbrach ihn sein Bruder, in dem Feuer schürend. »So viele. Nur weiter. Sage: so viele stürzten.«

»Von dem ein Wanderer hinabstürzte«, erwiderte der andere, »der, gleich ihm ein Knabe, seine Bahn angetreten hatte, aber immer mehr das sichere Fußen verlor, allmählich weiter und weiter glitt und endlich abwärts rollte, bis kein Halt mehr war und er unten anlangte als ein Zerschmetterter. Denke dir, was ich litt, wenn ich diesen Knaben betrachtete.«

»Du hast alles nur dir selbst zu danken«, versetzte der Bruder.

»Nur mir selbst«, pflichtete er mit einem Seufzer bei. »Ich suche die Schuld ebenso wenig zu teilen, als die Schmach.«

»Die Schande hast du gleichwohl auf andere übertragen«, murmelte James Carter durch seine Zähne, und zwar durch so viele und festgeschlossene Zähne, als bei dem Murmeln nur möglich war.

»Ach, James«, erwiderte sein Bruder, zum ersten Male im Tone des Vorwurfs sprechend, und dem Tone der Stimme nach hatte es den Anschein, als habe er sein Gesicht mit den Händen bedeckt, »seitdem bin ich für dich ein nützliches Stichblatt gewesen. Bei deinem Hinanklettern hast du mich ohne Umstände niedergetreten – tritt mich nicht noch obendrein mit deiner Ferse.«

Es folgte eine Pause. Nach einer Weile hörte man Mr. Carker, den Geschäftsführer, mit seinen Papieren knistern, als sei er willens, die Unterhaltung zum Schlusse zu bringen. Zu gleicher Zeit näherte sich sein Bruder der Tür.

»Weiter ist nichts an der Sache«, sagte er. »Ich beobachtete ihn mit so viel Furcht und Zittern, daß es mir eigentlich zur Strafe wurde, bis er die Stelle überschritten hatte, wo ich das erstemal zu Fall kam; und dann – ich glaube, wenn ich sein Vater gewesen wäre, hätte ich Gott nicht inbrünstiger danken können. Ich wagte es nicht, ihn zu warnen und ihm zu raten; aber wenn ich irgendeine unmittelbare Ursache wahrgenommen hätte, so würde ich ihm mein Beispiel vor Augen geführt haben. Ich scheute mich, auch nur im Gespräch mit ihm gesehen zu werden, damit man nicht glauben möge, ich verlockte ihn zu etwas Schlimmem oder verderbe ihn – ja, ich vermied jede Annäherung, damit dies nicht etwa wirklich geschehe. Ich weiß nicht, aber es kann ein solcher Ansteckungsstoff in mir liegen. Vergleiche meine Geschichte mit der des jungen Walter Gay, vergegenwärtige dir, welche Gefühle er mir einflößen mußte – und denke milder von mir, James, wenn du kannst.«

Mit diesen Worten trat er in den Flur hinaus, wo Walter stand. Er wurde blaß, als er ihn dort sah, und erblaßte noch mehr, als ihn Walter bei der Hand faßte und in Flüsterlauten zu ihm sagte:

»Mr. Carker, ich bitte, erlaubt mir. Euch zu danken, und laßt sternchenland.com mich Euch sagen, wie sehr ich für Euch fühle, wie leid es mir tut, daß ich von alledem die unglückliche Ursache war! Ich betrachte Euch jetzt fast als meinen Beschützer und Hüter! Wie sehr, wie sehr fühle ich mich Euch verpflichtet und wie innig bemitleide ich Euch!« sagte Walter, ihm beide Hände drückend und in seiner Aufregung kaum wissend, was er tat oder sprach.

Mr. Morfins Zimmer befand sich in der Nähe und war leer. Da die Tür weit offen stand, so begaben sie sich wie aus gemeinschaftlichem Antrieb dahin, weil der Flur selten von Vorübergehenden frei war. Dort angelangt, bemerkte Walter in Mr. Carkers Gesicht einige Spuren von innerer Erregung und eine so große Veränderung desselben, daß er fast meinte, er habe dieses Antlitz nie zuvor gesehen.

»Walter«, sagte er, seine Hand auf die Schulter des Jünglings legend, »zwischen uns ist ein weiter Abstand, und möge dieser immer stattfinden. Wißt Ihr, was ich bin?«

»Was Ihr seid?« schien auf Walters Lippen zu schweben, als er den Sprecher aufmerksam betrachtete.

»Es nahm seinen Anfang vor meinem 21. Geburtstag«, sagte Carker – »in Gedanken viel früher vorbereitet, aber erst angefangen um diese Zeit. Ich bestahl sie, als ich volljährig wurde. Ich bestahl sie nachher. Noch vor meinem 22jährigen Geburtstag war alles entdeckt, und damals, Walter, starb ich für die menschliche Gesellschaft.«

Wieder schwebten die letzten Worte zitternd auf Walters Lippen, aber er konnte weder ihnen noch seinen eigenen Gedanken Laute verleihen.

»Das Haus war sehr wohlwollend gegen mich. Möge der Himmel den alten Mann für seine Nachsicht belohnen! Auch dieser eine, sein Sohn – damals noch ein Neuling in der Firma, die mir großes Vertrauen geschenkt hatte! Ich wurde in das Zimmer berufen, das jetzt seins ist – seitdem habe ich’s nie wieder betreten – und kam heraus als der Mensch, den Ihr jetzt in mir kennt. Viele Jahre saß ich an meinem gegenwärtigen Platze, allein wie jetzt, aber damals ein bekanntes und entlarvtes Beispiel für die übrigen. Sie hatten alle Erbarmen mit mir, und ich lebte. Die Zeit hat diesen Teil meiner jammervollen Sühne getilgt, und ich glaube, außer den drei Häuptern des Hauses ist niemand hier, der von meiner Geschichte genau unterrichtet wäre. Ehe der kleine Knabe heranwächst und ihm Mitteilung davon gemacht wird, ist vielleicht meine Ecke erledigt. Gebe Gott, daß es so sei. Dies ist der einzige Wechsel, den ich mir wünschen kann seit jener Zeit, als ich meine Jugend, die Hoffnung und die Gesellschaft aller guten Menschen in jenem Zimmer hinter mir zurückließ. Gott behüte Euch, Walter! Bleibt ehrlich und haltet alle, die Euch lieb sind, zur Redlichkeit an, oder schlagt sie lieber tot!«

Eine schwache Erinnerung, als habe der Redende vom Kopf bis zu den Füßen gezittert, wie bei überwältigendem Frost, und als sei er in Tränen ausgebrochen – dies war alles, dessen Walter sich noch erinnern konnte, wenn er es versuchte, das, was zwischen ihnen vorgefallen war, sich wieder genau ins Gedächtnis zu rufen.

Als ihn Walter wiedersah, hatte er sich in seiner früheren stummen, demütigen Weise über sein Pult gebeugt. Er entnahm daraus, daß der arme Mann fest entschlossen war, allen weiteren Verkehr mit ihm zu vermeiden, und wie er zu wiederholten Malen alles bei sich erwog, was er am Morgen in so kurzer Zeit von der Geschichte der beiden Carker gesehen und gehört hatte, konnte er kaum glauben, daß er für Westindien bestimmt sei und so bald für Onkel Sol und Kapitän Cuttle verloren sein werde. Er dachte dabei auch an Florence Dombey – nein, nicht an Florence, sondern an Paul, wie er sich einreden wollte, und an alle, die er liebte und die ihm im täglichen Leben nahestanden.

Dennoch hatte es seine Richtigkeit, und die Kunde war bereits bis ins äußere Bureau gedrungen; denn während er mit schwerem Herzen dasaß, seinen Betrachtungen nachhing und dabei den Kopf auf den Arm stützte, kam der Ausläufer Perch von seinem Mahagonidreifuß heruntergestiegen, berührte seinen Ellenbogen und bat um Entschuldigung, daß er ihm etwas ins Ohr zu sagen wünsche: ob er nämlich nicht glaube, er könne es einleiten, einen Krug eingemachten Ingwers wohlfeil nach England zu schicken – für Mrs. Perch, damit sie sich nach ihrem nächsten Wochenbett daran erlaben möge.