Fünfundzwanzigstes Kapitel.


Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Seltsame Neuigkeiten von Onkel Sol.

Obschon Kapitän Cuttle kein Langschläfer war, so kroch er am Morgen nach dem Tag, als er den schreibenden Sol Gills durch das Ladenfenster beobachtet hatte, während Rob der Schleifer sein Bett unter dem Tisch, auf dem der Midshipman stand, anfertigte – nicht so früh aus den Federn, und es hatte bereits sechs Uhr geschlagen, als er sich auf den Ellenbogen aufrichtete und in seinem kleinen Stübchen umherschaute. Die Augen des Kapitäns mußten einen schweren Dienst haben, wenn er sie beim Erwachen gewöhnlich so weit öffnete, wie an diesem Morgen, und erhielten für ihre Aufmerksamkeit nur einen rauhen Lohn, falls er sie in der Regel nur halb so zart zu reiben pflegte. Der Anlaß war übrigens auch kein sternchenland.com gewöhnlicher; denn sicherlich hatte Rob der Schleifer nie zuvor unter der Schwelle von Kapitän Cuttles Schlafzimmer gestanden. Aber jetzt zeigte er sich daselbst keuchend und mit einem roten, schlaftrunkenen Gesicht, als komme er eben von seinem Bette her.

»Holla!« schrie der Kapitän. »Was gibt’s?«

Ehe Rob ein Wort der Erwiderung stammeln konnte, war Kapitän Cuttle hurtig aus seinem Bett gefahren und hatte den Mund des Knaben mit seiner Hand bedeckt.

»Halt, mein Junge«, sagte der Kapitän. »Für jetzt noch keine Silbe!«

Nachdem er ihm diese Einschärfung gegeben, wobei er ihn mit großer Bestürzung betrachtete, drehte er ihn sacht an der Schulter ins nächste Zimmer hinaus. Dann verschwand er für einige Augenblicke und erschien bald darauf in dem blauen Anzuge wieder. Indem er die Hand erhob, als ob sein Verbot noch nicht aufgelöst sei, ging er auf den Schrank zu, goß sich selbst ein Gläschen ein und füllte ein zweites für den Boten. Hierauf stellte sich der Kapitän in eine Ecke gegen die Wand, als wolle er der Möglichkeit vorbeugen, daß die bevorstehende Mitteilung ihn rücklings zu Boden werfe, schluckte, ohne ein Äuge von dem Boten zu verwenden, seinen Branntwein hinunter und forderte dann mit einem Gesicht, so blaß als es bei dem seinigen nur möglich war, Rob auf, »loszuschieben«.

»Meint Ihr damit, daß ich sprechen solle, Kapitän?« fragte Rob, dem die frühere Warnung noch schwer auf dem Gemüte lag.

»Ja«, versetzte der Kapitän.

»Wohlan, Sir«, entgegnete Rob, »ich habe nicht eben viel zu sagen. Aber schaut her!«

Rob brachte einen Schlüsselbund zum Vorschein.

Der Kapitän betrachtete ihn von seiner Ecke aus und musterte dabei fortwährend den Boten.

»Und dieses hier!« fuhr Rob fort.

Der Knabe zog ein versiegeltes Paket hervor, das Kapitän Cuttle mit ebenso großen Augen anstaunte, wie er es zuvor bei den Schlüsseln gehalten hatte.

»Als ich heute morgen erwachte, Kapitän«, sagte Rob – »es mochte ungefähr Viertel auf sechs sein, fand ich das auf meiner Bettdecke. Die Ladentür war aufgeriegelt und offen, Mr. Gills aber fort!«

»Fort?« rief der Kapitän.

»Keine Spur mehr von ihm da, Sir«, versetzte Rob.

Die Stimme des Kapitäns war so furchtbar, und er kam in einer Weise aus seiner Ecke hervor, daß sich Rob vor ihm in eine andere flüchtete; dabei hielt letzterer den Schlüsselbund und das Paket vor sich hin, als wolle er den Kapitän hindern, daß er ihn nicht niederrenne.

»›Für Kapitän Cuttle‹, Sir«, rief Rob, »steht auf den Schlüsseln und auf dem Paket. Auf mein Ehrenwort, Kapitän Cuttle, ich weiß weiter nichts von der Sache, und ich will sterben, wenn es nicht wahr sternchenland.com ist! Das ist wohl ein Platz für einen jungen Burschen, der eben eine Stelle erhalten hat«, rief der unglückliche Schleifer, mit dem Rockärmel sein Gesicht bearbeitend. »Der Meister läuft davon, und ich soll am Ende die Schuld tragen!«

Diese Klagen bezogen sich auf Kapitän Cuttles Blick, in dem sich ein Ausdruck, gemischt aus Argwohn, Drohung und Anklage, kundgab. Nachdem der Kapitän das hingehaltene Paket in Empfang genommen hatte, öffnete er es und las, wie folgt:

»›Mein lieber Ned Cuttle. In der Anlage befindet sich mein letzter Wille und Testament!‹«

Der Kapitän wandte mit einer bedenklichen Miene das Blatt um. »Wo ist das Testament?« rief er, unverweilt auf den armen Schleifer losgehend. »Was hast du damit angefangen, Junge?«

»Ich hab‘ es nie gesehen,« winselte Rob. »Habt doch keinen solchen Argwohn gegen einen unschuldigen Jungen, Kapitän. Ich habe das Testament nie angerührt.«

Kapitän Cuttle schüttelte den Kopf, als wolle er damit andeuten, daß irgend jemand dafür verantwortlich gemacht werden müsse, und fuhr mit ernster Miene fort:

»›Ihr dürft es vor Jahresfrist nicht öffnen oder wenigstens nicht eher, bis Ihr bestimmte Nachrichten erhalten habt von meinem lieben Walter, der, wie ich überzeugt bin, auch Euch teuer ist, Ned.‹« Der Kapitän hielt inne und schüttelte in einiger Erregung den Kopf. Um jedoch bei diesem seinem Prüfungsamt seiner Würde nichts zu vergeben, schaute er unmittelbar darauf mit großer Strenge nach dem Schleifer hin. »›Wenn Ihr nichts mehr von mir hören oder sehen solltet, Ned, so bleibt liebevoll eingedenk eines alten Freundes, der auch Euch bis zum letzten Augenblick in der Erinnerung tragen wird. Bis mindestens die vorerwähnte Periode abgelaufen ist, haltet für Walter an dem alten Platz eine Heimat bereit. Es sind keine Schulden vorhanden; denn das Darlehen von Dombey ist abbezahlt, und ich sende Euch hiermit alle meine Schlüssel. Verhaltet Euch ruhig und stellt keine Nachforschungen nach mir an; denn es ist vergeblich. Weiter nichts, mein lieber Ned, von Eurem treuen Freunde Solomon Gills.‹« Der Kapitän atmete tief auf und las dann folgende unten hingeschriebenen Worte: »›Wie ich Euch sage, ist der Knabe Rob von Dombeys Hause wohl empfohlen. Wenn alles sonst zum Verkauf kommen sollte, Ned, so tragt Sorge für den kleinen Midshipman.‹«

Um der Nachwelt einen Begriff von der Art zu geben, wie der Kapitän, nachdem er den Brief wohl zwanzigmal überlesen hatte, in seinem Stuhle Platz nahm und in seinem Innern über den Gegenstand ein Kriegsgericht hielt, wäre wohl der vereinte Genius aller großen Männer erforderlich, die, ohne Rücksicht auf die ungünstigen Verhältnisse der Mitwelt, den Entschluß gefaßt hätten, auf die Nachwelt zu kommen, ohne daß es ihnen übrigens je gelänge. Anfangs war der Kapitän viel zu sehr verwirrt und beunruhigt, um an etwas anderes als den Brief zu denken, und selbst als seine Gedanken sternchenland.com die verschiedenen begleitenden Tatsachen zu überblicken begannen, hätten sie sich vielleicht um des Lichtes willen, das sie brachten, ebensogut mit dem früheren Gegenstand beschäftigen können. In dieser Gemütsverfassung fand Kapitän Cuttle, der außer dem Schleifer niemanden vor seinem Gerichtshof hatte, eine große Erleichterung in dem allgemeinen Bescheid, daß letzterer ein verdächtiger Gegenstand sei, und er drückte das so deutlich in seinem Gesichte aus, daß Rob Einwände dagegen erhob.

»O, laßt es doch, Kapitän!« rief der Schleifer. »Ich begreife gar nicht, wie Ihr das könnt! Was habe ich denn getan, daß Ihr mich so anseht?«

»Mein Junge«, versetzte Kapitän Cuttle, »schrei nicht vor dem Streich, und was du auch tun magst, gib dir keine Blöße.«

»Ich tue dies nicht, und habe auch nichts getan, Kapitän«, antwortete Rob.

»So halt dein Schifflein frei«, sagte der Kapitän mit Nachdruck, »und laß es ruhig vor Anker liegen.«

Mit einem tiefen Gefühl der ihm obliegenden Verantwortlichkeit und des dringenden Bedürfnisses, die geheimnisvolle Angelegenheit durchaus zu ergründen, wie es einem Mann von seiner Beziehung zu allen Parteien zustand, beschloß Kapitän Cuttle, nach Sols Wohnung zu gehen, das Haus zu untersuchen und den Schleifer mitzunehmen. In Anbetracht der Tatsache, daß der junge Mensch vorderhand als Arrestant anzusehen war, blieb der Kapitän einigermaßen zweifelhaft, ob es nicht passend sein dürfte, ihm Handschellen anzulegen, seine Fußknöchel zusammenzubinden oder ein Gewicht an seine Beine zu hängen. Weil er indessen über die Gesetzlichkeit solcher Formalitäten nicht ganz mit sich ins klare kommen konnte, so beschränkte er sich darauf, ihn während des ganzen Wegs an der Schulter festzuhalten und im Falle einer Einwendung zu Boden zu schlagen, Rob ließ sich dies ruhig gefallen und erreichte deshalb das Haus des Instrumentenmachers, ohne daß weitere Zwangsmaßregeln gegen ihn nötig wurden. Die Läden waren noch nicht herabgenommen. Deshalb trug Kapitän Cuttle zuerst Sorge dafür, daß der Laden geöffnet wurde; und sobald das Tageslicht freien Zutritt gewonnen, schickte er sich, wie er sagte, zu weiterer Nachforschung an.

Sein erstes Geschäft bestand darin, daß er im Laden sich einen Stuhl verschaffte, um dem feierlichen Tribunal, das in seinem Innern Sitzung hielt, präsidieren zu können. Dann forderte er Rob auf, sich in sein Bett unter dem Ladentisch zu legen und genau anzudeuten, wie er bei seinem Erwachen den Schlüsselbund und das Paket entdeckt habe. Hierauf mußte der Junge zeigen, wie er die Tür gefunden, als er aufgestanden, um sie zu probieren, und wie er nach Brig-Place aufgebrochen sei. Dabei verhinderte er vorsichtigerweise den Knaben, das Manöver weiter als bis zur Schwelle auszuführen. So ging es denn bis zum Ende des Kapitels. Nachdem diese Prozeduren mehrere Male vorgenommen waren, schüttelte der Kapitän den Kopf und schien zu denken, daß die Sache ein gar übles Aussehen habe.

Zunächst stellte der Kapitän in der unbestimmten Vorstellung, er könnte möglicherweise eine Leiche finden, eine genaue Durchsuchung des ganzen Hauses an, indem er mit einer angezündeten Kerze in den Kellern herumtappte, seinen Haken hinter die Türen steckte, den Kopf oft in ungestümen Zusammenstoß mit Balken brachte und sich selbst mit Spinnweben bedeckte. Als sie nach dem Schlafzimmer des alten Mannes hinaufstiegen, fanden sie, daß er die Nacht zuvor nicht in seinem Bett gelegen, sondern sich nur leicht darauf hingeworfen hatte, wie aus dem noch vorhandenen Eindruck ersichtlich war.

»Und ich glaube, Kapitän«, sagte Rob sich im Zimmer umsehend, »daß Mr. Gills, als er die letzten paar Tage so oft ein- und ausging, jedesmal kleine Gegenstände mitgenommen hat, um keine Aufmerksamkeit zu wecken.«

»So?« versetzte der Kapitän geheimnisvoll. »Warum denn das, mein Junge?«

»Ei«, entgegnete Rob umherschauend, »ich sehe nichts von seinem Rasierzeug, Auch seine Bürsten fehlen, Kapitän. Es sind keine Hemden da. Und auch seine Schuhe sind fort.«

Während jeder dieser Gegenstände erwähnt wurde, schenkte Kapitän Cuttle dem entsprechenden erwähnten Gegenstand bei dem Schleifer eine besondere Aufmerksamkeit, ob nicht etwa dieser kürzlich davon Gebrauch gemacht habe oder noch im Besitz derselben sei. Aber Rob hatte keinesfalls schon einen Anlaß, sich zu rasieren, war augenscheinlich auch nicht ausgebürstet und trug – so viel war über jede Möglichkeit eines Irrtums erhaben – noch dieselben Kleider, in denen er seit langer Zeit sich blicken zu lassen pflegte.

»Und was sagt Ihr, ohne Euch selbst eine Blöße zu geben«, fuhr der Kapitän fort, »über die Zeit seines Abrückens, he?«

»Nun, ich denke, Kapitän«, versetzte Rob, »daß er bald darauf fortgegangen sein muß, nachdem ich zu schnarchen anfing.«

»Um welche Stunde kann das gewesen sein?« fragte der Kapitän, dem besonders viel daran gelegen zu sein schien, genau die Zeit zu ermitteln.

»Wie kann ich das sagen, Kapitän?« antwortete Rob. »Ich weiß nur, daß im Anfang mein Schlaf sehr fest ist und daß er gegen morgen hin leicht wird. Wäre nun Mr. Gills sogar auf den Zehenspitzen gegen Tagesanbruch durch den Laden gekommen, so bin ich ziemlich überzeugt, daß ich es jedenfalls gehört haben würde, wenn er die Tür schloß.«

Nach reifer Erwägung dieses Zeugnisses begann Kapitän Cuttle zu der Überlegung zu gelangen, daß der Instrumentenmacher wohl aus eigenem Antrieb verschwunden sein müsse, und in dieser logischen Folgerung unterstützte ihn der an ihn gerichtete Brief, der, da er unzweifelhaft von dem alten Mann selbst geschrieben war, ohne eine sehr gezwungene Annahme zu dem Schluß leitete, der Schreiber habe gehen wollen und sei demgemäß gegangen. Die nächsten Betrachtungen des Kapitäns beschäftigten sich nun mit dem Wohin und Warum, und da ihm die Lösung der ersten Frage eigentümliche sternchenland.com Schwierigkeiten bot, so beschloß er, seine Gedanken der zweiten zuzuwenden.

Er erinnerte sich des auffallenden Benehmens, mit dem sich der alte Mann von ihm verabschiedet hatte. Damals war es ihm unerklärlich vorgekommen, aber jetzt schien es ihm ganz begreiflich. Der Kapitän kam dadurch auf den schrecklichen Argwohn, die Angst und Sorge um Walter hätte den alten Sol so weit getrieben, daß er einen Selbstmord verübte. Wie jener so oft erklärt hatte, war er nicht mehr imstande, das Leid und die Trübsal des täglichen Lebens zu ertragen, und da in letzter Zeit noch die Ungewißheit und eine stets sich verzögernde Hoffnung dazu gekommen waren, so schien die Annahme nicht zu gezwungen, sondern leider nur zu wahrscheinlich zu sein.

Der Mann war schuldenfrei und hatte weder etwas für seine persönliche Freiheit noch für sein Eigentum zu fürchten; was also sonst, wenn nicht ein Zustand von Wahnsinn, konnte ihn veranlaßt haben, sich allein und heimlich zu entfernen? Daß er einige Kleidungssachen mitgenommen hatte, wenn anders dies wirklich der Fall war – denn sie hatten nicht einmal hierüber Sicherheit – mochte nach des Kapitäns Vermutung darin begründet sein, daß er Nachforschungen verhindern, die Aufmerksamkeit von seinem wahrscheinlichen Schicksal ablenken oder das Gemüt des Mannes erleichtern wollte, der eben jetzt alle diese Möglichkeiten erwog. Dies war in einfacher und gedrungener Sprache das wesentliche Endergebnis von Kapitän Cuttles Betrachtungen, obschon er lange brauchte, um so weit zu kommen, und die dazu führenden Erörterungen nach dem Beispiel mancher öffentlicheren Verhandlungen sehr weitschweifig und ungeordnet waren.

Im höchsten Grade kleinmütig und niedergeschlagen, hielt es Kapitän Cuttle jetzt für billig, Rob aus seiner Haft zu entlassen und ihn in Freiheit zu setzen, zugleich aber fortwährend eine Art ehrenhafter Aufsicht über ihn zu führen. Er ließ sich von dem Makler Brogley einen Diener abtreten, der während ihrer Abwesenheit den Laden hüten sollte, worauf er in Begleitung Robs ausging, um einen traurigen Streifzug nach den sterblichen Resten des Solomon Gills anzutreten.

In der ganzen Hauptstadt gab es kein Stationshaus, keinen Kirchhof und kein Arbeitshaus, das einer Inspektion des harten Glanzhutes entgangen wäre. An den Kais, auf den Schiffszimmerplätzen, an den Ufern, flußauf und flußab, da, dort und überall glänzte er unter den dichtesten Menschenmassen, wie der Helm eines Helden in einer epischen Schlacht. Eine ganze Woche lang las der Kapitän die Zeitungen und sonstige Ankündigungen über gefundene und vermißte Leute, und keine Stunde des Tages war ihm zu viel, wenn es galt, von über Bord gefallenen armen Schiffsjungen und langen Fremden mit schwarzen Bärten, die sich vergiftet hatten, Einsicht zu nehmen – »um sich zu überzeugen«, sagte Kapitän Cuttle, »daß es nicht Solomon Gills sei«. Es war in der Tat eine saure sternchenland.com Arbeit für ihn, die immer vergeblich sein sollte, obwohl einiger Trost für den guten Kapitän darin lag.

Endlich gab er diese Versuche als hoffnungslos auf und schickte sich an, zu überlegen, was weiterhin zu tun sei. Nachdem er den Brief seines armen Freundes noch einige Male aufs neue durchgelesen hatte, drängte sich ihm die Überzeugung auf, die Erhaltung »einer Heimat an dem alten Platz für Walter« sei die erste Pflicht, die ihm obliege. Er beschloß daher, die Wohnung von Solomon Gills selbst zu beziehen, sich mit dem Instrumentenhandel abzugeben und zu sehen, was dabei herauskomme.

Da jedoch dieser Schritt die Notwendigkeit in sich schloß, das Quartier bei Mrs. Mac Stinger aufzugeben, und der Kapitän wohl wußte, diese entschlossene Frauensperson werde nichts von einem Ausziehen hören wollen, so setzte er sich den verzweifelten Plan in den Kopf, ihr zu entlaufen.

»Nun, schau einmal her, Junge«, sagte der Kapitän zu Rob, nachdem dieser denkwürdige Entwurf zur Reife gediehen war, »ich werde mich auf dieser Reede hier nicht blicken lassen bis morgen nacht – vielleicht erst nach Mitternacht. Du hältst aber Wache, bis du mich klopfen hörst, und sobald das geschieht, kommst du, um die Tür zu öffnen.«

»Sehr gut, Kapitän«, versetzte Rob.

»Du wirst hier in den Büchern fortlaufen«, fügte der Kapitän herablassend bei, »und wer weiß, welche Beförderung dir bevorsteht, wenn wir beide miteinander kräftig weiterschieben. Sobald du mich aber morgen nacht klopfen hörst – gleichviel, um welche Zeit es sei – so wirst du dich mit der Tür eilen.«

»Daran soll’s nicht fehlen, Kapitän«, entgegnete Rob.

»Denn du begreifst wohl«, fuhr der Kapitän fort, um ihm den Auftrag recht nachdrücklich ans Herz zu legen, »man kann nicht wissen, ob es nicht eine Jagd gibt, und ich könnte während des Wartens ergriffen werden, wenn du nicht hurtig mit der Tür bereit bist.«

Rob versicherte seinem nunmehrigen Gebieter abermals, daß er sich auf ihn verlassen dürfe, und nachdem der Kapitän diese kluge Maßregel getroffen hatte, kehrte er zum letztenmal nach Mrs. Mac Stingers Wohnung zurück.

Das Bewußtsein, daß es wirklich zum letzten Male war, und der fürchterliche Entschluß, der sich unter der blauen Weste barg, flößte dem Kapitän eine solche Todesangst vor Mrs. Mac Stinger ein, daß zu jeder Zeit des Tages schon der Fußtritt dieser Dame auf der Treppe ausreichte, ihn am ganzen Leibe zittern zu machen. Zufälligerweise befand sich auch Mrs. Mac Stinger in einer ganz bezaubernden Stimmung; sie war so mild und gefällig wie ein Lämmchen, und Kapitän Cuttle erlitt eine herbe Gewissensqual, als sie mit der Frage heraufkam, ob sie ihm nicht ein Diner zurichten solle.

»Einen appetitlichen kleinen Nierenpudding, Kapt’n Cuttle«, sagte die Hausfrau, »oder ein Schafsherz. Kümmert Euch nicht darum, ob es mir auch Mühe macht.«

»Nein, ich danke, Ma’am«, versetzte der Kapitän.

»Oder ein gebratenes Huhn mit etwas Füllung und einer Eiersauce«, sagte Mrs. Mac Stinger. »Na, Kapt’n Cuttle, tut Euch einmal ein bißchen was zugute.«

»Nein, ich danke Euch, Ma’am«, entgegnete der Kapitän sehr demütig.

»Wahrhaftig, Ihr seid dann nicht ganz wohl und braucht etwas Stärkendes«, sagte Mrs. Mac Stinger. »Wollt Ihr’s nicht einmal mit einer Flasche Wein versuchen?«

»Na schön, Ma’am«, entgegnete der Kapitän, »wenn Ihr so gut sein wollt, ein Gläschen oder zwei mit zu genießen, so denke ich, daß ich dies versuchen könnte. Wollt Ihr mir den Gefallen erweisen, Ma’am«, fügte er in tiefer Gewissenszerknirschung hinzu, »eine Vierteljahrsmiete im voraus in Empfang zu nehmen?«

»Und warum das, Kapitän Cuttle?« erwiderte Mrs. Mac Stinger – in scharfem Ton, wie es ihrem Gefährten vorkam.

Der Kapitän war in den Tod erschrocken.

»Wenn Ihr es wollt, Ma’am«, sagte er mit großer Unterwürfigkeit, »so würdet Ihr mir einen großen Gefallen tun. Ich kann mein Geld nicht gut aufheben. Es ist, als ob es Flügel hätte. Es wäre mir recht lieb, wenn Ihr die Vorausbezahlung annähmet.«

»Na, Kapt’n Cuttle«, versetzte die arglose Mac Stinger, indem sie ihre Hände rieb. »Ihr könnt das halten, wie Ihr wollt. Mit meiner Familie steht es mir nicht zu, es zu verweigern, ebensowenig als ich es fordern möchte.«

»Und mögt Ihr wohl so gut sein, Ma’am«, fuhr der Kapitän fort, indem er die Zinnbüchse, in der er sein Geld aufbewahrte, von dem Schranksims herunterlangte, »jedem von der kleinen Familie ein Achtzehnpencestück zu geben? Oder wenn sich’s einrichten ließe, Ma’am, so könntet Ihr die Kinder miteinander heraufkommen lassen. Es würde mich freuen, sie zu sehen,«

Die unschuldigen Mac Stingers waren ebenso viele Dolche für die Brust des Kapitäns, als sie in Haufen erschienen und mit der vertrauensvollen Anhänglichkeit, die er so wenig verdiente, an ihm herumzerrten. Das Auge von Alexander Mac Stinger, der sein Liebling gewesen, war ihm unerträglich, und die Stimme der Juliane Mac Stinger, dieses leibhaftigen Ebenbildes ihrer Mutter, machte ihn ganz und gar zur Memme.

Gleichwohl erhielt Kapitän Cuttle den Anschein ziemlich gut und ließ sich ein paar Stunden recht übel von den jungen Mac Stingers mitspielen, die in ihrer kindlichen Fröhlichkeit auch dem Glanzhut einigen Schaden zufügten, indem ihrer zwei zumal wie in einem Nest darin saßen und mit ihren Schuhen auf der Innenseite der Krone trommelten. Endlich entließ sie der Kapitän mit schwerem Herzen und verabschiedete sich von diesen Cherubs mit dem herben Weh eines Mannes, der zur Hinrichtung hinausgeführt wird.

In der Stille der Nacht packte der Kapitän sein schweres Eigentum in eine Truhe, die er in der Absicht verschloß, sie aller Wahrscheinlichkeit sternchenland.com nach für immer hier zu lassen, wenn er nicht vielleicht eines Tages einen Mann fand, der hinreichend kühn und verzweifelt war, sie zu holen. Aus den leichten Habseligkeiten machte er ein Bündel, worauf er sein Silberzeug in die Tasche steckte und sich so zur Flucht anschickte. Um die Mitternachtsstunde, als Brig-Place in tiefem Schlummer und auch Mrs. Mac Stinger mit ihrem unschuldigen Nachwuchs in süßem Vergessen lag, schlich sich der schuldige Kapitän in der Dunkelheit die Treppe hinunter, öffnete die Tür, drückte sie leise zu und zahlte Fersengeld.

Verfolgt von dem Bilde der Mrs. Mac Stinger, die aus dem Bette sprang und ohne Rücksicht auf das mangelhafte Kostüm ihm folgte, um ihn zurückzubringen, zugleich auch von dem Bewußtsein seines ungeheuren Verbrechens gequält, griff Kapitän Cuttle nach Kräften aus und ließ zwischen Brig-Place und der Tür des Instrumentenmachers kein Gras unter seinen Füßen wachsen. Auf sein Klopfen wurde sogleich geöffnet; denn Rob hatte treue Wache gehalten, Nachdem die Tür wieder abgeschlossen und zugeriegelt war, fühlte sich Kapitän Cuttle einigermaßen in Sicherheit.

»Puh!« rief der Kapitän sich umsehend. »Das hat Atem gekostet.«

»Hat es etwas gegeben, Kapitän?« rief Rob, die Augen weit aufsperrend.

»Nein, nein!« versetzte Kapitän Cuttle, dem alle Farbe aus dem Gesicht wich, als er auf einen vorübergehenden Fußtritt in der Straße draußen lauschte, »aber merke dir, mein Junge: wenn, was immer für eine Dame – mit Ausnahme der beiden, die du letzthin hier sahst – hierher kommt und nach Kapitän Cuttle fragt, so melde ihr nur, daß man hier nichts von einer Person dieses Namens wisse und überhaupt nie von ihm gehört habe. Willst du es nicht vergessen?«

»Nein, Kapitän«, versetzte Rob.

»Du kannst meinetwegen auch sagen«, fuhr der Kapitän zögernd fort, »du habest in der Zeitung gelesen, ein Kapitän dieses Namens sei nach Australien ausgewandert mit einem ganzen Schiff voll Leuten, die alle geschworen hätten, nie wieder zurückzukommen.«

Rob nickte zur Andeutung, daß er den Befehl verstanden habe: und nachdem Kapitän Cuttle ihm für den Fall, daß er Ordre pariere, versprochen hatte, einen Mann aus ihm zu machen, entließ er ihn gähnend nach seinem Bett unter dem Ladentisch, um sich selbst nach dem Dachstübchen des alten Solomon Gills hinaufzubegeben.

Es läßt sich nicht beschreiben, was der Kapitän am nächsten Tage litt, so oft ein Damenhut vorbeiging, oder wie oft er au« dem Laden hinausstürzte, um eingebildeten Mac Stingers zu entwischen und in dem Dachstübchen Sicherheit zu suchen. Um übrigens die Erschöpfung zu vermeiden, die derartige Mittel der Selbsterhaltung mit sich führten, versah er die gläserne Verbindungstür zwischen dem Laden und dem Wohnstübchen von innen mit einem Vorhang, suchte den dazu gehörigen Schlüssel aus dem ihm überantworteten Bunde und bohrte ein kleines Spionierloch in die Wand. Der Vorteil dieser Verschalung war augenfällig! denn so oft sich ein Weiberhut blicken sternchenland.com ließ, huschte der Kapitän augenblicklich in seine Garnison, schloß sich ein und stellte an dem Feind geheime Beobachtungen an. War es nur ein falscher Lärm gewesen, so kam er wieder heraus: aber die Weiberhüte waren in der Straße so sehr zahlreich und der falsche Lärm von ihrem Erscheinen so unzertrennlich, daß er den ganzen Tag fast ohne Unterlaß aus- und einhuschte.

Trotz dieses erschöpfenden Dienstes fand übrigens der Kapitän Zeit, die Ladenvorräte in Augenschein zu nehmen, und er hegte von ihnen die für Rob sehr lästige Vorstellung, daß sie nicht zu viel poliert werden könnten. Auch versah er einige anziehend aussehende Gegenstände aufs Geratewohl mit Zetteln, setzte die Preise auf zehn Schillinge bis zu fünfzig Pfund und legte sie zum großen Erstaunen des Publikums im Fenster aus.

Nachdem Kapitän Cuttle diese Verbesserungen angebracht hatte, begann er sich im Kreise der Instrumente als ein Mann zu fühlen, der von allen diesen Dingen eine tiefe Wissenschaft besitzt. Auch schaute er nachts, wenn er vor Schlafengehen in dem kleinen Hinterstübchen seine Pfeife rauchte, durch da« Oberlichtfenster nach den Sternen auf, als habe er dort eine Art Kapital angelegt. Als ein Kaufmann in der City begann er ein Interesse an dem Lord-Mayor, den Sheriffs und den Handelsgesellschaften zu nehmen: und außerdem hielt er sich verpflichtet, jeden Tag die Aufzeichnungen der Fonds zu lesen, obschon ihn sein Schiffahrtsgrundsatz zu belehren imstande war, was die Zahlen bedeuteten, und er die Bruchteile recht wohl hätte entbehren können. Unmittelbar nach Besitznahme de« Midshipman wollte der Kapitän Florence seine Aufwartung machen, um ihr die befremdliche Kunde von Onkel Sol zu überbringen: aber er traf sie nicht zu Hause. So setzte er sich nun in seiner veränderten Lebensstellung fest, ohne eine andere Gesellschaft zu haben als Rob, den Schleifer, und da er, wie es hin und wieder den Menschen zu gehen pflegt, wenn große Wechsel über sie kommen, bald auch die Zeitrechnung verlor, so dachte er oft an Walter, an Solomon Gills und sogar an Mrs. Mac Stinger wie an Dinge, die gewesen sind.

Sechsundzwanzigstes Kapitel.


Sechsundzwanzigstes Kapitel.

Schatten der Vergangenheit und der Zukunft.

»Euer Gehorsamster, Sir«, sagte der Major. »Gott verdamm mich, Sir, ein Freund meines Freundes Dombey ist auch mein Freund, und ich freue mich, Euch kennenzulernen.«

»Ich bin Major Bugstock sehr Verpflichtet für seine Gesellschaft und seine Unterhaltung, Carker«, fügte Mr. Dombey erklärend hinzu. »Major Bagslock hat mir einen großen Dienst geleistet, Carker.«

Mr. Carker, der Geschäftsführer, der den Hut noch in der Hand hatte, war eben zu Leamington angelangt und zeigte dem Major, dem er vorgestellt wurde, seine ganze Doppelreihe von Zähnen. Er sternchenland.com hoffe sich die Freiheit nehmen zu dürfen, ihm von Herzen zu danken, daß es ihm gelungen sei, in Mr. Dombeys Aussehen und Stimmung eine so wesentliche Verbesserung zu erwirken.

»Bei Gott, Sir«, entgegnete der Major, »ich verdiene hier keinen Dank; denn die Einwirkung ist gegenseitig. Ein großer Mann wie unser Freund Dombey, Sir«, fuhr der Major fort, indem er seine Stimme dämpfte, aber doch nicht so weit, daß seine Worte nicht auch dem fraglichen Gentleman verständlich wurden, »muß notwendig einen erhebenden Einfluß auf seine Freunde ausüben. Dombey kräftigt und belebt einen, Sir, durch sein moralisches Wesen.«

Mr. Carker schnappte nach dem Ausdruck. Durch sein moralische Wesen. Ganz richtig. Die nämlichen Worte, die er selbst andeuten wollte.

»Aber wenn mein Freund Dombey von dem Major Bagstock mit Euch spricht, Sir«, fügte der Major bei, »so muß ich mir erlauben, ihn und Euch auf den richtigen Standpunkt zu stellen. Er will damit einfach Joe sagen, Sir – Joey B. – Josh Bagstock – Joseph – den rauhen, zähen, alten J., Sir, Euch zu dienen.«

Mr. Carker verbeugte sich ungemein freundlich gegen den Major, und die Bewunderung über dessen rauhe, zähe Einfachheit glänzte aus jedem Zahn seines Kopfes.

»Und nun, Sir«, sagte der Major, »habt Ihr wohl einen wahren Teufelshaufen von Geschäftssachen mit Dombey zu besprechen.«

»Keineswegs, Major«, bemerkte Mr. Dombey.

»Dombey«, erwiderte der Major herausfordernd, »ich weiß das besser. Ein Mann von Eurer Bedeutsamkeit – der Koloß der Handelswelt – darf nicht gestört werden. Eure Augenblicke sind kostbar. Wir sehen uns wieder beim Diner. Bis dahin wird sich der alte Joseph rar machen. Punkt sieben wird gespeist, Mr. Carker.«

Nach diesen Worten entfernte sich der Major mit sehr aufgeblähtem Gesicht, steckte aber unmittelbar darauf den Kopf wieder zur Tür herein und sagte:

»Ich bitte um Verzeihung. Dombey, habt Ihr nichts dorthin aufzutragen?«

Mit einiger Verlegenheit und nicht ohne einen Blick auf den höflichen Bewahrer seines geschäftlichen Vertrauens machte Mr. Dombey dem Major seine Komplimente.

»Beim Himmel, Sir«, sagte der Major. »Ihr müßt es etwas wärmer machen als so, oder der alte Joe wird nicht sonderlich willkommen sein.«

»So meldet meine Verehrung, wenn Ihr wollt, Major«, entgegnete Mr. Dombey. »Gott verdamm mich, Sir«, erwiderte der Major, scherzhaft seine Schultern und seine breiten Backen schüttelnd, »macht es etwas wärmer als so.«

»So handelt nach Eurem Gutdünken, Major«, bemerkte Mr. Dombey.

»Unser Freund ist schlau, Sir, schlau, Sir, verteufelt schlau«, sagte der Major, um die Tür herum nach Mr. Carter hinlugend. »Ganz wie Bagstock.« Dann hielt er plötzlich in einem Kichern inne, pflanzte sich in seiner vollen Höhe auf und rief feierlich, während er sich auf die Brust schlug: »Dombey, ich beneide Eure Gefühle. Gott behüte Euch!«

Und er entfernte sich.

»Ihr müßt in dem Gentleman einen wahren Schatz gefunden haben«, sagte Carker, ihm mit seinen Zähnen folgend.

»In der Tat«, versetzte Mr. Dombey.

»Er hat ohne Zweifel Freunde hier«, fuhr Carker fort. »Aus seinen Worten muß ich schließen, daß Ihr in Gesellschaft geht. Ich kann Euch versichern«, fügte er mit einem schrecklichen Lächeln bei, »es freut mich ungemein, daß Ihr Gesellschaft besucht.«

Mr. Dombey erkannte diese Kundgebung der Teilnahme von seiten seines Nächsten im Kommando dadurch an, daß er an seiner Uhrkette drehte und leicht den Kopf nickte.

»Ihr seid für die Gesellschaft geschaffen«, sagte Carker. »Von allen Menschen, die ich kenne, seid Ihr von Natur und durch Eure Stellung am meisten darauf hingewiesen. Ich gebe Euch mein Wort, schon oft war ich erstaunt darüber, daß Ihr Euch so lange fern von ihr gehalten habt.«

»Ich hatte meine Gründe, Carker. Ich war allein, und sie hatte kein Interesse für mich. Aber Ihr seid selber im Besitz guter geselliger Eigenschaften, und ich kann mir daher wohl denken, daß Ihr Euch darüber wundertet.«

»O, ich!« erwiderte der andere mit schnellfertiger Selbstgeringschätzung, »Bei einem Mann, wie ich, ist es etwa« ganz anderes. Mit einem Mann, wie Ihr es seid, kann ich mich gar nicht vergleichen.«

Mr. Dombey steckte seine Hand ins Halstuch, versenkte das Kinn darin, hustete und blickte seinen treuen Freund und Diener einige Augenblicke schweigend an.

»Ich werde das Vergnügen haben, Carker«, sagte endlich Mr. Dombey nach einer Anstrengung, als habe er etwas hinuntergeschluckt, was ein wenig zu groß für seine Kehle war – »Euch meinen – des Majors Freunden vorzustellen. Sehr angenehme Leute.«

»Vermutlich Damen darunter?« deutete der geschmeidige Geschäftsführer an.

»Lauter – das heißt beide sind Damen«, versetzte Mr. Dombey.

»Nur zwei?« – lächelte Carker.

»Ja, nur zwei. Ich habe meine Besuche auf ihr Haus beschränkt und keine andere Bekanntschaften hier angeknüpft.«

»Vielleicht Schwestern?« bemerkte Carker.

»Mutter und Tochter«, entgegnete Mr. Dombey.

Während Mr. Dombey seine Augen senkte und wieder an seinem Halstuch ordnete, wandelte sich im Augenblick und ohne eine Übergangsstufe sternchenland.com das Lächeln auf dem Gesicht Mr. Carters, des Geschäftsführers, in ein angelegentliches, finsteres Spähen, in dem sich zugleich ein häßlicher Hohn bemerklich machte. Mr. Dombey erhob die Augen wieder, und Carkers Gesicht nahm nicht weniger schnell abermals den alten Ausdruck an, dabei das ganze Zahnfleisch seiner Mundhöhle zeigend.

»Ihr seid sehr gütig«, sagte Mr, Carker, »und ich werde mich glücklich schätzen, sie kennenzulernen. Doch da eben von Töchtern die Rede ist – ich habe Miß Dombey gesehen.«

Ein mächtiger Blutstrom ergoß sich plötzlich in Mr. Dombeys Gesicht.

»Ich habe mir die Freiheit genommen, ihr meine Aufwartung zu machen«, fuhr Carker fort, »und sie zu fragen, ob sie mir nicht einen kleinen Auftrag mitzugeben habe. Ich bin nicht so glücklich, Euch mehr überbringen zu können, als ihre – ihre liebevollen Grüße.«

Was für ein Wolfsgesicht, in dem sich sogar durch den vorgestreckten Mund die heiße Zunge sichtbar machte, als die Augen denen von Mr. Dombey begegneten!

»Was habt Ihr hier für Geschäftsangelegenheiten?« fragte der gleiche Gentleman nach einer Pause, während der Mr. Carker einige Papiere und andere Notizen hervorgezogen hatte.

»Sehr wenig«, antwortete Carker. »Im ganzen haben wir in letzter Zeit nicht unser gewöhnliche« Glück gehabt: aber das hat für Euch keine sonderliche Bedeutung. Zu Lloyds gibt man den Sohn und Erben für verloren. Na, er war versichert vom Kiel bis zur Mastspitze.«

»Carker«, bemerkte Mr. Dombey, neben dem Berichterstatter einen Stuhl nehmend, »ich kann nicht sagen, daß der junge Mensch, der Gay, je einen günstigen Eindruck auf mich gemacht hätte –«

»Auf mich auch nicht«, unterbrach ihn der Geschäfteführer.

»Aber es wäre mir doch lieb«, fuhr Mr. Dombey fort, ohne auf die Störung zu achten, »wenn er nicht an Bord jenes Schiffs gekommen wäre. Ich wünschte, man hätte ihn nicht hinausgeschickt.«

»Es ist recht schade, daß Ihr Euch nicht zur rechten Zeit hierüber ausgesprochen habt«, erwiderte Carker mit Kälte. »Ich glaube übrigens, daß es am Ende so am besten war. Ja, ich bin überzeugt, es hätte nicht besser gehen können. Habe ich Euch schon gesagt, daß eine Art kleinen Vertrauens zwischen Miß Dombey und ihm stattfand?«

»Nein«, sagte Mr. Dombey finster.

»Ich zweifle nicht daran«, fuhr Mr. Carker nach einer ausdrucksvollen Pause fort, »daß Gay, wo er jetzt auch sein mag, an einem passenderen Ort ist, als wenn er in der Heimat wäre. An Eurer Stelle würde ich mich vollkommen darüber zufrieden geben, wie denn auch ich die volle Überzeugung in mir trage, es hätte nicht besser kommen können. Wenn Miß Dombey je einen Fehler hat, so besteht er darin, daß sie ein allzu vertrauensseliges junges Wesen ist – vielleicht nicht stolz genug für Eure Tochter. Ich habe allerdings sternchenland.com nicht im Sinn, ihr damit einen Vorwurf zu machen. Wollt Ihr diese Bilanzen mit mir vergleichen?«

Mr. Dombey lehnte sich in seinem Stuhl zurück und blickte, statt sich über die ihm vorgelegten Papiere niederzubeugen, dem Geschäftsführer fest ins Gesicht. Dieser, der seine Augenlider leicht erhob, tat dergleichen, als sei er bloß bei seinen Zahlen und warte, bis sein Chef Zeit gewinne. Dieses Benehmen war sichtlich erkünstelt und schien aus einem großen Zartgefühl hervorzugehen, das Mr. Dombeys Empfindungen schonen wollte. Auch erkannte dieser die wohlmeinende Rücksicht an, und sein Inneres sagte ihm, sein vertrauter Geschäftsführer hätte wohl noch viel mitteilen können, was Mr. Dombey durch Fragen herauslocken zu wollen zu stolz war. Mr. Carker pflegte es in Geschäftssachen oft so zu halten. Allmählich verlor Mr. Dombeys Blick seine Strenge, und die Aufmerksamkeit dieses Gentlemans wurde durch die Papiere vor ihm in Anspruch genommen. Aber selbst während er damit beschäftigt war, hielt er häufig inne und blickte wieder Mr. Carker an. So oft dies aber geschah, zeigte der Geschäftsführer sein früheres Zartgefühl und machte dadurch nur einen um so größeren Eindruck auf seinen Chef.

Während die beiden Männer so beschäftigt waren und unter der gewandten Leitung des Geschäftsführers in Dombey an die Stelle der kalten Abneigung, die dort gewöhnlich herrschte, zornige Gedanken gegen die arme Florence traten, ging der von den alten Damen Leamingtons so sehr bewunderte Major Bagstock im Geleite des Eingeborenen, der das gewöhnliche leichte Gepäck trug, auf der schattigen Seite des Weges weiter, um bei Mrs. Skewton einen Besuch zu machen. Es war schon Mittag, als der Major Kleopatras Palast erreichte; er hatte das Glück, seine Prinzessin wie gewöhnlich auf dem Sofa zu finden. Sie schmachtete über eine Tasse Kaffee, und das Zimmer war zum Zwecke einer schwelgerischen Ruhe so verdunkelt und schattig, daß der aufwartende Withers sich wie ein gespenstiger Page ausnahm.

»Was kommt da für ein unerträglicher Mensch!« sagte Mrs. Skewton. »Nein, es ist nicht auszuhalten. Geht nur wieder fort, wer Ihr auch sein mögt!«

»Ihr habt nicht das Herz, J. B. zu verbannen, Ma’am!« versetzte der Major, der, um seine Gegenvorstellungen anzubringen, mit dem Rohr über der Schulter in der Mitte des Zimmers haltmachte.

»O, Ihr seid es? Nun ja, wenn ich’s weiter überlege, so könnt Ihr näher kommen«, bemerkte Kleopatra.

Demgemäß kam der Major näher, trat auf das Sofa zu und drückte ihre bezaubernde Hand an seine Lippen.

»Nehmt Platz«, sagte Kleopatra, leicht mit ihrem Fächer winkend, »aber nur recht weit von mir. Kommt mir nicht zu nahe, denn ich bin diesen Morgen schrecklich angegriffen und reizbar. Ihr riecht nach der Sonne und seid absolut tropisch.«

»Beim Georg, Ma’am«, entgegnete der Major, »es hat eine Zeit gegeben, in der Joseph Bagstock von der Sonne eigentlich gebraten sternchenland.com wurde. Damals, Ma’am, brachte ihn die hohe Treibhaushitze Westindiens zu einem so üppigen Wachstum, daß er nur als die Blume bekannt war. In jenen Tagen hörte man nie etwas von Bagstock, Ma’am, sondern nur von der Blume – die Blume der Unsrigen. Die Blume mag mehr oder weniger verblüht sein, Ma’am«, bemerkte der Major, sich in einen viel näheren Stuhl niederlassend, als ihm von seiner grausamen Göttin angedeutet worden war, »aber es ist noch immer eine zähe Pflanze und beständig wie das Immergrün,«

Unter dem Schutz des dunkeln Zimmers schloß jetzt der Major das eine Auge, rollte seinen Kopf wie ein Harlekin und gelangte in seiner großen Selbstzufriedenheit vielleicht näher an die Grenzen eines Schlaganfalls, als dies je zuvor der Fall gewesen.

»Wo ist Mrs. Granger?« fragte Kleopatra ihren Pagen.

Withers glaubte, daß sie sich auf ihrem Zimmer befinde.

»Sehr gut«, versetzte Mrs. Skewton. »Geh jetzt und schließe die Tür. Ich bin beschäftigt.«

Nachdem Withers verschwunden war, drehte Mrs. Skewton ohne weitere Bewegung ihren Kopf matt gegen den Major hin und fragte, wie es seinem Freund ergehe.

»Dombey, Ma’am«, erwiderte der Major mit einem scherzhaften Gurgeln in seiner Kehle, »ist so munter, wie es ein Mann in seiner Lage nur sein kann. Aber sein Zustand ist ein verzweifelter, Ma’am, Dombey ist getroffen – tief getroffen!« rief der Major. »Ein Bajonett steckt ihm im Leibe.«

Kleopatra warf einen scharfen Blick auf ihren Gefährten, der einen lebhaften Gegensatz zu dem künstlich gedehnten Ton bot, in dem sie jetzt sagte:

»Major Bagstock, ich kenne die Welt nur wenig und kann in der Tat meine Unerfahrenheit bedauern, denn ich fürchte, es ist eine falsche Welt, voll von lähmenden gesellschaftlichen Rücksichten, wobei auf die Natur nur wenig Rücksicht genommen wird und die Musik des Herzens, der Erguß der Seele und dergleichen wahrhaft poetische Dinge nur selten gehört werden. Trotzdem kann ich mich nicht täuschen in dem, was Ihr sagen wollt, Ihr spielt mit Euren Worten auf Edith an – auf mein mir über die Maßen teures Kind« – fügte Mrs. Skewton bei, indem sie mit dem Zeigefinger über die Augenbrauen hinfuhr, »und da erbeben in der Tat die zartesten Saiten.«

»Derbheit, Ma’am«, erwiderte der Major, »ist stets ein charakteristischer Zug der Bagstock-Rasse gewesen. Ihr habt recht. Joe gibt es zu.«

»Und jene Anspielung«, fuhr Kleopatra fort, »betrifft, glaube ich, eines der ergreifendsten – wenn nicht entschieden das ergreifendste und heiligste Gefühl, dessen unsere kläglich gefallene Natur fähig ist.«

Der Major legte seine Hand auf die Lippen und warf Kleopatra einen Kuß zu, als wolle er dadurch das fragliche Gefühl näher bezeichnen.

»Ich bin sehr angegriffen. Ich fühle, daß es mir an jener Tatkraft fehlt, die in einer solchen Angelegenheit eine Mutter aufrecht erhalten sollte«, sagte Mrs. Skewton, ihre Lippen mit dem Spitzenrande ihres Taschentuchs berührend; »aber ich kann mich kaum ohne ein Gefühl, das an Ohnmacht grenzt, auf einen Gegenstand einlassen, der für meine teure Edith so ungemein wichtig ist. Da Ihr übrigens, schlimmer Mann, so kühn darauf losgegangen seid, so will ich ungeachtet des großen Schmerzes« – Mrs. Skewton berührte dabei ihre linke Seite mit dem Fächer – »den es mir bereitet hat, nicht vor meiner Pflicht zurückbeben.«

Unter dem Schutze der Dunkelheit ließ der Major sein mehr und mehr anschwellendes Purpurgesicht umherrollen; dabei blinzelte er mit den Hummer-Augen, bis er in einen Zustand von Kurzatmigkeit verfiel, die ihn zwang, sich zu erheben und einige Male im Zimmer auf und ab zu gehen, ehe seine schöne Freundin fortfahren konnte.

»Mr. Dombey«, nahm Mr. Skewton endlich das Gespräch wieder auf, »ist nun schon viele Wochen so gefällig, uns in Eurer Gesellschaft, mein teurer Major, mit seinen Besuchen zu beehren. Laßt mich offen gegen Euch sein. Es ist mein Fehler, daß ich ein Geschöpf des Impulses bin und mein Herz, sozusagen, außen trage. Ich bin mir meiner Mängel vollkommen bewußt, und mein Feind könnte sie nicht besser kennen. Aber es tut mir nicht leid, daß es so ist; denn ich möchte nicht einfrieren in dieser herzlosen Welt und lasse es mir gern gefallen, wenn man mir mit Recht einen solchen Vorwurf macht.«

Mrs. Skewton ordnete ihr Vorstecktuch, kniff ihren mageren Hals, um ihm eine glatte Oberfläche zu geben, und fuhr mit großer Selbstgefälligkeit fort:

»Es hat mir und zuverlässig auch meiner lieben Edith ein ungemeines Vergnügen gemacht, Mr. Dombey hier aufzunehmen. Da er Euer Freund ist, mein teurer Major, so waren wir natürlich schon zum vorhinein für ihn eingenommen, und es dünkt mich, ich habe an Mr. Dombey eine Überfülle von Herz wahrgenommen, die ungemein erfrischend ist.«

»Es ist jetzt ein verteufelt kleines Herz in Dombey, Ma’am«, versetzte der Major.

»Sie böser Mann!« rief Mrs. Skewton, schmachtend nach ihm hinblickend, »ich bitte, redet nicht so«.

»J. B. ist stumm, Ma’am«, sagte der Major.

»Mr. Dombey«, fuhr Kleopatra fort, indem sie die rosige Farbe auf ihren Wangen glättete, »hat später seine Besuche wiederholt. Vielleicht findet er etwas Anziehendes in der Einfachheit und Kunstlosigkeit unserer Gewohnheiten – denn es liegt stets ein Zauber in der Natur – ein so gar süßer Zauber –, und darum wurde er jeden Abend ein Glied unseres kleinen Kreises. Freilich dachte ich wenig an die schwere Verantwortlichkeit, die ich mir auflud, als ich Mr. Dombey ermutigte –«

»Diese Quartiere zu bestürmen, Ma’am«, ergänzte Major Bagstock.

»Roher Mensch!« sagte Mr. Skewton. »Ihr greift dem vor, was ich sagen wollte, obschon in einer sehr häßlichen Sprache.«

Mrs. Skewton legte jetzt ihren Ellenbogen auf den nebenstehenden kleinen Tisch, ließ, wie sie meinte, ihre Hand in einer anmutigen geziemenden Weise sinken, schwang ihren Fächer hin und her und bewunderte während ihrer Rede mit lässigem Blick ihre Finger.

»Die innere Pein, die ich erduldete«, fuhr sie geziert fort, »wie allmählich die Wahrheit in mir aufdämmerte, ist zu schrecklich gewesen, als daß ich mich weiter darüber verbreiten könnte. Mein ganzes Dasein ist an meine süße Edith gekettet, und es ist wirklich im höchsten Grade ergreifend, wenn ich mitansehen muß, wie mein schöner Liebling, der seit dem Tod jenes herrlichen Granger sein Herz eigentlich abgeschlossen hält, sich von Tag zu Tag verändert.«

Die Welt Mrs. Skewtons war keine durch Kritik sonderlich getrübte. Das mußte man aus der Art merken, wie selbst die ergreifendsten Dinge auf sie wirkten. Doch das nur nebenbei.

»Man sagt«, fuhr Mr. Skewton in geziertem Ton fort, »Edith, diese vollkommene Perle meines Lebens, habe Ähnlichkeit mit mir, und ich glaube, daß sie mein leibhaftiges Ebenbild ist.«

»Es gibt einen Mann in der Welt, der nie zugeben wird, daß irgend etwas mit Euch zu vergleichen sei, Ma’am«, sagte der Major; »und dieser Mann ist der alte Joe Bagstock.«

Kleopatra tat, als wolle sie mit ihrem Fächer dem Schmeichler das Gehirn einschlagen, kam übrigens doch auf eine mildere Gesinnung zurück und lächelte ihm zu, während sie weiter sprach:

»Boshafter Mann«, – hiermit war der Major gemeint – »wenn mein bezauberndes Mädchen irgend etwas Gutes von mir geerbt hat, so ist sie auch die Erbin meiner törichten Natur. Sie besitzt große Charakterstärke – auch an mir wollte man sie in ungemeinem Grade bemerkt haben, obschon ich es nicht glaube – aber einmal gerührt, ist sie ausnehmend empfänglich und gefühlvoll. Denkt Euch meine Empfindungen, wenn ich sehen muß, wie sie sich abhärmt! Wahrhaftig, sie bringen mich noch unter die Erde.«

Der Major schob sein Doppelkinn vor, legte in seine blauen Lippen einen beschwichtigenden Ausdruck und bekundete seine tiefste Teilnahme.

»Das Vertrauen, das zwischen uns bestanden hat«, sagte Mrs. Skewton – »die freie Entfaltung der Seele und die Offenheit der Empfindung – ach, wie ergreifend ist es nicht, nur daran zu denken. Wir lebten mehr wie Schwestern, als wie Mutter und Kind.«

»Ganz J. B.s Ansicht«, bemerkte der Major, »von J. B. schon fünfzigtausendmal ausgesprochen.«

»Unterbrecht mich nicht, roher Mann!« sagte Kleopatra. »Was müssen also meine Gefühle sein, wenn ich finde, daß e i n Gegenstand vorhanden ist, der von uns vermieden wird – daß (wie soll ich’s doch nennen?) eine Meeresenge sich zwischen uns geöffnet hat – daß sternchenland.com meine arglose Edith sich so gegen mich ändern könnte! Die« schneidet natürlich tief in die Seele ein.«

Der Major verließ seinen Stuhl und setzte sich auf einen andern, der dem kleinen Tische näher stand.

»Von Tag zu Tag muß ich das mit ansehen, mein teurer Major«, fuhr Mr. Skewton fort. »Von Tag zu Tag fühle ich es. Von Stunde zu Stunde mache ich mir Vorwürfe über das Übermaß der Vertrauensfülle, die zu so betrübenden Folgen führte, und fast von Minute zu Minute hoffe ich, Mr. Dombey werde sich erklären und mir die Folter abnehmen, die mich aufreibt. Aber nichts von alledem ergibt sich, mein teurer Major. Ich bin eine Sklavin meiner Gewissensbisse – nehmt doch die Tasse in acht; Ihr seid so ungeschickt – meine teure Edith ist ein ganz anderes Wesen, und ich sehe in der Tat nicht ein, was sich tun läßt oder mit welcher wohlmeinenden Person ich mich beraten kann.«

Vielleicht ermutigt durch den sanften und vertraulichen Ton, in den Mrs. Skewton mehrere Male für eine kurze Weile verfallen war, schien der Major geneigt zu sein, den Wohlmeinenden zu spielen; denn er streckte seine Hand über den kleinen Tisch aus und sagte mit einem Schielblick:

»Beratet Euch mit Joe, Ma’am.«

»O Ihr abscheuliches Ungeheuer«, versetzte Kleopatra, die eine Hand dem Major reichend und mit dem Fächer, den sie in der andern hielt, dessen Finger klopfend, »warum sprecht Ihr dann nicht mit mir? Ihr wißt, was ich meine. Warum sagt Ihr mir nicht etwas Sachgemäßes?«

Der Major lachte, küßte die ihm vertraute Hand und lachte abermals aus vollem Hals.

»Ist in Mr. Dombey so viel Herz, wie ich ihm zutraue?« sprach Kleopatra mit zärtlichem Schmachten. »Glaubt Ihr, es sei ihm Ernst, mein teurer Major? Ratet Ihr dazu, daß man mit ihm darüber spreche, oder soll man es unterlassen? So sprecht Euch aus wie ein lieber Mann, und sagt mir Eure Ansicht.«

»Sollen wir ihn mit Edith Granger verheiraten, Ma’am?« versetzte der Major mit heiserem Kichern.

»Geheimnisreicher Mensch!« entgegnete Kleopatra, ihren Fächer in die Nähe der Nase des Majors bringend. »Wie können wir ihn verheiraten?«

»Sollen wir ihn mit Edith Granger verheiraten, Ma’am? sage ich«, kicherte der Major abermals.

Mrs. Skewton gab keine Erwiderung in Worten, lächelte aber dem Major so schlau und lebhaft zu, daß der wackere Offizier, der hierin eine Herausforderung sah, ihren ungemein roten Lippen einen Kuß aufgedrückt haben würde, wenn sie nicht mit sehr gewinnender jugendlicher Gewandtheit den Fächer dazwischen gebracht hätte. Möglich, daß der Grund in ihrer Verschämtheit lag; vielleicht aber fürchtete sie auch Gefahr für ihr Rot.

»Dombey, Ma’am«, sagte der Major, »ist ein guter Fang.«

»O, Ihr jämmerlicher Geldmensch!« rief Kleopatra mit einem leichten Schrei. »Ihr entsetzt mich.«

»Und Dombey, Ma’am«, fuhr der Major fort, indem er den Kopf vorwärts schob und die Augen weit aufsperrte, »meint es ernsthaft. Joseph versichert Euch das. Bagstock weiß es, und J. B. hat ihn scharf auf dem Korn. Überlaßt es nur Dombey selbst, Ma’am. Benehmt Euch bloß wie bisher: tut nichts weiter und baut im übrigen auf J. B.«

»Glaubt Ihr dies wirklich, mein teurer Major?« entgegnete Kleopatra, die ihn ungeachtet ihrer gleichgültigen Haltung sehr behutsam und spähend ins Auge gefaßt hatte.

»Seid davon überzeugt, Ma’am«, antwortete der Major. »Kleopatra, die Unvergleichliche, und ihr Antonius Bagstock werden oft triumphierend davon sprechen, wenn sie an der Eleganz und dem Reichtum von Edith Dombeys Hause teilnehmen. Dombeys rechte Hand, Ma’am«, fügte der Major bei, indem er plötzlich in einem Kichern abbrach und sehr ernst wurde, »ist angekommen.«

»Heute morgen?« fragte Kleopatra.

»Ja, heute morgen, Ma’am«, antwortete der Major. »Und Dombeys sehnliches Verlangen nach ihm, Ma’am – nehmt J. B.s Wort dafür: denn Joe ist verteufelt schlau«, – der Major klopfte dabei an seine Nase und riß das eine seiner Augen weit auf, so daß seine natürliche Schönheit nicht sonderlich dadurch erhöht wurde – »hat bloß in dem Wunsch seinen Grund, daß dieser erfahre, wohin der Wind weht, ohne daß Dombey nötig hat, es ihm zu sagen, oder sich mit ihm zu beraten. Denn Dombey ist so stolz, Ma’am«, fügte der Major bei, »wie Luzifer.«

»Eine bezaubernde Eigenschaft«, lispelte Mrs. Skewton, »die sehr an die liebe Edith erinnert.«

»Gut, Ma’am«, sagte der Major. »Ich habe bereits Winke hingeworfen, und die rechte Hand versteht sie. Ich will noch mehr fallen lassen, ehe der Tag vorbei ist, Dombey ist heute auf den Gedanken gekommen, morgen nach einem Frühstück bei uns einen Ausflug nach Warwick Castle und Kenilworth zu machen. Ich übernahm die Besorgung dieser Einladung. Wollt Ihr uns so weit beehren, Ma’am?« fragte der Major, den Schlauheit und kurzer Atem geradezu aufblähten, als er ein Billet, der gefälligen Besorgung des Major Bagstock an die hochwohlgeborene Mrs. Skewton übergeben, hervorzog. Darin ersuchte ihr stets getreuer Paul Dombey sie und ihre liebenswürdige hochbegabte Tochter um die Gunst, sich dem beantragten Ausflug anzuschließen, während in einer Nachschrift derselbe stets getreue Paul Dombey seine schönsten Empfehlungen an Mrs. Granger ausrichten ließ.

»Pst!« sagte Kleopatra plötzlich. »Edith!«

Es läßt sich kaum beschreiben, wie die liebevolle Mutter bei diesem Ausrufe ihr lässiges und geziertes Wesen wieder annahm, da sie es eigentlich nie abgelegt hatte. Daß sie es jemals tun würde, konnte man an keinem andern Orte als etwa im Grabe für möglich sternchenland.com halten. Indes beseitigte sie hastig jeden Schatten von Ernst, jedes leise Zugeständnis von löblicher oder arglistiger Absichtlichkeit, das sich für einen Augenblick in ihrem Gesicht, ihrer Stimme oder ihrem Wesen kundgegeben hatte, so daß sie, als Edith ins Zimmer trat, in ihrer trägsten und nachlässigsten Haltung wieder auf dem Sofa saß.

Edith, so schön und stattlich, aber doch so kalt und abstoßend! Mit einer leichten Verbeugung von der Gegenwart des Majors Bagstock Notiz nehmend, warf sie einen stechenden Blick auf ihre Mutter, zog von einem Fenster den Vorhang zurück, setzte sich vor diesem nieder und schaute hinaus.

»Meine teure Edith«, sagte Mrs. Skewton, »wo in aller Welt bist du denn gewesen? Ich habe dich kläglich vermißt, meine Liebe.«

»Ihr sagtet, daß Ihr beschäftigt seid, und deshalb blieb ich fort«, entgegnete Edith, ohne ihren Kopf umzuwenden.

»Es war eine Grausamkeit gegen den alten Joe, Ma’am«, sagte der Major in seiner Galanterie.

»Ich weiß, eine große Grausamkeit«, versetzte sie, noch immer zum Fenster hinaussehend, mit einer so ruhigen Verachtung, daß der Major sich geschlagen sah und nichts zu erwidern wußte.

»Major Bagstock, teure Edith«, sprach die Mutter in gedehntem Ton, »ist, wie du weißt, in der Regel der nützlichste und angenehmste Mann von der Welt –«

»Es ist in der Tat nicht der Mühe wert, solche Phrasen zu beachten, Ma’am«, entgegnete Edith zurückblickend. »Wir sind ja unter uns und kennen einander.«

Der ruhige Spott auf ihrem schönen Gesicht – ein Spott, der augenscheinlich ebensogut ihr selbst, wie den andern galt – war so nachdrücklich ausgeprägt, daß für den Augenblick ungeachtet ihrer sehr zähen Konstitution die Ziererei der Mutter davor weichen mußte.

»Mein liebes Mädchen«, begann sie wieder.

»Noch immer nicht Frau?« versetzte Edith mit einem Lächeln.

»Ach, wie bist du doch heute so seltsam, meine Liebe! Ich muß dir mitteilen, mein Kind, daß Major Bagstock ein sehr freundliches Billett von Mr. Dombey überbracht hat; er lädt uns ein, morgen bei ihm zu frühstücken und eine Fahrt nach Warwick und Kenilworth mitzumachen. Willst du dich anschließen. Edith?«

»Ob ich will!« wiederholte sie mit tiefem Erröten, und ihre Atemzüge flogen schneller, als sie nach ihrer Mutter hinblickte.

»Ich wußte es wohl, daß du damit einverstanden bist, mein Herz«, bemerkte die letztere gleichgültig, »und wie du sagst, frage ich nur um der Form willen. Hier ist Mr. Dombeys Brief, Edith.«

»Ich danke, es verlangt mich nicht danach, ihn zu lesen«, lautete die Antwort.

»Dann ist es vielleicht besser, wenn ich die Antwort übernehme«, sagte Mrs. Skewton, »obschon ich im Sinne hatte, dich zu bitten, daß du das Amt meines Sekretärs versehest.«

Da Edith keine Bewegung machte und auch nichts darauf erwiderte, sternchenland.com bat Mrs. Skewton den Major, ihr den kleinen Tisch etwas näher zu rücken, das Pult darauf zu öffnen und für sie Feder und Papier herauszunehmen. Alle diese galanten Dienstleistungen versah der Major mit vieler Unterwürfigkeit und Ergebung.

»Deine Empfehlung, liebe Edith?« fragte Mrs. Skewton, als sie, die Feder in der Hand, bei der Nachschrift innehielt.

»Was Ihr wollt, Mama«, antwortete Edith mit ungemeiner Gleichgültigkeit, ohne daß sie den Kopf umwandte.

Mrs. Skewton schrieb, was sie wollte, ohne weitere bestimmtere Weisungen einzuholen, und übergab ihr Billett dem Major, der, als er die kostbaren Zeilen in Empfang nahm, tat, als wolle er das Blatt in der Nähe seines Herzens aufbewahren. Da jedoch seine Weste ein etwas unsicherer Platz war, so mußte er es der Tasche seiner Hosen anvertrauen. Der Major nahm sodann von den beiden Damen einen sehr höflich galanten Abschied, der von der älteren in der gewöhnlichen Weise aufgenommen wurde, während die jüngere, die mit ihrem Gesicht gegen das Fenster gekehrt dasaß, ihren Kopf nur so leicht verneigte, daß es für den Major ein größeres Kompliment gewesen wäre, wenn sie gar kein Zeichen von sich gegeben und ihn bei der Meinung gelassen hätte, sein »Auf Wiedersehen« sei gar nicht gehört worden.

Was die Veränderung an ihr betrifft, Sir, dachte der Major auf seinem Heimwege, auf dem er, da der Nachmittag sehr sonnig und heiß war, den Eingeborenen mit dem leichten Gepäck vorausgehen ließ, um in dem Schatten dieses aus dem Vaterland verbannten Prinzen wandeln zu können – was die Veränderung, das Abhärmen usw. betrifft, so muß man damit Joseph Bagstock nicht kommen wollen. Nichts da, Sir. Es verfängt hier nicht. Aber daß eine Art Spaltung zwischen ihnen herrscht – eine Meeresenge, wie es die Mutter nennt, – Gott verdamme mich, Sir, dies scheint richtig genug zu sein. Und es ist auch seltsam genug! Na, Sir, keuchte der Major, Edith Granger und Dombey sind sich gegenseitig trefflich gewachsen; sie mögen es miteinander ausfechten! Bagstock hält sich auf die Seite des gewinnenden Teils.

Da der Major in der Wärme seiner Gedanken diese letzteren Worte laut sprach, so blieb der unglückliche Eingeborene, der sich persönlich angeredet wähnte, stehen und schaute zurück. Über diesen Akt des Ungehorsams im höchsten Grade aufgebracht, stieß der Major, obschon er in jenem Augenblicke aus Freude über seinen eigenen Humor förmlich aufgedunsen war, sogleich seinen Stock zwischen die Rippen des Eingeborenen und fuhr fort, in kurzen Zwischenräumen diesen dauernd auf dem ganzen Weg nach dem Hotel in solcher Weise zu spornen.

Der Unmut des Majors hatte sich noch nicht gelegt, als er sich zum Diner ankleidete; denn während dieses Geschäfts war der schwarze Diener einem Schauer von unterschiedlichen Gegenständen ausgesetzt, die der Größe nach vom Stiefel bis zur Haarbürste wechselten und alles in sich schlossen, was in den Bereich des strengen sternchenland.com Gebieters geriet. Der Major tat sich nämlich viel darauf zu gut, den Eingeborenen vollkommen einexerziert zu haben, und suchte daher auch das mindeste Abweichen von der pünktlichsten Mannszucht mit einer derartigen erschöpfenden Anstrengung heim. Dazu kam noch, daß der Eingeborene als ein Gegenmittel gegen Gicht und alle anderen, sowohl körperlichen wie geistigen Verdrießlichkeiten stets in seiner Nähe sein mußte, so daß der arme Schwarze augenscheinlich seinen nicht großen Lohn sauer verdiente.

Nachdem endlich der Major alle Wurfgeschoße, die ihm unter die Hand kamen, verbraucht und den Eingeborenen mit so vielen neuen Titeln beehrt hatte, daß dieser wohl allen Grund erhielt, sich über den Reichtum der Sprache seines Herrn zu wundern, ließ er sich seine Halsbinde anlegen. Sobald er nun angekleidet war und die Bemerkung machte, daß er durch die erwähnte Übung in einen hohen Geistesschwung versetzt worden, begab er sich die Treppe hinunter, um zu der Erheiterung von Dombey und dessen rechter Hand beizutragen.

Dombey befand sich noch nicht im Zimmer, aber die rechte Hand war da und hielt wie gewöhnlich die Zahnschätze für den Major bereit.

»Nun, Sir,« rief der Major, »wie habt Ihr die Zeit verbracht, seit ich das Glück hatte, zum erstenmal mit Euch zusammenzutreffen? Seid Ihr ausgegangen?«

»Ich bin kaum ein halbes Stündchen umhergeschlendert«, versetzte Carker. »Wir waren sehr in Anspruch genommen.«

»Vermutlich durch Geschäftsangelegenheiten?« fragte der Major.

»Es waren allerlei Kleinigkeiten zu verhandeln«, entgegnete Carker. »Ihr müßt übrigens wissen – das ist ganz ungewöhnlich für mich, denn ich bin in einer mißtrauischen Schule erzogen und in der Regel nicht zur Mitteilsamkeit geneigt.« Dann brach er plötzlich ab und sprach in einem bezaubernden Tone von Freimut: »Trotzdem ist es mir, als könne ich ganz vertraulich gegen Euch sein, Major Bagstock.«

»Sehr viele Ehre für mich, Sir«, entgegnete der Major, »Ihr dürft es übrigens unverhohlen.«

»So will ich Euch denn sagen«, fuhr Carker fort, »daß ich meinen Freund – oder unsern Freund, sollte ich ihn vielmehr nennen –«

»Ihr meint wohl Dombey, Sir?« erwiderte der Major. »Ihr seht mich, Mr. Carker, wie ich hier stehe – J.B. –?«

Er war gedunsen und blau genug anzusehen, und Mr. Carker entgegnete, daß er das Vergnügen habe.

»Dann seht Ihr einen Mann, Sir, der durch Feuer und Wasser gehen würde, um Dombey zu dienen«, entgegnete Major Bagstock.

Mr. Carker lächelte und entgegnete, daß er davon überzeugt sei.

»Um da fortzufahren, Major, wo ich stehenblieb«, nahm er wieder auf, »muß ich Euch sagen, daß ich unsern Freund heute nicht so aufmerksam auf Geschäftssachen fand, wie gewöhnlich.«

»Nicht?« bemerkte der entzückte Major.

»Er war etwas zerstreut und schien geneigt zu sein, seine Gedanken anderwärts umherirren zu lassen«, sagte Carker.

»Beim Jupiter, Sir«, rief der Major, »dann ist eine Dame mit im Spiel.«

»Ich fange in der Tat an, zu glauben, daß etwas Derartiges der Fall sein muß«, versetzte Carker. »Als Ihr heute einen Wink hinzuwerfen schienet, hielt ich es für einen Scherz, denn ich weiß, Ihr Herren vom Militär –«

Der Major ließ seinen Pferdehusten erschallen und schüttelte Kopf und Schultern, als wollte er sagen, »ja wir sind freilich lockere Zeisige; das ist nicht in Abrede zu stellen«. Dann faßte er Mr. Carker beim Knopfloch und flüsterte ihm mit weit vorspringenden Augen ins Ohr, sie sei ein Frauenzimmer von außerordentlichen Reizen, Sir – eine junge Witwe, Sir – von einer ausgezeichneten Familie, Sir – Dombey sei über Kopf und Ohren in sie verliebt, Sir, und es handle sich dabei um eine treffliche Partie von beiden Seiten. Sie besitze Schönheit, Blut und Talent, Dombey dagegen sei reich; was könne man also von einem Paar weiter verlangen. Da sich jetzt draußen Mr. Dombeys Fußtritt vernehmen ließ, so brach der Major kurz mit den Worten ab, Mr. Carter werde sie morgen früh sehen und könne sich dann selbst ein Urteil bilden. In dieser geistigen Aufregung und unter der Anstrengung, alles dies in einem kurzatmigen Flüstern zu sagen, blieb der Major mit gurgelnder Kehle und tränenden Augen sitzen, bis das Diner bereit war.

Wie einige andere edle Tiere nahm sich der Major bei der Fütterungszeit sehr vorteilhaft aus. Bei dieser Gelegenheit glänzte er eigentlich am einen Ende der Tafel, gehoben durch das mildere Strahlen Mr. Dombeys an dem anderen, während Mr. Carker sein Licht bald nach der einen Seite hin, oder nach Befund der Umstände nach beiden leuchten ließ.

Während der ersten paar Gänge war der Major gewöhnlich ernst; denn der Eingeborene sammelte gemäß der insgeheim an ihn erlassenen Weisungen alle Tellerchen und Näpfe um seinen Gebieter her, und gab ihm deshalb mit Herausnehmen der Stöpsel und Mischen des Inhalts auf seinem Teller viel zu schaffen. Außerdem hatte der schwarze Diener besondere Zugaben und Gewürze auf einem Seitentisch stehen, mit denen der Major sich täglich beizte, der seltsamen Maschinen gar nicht zu gedenken, aus denen er unbekannte Flüssigkeiten in das Getränk spritzen ließ. Doch auch bei dieser Gelegenheit und sogar in Mitte der vielen Beschäftigungen fand Major Bagstock Zeit, gesellig zu sein, und seine Unterhaltsamkeit bestand in einer ausnehmenden Schlauheit gegen Mr. Carker, wie auch im Bloßlegen von Mr. Dombeys Gemütszustand.

»Dombey«, sagte der Major; »Ihr eßt nicht; was fehlt Euch?«

»Ich danke«, entgegnete dieser Gentleman. »Ich befinde mich wohl, habe aber heute keinen sonderlichen Appetit.«

»Aber, Dombey, was ist denn daraus geworden?« fragte der sternchenland.com Major. »Wo ist er geblieben? Ich will darauf schwören, Ihr habt ihn nicht bei unsern Freundinnen gelassen; denn ich stehe dafür, daß sie heute niemanden beim Lunch hatten. Für eine davon kann ich wenigstens Bürgschaft leisten, obschon ich nicht sagen will, für welche.«

Der Major blinzelte sodann Carker zu und wurde dabei so schrecklich schlau, daß der schwarze Diener ihn ohne Auftrag auf den Rücken klopfen mußte, weil sein Gebieter sonst wahrscheinlich unter dem Tisch verschwunden wäre.

In einem späteren Zeitpunkt des Diners – d.h. als der Eingeborene neben seinem Gebieter stand, um die erste Flasche Champagner einzugießen, wurde der Major noch schlauer.

»Fülle dies bis zum Rand, du Schurke«, sagte der Major, ihm sein Glas hinhaltend. »Gieße auch Mr. Carker randvoll ein – desgleichen Mr. Dombey. Bei Gott, Gentlemen«, fuhr der Major mit einem Blinzeln gegen seinen neuen Freund fort, während Mr. Dombey mit schuldbewußter Miene auf seinen Teller schaute, »wir wollen dieses Glas einer Gottheit weihen, die Joe mit Stolz unter seine Bekanntschaften zählt und die er aus dem Staube ehrerbietig bewundert. Edith ist ihr Name«, sagte der Major. »Die engelgleiche Edith.«

»Die engelgleiche Edith!« rief Carker lächelnd.

»Auf alle Fälle Edith!« sagte Mr. Dombey.

Das Eintreten der Kellner, die neue Schüsseln brachten, bewog den Major zu noch größerer Schlauheit, obschon er in eine ernstere Stimmung überging.

»Wenn wir unter uns sind, Sir«, sagte der Major, einen Finger an seine Lippen legend und halb beiseite zu Carker sprechend, »so liebt es Joe Bagstock wohl, in dieser Angelegenheit Scherz und Ernst zu mengen. Aber er hält den erwähnten Namen für viel zu heilig, als daß solche Kerle oder überhaupt gewöhnliche Kreaturen darin eingeweiht werden dürften. Keine Silbe darüber, Sir, solange sie hier sind!«

Das war anerkennenswert und achtungsvoll von seiten des Majors, und Mr. Dombey fühlte es vollkommen. Obschon in seiner kalten Weise durch die Anspielungen seines Freundes in einige Verlegenheit gebracht, hatte er doch nichts gegen solche Neckereien einzuwenden, sondern schien sich sogar darin zu gefallen. Vielleicht hatte der Major ziemlich die Wahrheit getroffen, als er sich heute morgen einbildete, der große Mann sei zu stolz, um sich in einer solchen Angelegenheit mit seinem Premierminister förmlich zu beraten oder ihn ins Vertrauen zu ziehen, obschon er wünschte, daß dieser vollkommen davon in Kenntnis gesetzt werde. Mochte dem übrigens sein, wie es wolle, Dombey schaute, während der Major seine leichten Geschosse spielen ließ, oft nach Mr. Carker hin und schien beobachten zu wollen, welche Wirkung sie auf seine rechte Hand machten.

Der Major aber, der sich einen aufmerksamen Zuhörer, einen Mann mit einem Lächeln, wie es in der ganzen Welt keines mehr sternchenland.com gab, kurz »einen verdammt gescheiten und angenehmen Burschen«, wie er ihn später oft nannte, gesichert hatte, wollte ihn nicht bloß mit dem bißchen Schlauheit, die sich persönlich auf Mr. Dombey bezog, loslassen. Daher zeigte er sich nach Entfernung des Tischtuches als einen ganz erlesenen Geist in dem weit umfassenderen Bereiche des Erzählens von Regimentsgeschichten und Vorbringens von Soldatenspäßen. Das tat er mit einem so erstaunlichen Überströmen, daß Carker – wenn er nicht nur sich so anstellte, von Lachen und Bewunderung völlig erschöpft wurde, während Mr. Dombey über seiner steifen Halsbinde herausblickte, als sei er der Eigentümer des Majors oder irgendein Raritätenvorweiser, der sich darüber freute, daß sich sein Bär so gut aufs Tanzen verstand.

Nachdem der Major vom Essen, Trinken und der Kundgebung seiner gesellschaftlichen Fähigkeiten zu heiser geworden war, um sich länger verständlich zu machen, ging man zum Kaffee über. Dann fragte der Major Mr. Carker, den Geschäftsführer, scheinbar mit geringer Hoffnung auf eine bejahende Antwort, ob er Pikett spiele.

»Ja, ein wenig«, versetzte Mr. Carker.

»Vielleicht auch Brettspiel?« bemerkte der Major zögernd.

»Auch dies ein wenig«, versetzte der Mann der Zähne.

»Ich glaube, Carker versteht sich auf alle Spiele«, sagte Mr. Dombey, sich wie ein hölzerner Mann ohne Gelenk und ohne Scharnier auf das Sofa hinstreckend, »und zwar recht gut.«

In der Tat kannte er die fraglichen beiden Spiele so vollkommen, daß der Major ganz erstaunt wurde und aufs Geratewohl hin ihn fragte, ob er auch Schach spiele.

»Ja, ich kann es ein wenig«, antwortete Carker. »Bisweilen machte ich mir schon den Spaß zu spielen, und gewann, ohne daß ich auf das Brett hinsah.«

»Bei Gott, Sir«, sagte der Major, die Augen aufsperrend, »Ihr seid ein vollkommener Gegensatz von Dombey, der sich auf gar kein Spiel versteht.«

»O! er!« entgegnete der Geschäftsführer. »Er hat nie Gelegenheit gehabt, sich mit solchen kleinen Künsten abzugeben, während sie für Männer, wie ich bin, bisweilen nützlich werden können. Im gegenwärtigen Augenblick zum Beispiel, Major Bagstock, setzen sie mich in den Stand, meine Geschicklichkeit gegen Euch zu erproben.«

Der glatte, weite Mund war vielleicht nicht der rechte; aber doch schien unter der Demut und Unterwürfigkeit dieser kurzen Rede etwas zu lauern, gleich einem Knurren; und für einen Augenblick hätte man denken können, die weißen Zähne seien geneigt, die Hand zu beißen, der sie schmeichelten. Der Major machte sich übrigens keine Gedanken darüber, und Mr. Dombey lag während des ganzen Spiels, das bis zum Schlafengehen dauerte, mit halbgeschlossenen Augen nachsinnend da.

Obschon Mr. Carker gewann, stieg er doch hoch in der guten Meinung des Majors. Und zwar in dem Grade, daß dieser, als sich Carker nach seinem Schlafgemach begab, aus besonderer Aufmerksamkeit sternchenland.com den Eingeborenen, der stets sein Lager auf einer Matratze vor der Tür seines Gebieters hatte, in die Galerie hinausschickte, um mit allem Prunk dem neuen Freunde nach seinem Zimmer zu leuchten.

Auf der Oberfläche des Spiegels in Mr. Carkers Gemach lag ein trüber Duft, so daß er vielleicht einen falschen Widerschein bot. Aber er zeigte in jener Nacht das Bild eines Mannes, der vor seinem geistigen Auge eine Menge zu seinen Füßen auf dem Boden schlummernder Menschen sah, ähnlich dem armen Eingeborenen vor der Tür seines Gebieters. Er schlich sich dazwischen durch und schaute boshaft darauf nieder, obschon er wenigstens vorderhand noch nicht auf ein aufwärts gekehrtes Gesicht trat.

Siebenundzwanzigstes Kapitel.


Siebenundzwanzigstes Kapitel.

Tiefere Schatten.

Mr. Carker, der Geschäftsführer, stand mit der Lerche auf und begab sich ins Freie, um sich in dem schönen Sommermorgen zu ergehen. Die Betrachtungen, denen er sich auf seinem Spaziergange mit gerunzelter Stirne hingab, schienen sich kaum so hoch aufzuschwingen wie die Lerche, oder die Richtung dieses heiteren Vogels einzuschlagen. Vielmehr hielten sie sich eher dicht an ihr Nest auf der Erde und sahen sich unter dem Staub und den Würmern um. Aber kein unsichtbar in der Luft singender Vogel befand sich weiter aus dem Bereich des menschlichen Auges als Mr. Carkers Gedanken. Er hatte sein Gesicht so vollkommen in seiner Gewalt, daß man über den Ausdruck desselben mit Bestimmtheit nicht viel weiter sagen konnte, als daß es lächelte oder tiefsinnig war. Eben jetzt war es sehr tiefsinnig, und je höher die Lerche sich erhob, desto tiefer senkten sich seine Gedanken. Je heller und kräftiger die Lerche ihre Melodien erschallen ließ, desto ernster und düsterer wurde sein Schweigen; und als endlich der glückliche Frühlingsvogel mit einem sich kräftigenden Gesangstrom zwischen dem in der Nähe grünenden und in der Morgenluft gleich einem Strome wallenden Weizen niedersank, sprang Mr. Carker aus seiner Träumerei auf und schaute plötzlich mit einem so geschmeidigen und sanften Lächeln umher, als wolle er zahllosen Beobachtern etwas Angenehmes sagen. Nachdem er also geweckt worden war, stellte sich kein Rückfall mehr ein; denn sein Gesicht klärte sich jetzt auf wie das eines Mannes, der bedacht hat, daß man allerlei darin lesen könnte; und er ging lächelnd weiter, als ob er sich in dieser Kunst üben wolle.

Vielleicht mit Rücksicht auf erste Eindrücke hatte Mr. Carker sich an jenem Morgen sehr sorgfältig und stattlich herausgeputzt. Obwohl er nach dem Beispiel des großen Mannes, dem er diente, stets etwas förmlich war in dem, was seine Kleidung anging, so trieb er es doch nicht bis zu Mr. Dombeys Steifheit. Denn er wußte sternchenland.com vielleicht, daß er sich dadurch lächerlich gemacht haben würde und daß eben hierin ein weiteres Mittel lag, seine Anerkennung des Abstandes zwischen ihm und seinem Chef an den Tag zu legen. Manche Personen meinten zwar, er biete in dieser Beziehung einen merkwürdigen, nicht schmeichelhaften Kommentar zu seinem eiskalten Gebieter. Aber die Welt ist so geneigt zu Mißdeutungen, und man konnte Mr. Carker dafür nicht verantwortlich machen.

Reinlich, geschniegelt, hellen Teints, der in der Sonne sozusagen noch lichter wurde, und mit seinem zierlichen Tritt die Weichheit des Rasens noch erhöhend, ging Mr. Carker, der Geschäftsführer, in den Wiesen umher und glitt unter den Alleen weiter, bis es Zeit war, zum Frühstück zurückzukehren. Er wählte dafür, seine Zähne lüftend, einen nähern Weg und sprach dabei laut vor sich hin:

»Jetzt werden wir die zweite Mrs. Dombey sehen!«

Er war weit über die Stadt hinausgekommen und bog jetzt in einen angenehmen Spazierweg unter schattigen Bäumen ein, wo da und dort einzelne Bänke zur Ruhe einluden. Der Platz war nie sonderlich besucht und hatte namentlich in der stillen Morgenzeit ein sehr verlassenes, abgeschiedenes Aussehen, so daß Mr. Carker ganz allein zu sein glaubte. In der Stimmung eines müßigen Mannes, dem für Erreichung seines Bestimmungsortes, an dem er leicht in zehn Minuten anlangen konnte, noch zwanzig übrig blieben, ging Mr. Carker in einer Wellenlinie unter den großen Baumstämmen weiter, indem er den einen rechts, den andern links ließ, und so eine Kette von Fußstapfen auf den tauigen Boden zeichnete.

Er fand jedoch, daß er sich in seiner Ansicht, allein auf dem Spazierwege zu sein, getäuscht hatte; denn als er leise um den Stamm eines starken Baumes herumkam, an dem die harte Rinde knotig und rissig war, wie die Haut eines Nashorns oder irgendeines vorsintflutlichen Ungeheuers, sah er unerwartet auf einer nahe gelegenen Bank, um die er im nächsten Augenblick seine Kette geschlungen haben würde, eine Gestalt sitzen.

Es war die einer elegant gekleideten, sehr schönen Dame, deren dunkle, stolze Augen auf dem Boden hafteten, und in der irgendeine Leidenschaft oder ein Kampf zu toben schien. Während sie nämlich so niederschaute, hatte sie einen Teil ihrer Unterlippe eingekniffen, ihre Brust wogte, ihre Nasenlöcher dehnten sich aus, das Haupt bebte, auf ihrer Wange zeigten sich Tränen des Unmuts, und ihr Fuß war so fest auf das Moos gesetzt, als wolle sie es zu Nichts zertreten. Und doch belehrte ihn fast derselbe Blick darüber, daß die erwähnte Dame in der Haltung geringschätziger Sorgfalt aufstand und weiterging, ohne daß sich in ihrem Gesicht oder ihrer Figur etwas anderes ausdrückte, als eine unbekümmerte Schönheit und eine herrische Weltverachtung.

Auch ein welkes, sehr häßliches altes Weib, das weniger wie eine Zigeunerin, sondern eher wie jene Mischlingsrasse von Vagabunden gekleidet war, die abwechselnd unter Bettel, Diebstahl, Kesselflicken und Korbflechten das Land durchziehen, hatte der Dame sternchenland.com aufgelauert; denn als sie sich erhob, trat ihr jene zweite Gestalt, die in seltsamer Weise fast aus dem Boden aufzusteigen schien, in den Weg.

»Ich will Euch prophezeien, meine schöne Dame«, sagte die Alte, die mit ihren Kinnbacken mummelte, als wolle der Totenkopf unter ihrer gelben Haut hervorbrechen.

»Ich kann das selbst«, lautete die Antwort.

»Ja, meine hübsche Dame, aber nicht recht. Ihr habt nicht gut prophezeit, als Ihr so dasaßet. Ich sehe Euch dies an! Gebt mir ein Silberstück, hübsche Dame, und ich will Euch Eure Zukunft der Wahrheit gemäß sagen. Es liegen Reichtümer in Eurem Gesicht, schöne Dame.«

»Ich weiß es«, entgegnete die Dame, mit düsterem Lächeln und stolzem Schritt an ihr vorbeigehend. »Es ist mir nichts Neues.«

»Wie – Ihr wollt mir nichts geben?« rief die Alte. »Ihr wollt mir nichts dafür geben, daß ich Euch Euer Glück voraussage, hübsche Dame? Wieviel erhalte ich dann, wenn ich es Euch nicht sage? Gebt mir etwas, oder ich rufe es Euch nach!« krächzte die Alte leidenschaftlich.

Mr. Carker, an dem die Dame eben vorbeizugehen im Begriff war, wich gegen einen Baum zurück, als sie seinen Pfad kreuzte, um in den Weg einzubiegen, und trat dann so weit vor, um sie von vorne zu sehen und seinen Hut vor ihr abziehen zu können. Dabei hieß er die Alte schweigen. Die Dame dankte für seine Dazwischenkunft mit Kopfneigen und ging ihres Weges.

»So gebt Ihr mir etwas, oder ich rufe es ihr nach!« schrie die Alte, ihre Arme aufwerfend und gegen seine ausgestreckte Hand vordringend. »Ja«, fügte sie bei, ihre Stimme plötzlich dämpfend, während sie ihn ernst ansah und für einen Augenblick den Gegenstand ihres Zorns zu vergessen schien, »gebt mir etwa«, oder ich rufe es Euch nach!«

»Mir, alte Frau?« entgegnete der Geschäftsführer, die Hand in seine Tasche steckend.

»Ja«, sagte da« Weib, in ihrer Musterung beharrlich fortfahrend und ihre welke Hand hinhaltend. »Ich weiß –«

»Was wißt Ihr?« fragte Carker, der ihr einen Schilling zuwarf. »Könnt Ihr mir sagen, wer die schöne Dame ist?«

Mummelnd gleich dem Matrosenweib der alten Sage mit den Kastanien im Schoß, und finster blickend, wie die Hexe, die vergeblich einige davon forderte, las die Alte den Schilling auf und ging dann rückwärts wie ein Krebs oder wie ein Haufen von Krebsen; denn ihre abwechselnd sich ausbreitenden und wieder zusammenziehenden Hände konnten recht gut zwei Tiere dieser Art, und ihr kriechendes Gesicht noch ein halbes Dutzend davon vertreten. Auf der Wurzel eines alten Baumes sich niederkauend, zog sie aus der Krone ihres Hutes eine kurze schwarze Pfeife hervor, zündete sie mit einem Schwefelhölzchen an und rauchte stillschweigend, während sie zugleich den Frager fest ins Auge faßte. sternchenland.com Mr. Carker lachte und wandte ihr den Rücken zu.

»Gut!« sagte die Alte. »Ein Kind tot und ein Kind am Leben. Ein Weib tot und ein anderes, das kommt. Geht und seht sie.«

Der Geschäftsführer blickte unwillkürlich wieder zurück und machte halt. Die Alte, die ihre Pfeife nicht entfernt hatte und unter dem Rauchen fortwährend mummelte und schwatzte, als verkehre sie mit einem unsichtbaren vertrauten Geist, deutete mit dem Finger in die Richtung, in der er ging, und lachte.

»Was habt Ihr gesagt, Mütterchen?« fragte er.

Die Alte mummelte, rauchte fort und deutete noch immer vor sich hin, ohne ihr Schweigen zu unterbrechen. Mr. Carker brummte einen Abschied, der keineswegs schmeichelhaft war, und setzte seinen Weg fort. Als er jedoch am Ende des Platzes wieder nach dem alten Baum zurückschaute, konnte er sehen, wie der Finger noch immer in die Richtung seines Weges deutete, und er meinte das Weib kreischen zu hören: »Geht und seht sie!«

Er fand, daß im Gasthause Vorbereitungen zu einem auserlesenen Mahle getroffen worden waren. Mr. Dombey, der Major und das Frühstück harrten auf die Damen. Ohne Zweifel hat die individuelle Konstitution viel mit der Entwicklung solcher Tatsachen zu schaffen, aber in dem gegenwärtigen Falle zeigte sich der Appetit nur schlecht, der zarten Leidenschaft gegenüber. Mr. Dombey war sehr ruhig und gefaßt; der Major aber dampfte in einem Zustand großer Hitze und Aufregung. Endlich öffnete der Eingeborene die Tür, und nach einer Pause, die in seinem lässigen Schlendern durch die Galerie ihren Grund hatte, erschien eine sehr blühende, aber nicht sehr jugendliche Dame.

»Mein lieber Mr. Dombey«, begann die Dame, »ich fürchte, wir haben uns etwas verspätet; aber Edith ist schon aus gewesen, um einen günstigen Gesichtspunkt für eine Skizze zu suchen, und ließ mich warten. Treulosester aller Majore« – sie gab ihm ihren kleinen Finger – »wie geht es Euch?«

»Mrs. Skewton«, sagte Mr. Dombey, »erlaubt mir, meinem Freund Carter ein Vergnügen zu machen«, – Mr. Dombey legte unwillkürlich einen Nachdruck auf das Wort Freund, als wollte er sagen: ›Es ist nicht eigentlich so gemeint: ich erlaube ihm nur die Ehre einer solchen Auszeichnung‹, – »indem ich ihn Euch vorstelle. Ich habe Mr. Carkers bereits bei Euch gedacht.«

»Ich bin in der Tat ganz bezaubert«, entgegnete Mrs. Skewton huldreich.

Mr. Carker war natürlich auch bezaubert. Würde er es wohl noch mehr um Dombeys willen gewesen sein, wenn er in Mrs. Skewton, wie er anfangs glaubte, die Edith gefunden hätte, auf die sie abends zuvor den Toast ausbrachten?

»Ach, um Himmels willen, wo bleibt denn Edith?« rief Mrs. Skewton, sich umsehend. »Sie ist wohl noch an der Tür und gibt Withers Aufträge über das Einrahmen jener Zeichnungen. Mein lieber Dombey, wollt Ihr die Güte haben –«

Mr. Dombey war bereits fort, um sie aufzusuchen. Im nächsten Augenblick kehrte er zurück und brachte am Arm dieselbe elegant gekleidete, sehr schöne Dame herbei, der Mr. Carker unter den Bäumen begegnet war.

»Carker –« begann Mr. Dombey.

Aber ihr wechselseitiges Erkennen war so augenfällig, daß Mr. Dombey überrascht innehielt.

»Ich bin dem Gentleman verpflichtet«, sagte Edith mit einer stattlichen Verbeugung, »weil er vor kurzem die Aufdringlichkeit einer Bettlerin von mir abwehrte.«

»Ich habe es meinem guten Glück zu danken«, versetzte Mr. Carker mit einer tiefen Verbeugung, »daß mir die Gelegenheit zuteil wurde, einer Dame, deren Diener zu sein ich mir zum Stolze rechne, einen so geringen Dienst zu leisten.«

Als ihr Auge einen Augenblick auf ihm ruhte und dann sich zu Boden senkte, bemerkte er in dem hellen spähenden Blick den Argwohn, daß er nicht in dem Zeitpunkt seiner Einmengung auf sie zugekommen, sondern im geheimen sie schon früher beobachtet habe. Wie er dies bemerkte, erkannte sie aus seinem Blicke, daß ihr Mißtrauen nicht ohne Grund sei.

»In der Tat«, rief Mrs. Skewton, die diese Gelegenheit benützt hatte, um Mr. Carker durch ihr Glas zu besichtigen, und dabei, wie sie dem Major hörbar zuflüsterte, zu der Überzeugung gekommen war, daß er ganz Herz sei – »in der Tat, dies ist wohl das wunderbarste Zusammentreffen, von dem ich je gehört habe. Schon der Gedanke! Meine liebe Edith, es liegt hierin so augenfällig eine Bestimmung, daß man sich wahrhaftig fast veranlaßt sehen könnte, über dem Brusttuch die Arme zu kreuzen und mit den ungläubigen Türken zu sprechen: es gibt keinen, wie heißt er doch, als der So und So, und Dingsda ist sein Prophet!«

Edith würdigte dieses höchst bemerkenswerte Zitat aus dem Koran keiner Antwort; aber Mr. Dombey hielt es für nötig, einige höfliche Bemerkungen einzuflechten.

»Es macht mir ein großes Vergnügen«, sagte Mr. Dombey mit schwerfälliger Galanterie, »daß ein Gentleman, der zu mir in so naher Beziehung steht wie Carker, die Ehre und das Glück hatte, Mrs. Granger auch nur den mindesten Beistand zu leisten.« Er begleitete diese Worte mit einer Verbeugung. »Trotzdem ist es mir peinlich, und ich möchte wahrhaftig neidisch werden auf Carker –« er legte auf diese Worte einen unwillkürlichen Nachdruck, als fühle er, daß sie die Eigenschaft einer sehr überraschenden Voraussetzung in sich trügen – »neidisch werden auf Carker, daß nicht mir selbst diese Ehre und dieses Glück zuteil wurde.«

Mr. Dombey verbeugte sich abermals. Edith aber blieb vollkommen bewegungslos, wenn wir das leichte Aufwerfen ihrer Lippen ausnehmen.

»Beim Himmel, Sir«, rief der Major bei dem Anblick des Kellners, der zu Anmeldung des Frühstücks hereingekommen war, sternchenland.com in eine Rede ausbrechend, »es ist für mich etwas Außerordentliches, daß man nicht die Ehre und das Glück haben kann, alle solche Bettlerinnen durch den Kopf zu schießen, ohne dafür ins Protokoll genommen zu werden. Doch hier ist ein Arm für Mrs. Granger, wenn sie J.B. die Ehre erweisen will, ihn anzunehmen. Eben jetzt ist es der größte Dienst, den Euch Joe erweisen kann, Euch zur Tafel zu führen.«

Mit diesen Worten gab der Major Edith seinen Arm, und Mr. Dombey ging mit Mrs. Skewton voran, während Mr. Carker lächelnd nachfolgte.

»Ich bin sehr erfreut, Mr. Carker«, sagte die mütterliche Dame beim Frühstück, nachdem sie den Angeredeten abermals durch ihr Glas gemustert hatte, »daß Ihr Euern Besuch so glücklich eingerichtet habt, um uns heute begleiten zu können. Ich verspreche mir den bezauberndsten Ausflug.«

»Jeder Ausflug muß bezaubernd sein in solcher Gesellschaft«, entgegnete Carker, »aber ich glaube, er ist an sich schon reich an Interessantem.«

»O«, rief Mrs. Skewton mit einem kleinen, matten Ausruf des Entzückens, »das Schloß ist bezaubernd! – mittelalterliche Erinnerungen und alles das, was in der Tat so köstlich ist. Seid Ihr nicht auch ein Verehrer des Mittelalters, Mr. Carker?«

»O ja, in hohem Grade«, versetzte der Geschäftsführer.

»Welch‘ entzückende Zeiten!« rief Kleopatra, »So voll von Wahrheit! So schwunghaft und kräftig! So malerisch! So vollkommen fern von allen Gemeinplätzen! Ach Himmel, wenn sie unserer schrecklichen Zeit nur ein wenig mehr Poesie des Daseins übrig gelassen hätte!«

Mrs. Skewton sah, während sie das sprach, scharf nach Mr. Dombey hin, der seinerseits keinen Blick von Edith abwandte. Letztere hörte zu, ohne ihr Auge zu erheben.

»Wir sind schrecklich nüchtern, Mr. Carker«, fuhr Mrs. Skewton fort. »Meint Ihr nicht?«

Nicht viele Leute hatten Grund, sich weniger über ihre Nüchternheit zu beklagen, als Kleopatra, da sie so viel Falsches an sich hatte, als sich nur immer mit dem nüchternen Dasein eines Individuums vereinbaren ließ. Gleichwohl bedauerte Mr. Carker unsere Nüchternheit und stimmte mit ihr überein, daß wir in dieser Beziehung allerdings sehr verwahrlost seien.

»Die Gemälde im Schloß sind wahrhaft göttlich!« sagte Kleopatra. »Ich hoffe, Ihr seid ein Freund von Gemälden?«

»Ich kann Euch die Versicherung geben, Mrs. Skewton«, ergriff jetzt Mr. Dombey in feierlicher Ermutigung seines Geschäftsführers das Wort, »daß Carker in Beziehung auf Gemälde einen feinen Geschmack und von Natur aus den Geist eines Kenners besitzt. Er versteht sich selbst nicht übel auf Führung des Pinsels und wird, wie ich überzeugt bin, ganz entzückt sein von Mrs. Grangers Geschmack und Kunstfertigkeit.«

»Gott verdamm mich, Sir«, rief Major Bagstock, »ich glaube wahrhaftig, Ihr seid der bewunderungswürdige Carker und versteht Euch auf gar alles.«

»O«, versetzte Carker mit einem Lächeln der Demut, »Ihr seid viel zu zuversichtlich, Major Bagstock. Ich kann nicht viel. Mr. Dombey ist nur so großmütig in Würdigung jeder kleinen Geschicklichkeit, deren Erwerbung für einen Mann, wie ich, fast notwendig ist, obwohl er selbst in einer viel zu hohen Sphäre lebt, als daß – –«

Mr. Carker zuckte die Achseln, als wolle er jedes weitere Lob ablehnen, und sprach nicht weiter.

Diese ganze Zeit über erhob Edith ihre Blicke bloß gelegentlich, wenn ihre Frau Mama den ihr innewohnenden Feuergeist in Worten entströmen ließ; als jedoch Carker zu sprechen aufhörte, sah sie für einen Moment nach Dombey hin. Aber nur für einen Moment, und ihr Antlitz zeigte dabei einen flüchtigen Ausdruck spöttischer Verwunderung, der auch dem über den Tisch herüberlächelnden Beobachter nicht entging.

Mr. Dombey erfaßte die dunkle Wimper, wie sie im Begriff war, sich wieder zu senken, und benützte die Gelegenheit, sie zu fesseln.

»Leider werdet Ihr schon oft in Warwick gewesen sein«, sagte er.

»Schon mehrere Male.«

»So wird, wie ich fürchte, ein abermaliger Besuch dieses Platzes Euch nur Langeweile bereiten können.«

»O nein, durchaus nicht.«

»Ach, meine liebe Edith, du bist wie dein Vetter Feenir«, sagte Mrs. Skewton. »Er ist schon fünfzig für einmal in Warwick Castle gewesen, und wenn er morgen wieder nach Leamington käme – ich wünschte, der süße Engel täte es – so würde er schon tags darauf zum zweiundfünfzigsten Male wieder hingehen.«

»Nicht wahr, Mama, wir sind alle sehr begeistert?« entgegnete Edith mit einem kalten Lächeln.

»Vielleicht viel zu sehr für unsern Frieden, meine Liebe«, erwiderte die Mutter. »Aber wir wollen uns nicht beklagen, denn wir finden einen Lohn dafür in unfern eigenen Gefühlen. Wenn, wie unser Vetter Feenir sagt, das Schwert die – wie nennt man’s doch? –«

»Scheide vielleicht?« versetzte Edith.

»Ganz richtig – die Scheide ein wenig zu schnell abnützt, so geschieht es, wie du wohl weißt, meine Liebe, aus keinem andern Grunde, als weil es scharf und blank ist.«

Mrs. Skewton ließ einen leichten Seufzer ertönen, der wahrscheinlich einen Schatten werfen sollte auf die hölzerne Waffe, deren Scheide ihr empfänglicher Busen war. Dann neigte sie nach Kleopatra-Art ihren Kopf auf die eine Seite und blickte mit sinniger Zärtlichkeit nach ihrem geliebten Kinde hin.

Edith hatte, als Mr. Dombey sie anredete, diesem ihr Gesicht zugekehrt und blieb, während sie ihre Mutter und diese wiederum sternchenland.com die Tochter anredete, in der gleichen Haltung, als ob sie ihm alle Aufmerksamkeit schenken wolle für den Fall, daß er etwas Weiteres vorzubringen habe. In der Art dieser einfachen Höflichkeit lag fast etwas Trotziges; und sie hatte den Anschein, als werde sie durch Zwang oder eine gewisse Spekulation bedingt, an der die Dame sich nur mit Widerwillen beteiligte – ein Zug, der dem gleichen über den Tisch herüberlächelnden Beobachter ebenfalls nicht entging. Er vergegenwärtigte sie sich, wie sie ihm zum erstenmal erschien, als sie sich unter den Bäumen allein glaubte.

Das Frühstück, bei dem der Major wie eine Boa Constrictor geschluckt und gewürgt hatte, war jetzt vorüber, und da Mr. Dombey nichts weiter zu sagen wußte, so machte er den Vorschlag, den Ausflug anzutreten. Dem Befehle dieses Gentlemans gemäß wartete ein Wagen vor dem Hotel, und die beiden Damen sowohl als er selbst und der Major nahmen jetzt im Innern desselben Platz, während der Eingeborene und der spindeldürre Page den Bock bestiegen. Mr. Carker bildete zu Pferde die Nachhut, und Towlinson mußte zu Hause bleiben.

Mr. Carker trabte in einer Entfernung von etwa hundert Schritten hinter dem Wagen her und verwandte während der ganzen Fahrt keinen Blick davon, als sei er eine Katze, deren Aufgabe es war, auf die vier Insassen des Wagens wie auf ebenso viele Mäuse zu lauern. Wohin er auch schauen mochte – rechts oder links vom Wege, über die ferne Landschaft mit ihren sanften Wellenlinien, den Windmühlen, den Wiesen und Getreidefeldern, den wilden Blumen, Gehöften, Heuschobern und dem aus dem Walde hervorsehenden Kirchturm, aufwärts in die sonnige Luft, wo Schmetterlinge über seinem Kopfe spielten und Vögel ihre Lieder erschallen ließen, abwärts, wo die Schatten der Zweige sich verwoben und einen zitternden Teppich über den Boden breiteten, oder nach vorn, wo die überhängenden Bäume Ausblicke und Bogengewölbe bildeten, düster in dem sanften Lichte, das durch die Blätter drang – so haftete doch stets der eine Winkel seines Auges an dem ihm zugekehrten stattlichen Haupt des Mr. Dombey und an der Hutfeder, die in ihrem Wallen dieselbe Geringschätzung zeigte, wie jenes stolze Auge, das er sich hatte senken sehen, und das von diesem Eindrucke nichts verlor, wenn das Gesicht davor dem der Dame begegnete. Einmal – aber nur ein einziges Mal – schweifte sein spähender Blick von diesen Dingen ab. Das geschah, als ein Satz über ein niedriges Gehege und ein Galopp über das Feld ihn befähigte, dem Wagen zuvorzukommen, damit er bereit wäre, am Ziel der Fahrt den Damen beim Aussteigen seine Hand zu bieten. Damals und nur damals begegnete er ihrem Auge für einen Augenblick in ihrer ersten Überraschung; als er sie jedoch beim Aussteigen mit seiner weißen weichen Hand berührte, schenkte sie ihm wieder so wenig Berücksichtigung wie zuvor.

Mrs. Skewton ließ es sich nicht nehmen, in eigener Person über Mr. Carker ihre schützenden Fittiche zu breiten und ihm alle Schönheiten sternchenland.com des Schlosses zu zeigen. Er und der Major mußten ihr den Arm geben. Eine solche Gesellschaft konnte jenem unverbesserlichen Menschen, der im Punkte der Poesie ein so barbarischer Ungläubiger war, nur zustatten kommen. Diese ganz unabsichtliche Maßnahme setzte Mr. Dombey in die Lage, sich ausschließlich Edith zu widmen; und er säumte nicht, diese Gelegenheit zu benutzen, indem er ihr den Arm bot und mit kavaliermäßiger Feierlichkeit vor dem ebengenannten Kleeblatt her durch die Zimmer schritt.

»Die köstlichen Zeiten der Vergangenheit, Mr. Carker«, sagte Kleopatra, »mit ihren entzückenden Festungswerken, ihren lieben alten Kerkern, den herrlichen Folterkammern, der romantischen Blutrache, den malerischen Kämpfen und Belagerungen und allem, was das Leben so wahrhaft zauberisch macht! Wie schrecklich sind wir entartet!«

»Ja, wir sind kläglich zurückgekommen«, bemerkte Mr. Carker.

Das Eigentümliche ihrer Unterhaltung bestand darin, daß Mrs. Skewton trotz ihrer Entzückungen und Mr. Carker bei all seiner Leutseligkeit kein Auge von Mr. Dombey und Edith verwandten. Eine Folge davon war, daß das Gespräch, ungeachtet der gesellschaftlichen Eigenschaften der Beteiligten, einen etwas zerstreuten, unzusammenhängenden Charakter gewann.

»Es ist entschieden keine Treue mehr übrig geblieben«, fuhr Mrs. Skewton fort, indem sie ihr welkes Ohr vorwärts schob, weil Mr. Dombey eben etwas zu Edith sagte. »Es fehlt uns die Treue jener köstlichen alten Ritter, der lieben Bischöfe, die selbst so kriegerische Männer waren, oder sogar die aus den herrlichen goldenen Tagen der unschätzbaren Königin Beß,2 die wir an der Wand dort sehen. Welch ein köstliches Wesen! Sie war ganz Herz! Und dann ihr entzückender Vater! Ich hoffe, Ihr seid ein Verehrer Heinrichs VIII.?«3

»Er hat meine Bewunderung in hohem Grade«, versetzte Mr. Carker.

»So rauh und derb – meint Ihr nicht?« entgegnete Mrs. Skewton. »So wahrhaft englisch. Welchen Eindruck macht nicht sein Bild mit den lieben blinzelnden kleinen Augen und dem wohlwollenden Kinn!«

»Ah, Ma’am«, erwiderte Carker, plötzlich stehenbleibend, »weil Ihr eben von Bildern sprecht, so haben wir hier eine herrliche Komposition. Welche Gemäldegalerie der Welt wäre imstande, ein Gegenstück dazu zu bieten!«

Als der lächelnde Gentleman so sprach, deutete er durch eine Tür nach der Stelle hin, wo Mr. Dombey und Edith in der Mitte eines anderen Gemaches allein standen.

Sie wechselten weder Wort noch Blick, und während sie so – Arm in Arm – dastanden, hatte es den Anschein, als finde eine sternchenland.com Trennung zwischen ihnen statt; weiter als die Scheidung durch endlose Meere. Auch in dem Stolz der beiden lag ein Unterschied, der sie sich gegenseitig mehr entfremdete, als wäre der eine Teil das hochmütigste, der andere das bescheidenste Wesen in der ganzen Schöpfung. Er dünkelvoll, unbeugsam, förmlich, streng – sie in ausgezeichnetem Grade lieblich und anmutig, ohne daß sie übrigens Rücksicht nahm auf sich selbst, auf ihn oder auf ihre Umgebung, da sie im Gegenteil mit hochmütigem Spott auf ihre eigenen Reize zu blicken schien, als seien sie nur ein ihr verhaßtes Abzeichen der Dienstbarkeit. Welch ungleiches Paar, sich so widerstrebend und durch eine von widrigen Zufällen geschmiedete Kette so ungereimt aneinandergefesselt, daß die Phantasie dem Gedanken Raum geben konnte, selbst die Bilder an der Wand hätten ihr Erstaunen über die unnatürliche Verbindung ausgedrückt und seien zu aufmerksamen Beobachtern geworden. Grimmige Ritter und Krieger schauten finster auf sie nieder. Ein Diener der Kirche erhob seine Hand in bitterer Anklage über den Hohn, daß ein solches Paar vor Gottes Altar treten wolle. Ruhige Wasserflächen in Landschaften mit der widerstrahlenden Sonne auf ihrer Tiefe fragten, ob es denn nicht ein besseres Mittel gebe zum Entrinnen, und ob ihr eigener feuchter Schoß nicht einen glücklicheren Ausweg biete. Ruinen riefen: ›Schaut her und seht, was wir sind in unserm Bunde mit einer uns nicht befreundeten Zeit‹. Tiere, von der Natur einander gegenübergestellt, befehdeten sich, als wollten sie ihnen zur Lehre dienen. Amoretten und Liebesgötter ergriffen entsetzt die Flucht, und das Märtyrertum zeigte keine ähnliche Qual in seiner gemalten Leidensgeschichte.

Gleichwohl war Mrs. Skewton von dem Anblick, auf den Mr. Carker ihre Aufmerksamkeit gelenkt hatte, so bezaubert, daß sie es sich nicht versagen konnte, halblaut vor sich hin zu sprechen, wie süß, wie so voll von Seele das sei. Edith, die es hörte, blickte zurück, und der Scharlach der Entrüstung breitete sich bis unter ihre Locken.

»Meine liebe Edith weiß, wie mein Herz an ihr hängt!« sagte Kleopatra, fast schüchtern mit ihrem Sonnenschirm sie auf den Rücken klopfend. »Mein süßes Leben!«

Abermals bemerkte Mr. Carker den Kampf, dessen unerwarteter Zeuge er unter den Bäumen gewesen. Aufs neue sah er, wie die stolze nachlässige Gleichgültigkeit ihr Antlitz überflog und es wie eine Wolke beschattete.

Sie erhob ihre Blicke nicht zu ihm; aber mit einem leichten entschiedenen Winke gegen das Kleeblatt hin schien sie ihrer Mutter zu befehlen, daß sie näher komme. Mrs. Skewton hielt es für zweckmäßig, dieser Andeutung Folge zu geben, und trat rasch mit ihren beiden Kavalieren heran, um sich fortan stets in der Nähe ihrer Tochter zu halten.

Da für Mr. Carker nichts mehr vorhanden war, was seine Aufmerksamkeit zerstreuen konnte, so begann er von den Gemälden zu sprechen, die besten auszuwählen und Mr. Dombey darauf aufmerksam sternchenland.com zu machen. Er benahm sich dabei mit der gewohnten vertraulichen Anerkennung der Größe seines Chefs, dem er außerdem noch weitere Huldigungen darbrachte, indem er das Augenglas für ihn zurechtmachte, im Katalog die betreffende Nummer aufsuchte, Mr. Dombeys Stock hielt und dergleichen mehr. Allerdings gingen diese Dienstleistungen weniger von Mr. Carker selbst, als vielmehr von Mr. Dombey aus, der gerne seine Oberherrlichkeit an den Tag zu legen pflegte, indem er mit gedämpfter Würde und in nachlässiger Weise die Worte hinwarf – »da, Carker; wollt Ihr nicht die Güte haben, mir ein wenig beizustehen?« – eine Andeutung, welcher der lächelnde Gentlemen stets mit Vergnügen entsprach.

Sie machten ihren Rundgang durch die Gemäldesäle, an den Wänden hin usw., und da sie noch immer eine einzige kleine Partie bildeten, so kam der Major ziemlich in den Schatten zu stehen, weil er infolge des Verdauungsprozesses etwas schläfrig war, Mr. Carker aber in hohem Grade den Angenehmen und Mitteilsamen spielte. Dieser wandte sich anfänglich hauptsächlich an Mrs. Skewton; die empfindsame Dame geriet jedoch über die Kunstwerke so sehr in Verzückungen, daß sie nach der ersten Viertelstunde nur noch gähnen konnte – eine Reaktion auf die Begeisterung, wie sie es nannte, und ein Beweis des Übermaßes ihrer Wonne. Dies bewog ihn, seine Aufmerksamkeit mehr auf Mr. Dombey zu richten, der jedoch nicht viel weiter darauf erwiderte, als daß er gelegentlich ein »Sehr wahr, Carker«, oder ein »Wirklich, Carker?« hinwarf. Gleichwohl ermutigte er schweigend seinen Geschäftsführer und fand in seinem Innern dessen Benehmen sehr löblich. Er hielt es nämlich für passend, daß jemand redete, und er dem Gedanken Raum gab, Carkers Bemerkungen, die sozusagen von einem Zweig des Hauptgeschäfts ausgingen, könnten Mrs. Granger angenehm sein. Mr. Carker besaß Takt genug, sich nie die Freiheit zu nehmen, diese Dame unmittelbar anzureden, und sie wiederum schien zuzuhören, obschon sie nie nach ihm hinblickte. Nur ein- oder zweimal, wenn er seine eigentümliche Demut besonders nachdrücklich zeigte, schlich sich das gedämpfte Lächeln über ihr Gesicht, nicht aber wie ein Licht, sondern wie ein tiefer dunkler Schatten.

Warwick-Castle war endlich erschöpft und der Major ebenso, der Mrs. Skewton nicht zu gedenken, deren eigentümliche Wonneäußerungen in der Tat zuletzt sehr häufig geworden waren. Sofort wurde der Wagen wieder in Anspruch genommen, und sie fuhren nach den schönsten Stätten in der Umgegend. Bei einer von diesen Gelegenheiten machte Mr. Dombey in seiner förmlichen Manier die Bemerkung, daß eine Skizze – gleichviel, wie leicht hingeworfen – von der schönen Hand der Mrs. Granger ein teures Erinnerungszeichen an diesen angenehmen Tag für ihn sein würde, obschon natürlich – Mr. Dombey machte hier abermals eine Verbeugung – keine künstliche Beihilfe nötig sei, um dem heutigen Glück für ihn stets einen hohen Wert zu verleihen. Withers, der Spindeldürre, der Ediths Skizzenbuch unter dem Arm hatte, wurde unverzüglich sternchenland.com von Mrs. Skewton aufgeboten, und der Wagen machte halt, damit Edith eine Zeichnung anfertige, die Mr. Dombey unter seinen Schätzen aufbewahren konnte.

»Aber ich fürchte, Euch allzusehr zu belästigen«, sagte Mr. Dombey.

»Keineswegs. Von welchem Punkt aus wünscht Ihr die Aufnahme?« antwortete sie, indem sie mit ihrer früheren erzwungenen Aufmerksamkeit sich an ihn wandte.

Mit einer weiteren Verbeugung, unter der die Stärke in der Halsbinde krachte, wollte Mr. Dombey dieses der Künstlerin überlassen.

»Es wäre mir lieber, wenn Ihr selbst eine Wahl träfet«, versetzte Edith.

»Wollen wir sagen, von hier aus?« entgegnete Mr. Dombey. »Die Stelle scheint sehr ansprechend zu sein – oder – was haltet Ihr davon, Carter?«

Zufälligerweise befand sich in einiger Entfernung eine Baumgruppe, derjenigen nicht unähnlich, in der Mr. Carker am Morgen seine Kette von Fußtritten gezogen hatte, und unter einem der Bäume stand ein Sitz, fast ganz so gelegen wie der Punkt, wo jene Kette unterbrochen worden war.

»Darf ich es wagen, Mrs. Granger anzudeuten«, sagte Carker, »daß jene Gruppe dort einen interessanten – fast bedeutsamen Gegenstand darbietet?«

Sie folgte mit ihren Augen der Richtung seiner Reitpeitsche und erhob sie dann rasch zu dem Gesicht des Sprechers. Es war der zweite Blick, den sie seit ihrer näheren Bekanntschaft ausgetauscht hatten, und er hatte große Ähnlichkeit mit dem ersten, nur daß sein Ausdruck viel verständlicher war.

»Gefällt Euch die Partie?« fragte Edith Mr. Dombey.

»Ich werde ganz bezaubert sein«, versetzte Mr. Dombey.

Der Wagen mußte deshalb nach der Stelle hinausfahren, die für Mr. Dombey so bezaubernd werden sollte, und Edith öffnete, ohne von ihrem Sitz aufzustehen, mit ihrer gewöhnlichen stolzen Gleichgültigkeit die Mappe, um ihre Skizze zu beginnen.

»Alle meine Bleistifte sind stumpf«, sagte sie, indem sie innehielt und die gedachten Zeichnungswerkzeuge musterte.

»Ich bitte, erlaubt mir«, entgegnete Mr. Dombey, »der Carker kann es vielleicht besser, da er sich auf dergleichen Dinge versteht. Carker, habt die Güte, für Mrs. Grangers Bleistifte zu sorgen.«

Mr. Carker ritt auf Mrs. Grangers Seite an den Kutschenschlag heran, ließ die Zügel auf den Hals seines Pferdes fallen, nahm mit einer lächelnden Verbeugung die Bleistifte aus ihrer Hand und setzte sich im Sattel zurecht, um sie zu spitzen. Nachdem er das getan hatte, bat er um die Erlaubnis, sie halten und ihr einhändigen zu dürfen, wie sie dieselben brauchte, und so blieb er unter vielen Lobsprüchen über ihre außerordentliche Geschicklichkeit, namentlich im Baumschlag, dicht an ihrer Seite und sah dem Fortschritt der Zeichnung zu. Mr. Dombey, der mittlerweile gleich einem hochachtbaren sternchenland.com Gespenst kerzengerade im Wagen stand, verwandte gleichfalls keinen Blick von dem Papier, während Kleopatra und der Major wie ein paar alte Tauben miteinander schäkerten.

»Seid Ihr zufrieden damit, oder soll ich es noch ein wenig weiter ausführen?« fragte Edith, indem sie Mr. Dombey die Skizze zeigte. Mr. Dombey bat, sie möchte ja keinen Strich mehr daran machen, da das bereits Gelieferte etwas Vollkommenes sei.

»Es ist etwas Außerordentliches«, sagte Carker, sein Lob mit der ganzen Masse seines Zahnfleisches begleitend. »Auf etwas so Schönes und zugleich so Ungewöhnliches war ich nicht vorbereitet.«

Das ließ sich ebensogut auf die Zeichnerin als auf die Skizze anwenden. Aber Mr. Carkers Benehmen war die Offenheit selbst, nicht nur in Beziehung auf seinen Mund, sondern auch auf seinen ganzen Geist. So blieb es auch, während die Skizze für Mr. Dombey beiseite gebracht und das Zeichnungsmaterial wieder eingepackt wurde. Nachdem Mr. Carker die Bleistifte wieder abgegeben hatte – dies geschah unter einem abgemessenen Danke für seine Beihilfe, aber ohne Begleitung eines Blickes – griff er den Zügel wieder auf, blieb zurück und folgte aufs neue dem Wagen.

Während seines Rittes dachte er vielleicht, daß sogar diese unbedeutende Skizze gefertigt und dem Besteller überliefert wurde, als habe ein Kauf dabei stattgefunden. Vielleicht dachte er, obschon sie mit so vollkommener Bereitwilligkeit auf das Ersuchen einging, so sei doch ihr stolzes Gesicht, das sich über die Zeichnung niederbeugte oder auf die nachzubildenden fernen Gegenstände blickte, das einer hochmütigen Frau, die sich mit einem schmutzigen, erniedrigenden Geschäft abgeben mußte. Möglich, daß dergleichen Dinge sich seinem Geist vergegenwärtigten. Soviel ist aber gewiß, daß er lächelte und, während er in der Behaglichkeit der frischen Luft frei um sich her zu schauen schien, jenen Augenwinkel stets scharf nach dem Wagen spähen ließ.

Es folgte nun ein Spaziergang durch die unheimlichen Ruinen von Kenilworth,4 und dann fuhr man nach weiteren schönen Plätzen, von denen, wie Mrs. Skewton gegen Dombey bemerkte, Edith bereits die meisten aufgenommen hatte, wie ihm aus der Betrachtung ihrer Zeichnungen noch erinnerlich sein werde. So näherte sich der Ausflug dieses Tages seinem Ende zu. Mrs. Skewton und Edith fuhren nach ihrer Wohnung. Kleopatra lud noch Mr. Carker huldreich ein, abends mit Mr. Dombey und dem Major einen Besuch zu machen, damit er auch etwas von Ediths musikalischer Fertigkeit hören könne, und die drei Gentlemen begaben sich dann nach ihrem Hotel, um das Diner einzunehmen.

Das Mahl bildete ein Gegenstück zu dem gestrigen mit der einzigen Ausnahme, daß der Major um vierundzwanzig Stunden triumphierender und minder geheimnisvoll war. Abermals wurde auf Ediths Gesundheit angestoßen, und Mr. Dombey geriet wieder sternchenland.com in eine angenehme Verlegenheit, während Mr. Carker der Lobpreisungen kein Ende finden konnte.

Mrs. Skewton empfing in ihrem Hause keine andern Besuche. Ediths Zeichnungen lagen vielleicht ein wenig reichlicher als gewöhnlich im Zimmer umher zerstreut, und Withers, der spindeldürre Page, wartete mit etwas stärkerem Tee auf. Die Harfe war da, das Piano war da, und Edith sang und spielte. Aber auch die Musik wurde von Edith nur auf Mr. Dombeys Wunsch in derselben unverheißungsvollen Weise sozusagen ausbezahlt. Wenigstens hatte es ganz diesen Anschein.

»Meine liebe Edith«, sagte Mrs. Skewton eine halbe Stunde nach dem Tee, »ich weiß, Mr. Dombey stirbt vor Verlangen, dich zu hören.«

»Ohne Zweifel ist in Mr. Dombey noch Leben genug übrig, um das selbst zu sagen, Mama«, versetzte die Tochter.

»Ich werde mich über die Maßen glücklich schätzen«, pflichtete Mr. Dombey bei.

»Was wünscht Ihr?«

»Das Piano?« entgegnete Mr. Dombey verlegen.

»Wie Euch beliebt. Es steht ganz in Eurer Wahl.«

Demgemäß begann sie mit dem Piano. Ebenso ging es mit der Harfe, mit dem Gesang und mit der Auswahl der Stücke, die sie singen und spielen sollte. Ein so kaltes und gezwungenes, aber doch so bereitwilliges Eingehen auf die Wünsche, die er gegen niemanden anders als gegen sie äußerte, daß es sogar durch alle die Geheimnisse des Piquets hinreichend auffallen mußte und Mr. Carkers scharfer Beobachtung nicht entgehen konnte. Auch die Tatsache wurde ihm klar, daß Mr. Dombey augenscheinlich stolz war auf seine Macht und sie gern zur Schau trug.

Gleichwohl spielte Mr. Carker so gut – bald eine Partie mit dem Major, bald eine mit Kleopatra, deren Wachsamkeit über Mr. Dombey und Edith kein Luchs hätte übertreffen können – daß er nur um so höher in der Gunst der gnädigen Mama stieg. Als er nämlich beim Abschied sein Bedauern ausdrückte, daß er am nächsten Morgen nach London zurückkehren müsse, gab Kleopatra der Hoffnung Raum, es werde wohl nicht das letztemal sein, daß sie zusammenträfen, denn einer solchen wechselseitigen Sympathie begegne man nicht jeden Tag.

»Ich hoffe das«, sagte Mr. Carker mit einem ausdrucksvollen Blick nach dem in der Ferne stehenden Paare hin, als er sich in Begleitung des Majors nach der Tür zurückzog. »Ich denke es.«

Nachdem Dombey einen pompösen Abschied von Edith genommen hatte, beugte er sich, so gut es bei seiner Steifheit gehen wollte, über Cleopatras Sofa nieder und sagte mit gedämpfter Stimme:

»Ich habe Mrs. Granger um die Erlaubnis gebeten, sie in einer gewissen Angelegenheit morgen besuchen zu dürfen, und sie nannte mir zwölf Uhr. Darf ich wohl auf das Vergnügen hoffen, Madame, Euch nachher zu Hause zu finden?«

Ob dieser unbegreiflichen Sprache war natürlich Kleopatra so ergriffen und verwirrt, daß sie nur ihre Augen schließen, den Kopf schütteln und Mr. Dombey ihre Hand geben konnte, die dieser, da er nichts damit anzufangen wußte, wieder sinken ließ.

»Dombey, so kommt doch!« rief der Major zur Tür herein, »Gott verdamm mich, Sir, der alte Joe hat gute Lust, im Namen des Royal-Hotel eine Veränderung zu beantragen und es uns und Carker zu Ehren die drei fidelen Junggesellen nennen zu lassen.« Mit diesen Worten klopfte der Major Mr. Dombey auf den Rücken, blinzelte mit schrecklich rotem Kopf über seine Schulter nach den Damen hin und führte ihn ab.

Mrs. Skewton blieb in ihrer gestellten Pose auf dem Sofa, während Edith stumm bei ihrer Harfe saß. Die Mutter, die mit ihrem Fächer spielte, warf der Tochter mehr als einmal verstohlene Blicke zu, ohne daß diese sich dadurch stören ließ; denn sie brütete mit niedergeschlagenen Augen düster vor sich hin.

So verging eine lange Stunde in ununterbrochenem Schweigen, bis wie gewöhnlich Mrs. Skewtons Mädchen eintrat, um ihre Gebieterin allmählich für die Nacht vorzubereiten. Bei dieser Obliegenheit mochte die Dienerin eher wie ein Skelett mit Stundenglas und Hippe als wie ein Frauenzimmer erscheinen; denn ihre Berührung war die des Todes. Der bemalte Gegenstand welkte unter ihrer Hand. Die Gestalt sank zusammen, das Haar fiel ab, die gewölbten dunkeln Augenbrauen veränderten sich in dürftige graue Bürstchen, die blassen Lippen schrumpften ein, und die Haut wurde schlaff und leichenhaft. An Kleopatras Platz blieb nur ein altes, dürres, gelbes, nickendes Weib zurück, mit roten Augen, das wie ein Bündel schmutziger Wäsche in einen schmierigen Flanellappen eingewickelt war.

Sogar die Stimme, mit der sie Edith anredete, hatte sich verändert, als sie wieder allein waren.

»Warum sagst du mir nichts«, fragte sie in scharfem Tone, »daß du ihn auf morgen herbestellt hast?«

»Weil Ihr es schon wißt, Mutter«, entgegnete Edith.

Welch ein höhnischer Nachdruck, den sie auf das letzte Wort legte!

»Ihr wißt«, nahm sie wieder auf, »daß er mich gekauft hat, oder daß er es morgen tun wird. Die Ware mußte zuvor von seinem Freund beaugenscheinigt werden; er tut sich sogar etwas darauf zu gut, meint, sie könnte ihm passen und sei hinreichend billig zu haben, und deshalb will er morgen den Kauf abschließen. Gott, daß ich das erleben – daß ich dies fühlen muß!«

Drängt in ein einziges schönes Gesicht das Bewußtsein der Selbsterniedrigung und die glühende Entrüstung von hundert Frauen, stark in Leidenschaft und in Stolz, zusammen, und ihr habt dieses Bild hier hinter zwei weißen schaudernden Armen verborgen.

»Was meinst du damit?« erwiderte die Mutter zornig. »Hast du nicht von Kindheit auf –«

»Von Kindheit auf?« entgegnete Edith, nach ihr hinsehend. »Wann hatte ich eine Kindheit? Welche Kindheit habt Ihr mir je gelassen? Ich war alt an Arglist, Intrigen, habgieriger Gesinnung, und mußte den Männern Schlingen legen, noch ehe ich mich selbst und Euch kannte – noch ehe ich die Grundlage und den schändlichen Zweck eines jeden neuen Spieles verstand, das ich lernen mußte. Ihr habt mich zu einem Weibe geboren. Betrachtet sie – seht sie diesen Abend in ihrem Stolze.«

Und während sie so sprach, schlug sie mit ihrer Hand auf die schöne Brust, als wolle sie sich selbst niederschlagen.

»Seht mich an«, fuhr sie fort, »Ihr, die Ihr nie erfahren habt, was es ist um ein ehrliches Herz und um Liebe. Seht mich an, die gelehrt wurde, Anschläge zu schmieden, wo Kinder sich noch im Spiele umtreiben – die in ihrer Jugend, obschon alt an Ränken, zusammengekuppelt wurde mit einem Mann, für den sie kein anderes Gefühl hatte als Gleichgültigkeit. Seht mich an, die er als Witwe zurückließ, noch ehe sein Erbe auf ihn übergegangen war – ein wohlverdientes Gericht über Euch – und sagt mir, was seit zehn Jahren mein Leben gewesen ist.«

»Wir haben uns alle Mühe gegeben, dir eine gute Versorgung zu sichern«, versetzte die Mutter. »Das war die Aufgabe deines Lebens, und du hast sie jetzt erreicht.«

»Nie hat es eine Sklavin, nie ein Pferd auf dem Markt gegeben, die so angeboten, geprüft und zur Schau ausgestellt wurden, Mutter, wie ich im Lauf dieser zehn schimpflichen Jahre!« rief Edith mit glühender Stirne und demselben bitteren Nachdruck auf das nämliche in gesperrter Schrift gedruckte Wort. »Ist es nicht so? Habe ich nicht das Schlagwort für Männer aller Art abgeben müssen? Haben nicht Toren, Wüstlinge, Knaben und alte Gecken mit mir gespielt, und einer um den andern trat wieder zurück, weil Ihr mit aller Eurer Klugheit Euch zu plump benahmt – ja, und zu wahr auch mit allen jenen unaufrichtigen Vorspiegelungen – bis wir zuletzt fast allenthalben verschrien wurden? Bin ich nicht der Zügellosigkeit des Blickes und der Berührung preisgegeben worden« – fuhr sie mit blitzenden Augen fort – »an fast allen Sammelplätzen der Gesellschaft, die auf der Karte Englands zu finden sind? Wurde ich nicht da und dort verhökert und verkauft, bis der letzte Funke von Selbstachtung in mir erstarb und ich mir selbst zum Ekel war? Ist dies meine späte Kindheit gewesen? denn eine frühe kannte ich nicht. Ha, widersprecht mir das von allen Nächten meines Lebens nur nicht in der heutigen!«

»Du hättest wenigstens schon zwanzigmal gute Partien treffen können, Edith«, versetzte die Mutter, »wenn du dich ermutigender benommen haben würdest.«

»Nein! Wer den Abfall haben will, der ich bin und der ich zu sein verdiene«, erwiderte sie, indem sie den Kopf aufrichtete und in der Fülle ihrer Scham und ihres stürmischen Zornes erzitterte, »soll mich haben, wie dieser Mann, ohne daß von meiner Seite eine Kunst sternchenland.com aufgeboten wird, um ihn zu verlocken. Er sieht mich in der Versteigerung und meint, es sei ganz passend, mich zu kaufen. Also schön! Da er kam, um mich in Augenschein zu nehmen und dann vielleicht sein Angebot zu machen, wollte er sich zuerst von der ganzen Liste meiner Eigenschaften überzeugen. Ich gab sie ihm. Verlangt er, daß ich ihm eine davon zeige, um den Kauf vor seinen Dienern rechtfertigen zu können, so soll er sagen, welche er fordert, und ich entspreche seinem Geheiß. Weiter will ich nichts tun. Er schließt den Handel aus freiem Willen und nach eigener Würdigung von dem Wert des zu Erstehenden in dem Vertrauen auf die Gewalt seines Geldes. Gebe Gott, daß er sich nicht täuschen möge. Ich habe nicht geprahlt und ihm die Ware aufgedrängt; auch von Euch ist es nicht geschehen, so weit es mir möglich war, Euch daran zu hindern.«

»Du sprichst heute seltsam mit deiner Mutter, Edith.«

»So scheint es mir – für mich wohl noch seltsamer, als für Euch«, erwiderte Edith. »Aber meine Erziehung ist schon längst beendigt. Ich bin jetzt zu alt und allmählich zu tief gesunken, um eine neue Bahn einzuschlagen, Euch in der Eurigen Einhalt zu tun und mir selbst zu helfen. Der Keim von allem, was ein weibliches Herz reinigt und es wahr und gut macht, hat in dem meinigen nie sein Leben gezeigt, und es bleibt mir nichts anderes, um mich aufrechtzuerhalten, als die Selbstverachtung.« Eine rührende Wehmut lag in ihrer Stimme, als sie dies sprach; aber sie entschwand schnell wieder, als Edith mit stolz aufgeworfener Lippe fortfuhr: »Da wir in vornehmer Armut leben, so füge ich mich darein, durch solche Mittel zu Reichtum zu gelangen, und ich sage nichts weiter, als daß ich den einzigen Entschluß, den ich an der Seite meiner Mutter zu bilden die Kraft hatte, zur Ausführung brachte. Ich habe diesen Menschen nicht verlockt.«

»Diesen Menschen?« entgegnete die Mutter. »Du sprichst, als ob du ihn hastest.«

»Und Ihr habt wohl geglaubt, daß ich ihn liebe?« entgegnete Edith, in ihrem Gang durch das Zimmer haltmachend und sich nach ihr umsehend. »Soll ich Euch sagen«, fuhr sie, die Augen fest auf ihre Mutter gerichtet, fort, »wer uns bereits vom Grund aus kennt, uns vollkommen richtig sieht, und vor dem ich sogar weniger Selbstachtung oder Vertrauen besitze als vor meinem eigenen Innern, weil mich diese seine Kunde von meinem Ich so tief herabwürdigt?«

»Vermutlich soll dies ein Angriff sein«, erwiderte ihre Mutter mit Kälte, »auf den armen unglücklichen – wie heißt er doch – Mr. Carker! Dein Mangel an Selbstachtung und Vertrauen, meine Liebe, in Beziehung auf diesen Mann, der mir sehr angenehm vorkommt, wird wahrscheinlich nicht viel Einfluß üben auf deine Versorgung. Warum siehst du mich so an? Bist du unwohl?«

Ediths Gesicht erblaßte plötzlich wie unter einem tiefen Schmerz, und während sie die Hand auf ihre Stirne drückte, bebte ein heftiges Zittern über ihren ganzen Körper. Das war jedoch schnell vorüber, und sie verließ mit ihrem gewöhnlichen Schritte das Zimmer.

Das Kammermädchen, das die Stelle des Sensenmannes so gut vertreten haben würde, trat nun wieder ein, reichte ihrer Gebieterin, die mit dem falschen Zauber auch ihr ganzes früheres Wesen abgelegt zu haben und mit dem Flanellgewand die Lähmung des Alters aufgenommen zu haben schien, den einen Arm, umfaßte mit dem anderen die Asche Kleopatras und trug sie zur Auferstehung am andern Morgen von hinnen.

  1. Beß ist Abkürzung für Elisabeth (Königin von England, 1558-1603, Tochter Heinrichs VIII.)
  2. König Heinrich VIII., geb. 1491, gest. 1547, war sechsmal vermählt. Er gründete die anglikanische Kirche.
  3. Gemeint ist das aus Walter Scotts Roman berühmt gewordene ehemalige Schloß Kenilworth, das einst Eduard II. zum Kerker diente.

Achtundzwanzigstes Kapitel.


Achtundzwanzigstes Kapitel.

Veränderungen.

»So ist endlich der Tag gekommen, Susanna«, sagte Florence zu der trefflichen Nipper, »der uns zurückbringen soll nach unserer ruhigen Heimat.«

Susanna atmete mit einem Ausdruck, der sich nicht gut beschreiben läßt, tief ein, erleichterte ihre Gefühle noch weiter mit einem kurzen Husten und erwiderte:

»In der Tat sehr ruhig. Miß Florence, ohne Zweifel, im höchsten Grade ruhig.«

»Hast du, als ich noch jünger war«, fuhr Florence nach einem kurzen Nachsinnen gedankenvoll fort, »je den Gentleman gesehen, der sich nun schon dreimal die Mühe nahm, herunterzureiten, um mit mir zu sprechen – ich denke, es war dreimal, Susanna?«

»Ja, dreimal, Miß«, versetzte die Nipper. »Einmal waret Ihr auf einem Spaziergang ausgegangen mit jenen Sket –«

Florence blickte sie sanft an, und Miß Nipper hielt inne.

»Mit Sir Barnet und seiner Lady, wollte ich sagen. Miß, und mit dem jungen Gentleman. Und seitdem wieder an zwei Abenden.«

»Sahst du jenen Gentleman je in unserm Hause, Susanna, als ich noch ein Kind war und Gesellschaft zu kommen pflegte, um den Papa zu besuchen?« fragte Florence.

»Ach, Miß«, entgegnete Susanna, »wenn ich mich auch hin und her besinne, kann ich wahrhaftig doch nicht sagen, daß ich ihn je gesehen hätte. Als Eure liebe arme Ma starb, Miß Florence, war ich, Ihr wißt es ja, noch sehr neu in der Familie, und mein Element« – Miß Nipper warf sich in die Brust, als sei sie der Ansicht, daß ihre Verdienste von Mr. Dombey stets in den Schatten gestellt wurden – »bestand in dem Dachstübchen unter dem Boden.«

»Da konntest du natürlich alle die nicht kennenlernen«, versetzte Florence, noch immer gedankenvoll, »die ins Haus kamen. Ich habe das ganz vergessen.«

»Nein, Miß«, sagte Susanna; »aber wir sprachen viel von der Familie und den Besuchen, und da hörte ich allerlei, obschon die Wärterin vor Mrs. Richards in meiner Gesellschaft allerlei unangenehme Bemerkungen machte und gerne von kleinen Nasenweisen sprach, doch dies konnte nur seinen Grund in der Trunksucht des sternchenland.com armen Geschöpfs haben« – fügte Miß Nipper mit gefaßter Nachsicht bei – »um derentwillen sie das Haus verlassen mußte.«

Florence, die an dem Fenster ihres Gemaches saß, das Gesicht auf ihrer Hand ruhen ließ und zum Fenster hinaussah, war so in Gedanken vertieft, daß sie kaum zu hören schien, was Susanna sagte.

»Jedenfalls erinnere ich mich sehr gut, Miß«, fuhr Susanna fort, »daß der gleiche Gentleman, Mr. Carker, in der guten Meinung Eures Vaters damals fast eben, wo nicht ganz so hoch stand, wie jetzt. Man pflegte zu jener Zeit im Hause zu sagen, Miß, er stehe in der City an der Spitze von allen Angelegenheiten Eures Vaters und verwalte das Ganze, Euer Vater nehme mehr Rücksicht auf ihn, als auf irgend jemanden, was, mit Eurer Erlaubnis, Miß Florence, nicht eben hoch geschworen ist, da er sich um andere Personen gar nicht kümmert. Dies merkte ich wohl, wie sehr ich auch ein Naseweis gewesen sein mag.«

In beleidigtem Hinblick auf die Wärterin vor Mrs. Richards legte Susanna Nipper auf das Wort »Naseweis« einen besonders kräftigen Nachdruck.

»Und daß Mr. Carker nicht in Ungnade geriet, Miß«, sagte sie weiter, »sondern seinen Boden behauptete und stets bei Eurem Vater in Kredit blieb, weiß ich aus dem, was jener Perch, so oft er ins Haus kommt, unter unsern Leuten erzählte. Dabei ist Perch das schwächste Rohr in der Welt, Miß Floy, und niemand kann es auch nur einen Augenblick mit dem Menschen aushalten, indes weiß er doch ziemlich gut, was in der City vorgeht, und er sagt, Euer Vater unternehme nichts ohne Mr. Carker, überlasse alles Mr. Carker, handle stets nach Mr. Carkers Rat und habe Mr. Carker stets an seiner Seite. Deshalb glaube ich auch, dieser schwächste von allen Perchen ist der Ansicht, daß nach Eurem Vater der Kaiser von Indien nur ein neugeborenes Kind sei gegen Mr. Carker.«

Nicht ein Wort dieses Redeschwalls ging an Florence verloren, die, nachdem Miß Nippers Vortrag ihr Interesse geweckt hatte, nicht länger zerstreut ins Freie hinausschaute, sondern nach ihrer Gefährtin zurückblickte und ihr aufmerksam zuhörte.

»Ja, Susanna«, sagte sie, nachdem diese junge Dame zum Schluß gekommen war, »es kann nicht fehlen, daß er ein Freund meines Papas ist und in dessen Vertrauen steht.«

Florences Geist hatte sich schon seit einigen Tagen viel mit diesem Gegenstand beschäftigt. Bei Gelegenheit der zwei Besuche, die jenem ersten folgten, hatte sich Mr. Carker eine Vertraulichkeit gegen sie herausgenommen – ein gewisses Recht, den Geheimnisvollen zu spielen, indem er ihr sagte, daß von dem Schiff noch immer keine Nachrichten eingelaufen – eine Art milder verhaltener Gewalt und Autorität über sie, die sie in Erstaunen setzte und ihr nicht wenig Unruhe bereitete. Sie hatte nicht die Mittel, diese Aufdringlichkeit zurückzuweisen oder sich von dem Gewebe zu befreien, das er allmählich um sie spann; denn einer solchen Annäherung zu begegnen, wären Schlauheit und Weltkenntnis erforderlich gewesen, die Florence sternchenland.com abgingen. Allerdings hatte er nichts weiter zu ihr gesagt, als daß keine Neuigkeiten von dem Schiff eingelaufen seien und er darum das Schlimmste fürchte; aber wie konnte er wissen, daß sie sich für das Schiff interessierte. Welches Recht aber hatte er, seine Kunde davon ihr so schleichend und rätselhaft mitzuteilen? Das waren Umstände, die Florence sehr beunruhigten.

Mr. Carkers Benehmen und die Tatsache, daß Florence so oft staunend und besorgt sich Gedanken darüber machte, begannen dem Geschäftsführer in den Augen des armen Mädchens einen unheimlichen Zauber zu verleihen. Wenn sie sich sein Gesicht, seine Stimme und sein Wesen, das sie bisweilen vor sich heraufbeschwor, vergegenwärtigte und seine Persönlichkeit durch eine andere ihr liebevolle Gestalt zu überwinden suchte, war jener schattenhafte Eindruck nicht zu beseitigen. Und doch war sein Gesicht nie finster. Er blickte sie nie mit der Miene der Abneigung oder Feindseligkeit an, sondern benahm sich stets heiter und lächelnd.

Wenn dann Florence wieder auf den Entschluß zurückkam, den sie ihrem Vater gegenüber gefaßt hatte, und sie sich vorhielt, daß die zwischen ihnen bestehende Entfremdung, freilich ohne ihre Absicht, in ihr selbst begründet sei, so fiel der Gedanke nunmehr doppelt ins Gewicht, dieser Gentleman sei sein vertrauter Freund. Sie fragte sich mit klopfendem Herzen, ob nicht das in ihrem Innern kämpfende Gefühl der Abneigung und Furcht ein Teil jenes Unglücks sei, das ihr die Liebe des Vaters geraubt und sie so einsam in die Welt hingestellt hatte. Sie fürchtete, dies möchte der Fall sein, und glaubte es bisweilen sogar. Deshalb beschloß sie, diese ungerechte Gesinnung zu unterdrücken, und überredete sich, in der Aufmerksamkeit eines Freundes ihres Vaters liege eine Ehre und eine Ermutigung für sie, und das Vertrauen, das sie in ihn setze, werde zuletzt ihre wunden Füße über den steinigen Pfad wegführen, der in dem Herzen ihres Vaters endete.

In solcher Weise und allen Rats entbehrend – denn sie konnte sich niemandem gegenüber aussprechen, ohne daß es den Anschein gewann, als wollte sie Klage erheben – trieb sich die arme Florence auf einem stürmischen Meer von Zweifeln und Hoffnungen umher, während Mr. Carker gleich einem schuppigen Ungeheuer der Tiefe unten schwamm und sein funkelndes Auge auf sie geheftet hielt.

Bei alledem hatte Florences einen neuen Grund, sich wieder in die Heimat zu wünschen. Das einsame Leben paßte besser zu dem Strom ihrer scheuen Hoffnungen und Besorgnisse, und bisweilen fürchtete sie, daß durch ihre Abwesenheit irgendein verheißungsvoller Zufall, dem Vater ihre Liebe kundzugeben, versäumt werden könne. Der Himmel weiß, in dieser Beziehung hätte sich das erniedrigte Kind wohl beruhigen dürfen. Aber das verschmähte Herz pochte in ihr, selbst während des Schlafes, flog fort in ihren Träumen und schmiegte sich gleich einem zurückkehrenden Zugvogel an die väterliche Brust.

Auch an Walter dachte sie oft – ach, wie oft, wenn in düsteren sternchenland.com Nächten der Wind um das Haus brauste. Aber die Hoffnung lebte kräftig in ihrem Innern. Selbst bei Erfahrungen wie den ihrigen wurde es einer warmen jugendlichen Seele schwer, der Vorstellung Raum zu geben, Jugend und Feuer könnten erlöschen wie eine schwache Flamme und der helle hoffnungsstarke Tag sich mitten auf seiner Lebenshöhe zur Nacht umwandeln. Zwar vergoß sie häufig Tränen über Walters mutmaßliche Leiden; aber der Gedanke an seinen Tod konnte nur selten und nie für lange in ihrem Innern Boden gewinnen.

Sie hatte dem alten Instrumentenmacher geschrieben; aber sie hatte keine Antwort erhalten, da letztere überhaupt nicht verlangt worden war. So standen die Angelegenheiten an dem Morgen, als Florence freudig den Heimweg antrat, um ihr einsames Leben wieder aufzunehmen.

Doktor und Mrs. Blimber waren in Begleitung ihres nur ungern mitziehenden Pfleglings, des Master Barnet, bereits nach Brighton zurückgekehrt, wo der junge Gentleman mit den übrigen Wallfahrern zum Parnaß ohne Zweifel unablässig beschäftigt war, die Studien wieder aufzunehmen. Die Ferien waren vorüber, die meisten jugendlichen Gäste hatten sich entfernt, und auch Florences langer Besuch nahm jetzt ein Ende.

Es war indessen noch ein anderer Gast zugegen, der zwar nicht im Hause wohnte, aber doch der Familie seine größte Aufmerksamkeit widmete und ihr fortwährend sehr zugetan blieb. Wir meinen niemanden anders als Mr. Toots. Dieser Gentleman hatte vor einigen Wochen die Bekanntschaft wieder aufgenommen, die ihn an jenem Abend, der ihn der Blimberschen Knechtschaft entriß und ihm mit dem Ring am Finger den Aufschwung in die Luft der Freiheit öffnete, so glücklich mit Skettles junior zusammenführte. Man machte regelmäßig jeden zweiten Tag einen Besuch. Bei diesen Gelegenheiten verbrauchte er an der Hallentür ein ganzes Paket Karten, so daß es den Anschein gewann, als sei Mr. Toots in einer Whist-Partie der Ausgeber und der Diener die mitspielende Person.

In der kühnen und glücklichen Idee, die wahrscheinlich ihren Ursprung in dem gärenden Hirn des Preishahns gewonnen, die Familie zu hindern, daß sie sein nicht vergesse, hatte sich Mr. Toots einen sechsruderigen Kutter angeschafft, der von den fahrlustigen Freunden des besagten Preishahns bemannt und von diesem hohen Charakter in Person gesteuert wurde. Der edle Steuermann trug zu diesem Zweck einen hellroten Feuermannsrock und verbarg das blaue Auge, mit dem er stets behaftet war, unter einem grünen Schirme. Vor der Erwerbung dieses Fahrzeugs holte Mr. Toots den Preishahn über einen hypothetischen Fall aus, indem er ihn fragte, wie er wohl das Schifflein nennen würde, wenn es ihm selbst gehörte und er in eine junge Dame, namens Mary, verliebt wäre. Der Preishahn erwiderte unter verschiedenen kräftigen Beteuerungen, daß unter solchen Umständen der Kutter den Namen »Poll« oder »des Preishahns Lust« führen müßte. Auf dieser Idee fortbauend, und sternchenland.com unter Anwendung tiefen erfinderischen Studiums beschloß Mr. Toots, das Fahrzeug »Toots‘ Freude« zu taufen – als zartes Kompliment auf Florence, das nicht wohl jemand, der die beteiligten Personen kannte, mißverstehen konnte.

In seiner wackern Barke auf ein Scharlachpolster ausgestreckt und die Schuhe am Bordsrand trocknen lassend, war Mr. Toots wochenlang Tag um Tag den Fluß heraufgekommen. Bei solchen Gelegenheiten ließ er in der Nähe von Sir Barnets Garten die kunstgerechtesten Schwenkungen ausführen und die »Toots‘ Freude« in so bewunderungswürdiger Weise manöverieren, daß die Uferbewohner in das größte Erstaunen gerieten. So oft er aber jemand in dem bis ans Wasser hinunterlaufenden Garten des Sir Barnet bemerkte, tat er stets, als müsse er infolge einer Verkettung der auffallendsten Umstände daselbst hart am Lande vorbeifahren.

»Wie geht es Euch, Toots?« pflegte ihm Mr. Barnet zuzurufen und winkte vom Rasen aus ihm mit der Hand zu, während der verschmitzte Preishahn scharf uferwärts steuerte.

»Wie geht es Euch, Sir Barnet?« lautete Mr. Toots‘ Antwort. »Wie überraschend, daß ich Euch hier sehe.«

In seiner Schlauheit brauchte Mr. Toots stets die Phrase, als ob nicht Sir Barnets Haus in Flußnähe stände, sondern das, was er sah, irgendein verlassenes Gebäude an den Ufern des Nil oder des Ganges wäre.

»In meinem Leben ist mir nie eine solche Überraschung vorgekommen«, konnte Mr. Toots rufen. – »Ist Miß Dombey da?«

Vielleicht war sie in der Nähe und kam herzu.

»O, Diogenes ist ganz wohl, Miß Dombey«, pflegte dann Mr. Toots zu sagen. »Ich bin heute morgen dort gewesen, um nachzufragen.«

»Ich danke Euch recht sehr«, erwiderte Florences liebliche Stimme.

»Wollt Ihr nicht ans Land kommen, Toots?« nahm vielleicht Barnet das Gespräch wieder auf. »Ihr habt ja keine Eile. Kommt und macht uns einen Besuch.«

»O, es ist nicht von Belang – danke Euch!« konnte Toots errötend entgegnen. »Ich dachte nur, es könnte für Miß Dombey von Interesse sein, dies zu erfahren – das ist alles. Gott befohlen!«

Und der arme Toots, der vor Sehnsucht verging, die Einladung anzunehmen, gab mit blutendem Herzen dem Preishahn das Signal, worauf »Toots‘ Freude« wie ein Pfeil durch das Wasser weiterschoß.

An dem Morgen vor Florences Abreise lag der Kutter im Zustande außerordentlichen Glanzes vor der Treppe zum Garten, und als Miß Dombey aus ihrem Gemach herunterkam, um sich zu verabschieden, fand sie im Besuchszimmer Mr. Toots, der sie erwartete.

»O, wie geht es Euch, Miß Dombey?« begann der junge Gentleman, der, wenn er den sehnlichsten Wunsch seines Herzens, sie sprechen zu können, erreicht hatte, stets schrecklich verlegen war. »Im übrigen – ich bin in der Tat recht wohl und hoffe, bei Euch ist es auch der Fall. Auch bei Diogenes habe ich es gestern so gefunden.« sternchenland.com »Ihr seid sehr gütig«, versetzte Florence.

»Danke Euch, – es ist nicht von Belang«, entgegnete Mr. Toots. »Ich dachte, Ihr hättet vielleicht Lust, bei diesem schönen Wetter die Rückreise zu Wasser zu machen, Miß Dombey. Das Boot hat Platz genug für Euch und Euer Mädchen.«

»Ich bin Euch sehr verbunden«, erwiderte Florence zögernd. »Ich weiß in der Tat – nein, ich will es lieber nicht tun.«

»O, es macht ja nichts«, sagte Mr. Toots. »Guten Morgen!«

»Wollt Ihr nicht ein wenig warten, bis Lady Skettles kommt?« fragte ihn Florence freundlich.

»O nein, danke Euch«, versetzte Mr, Toots, »es macht durchaus nichts.«

So scheu und verwirrt benahm sich Mr. Toots bei derartigen Anlässen! Da jedoch in diesem Augenblicke Lady Skettles eintrat, so wurde er plötzlich von einer wahren Leidenschaft ergriffen, sich nach ihrem Befinden zu erkundigen und seine Hoffnung auszudrücken, daß sie recht wohl sei. Auch konnte er nicht aufhören, ihr die Hand zu reichen, bis Sir Barnet erschien, an den er sich sodann mit der Zähigkeit der Verzweiflung anklammerte.

»Ich kann Euch versichern, Toots«, sagte Sir Barnet mit einem Hinweis auf Florence, »daß wir heute das Licht unseres Hauses verlieren.«

»O, es macht – – ja, freilich etwas aus, wollte ich sagen«, stotterte Toots. »Recht guten Morgen!«

Ungeachtet dieser sehr nachdrücklichen Verabschiedung blieb doch Mr. Toots, statt sich zu entfernen, mit großen Augen stehen und blickte ausdruckslos umher. Um ihm aus seiner Verlegenheit zu helfen, sagte Florence der Lady Skettles unter vielen Dankesbezeugungen Lebewohl und reichte Sir Barnet ihren Arm.

»Meine teure Miß Dombey«, bemerkte Sir Barnet, als er den scheidenden Gast nach dem Wagen hinführte, »darf ich Euch bitten, Eurem lieben Papa meine besten Grüße auszurichten?«

Dieser Auftrag setzte Florence in große Betrübnis, denn es kam ihr vor, als täusche sie Sir Barnet, wenn sie ihn in dem Glauben lasse, eine ihr bewiesene Liebe gelte ebensogut auch ihrem Vater. Da sie jedoch hierüber keine Erklärung geben konnte, so neigte sie bloß das Haupt und dankte ihm. Dabei machte sie sich Gedanken, daß das einsame Haus, wo sie mit solchen Verlegenheiten, die nur ihren Schmerz erhöhen konnten, verschont blieb, die natürlichste und beste Zuflucht sei.

Diejenigen unter ihren neuen Bekannten, die sich noch in der Villa befanden, kamen jetzt aus dem Hause und Garten herbei, um sich von ihr zu verabschieden. Alle hatten sie lieb gewonnen und sagten ihr ein herzliches Lebewohl. Sogar dem Gesinde tat es leid, daß sie ging, und die Dienerschaft sammelte sich jetzt unter Knixen und Verbeugungen um den Kutschenschlag. Florence sah sich unter den freundlichen Gesichtern um. Sir Barnet mit seiner Gattin war zugegen, und in der Ferne bemerkte sie den kichernden Mr. sternchenland.com Toots, der mit großen Augen nach ihr hinschaute. Das erinnerte sie an den Abend, an dem sie mit Paul Doktor Blimbers Anstalt verließ, und als der Wagen abfuhr, war ihr Antlitz feucht von Tränen.

Schmerzliche Tränen, aber zugleich auch Tränen des Trostes, denn jetzt tauchten alle die sanften Erinnerungen wieder in ihr auf, die ihr das öde alte Haus, nach dem sie zurückkehrte, teuer machten. Wie lange erschien ihr nicht der Zwischenraum, seit sie durch die schweigenden Zimmer gewandelt war – seit sie zum letzten Male leise und verstohlen nach dem Gemach ihres Vaters hinuntergeschlichen – seit sie den ernsten, aber doch beschwichtigenden Einfluß des geliebten Toten in jeder Handlung ihres Lebens empfunden hatte! Außerdem erinnerte sie dieser Abschied an ihr Lebewohl von dem armen Walter – an seine Blicke und Worte an jenem Abend, an das liebliche Zusammen von entschlossenem Mut und inniger Zärtlichkeit für die Zurückbleibenden, das sie an ihm bemerkt hatte. Auch seine kleine Geschichte stand im Zusammenhang mit dem alten Haus und verlieh diesem neue Ansprüche an ihr Herz.

Sogar Susanna Nipper fühlte eine mildere Stimmung gegen die Heimat so vieler Jahre, als sie auf dem Rückweg nach ihr hin begriffen waren, und obschon sie dem Düster des Hauses nur strenge Gerechtigkeit widerfahren lassen wollte, konnte sie ihm doch auch viel Nachsicht nicht versagen.

»Ich leugne es nicht, daß ich mich freue, wieder hinzukommen, Miß«, sagte die Nipper. »Das Haus hat zwar nicht viel, dessen es sich rühmen kann; aber ich möchte doch nicht, daß es in Flammen aufginge oder niedergerissen würde.«

»Du wirst froh sein, wieder durch die alten Zimmer gehen zu können – meinst du nicht, Susanna?« versetzte Florence lächelnd.

»Nun, Miß«, entgegnete die Nipper, deren Stimmung immer milder und milder wurde, je näher sie der Wohnung kamen, »ich will das nicht in Abrede stellen, obschon es recht wohl möglich ist, daß ich sie morgen wieder hassen werde.«

Für ihre Person fühlte Florence, daß dort ein größerer Friede zu finden sei als anderswo. Sie konnte ihr Geheimnis weit besser und leichter bewahren, wenn sie es in den hohen düstern Wänden einschloß, als wenn sie es mit sich ins Licht hinausnahm und versuchen mußte, es vor einer Menge glücklicher Augen zu verbergen. Sie konnte in der Einsamkeit dem Studium ihres liebenden Herzens viel mehr obliegen und hatte keine liebenden Herzen um sich her, die entmutigend auf sie wirkten. In dem ruhigen Heiligtum ihrer Erinnerungen konnte sie viel leichter und unbekümmerter hoffen, beten und fortlieben, ob auch alles um sie her moderte, rostete und verfiel. Ein neuer Schauplatz, wie heiter er auch sein mochte, gab ihr keine Gelegenheit dazu. Der alte Zaubertraum ihres Lebens war ihr willkommen, und sie sehnte sich darnach, wieder einmal die alte dunkle Tür hinter sich abschließen zu können.

Während sie mit solchen Gedanken erfüllt war, bog der Wagen in die lange düstere Straße ein. Florence saß nicht auf der Seite, sternchenland.com die ihrem Hause zugekehrt war, und als sie diesem sich hinreichend genähert hatte, blickte sie zu den Fenstern hinaus nach den Kindern über der Straße drüben.

Als sie noch damit beschäftigt war, bewog sie ein Ausruf ihrer Gefährtin, plötzlich zurückzuschauen.

»Gütiger Himmel!« rief Susanna atemlos. »Wo ist denn unser Haus?«

»Unser Haus?« versetzte Florence.

Susanna, die den Kopf aus dem Kutschenfenster zurückgezogen hatte, steckte ihn wieder hinaus, und als der Wagen haltmachte, blickte sie abermals zurück, mit großem Erstaunen ihre Gebieterin ansehend.

Um das ganze Haus her von der Grundmauer an bis zum Dach war ein Labyrinth von Gerüsten aufgeschlagen. Ladungen von Ziegeln und Steinen, Haufen von Mörtel und hohe Holzschichten versperrten auf dieser Seite die halbe Breite und Länge der weiten Straße. An den Wänden lehnten Leitern, an denen Arbeiter auf- und niederstiegen. Auf den Brettern des Gerüstes waren Männer eifrig beschäftigt. Im Innern trieben sich Anstreicher und Dekorateure um. Aus einem Wagen vor der Tür wurden große Rollen von Tapeten abgeladen. Auch ein Tapeziererwagen versperrte den Weg. Durch die offenen und zerbrochenen Fenster der Zimmer war nirgends Möbelwerk zu sehen, und von der Küche unten bis hinauf zur Dachkammer wimmelte es von Arbeitern, die sich mit ihren verschiedenen Arbeitsgeräten umhertummelten. Innen und außen die gleiche Verwirrung. Maurer, Zimmerleute und Gipser – Hämmer, Sägen, Spitzäxte und Mörteltröge – alles zusammen arbeitend in vollem Chor.

Florence stieg aus der Kutsche, halb im Zweifel, ob dies wirklich das rechte Haus sein könne, bis sie Towlinson erkannte, der mit sonnverbranntem Gesichte unter der Tür stand, um sie zu bewillkommen.

»Es ist doch nichts vorgefallen?« fragte Florence.

»O nein, Miß.«

»Ich bemerke, daß hier große Veränderungen vorgehen.«

»Ja, Miß – große Veränderungen«, sagte Towlinson.

Als sei alles nur ein Traum, ging Florence an ihm vorbei und eilte die Treppe hinauf. Durch die lang verdunkelten Besuchszimmer strahlte das grellste Licht. Tritte und Plattformen waren darin angebracht, und auf den erhöhten Plätzen standen Männer mit Papiermützen. Das Porträt ihrer Mutter war samt den übrigen Möbeln fortgeschafft worden, und an der Stelle, wo ersteres gehangen, stand mit Kreide angeschrieben: »Dieses Zimmer in Fächern. Grün und Gold.« Wie die Außenseite des Gebäudes bestand auch das Treppenhaus aus einem Irrgewinde von Pfählen und Brettern, während ein ganzer Olymp von Bleigießern und Glasern in verschiedenen Haltungen an den Hochlichtfenstern lehnten. Das Innere ihres eigenen Gemachs war noch nicht berührt worden, aber außen hatte man Balken und Bretter aufgerichtet, die das Tageslicht ausschlossen. sternchenland.com Sie eilte schnell nach jenem andern Schlafgemach, wo das kleine Bett stand. Ein schwarzer, riesiger Mann mit einer Pfeife im Mund, dessen Kopf mit einem Taschentuch umwickelt war, glotzte zum Fenster herein.

Hier fand Susanna Nipper ihre Gebieterin, die sie aufgesucht hatte, und sagte zu ihr, ob sie nicht zu ihrem Papa hinuntergehen wolle, da dieser sie zu sprechen wünsche.

»Er ist zu Haus und wünscht mich zu sprechen?« rief Florence zitternd.

Susanne, die noch viel verwirrter war als ihre Gebieterin, wiederholte ihren Auftrag, und Florence eilte blaß und aufgeregt ohne Zögern wieder hinunter. Auf dem Wege dachte sie, ob sie es wohl wagen dürfe, ihn zu küssen. Ihr sehnendes Herz antwortete auf diese Frage mit Ja.

Ihr Vater hätte dieses Herz pochen hören können, als es in seine Nähe kam. Ein einziger Augenblick, und es würde an seiner Brust geschlagen haben.

Aber er befand sich nicht allein. Es waren zwei Damen zugegen, und Florence hielt inne. Sie rang einen so schweren Kampf mit der Erregung ihres Innern, daß sie ohnmächtig zu Boden gesunken sein würde, wenn nicht ihr unvernünftiger Freund Di hereingestürmt wäre und sie mit seinen Liebkosungen bewillkommnet hätte. Über diesen ungebetenen Gast stieß eine der Damen einen leichten Schrei aus, und das lenkte die Aufmerksamkeit Florences von ihr selbst ab.

»Florence«, sagte ihr Vater, indem er seine Hand so steif ausstreckte, daß die Tochter ihm nicht nahen konnte, »wie geht es dir?«

Florence ergriff die Hand mit der ihrigen, drückte sie schüchtern an ihre Lippen und fügte sich geduldig, als er sie wieder zurückzog. Diese Hand hätte nicht kälter eine Tür zudrücken können, als sie das arme Mädchen berührte.

»Was ist das für ein Hund?« fragte Mr. Dombey mißvergnügt.

»Es ist ein Hund, Papa – – von Brighton.«

»Schon gut!« versetzte Mr. Dombey, und eine Wolke ging über sein Gesicht; denn er verstand sie.

»Er ist ein sehr gutmütiges Thier«, sagte Florence, sich mit ihrer natürlichen Anmut und Milde an die beiden fremden Damen wendend, »und freut sich nur, mich zu sehen. Ich bitte für ihn um Verzeihung.«

Der Austausch der Blicke belehrte sie, daß die sitzende Dame, die geschrien hatte, alt und die andere, die neben ihrem Vater stand, sehr schön und von eleganter Gestalt war.

»Mrs. Skewton«, sagte der Vater, sich an die erstere wendend und seine Hand ausstreckend, »dies ist meine Tochter Florence.«

»Wahrhaftig ganz bezaubernd«, bemerkte die Dame, von ihrem Augenglas Gebrauch machend. »So natürlich! Meine herzige Florence, Ihr müßt mich küssen, wenn Ihr so gut sein wollt.«

Nachdem Florence dieser Aufforderung entsprochen hatte, wandte sie sich an die andere Dame, an deren Seite ihr Vater stand.

»Edith«, sagte Mr. Dombey, »dies ist meine Tochter Florence. Florence, diese Dame wird bald deine Mama sein.«

Florence fuhr zusammen und blickte zu dem schönen Gesicht auf. Sie tat dies unter einem Widerstreit von Erregungen, in denen die Tränen, die dieser Name weckte, für einen Augenblick mit Überraschung, Teilnahme, Bewunderung und einer unbestimmten Furcht kämpften.

»O, Papa, mögt Ihr glücklich sein – sehr glücklich Euer ganzes Leben lang!« rief sie endlich und sank weinend der Dame an die Brust.

Es folgte ein kurzes Schweigen. Die schöne Dame, die anfangs nicht recht zu wissen schien, ob sie Florence entgegenkommen sollte oder nicht, hielt das Mädchen an ihrer Brust fest und drückte die sie umschlingende Hand, als wolle sie Florence ermutigen und trösten. Kein Wort glitt über ihre Lippen. Sie beugte sich zu Florence nieder und küßte sie auf die Wange, ohne jedoch zu sprechen.

»Wollen wir durch die Zimmer gehen und nachsehen, welche Fortschritte unsere Arbeiter machen?« fragte Mr. Dombey. »Gestattet mir, bitte, meine teure Madame.«

Mit diesen Worten bot er Mrs. Skewton seinen Arm. Diese hatte fortwährend Florence durch ihr Glas gemustert, als vergegenwärtige sie sich, was aus dem Mädchen werden könne, wenn demselben – ohne Zweifel aus ihrem eigenen, reichlich versehenen Vorratshaus – ein wenig mehr Herz und Natur eingegossen würde. Florence schluchzte noch immer an der Brust der jungen Dame und hielt sich an ihr fest, als man Mr. Dombey in dem Unterhaltungsraum sagen hörte:

»Wir wollen Edith fragen. Aber wo bleibt sie denn?«

»Edith, meine Liebe«, rief Mrs. Skewton, »wo bist du? Ich weiß, sie wird sich irgendwo nach Mr. Dombey umsehen. Wir sind hier, meine Liebe.«

Die schöne Dame ließ Florence los, drückte hastig noch einen Kuß auf ihr Antlitz und eilte fort, um sich den beiden anzuschließen. Florence blieb glücklich und bekümmert, freudig und in Tränen, allezumal, ohne daß sie wußte, wie dies kam, auf derselben Stelle stehen, bis ihre neue Mama zurückkehrte und sie wieder in ihre Arme nahm.

»Florence«, sagte die Dame rasch, indem sie ihr mit großem Ernst ins Gesicht sah, »du wirst gewiß nicht damit anfangen, daß du mich hassest?«

»Daß ich Euch hasse, Mama?« rief Florence, indem sie den Arm um ihren Hals schlang und den Blick mit Innigkeit erwiderte.

»Still! Fange damit an, daß du gut von mir denkst«, sagte die schöne Dame. »Glaube, daß ich versuchen will, dich glücklich zu machen, und daß ich darauf vorbereitet bin, dich zu lieben. Florence, Gott sei mit dir. Wir werden uns bald wiedersehen. Lebe wohl! Du darfst jetzt nicht hier bleiben.«

Sie drückte sie aufs neue an die Brust – ihre Worte waren sternchenland.com sternchenland.com zwar hastig, aber fest gewesen – und Florence sah, daß sie zu den andern in das nächste Zimmer zurückkehrte.

Florence begann jetzt der Hoffnung Raum zu geben, sie werde von ihrer neuen schönen Mama lernen können, wie sie die Liebe ihres Vaters gewinnen müsse. Als sie die erste Nacht wieder in ihrer alten Heimat schlief, lächelte ihre eigene Mama mit leuchtendem Antlitz dieser Hoffnung zu und segnete sie. Arme träumende Florence!

Zweites Kapitel.


Zweites Kapitel.

In welchem zeitige Vorsorge für einen Fall getroffen wird, der bisweilen in den geordnetsten Familien vorkommt.

»Mein Leben lang will ich mich glücklich schätzen«, sagte Mrs. Chick, »daß ich mich aussprach, als ich nicht entfernt daran dachte, was uns bevorstand – in der Tat; es war, wie wenn ich durch eine höhere Fügung geleitet würde, als ich Fanny alles vergab. Was nun auch kommen mag, das wird mir stets ein Trost bleiben!«

Mrs. Chick sprach in diesen eindrucksvollen Worten, als sie vom Frauenschneider, der in einem oberen Zimmer mit der Anfertigung von Trauergewändern beschäftigt war, wieder nach dem Besuchszimmer zurückkam. Ihre Worte galten Mr. Chick, einem beleibten, kahlköpfigen Gentleman mit sehr breitem Gesicht, der seine Hände stets in den Taschen trug und einen natürlichen Hang besaß, Arien vor sich hin zu pfeifen oder zu summen. Dies war nun freilich in einem Hause der Trauer nicht sehr angebracht und er fühlte es auch: aber es kostete ihn nicht geringe Anstrengung, seine Liebhaberei zu unterlassen.

»Strenge dich doch nicht allzusehr an, Frau«, sagte Mr. Chick, »denn du wirst sonst sehen, daß du deine Krämpfe kriegst. Tra-la-la-la! Behüt‘ mich – wie ich mich vergesse. Wir sind übernächtig – heute rot, morgen tot.«

Mrs. Chick begnügte sich mit einem Blick des Vorwurfs und nahm sodann den Faden ihres Gesprächs wieder auf.

»Ich hoffe in der Tat«, sagte sie, »dieses herzzerreißende Ereignis wird für uns alle eine Warnung sein. Wir müssen uns daran gewöhnen, Anstrengungen durchzumachen für die Zeit, wenn wir es nötig haben. Alles führt eine Lehre mit sich, wenn wir sie nur benutzen wollen, und es ist bloß unsere Schuld, wenn wir nicht auf diesen einen wichtigen Wink achtgeben.«

Mr. Chick störte das auf diese Bemerkung folgende ernste Schweigen durch die auffallend unpassende Arie: ›Ein Schlosser hat en G’sellen g’habt‹, unterbrach sich aber schnell mit einiger Verwirrung und erklärte sodann, es sei ohne Zweifel unser eigenes Verschulden, wenn wir so ein trauriges Geschick wie das gegenwärtige uns nicht zur Lehre machten.

»Sie sollten zu was Besserem Anlaß geben, meine ich, Mr. Chick«, erwiderte seine zweite Hälfte nach einer kurzen Pause, »als zu Schelmenliedern oder zu der ebenso nichtssagenden und gefühllosen Bemerkung des ›Rumpditty bau wau wau!‹« In dieser hatte sich nämlich Mr. Chick in halblautem Tone wirklich ergangen, und seine Frau Gemahlin ahmte ihn spottend nach.

»Nur eine Gewohnheit, meine Liebe«, entschuldigte sich Mr. Chick.

»Unsinn! Gewohnheit!« entgegnete die Dame. »Wenn du ein vernünftiger Mensch bist, so komm‘ mir bitte nicht mit solchen lächerlichen Ausreden. Gewohnheit! Wenn ich mir die Gewohnheit, wie du’s nennst, aneignen wollte, wie die Fliegen an der Zimmerdecke sternchenland.com spazieren zu gehen, so würde ich’s wahrscheinlich oft genug zu hören bekommen.«

Aller Wahrscheinlichkeit nach hätte eine derartige Gewohnheit sehr auffallen müssen, und auch Mr. Chick mochte dies einsehen, denn er verriet nicht die kleinste Neigung, zu widersprechen.

»Und wie geht’s dem Bübchen, Frau?« fragte Mr. Chick, um der peinlichen Stimmung auszuweichen.

»Was für ein Bübchen meinst du?« fragte Mrs. Chick. »Ich habe heute morgen im Speisezimmer drunten eine solche Menge von Bübchen gehabt, daß man seinen Sinnen kaum glauben sollte.«

»Eine Menge von Bübchen?« wiederholte Mr. Chick, indem er mit dem Ausdruck größter Unruhe umherblickte.

»Den meisten Menschen würde es sicherlich eingefallen sein«, entgegnete Mrs. Chick, »nach dem Hinscheiden der armen Fanny für eine Amme zu sorgen.«

»O! Ah!« versetzte Mr. Chick – »Turolt – so ist das Leben, wollte ich sagen. Ich hoffe, du hast das Richtige gefunden, meine Liebe.«

»In der Tat, nein«, sagte Mrs. Chick, »und das wird auch nicht so schnell gehen, so weit ich die Dinge übersehen kann. Inzwischen wird natürlich das Kind –«

»Zum Teufel fahren«, versetzte Mr. Chick gedankenvoll. »Natürlich.«

Die Entrüstung, die sich bei der Idee, daß ein Dombey eine solche Reise antreten könnte, in Mrs. Chicks Gesicht ausdrückte, belehrte ihn jedoch, daß er eine Ungeschicklichkeit begangen habe, weshalb er, um sein Vergehen wieder gut zu machen, in wohlmeinender Absicht beifügte:

»Könnte nicht vorderhand der Teetopf Abhilfe leisten?«

Wenn es wirklich in seiner Absicht lag, die Sache zu einem schnellen Schluß zu führen, so hätte es nicht wirksamer geschehen können. Die Dame sah einige Momente in stummer Resignation nach ihm hin und ging dann, durch das Gerassel von Rädern angelockt, majestätisch nach dem Fenster, um durch die Jalousien auf die Straße hinunter zu sehen. Mr. Chick, welcher fand, daß zurzeit sein Geschick gegen ihn war, sagte nichts mehr und entfernte sich.

Aber nicht immer befand sich Mr. Chick in dieser Situation: denn sein eigener Stern war oft im Aufsteigen, und zu solchen Zeiten strafte er Louise rund ab. Mit einem Wort, sie waren im ganzen bei ihren ehelichen Zänkereien ein gut zusammenpassendes Paar, das sich gegenseitig das Gleichgewicht hielt und bald austeilte, bald einnahm, so daß es in der Regel schwer wurde, auf den gewinnenden Teil eine Wette zu parieren. Ja, selbst wenn Mr. Chick geschlagen schien, pflegte er oft einen plötzlichen Ausfall zu machen, indem er den Stiel umdrehte und ihn um Mrs. Chicks Ohren sausen ließ, so daß alles vor ihm weglief. Da er übrigens selbst auch ähnlichen unvorhergesehenen Überfällen von seiten der Mrs. Chick ausgesetzt war, so hatten ihre kleinen Zwiste einen gewissen sternchenland.com Charakter von Wandelbarkeit, der ihrem ehelichen Verhältnis viel Lebhaftigkeit verlieh.

Das Fuhrwerk, das wir vorhin erwähnt haben, brachte Miß Tox mit sich, die jetzt in einem atemlosen Zustand auf das Zimmer gelaufen kam.

»Meine teure Louisa«, sagte Miß Tox, »ist die Stelle noch nicht besetzt?«

»O, die gute Seele, nein«, entgegnete Mrs. Chick.

»Dann, meine teure Louisa«, erwiderte Miß Tox, »hoffe und glaube ich – – doch, meine Teure, gleich will ich Euch die Partie selbst vorgestellt haben.«

Miß Tox ging sofort mit derselben Eile, mit der sie die Treppe heraufgekommen war, wieder hinunter, holte die Partie aus der Mietkutsche und brachte das ganze Gefolge mit sich.

Es stellte sich nun heraus, daß das Wort Partie nicht in der juridischen oder geschäftsmäßigen Bedeutung, in der bloß ein Individuum bezeichnet werden will, sondern in seinem Kollektivbegriff gebraucht worden war: denn das Gefolge der Miß Tox bestand aus einem wohlgenährten, rosenwangigen, gesunden, apfelgesichtigen jungen Weibe, das ein Kind auf ihren Armen trug, aus einer jüngeren, nicht so derben, aber gleichfalls apfelgesichtigen Frauensperson, die an jeder Hand ein stämmiges, apfelgesichtiges Kind führte, aus einem derben, gleichfalls apfelgesichtigen Jungen, der allein ging, und schließlich aus einem stämmigen, apfelgesichtigen Mann, der auf seinen Armen noch einen derben, apfelgesichtigen Knaben trug, ihn aber alsbald auf den Boden stellte und ihm mit heiserem Ton die Ermahnung zuflüsterte, er solle sich an seinem Bruder Johnny festhalten.

»Meine teure Louisa«, begann Miß Tox, »da ich wußte, wie sehr Ihr in Sorgen seid, so bewog mich der Wunsch, sie Euch abzunehmen, nach der Entbindungsanstalt ›Königin Charlotte‹ für verheiratete Frauen zu eilen – Ihr wißt, daß Ihr jene Anstalt vergessen habt – und dort anzufragen, ob nicht jemand da sei, den man für passend halte. Die Antwort lautete nein. Ich kann Euch versichern, daß ich, als ich diese Erwiderung vernahm, um Euretwillen fast in Verzweiflung geriet. Es fügte sich aber, daß eine von den verheirateten Frauen der Anstalt, die die Anfrage hörte, die Vorsteherin an eine andere erinnerte, die bereits nach Hause gegangen sei und, wie sie meinte, wahrscheinlich den Anforderungen genügen dürfte. Sobald ich das und noch obendrein von seiten der Vorsteherin die Bekräftigung vernahm – vortreffliche Zeugnisse und unanfechtbare Empfehlung – ließ ich mir die Adresse geben und machte mich augenblicklich wieder auf den Weg.«

»Das sieht meiner lieben guten Tox ähnlich«, versetzte Louisa.

»Durchaus nicht«, entgegnete Miß Tox. »Sprecht nicht so. Als ich in dem Hause anlangte, – alles blitzsauber, meine Liebe, man könnte das Mittagessen auf dem Fußboden einnehmen, traf ich die ganze Familie bei Tisch: und da ich mich überzeugt fühlte, keine sternchenland.com Berichterstattung darüber könne für Euch und Mr. Dombey nur halb so befriedigend sein, als wenn Ihr sie alle miteinander sehen würdet, so brachte ich sie mit. Dieser Gentleman«, fügte Miß Tox bei, indem sie auf einen Mann mit einem Apfelgesicht zeigte, »ist der Vater. Wollt Ihr so gut sein, ein wenig näher zu treten, Sir?«

Der Mann kam der Aufforderung augenblicklich nach und pflanzte sich kichernd und grinsend als Vorderster in der Reihe auf.

»Das ist natürlich seine Frau«, fuhr Miß Tox fort und zeigte auf die junge Frau mit dem Wickelkinde. »Wie geht es Euch, Polly?«

»Ziemlich gut – ich danke schön, Ma’am«, versetzte Polly.

Um sie zu ermutigen, hatte Miß Tox ihre Frage in dem herablassenden Ton einer alten Bekannten gestellt, so etwa, wie wenn man sich einige Wochen nicht mehr gesehen hat.

»Es freut mich, das zu hören«, erwiderte Miß Tox. »Die andere junge Frau ist ihre unverheiratete Schwester; sie wohnt bei ihr und könnte solange für die Kinder sorgen. Ihr Name ist Jemima. Wie gehts Euch, Jemima?«

»Ziemlich gut – ich danke schön, Ma’am«, entgegnete Jemima.

»Freut mich in der Tat sehr, das zu hören«, sagte Miß Tox. »Ich hoffe, es wird Bestand haben. Fünf Kinder. Das jüngste sechs Wochen. Der schöne kleine Knabe mit der Blase auf seiner Nase ist der älteste. Die Blase, hoffe ich«, fügte Miß Tox hinzu, indem sie ihre Augen über die Familie gleiten ließ, »ist nicht erblich, sondern zufällig?«

Der Mann mit dem Apfelgesicht brummte etwas wie Bügeleisen vor sich hin.

»Ich bitte um Verzeihung, Sir«, sagte Miß Tox, »was sagtet Ihr –?«

»Bügeleisen«, wiederholte er.

»O ja«, sagte Miß Tox. »Ja! Ganz richtig. Ich vergaß es. Die kleine Kreatur hat in Abwesenheit der Mutter an einem heißen Bügeleisen gerochen. Ist es nicht so, Sir? Als wir an der Tür unten anlangten, hattet Ihr die Güte, mir mitzuteilen. Ihr seiet von Gewerbe ein –«

»Schürer«, sagte der Mann.

»Ein Spürer?« entgegnete Miß Tox erstaunt.

»Schürer«, wiederholte der Mann. »Dampfmaschine.«

»O – h! ja!« versetzte Miß Tox, indem sie ihn gedankenvoll und mit einer Miene ansah, als habe sie noch nicht recht verstanden, was er sagen wolle. »Und wie gefällt es Euch, Sir?«

»Was, Ma’am?« fragte der Mann.

»Das«, erwiderte Miß Tox. »Euer Gewerbe.«

»O, schon recht, Ma’am. Die Asche kommt bisweilen hier herein«, er griff bei diesen Worten nach seiner Brust, »und ist Schuld daran, daß man, wie eben jetzt, ein bißchen rauh spricht. Es ist übrigens nur die Asche, Ma’am, keine Grobheit.«

Miß Tox schien es trotz dieser Erwiderung sehr schwer zu fallen, sternchenland.com sternchenland.com den Gegenstand weiter zu verfolgen. Mrs. Chick kam ihr jedoch zu Hilfe, dadurch daß sie ein genaues Privatverhör über Polly, ihre Kinder, ihr Ehestandszertifikat, ihre Zeugnisse usw. begann. Polly bestand diese Ordalie glücklich, worauf Mrs. Chick sich mit ihrem Rapport nach dem Zimmer ihres Bruders begab und zu nachdrücklicherer Bekräftigung desselben die zwei rosigsten kleinen Toodles mit sich nahm. Toodle war nämlich der Geschlechtsname der apfelgesichtigen Familie.

Mr. Dombey war seit dem Tode seiner Gattin auf seinem Zimmer geblieben und hatte Träume über die Jugend, die Erziehung und die seines neugeborenen Söhnleins gesponnen. Auf dem Grunde seines kalten Herzens lag etwas, kälter und schwerer, als sonst; aber es betraf mehr den Verlust des Kindes, als seinen eigenen – ein Gefühl, das sich fast zu einem ärgerlichen Leide steigerte. Sollte Leben und Gedeihen dessen, auf welchen er so große Hoffnung setzte, schon zu Beginn durch gemeinen Nahrungsmangel gefährdet werden? Der Gedanke, daß Sein und Nichtsein von Dombey und Sohn in den Händen einer Amme lag, war für ihn eine empfindliche Demütigung. Bei seiner stolzen Eifersucht war ihm der Gedanke furchtbar, gleich beim allerersten Schritt zur Erreichung seines heißersehnten Herzenswunsches auf eine gemietete Dienerin angewiesen zu sein, die – wenigstens vorläufig – dem Kinde alles das werden mußte, wozu sogar seine Gattin nur durch die Verbindung mit ihm gelangt war; er erfüllte ihn mit solcher Bitterkeit, daß ihm jede neue Verwerfung einer Bewerberin geheime Freude machte. Doch war jetzt die Zeit gekommen, die von ihm die Zurücksetzung dieser widerstreitenden Gefühle forderte, um so mehr, als ihm seine Schwester die Vorzüge von Polly Toodle unter vielen Lobeserhebungen auf die unermüdliche Freundschaft der Miß Tox aufs wärmste schilderte.

»Die Kinder sehen gesund aus«, sagte Mr. Dombey. »Aber wenn ich daran denke, daß sie eines Tages eine Art Verwandtschaft zu Paul geltend machen könnten! Nimm sie mit fort, Louisa! Ich will die Frau und ihren Mann sehen.«

Mrs. Chick entfernte das zartere Toodlespaar und kehrte bald mit dem derberen, dessen Erscheinen ihr Bruder gewünscht hatte, zurück.

»Meine gute Frau«, begann Mr. Dombey, indem er sich auf seinem Lehnstuhl wie eine Maschine und nicht wie ein Mann mit Gliedern und Gelenken drehte, »wie ich höre, seid Ihr arm und wünscht Geld zu verdienen durch die Pflege des kleinen Knaben, meines Sohnes, der so frühzeitig einen unersetzlichen Verlust erlitten hat. Ich habe nichts dagegen, daß Ihr die Einkünfte Eurer Familie auf diese Weise erhöhen wollt, und soviel ich sehen kann, scheint Ihr mir eine anständige Person zu sein; aber ehe Ihr in der gedachten Eigenschaft in mein Haus tretet, muß ich Euch eine oder zwei Bedingungen ans Herz legen. So lange Ihr Euch hier aufhaltet, müßt Ihr Euch den Namen – Richards beilegen; er ist sternchenland.com gewöhnlich und passend. Habt Ihr etwas dagegen, Euch Richards nennen zu lassen? Es wird gut sein, wenn Ihr Euch mit Eurem Manne darüber beratet.«

Da ihr Mann aber fortwährend kicherte und grinste und sich beständig mit der rechten Hand über den Mund fuhr, um die Handfläche anzufeuchten, so machte Mrs. Toodle, nachdem sie ihn zwei- oder dreimal vergeblich mit dem Ellbogen angestoßen hatte, einen Knix und erwiderte, »wenn sie um ihren ehrlichen Namen kommen solle, so ließe sich dieser Umstand durch die Höhe ihres Lohnes vielleicht ausgleichen.«

»Das versteht sich«, entgegnete Mr. Dombey. »Ich wünsche sogar, danach den Lohn festzusetzen. Wohlan also, Richards, wenn Ihr mein mutterloses Kind verpflegen wollt, so dürft Ihr diese Bedingung nie vergessen. Ihr werdet ein anständiges Gehalt erhalten als Belohnung für die gewissenhafte Erfüllung Eurer Pflichten; ich wünsche übrigens noch, daß Ihr so wenig als möglich mit Eurer Familie zusammenkommt. Habt Ihr Eure Obliegenheiten erfüllt, so hört mit Zahlung des Gehalts jede weitere Beziehung zwischen uns auf. Versteht Ihr mich?«

Mrs. Toodle schien hierüber nicht ganz mit sich im klaren zu sein; bei ihrem Mann konnte davon aber nicht die Rede sein, da er mit seinen Sinnen ganz wo anders war.

»Ihr habt eigene Kinder«, sagte Mr. Dombey. »Zu unserm Vertrag gehört es durchaus nicht, daß Ihr Anhänglichkeit für mein Kind beweist, oder daß mein Kind sich an Euch gewöhnt. Ich erwarte oder wünsche nichts dergleichen, sondern das Gegenteil. Sobald Ihr dieses Haus wieder verlaßt, werden alle Beziehungen zwischen uns, die sich notgedrungen aus dem Vertrage ergeben werden, augenblicklich erledigt sein. Ihr werdet dann einfach wegbleiben. Das Kind hört dann von selbst auf, sich Eurer zu erinnern, und Ihr werdet so gut sein, Euch das Kind aus dem Sinn zu schlagen.«

Mit etwas mehr Rot auf ihren Wangen, als zuvor, erwiderte Mrs. Toodle, sie hoffe ihre Stellung zu kennen.

»Ich hoffe das auch, Richards«, sagte Mr. Dombey. »Ich zweifle nicht daran, daß Ihr sie sehr gut kennt. Überhaupt liegt die Sache so einfach, daß es gar nicht anders sein kann. Louisa, meine Liebe, bringe mit Richards die Geldfrage in Ordnung; der Lohn soll ihr bezahlt werden, wann und wie sie will, Mr. –, wie ist Euer Name – ein Wort mit Euch, wenn ich bitten darf!«

Als Toodle so angeredet, angehalten wurde, als er bereits auf der Schwelle stand, um seinem Weibe, das das Zimmer verließ, zu folgen, kehrte er wieder um und stand nun Mr. Dombey allein gegenüber. Er war ein kräftiger, rundschultriger, robuster, rauhborstiger Bursche, an dem die Kleider nur nachlässig saßen und dessen dichter Haar- und Bartwuchs vielleicht durch Rauch und Kohlenstaub noch dunkler gefärbt worden war. Er hatte harte, knorrige Hände und eine breite Stirne, deren grobe Haut sich mit der sternchenland.com Rinde der Eiche vergleichen ließ – in jeder Beziehung ein schreiender Gegensatz zu Mr. Dombey, der unter die glattrasierten, geschniegelten Geldmänner gehörte, unter die Leute, die so frisch und glänzend sind, wie neue Banknoten, und die künstlich gestählt und gefestet zu sein scheinen – gleichsam durch die stimulierende Aktion goldener Schauerbäder.

»Ihr habt einen Sohn, glaube ich?« fragte Mr. Dombey.

»Ihrer vier, Sir. Vier Er und eine Sie. Alle am Leben!«

»Es fällt Euch gewiß schwer, alle zu ernähren?« sagte Mr. Dombey.

»Es wird mir oft sehr schwer; aber es gibt doch noch etwas in der Welt, was mir noch schwerer fiele, Sir.«

»Und das wäre?«

»Sie zu verlieren, Sir.«

»Könnt Ihr lesen?« fragte Mr. Dombey.

»Nicht besonders, Sir.«

»Schreiben?«

»Mit Kreide, Sir?«

»Überhaupt.«

»Mit der Kreide könnte ich, glaub‘ ich, ein bißchen zurecht kommen, wenn es sein müßte«, sagte Toodle nach kurzer Überlegung.

»Und doch müßt Ihr schon zwei- oder dreiunddreißig sein, sollte ich meinen«, sagte Mr. Dombey.

»Ich bin sogar noch älter«, antwortete Toodle nach weiterem Nachdenken.

»Warum lernt Ihr es nicht?« fragte Mr. Dombey.

»Das habe ich im Sinn, Sir. Einer von meinen kleinen Jungen soll es mich lehren, wenn er alt genug ist und selbst in der Schule etwas gelernt hat.«

»Gut!« sagte Mr. Dombey, indem er den Mann, der dastand und sich im Zimmer umsah (wobei er hauptsächlich der Decke seine Aufmerksamkeit schenkte und noch immer mit der Hand vor dem Munde hin und her fuhr), ziemlich ungnädig ins Auge faßte. »Ihr habt gehört, was ich eben Eurer Frau gesagt habe.«

»Polly hat es gehört«, versetzte Toodle, indem er mit der Miene der vollkommensten Zuversicht zu seiner bessern Hälfte den Hut über die Schultern nach der Richtung der Tür hinstieß. »Es ist alles recht so!«

»Es scheint, Ihr wollt das Ganze ihr überlassen«, erwiderte Mr. Dombey, als er bemerkte, wie sehr er sich verrechnet hatte, wenn er seine Meinung dem Gatten als dem kräftigeren Charakter noch nachdrücklicher ans Herz legen wollte. »Da nützt es wohl nichts, wenn ich mich weiter mit Euch einlasse.«

»Ist durchaus nicht nötig«, sagte Toodle. »Polly hat es gehört. Sie merkt sich alles gut, Sir.«

»So will ich Euch nicht länger aufhalten«, entgegnete Mr. Dombey verdrießlich. »Wo habt Ihr Euer Leben über gearbeitet?«

»Meist unter der Erde, Sir, bis ich heiratete. Dann kam ich auf den Boden. Ich will mich nach einer Stellung bei einer der hiesigen Eisenbahnen umsehen, sobald sie ihren Betrieb vergrößern.«

Wie ein Strohhalm schließlich genügt, um ein beladenes Kamel zusammenbrechen zu lassen, so ließ die Erwähnung seiner unterirdischen Beschäftigung Mr. Dombey völlig verstummen. Er öffnete dem Nährvater seines Kindes einfach die Tür, und dieser entfernte sich keineswegs ungern. Dann drehte Mr. Dombey den Schlüssel um und schritt in einsamem Jammer durch seine Zimmer auf und ab. Trotz seiner steifen, undurchdringlichen Würde und Fassung wischte er sich doch zuweilen eine Träne aus den Augen, und oft entquollen ihm in einer Erregung, für die er um die ganze Welt keinen Zeugen gehabt haben möchte, die Worte:

»Das arme Würmlein!«

Es war vielleicht eine charakteristische Eigenschaft von Mr. Dombeys Stolz, daß er sich selbst in dem Kinde beklagte. Nicht das arme Ich, nicht den armen Witwer, der sich gezwungenermaßen dem Weib eines unwissenden Knechts anvertrauen mußte – eines Kerls, der sein Lebenlang »meist unter Grund« gearbeitet, dessen Tür der Tod noch immer mit seinem Pochen verschont hatte und an dessen armem Tische täglich vier Söhne saßen – nein, nur das arme Würmchen!

Während diese Worte noch auf seinen Lippen schwebten, fiel ihm ein, – und es ist ein Beweis von der starken Anziehung, die seine Hoffnungen, seine Besorgnisse und alle seine Gedanken um einen Punkt kreisen ließ – daß diese Frau in große Versuchung geraten könnte. Ihr Säugling war gleichfalls ein Knabe. War es nicht möglich, daß sie die Kinder einfach auswechselte?

Obgleich er nach kurzer Zeit diese Vorstellung als romantisch und unwahrscheinlich – freilich blieb sie immerhin möglich – verwarf, konnte er doch nicht umhin, sich ein Bild seiner Lage zu machen, in der er sich befinden würde, wenn er in seinem Alter einen derartigen Betrug entdeckte. Ob ein Mann wie er imstande sein würde, die Frucht eines so vieljährigen Umgangs, Vertrauens und Glaubens einem Betrüger zu entreißen, um einen Fremden damit zu beglücken?

Als die ungewöhnliche Aufregung sich gelegt hatte, schwanden allmählich auch derartige Bedenken. Er beschloß jedoch die Richards ganz unauffällig auf das sorgfältigste zu beobachten. Nachdem er diesen Entschluß gefaßt hatte, legte sich seine Erregung allmählich. Er sah in der Stellung, die die Frau einnehmen sollte, jetzt eher einen vorteilhaften Umstand, der den Abstand zwischen ihr und dem Kind erweitern mußte. Dadurch würde sich auch ihre Trennung leicht und natürlich bewerkstelligen lassen.

Mittlerweile hatte Mrs. Chick unter dem Beistande der Miß Tox die Bedingungen mit Richards festgelegt, und nachdem der letzteren mit vieler Förmlichkeit, als handle es sich um die Erteilung eines Ordens, der Dombey-Säugling übertragen worden war, gab sie ihren eigenen unter vielen Tränen und Küssen an Jemima sternchenland.com ab. Dann wurden Gläser mit Wein gefüllt, um die Trauer von der Familie zu verscheuchen.

»Ihr nehmt doch auch ein Glas, Sir?« sagte Miß Tox, als Toodle eintrat.

»Danke, Ma’am«, versetzte Toodle: »wenn Ihr es durchaus haben wollt.«

»Und es freut Euch, daß Ihr Euer liebes gutes Weib in einem so anständigen Hause zurücklassen könnt – oder nicht, Sir?« sagte Miß Tox, indem sie ihm verstohlen einen blinzelnden Wink zusandte.

»Nein, Ma’am«, versetzte Toodle. »Ich möchte sie wohl wieder zurück haben.«

»Hierauf weinte Polly mehr als je, und Mrs. Chick, die ihre matronenhaften Bedenken hatte, ein solches Übermaß von Leid könnte dem kleinen Dombey schaden (»angreifend«, flüsterte sie Miß Tox zu), beeilte sich, Polly auf andere Gedanken zu bringen.

»Euer kleines Kind wird bei Eurer Schwester Jemima trefflich gedeihen, Richards«, sagte Mrs. Chick, »und Ihr braucht Euch nur Mühe zu geben – Ihr wißt, Richards, dies ist eine Welt voll Mühe –, um in der Tat sehr glücklich zu sein. Es ist Euch doch schon bereits Maß für die Trauerkleidung genommen worden, nicht wahr?«

»J–a, Ma’am«, schluchzte Polly.

»Und ich weiß, sie wird Euch trefflich passen«, sagte Mrs. Chick, »denn die junge Schneiderin hat mir schon viele Kleider gemacht. Dazu noch der allerbeste Stoff.«

»Du meine Güte, wie werdet Ihr schmuck aussehen«, pflichtete Miß Tox bei; »so schmuck, daß Euch Euer eigener Mann nicht mehr kennen wird, oder meint Ihr, Sir?«

»Ich werde sie erkennen«, sagte Toodle, »wie und wo es auch sein mag.«

Toodle war augenscheinlich nicht herumzukriegen.

»Was nun die Beköstigung betrifft, Richards, so wißt Ihr ja«, fuhr Mrs. Chick fort; »das Allerbeste von allem steht Euch zur Verfügung. Ihr könnt jeden Tag Euer kleines Mittagessen selbst bestellen, und worauf Ihr auch Appetit habt, ich bin überzeugt, es wird Euch so bereitwillig aufgetischt werden, als ob Ihr eine vornehme Dame wäret.«

»Ja, es soll Euch an nichts fehlen!« sagte Miß Tox, die den Ball mit großer Sympathie auffing. »Und was den Porter betrifft – so viel Ihr nur wünscht; oder nicht, Louisa?«

»O, gewiß!« erwiderte Mrs. Chick in dem gleichen Tone. »Nur mit einigen Ausnahmen – Ihr wißt, meine Liebe – im Punkte der Gemüse.«

»Und des Pökelfleisches vielleicht«, ergänzte Miß Tox.

»Mit solchen Ausnahmen«, erwiderte Louisa, »steht ihr die Wahl ganz frei, und es soll ihr in keiner Weise Zwang angetan werden, meine Liebe.«

»Und dann wißt Ihr natürlich«, sagte Miß Tox, »wie sehr sie auch ihr eigenes kleines Kind lieben mag – und ich bin überzeugt, Louisa, Ihr macht ihr deshalb keinen Vorwurf?«

»O nein!« rief Mrs. Chick in wohlwollendem Tone.

»Gleichwohl«, fuhr Miß Tox fort, »muß sie natürlich Interesse für ihren jungen Pflegling haben, und es als ein hohes Vorrecht betrachten, daß sie Zeuge sein kann, wie ein kleiner Cherub, der in so enger Beziehung steht zu den oberen Klassen, von Tag zu Tag sich allmählich an einer gemeinsamen Quelle entfaltet. Ist es nicht so, Louisa?«

»Ganz gewiß!« sagte Mrs. Chick. »Ihr seht, meine Liebe, sie ist bereits ganz zufrieden und getröstet; sie gedenkt jetzt, ihrer Schwester Jemima, ihren Kleinen und ihrem guten, ehrlichen Manne mit leichtem Herzen und mit einem Lächeln Lebewohl zu sagen – nicht wahr, meine Liebe?«

»O ja!« rief Miß Tox. »Sie wird es tun!«

Dessenungeachtet umarmte die arme Polly alle der Reihe nach in großer Betrübnis, und eilte zuletzt hinweg, um ein weiteres einzelnes Verabschieden von den Kindern zu vermeiden. Aber diese Kriegslist gelang ihr nicht so gut, als sie erwartet haben mochte; denn der zweitjüngste Knabe, welcher ihre Absicht ahnen mochte, begann augenblicklich auf Händen und Füßen ihr die Treppe hinauf nachzuklettern, während der älteste (zur Erinnerung an das Bügeleisen in der Familie unter dem Namen »der Sieder« bekannt) zum Ausdrucke seines Grams mit den Stiefeln einen dämonischen Zapfenstreich begann, in welchen die ganze übrige Familie einfiel.

Eine Menge Orangen und Halbpence, die ohne Unterschied jedem der jungen Toodles zugesteckt wurden, zügelte das erste Ungestüm ihres Schmerzes, und die Familie wurde schleunigst in die Droschke, welche noch immer vor dem Hause wartete, gepackt und nach Hause gesandt. Unter der Obhut Jemimas verbarrikadierten die Kinder mit ihren Köpfen das Droschkenfenster und ließen während des ganzen Weges ihre Orangen und Halbpence hinausfallen. Mr. Toodle zog es vor, zwischen den Spitzen des Kutschenbretts zu sitzen, weil er diese Fahrweise gewohnt war.

Zwanzigstes Kapitel.


Zwanzigstes Kapitel.

Mr. Dombey macht eine Reise.

»Mr. Dombey, Sir«, sagte Major Bagstock, »Joey B. ist im allgemeinen kein Mann von Empfindsamkeit, denn Joseph ist zäh. Aber Joe hat seine Gefühle, Sir, und wenn sie einmal geweckt sind – Gott verdamme mich, Mr. Dombey!« rief der Major mit plötzlicher Wildheit, »dies ist eine Schwäche, und ich will ihr nicht nachgeben!«

Major Bagstok entledigte sich dieser Ausdrücke, während er Mr. Dombey an dem oberen Geländer seiner Treppe auf dem Prinzessinnenplatz sternchenland.com als Gast empfing, Mr. Dombey wollte nämlich, ehe sie ihren Ausflug antraten, mit dem Major frühstücken, und über den unglücklichen Eingebornen war bereits wegen der Semmeln eine Welt von Elend ergangen, während ihm die allgemeine Frage der gesottenen Eier das Leben ganz und gar zur Last machte.

»Es paßt nicht für einen alten Soldaten von der Zucht der Bagstocks«, bemerkte der Major, in seine milde Stimmung zurückversinkend, »sich seinen eigenen Erregungen hinzugeben; aber – Gott verdamme mich, Sir«, rief der Major in einem abermaligen Wildheitskampfe, »ich leide mit Euch.«

Das Purpurgesicht des Majors wurde dunkler, und seine Hummeraugen traten noch stärker hervor, während er Mr. Dombey die Hand drückte und dieser friedlichen Gebärde einen so bedrohlichen Charakter mitteilte, als sei sie nur das Vorspiel eines plötzlichen Boxkampfes mit Mr. Dombey, in dem es sich um einen Einsatz von tausend Pfund und um den Ruhm des besten Ringers von ganz England handle. Mit einer rollenden Bewegung des Kopfes und einem Schnauben, ähnlich dem Husten eines Pferdes, führte sodann der Major seinen Gast nach dem Wohnzimmer, wo er ihn, nachdem seine Gefühle sich beruhigt hatten, mit der freien Offenheit eines Reisegefährten bewillkommte.

»Dombey«, sagte der Major, »es freut mich. Euch zu sehen. Ich bin stolz darauf. Euch zu sehen. Es gibt nicht viele Männer in Europa, denen J. Bagstock dies sagen würde – denn Josh ist derb, Sir; es liegt in seiner Natur – aber Joey B. ist stolz darauf, Euch zu sehen, Dombey.«

»Major«, entgegnete Mr. Dombey, »Ihr seid sehr verbindlich.«

»Nein, Sir«, erwiderte der Major. »Der Teufel auch – das liegt nicht in meinem Charakter. Wäre dies Joes Charakter, so könnte jetzt Joey Generalleutnant, Sir Joseph Bagstock Ritter des Halbmond- und des Bath-Ordens sein, und wäre in der Lage, Euch in einem ganz andern Quartier zu empfangen. Ich merke, Ihr kennt den alten Joe noch nicht, aber dieser Anlaß ist ganz besonders eine Quelle des Stolzes für mich. Bei Gott, Sir«, fügte der Major entschlossen bei, »ich rechne sie mir zur Ehre!«

In der Schätzung seines Ichs und seines Geldes fühlte Mr. Dombey, daß dies vollkommen wahr sein müsse, und wollte deshalb nicht dagegen streiten, aber die instinktartige Anerkennung einer solchen Wahrheit durch den Major und dessen unverhohlenes Zugeständnis übte eine recht angenehme Wirkung. Fand doch, falls es nötig gewesen wäre, Mr. Dombey eine Bekräftigung darin, daß er sich in dem Major nicht getäuscht hatte. Es war für ihn eine Versicherung, daß sich seine Gewalt über die ihn unmittelbar umgebende Sphäre erstreckte und daß der Major als Gentleman und Offizier dies ebenso fühlte, wie der Aufwärter der königlichen Börse.

Und wenn es je für ihn tröstlich war, dies oder etwas dergleichen zu wissen, so mußte es nunmehr der Fall sein, da ihm die Ohnmacht seines Willens, das Trügerische seiner Hoffnungen und die Schwäche sternchenland.com seines Reichtums so bitter nahegelegt worden. Was kann Geld tun? hatte ihn sein Knabe gefragt, und wenn er bisweilen an dieses kindische Gerede dachte, konnte er sich kaum enthalten, an sich selbst die Frage zu stellen – was konnte es tun – was hat es getan?

Doch dies waren nur einzelne Gedanken, spät des Nachts erzeugt in dem trostlosen Düster seiner Einsamkeit, und der Stolz ermannte sich bald wieder in vielen Zeugnissen der Wahrheit, die ebenso unanfechtbar und wertvoll waren, wie das des Majors. In seiner Freundlosigkeit sah sich Mr. Dombey zu dem letzteren hingezogen, und er taute ein wenig gegen denselben auf, obschon man nicht sagen konnte, daß er eigentlich warm wurde. Der Major hatte sich einigermaßen – allerdings nicht zuviel – bei den Küstengefechten beteiligt, war Mann von Welt und kannte einige vornehme Personen. Er sprach viel, wußte Geschichten zu erzählen, und Mr. Dombey war geneigt, ihn als einen auserlesenen Geist zu betrachten, der in der Gesellschaft glänzte und nicht jene giftige Beigabe, Armut, mit der auserlesene Geister in der Regel allzusehr behelligt sind, besaß. Seine Stellung war unanfechtbar, der Mann selbst ein achtbarer, an ein müßiges Leben gewöhnter Gefährte, folglich auch bekannt mit den Plätzen, die sie zu besuchen gedachten, und außerdem im Besitz einer gewissen gentlemanischen Leichtigkeit, hinreichend gemischt mit seinem Londoner Ruf, ohne übrigens mit demselben in die Schranken zu treten. Vielleicht mochte in Mr. Dombey die Idee schlummern, der Major könne als ein Mann, der vermöge seines Standes daran gewöhnt war, sich über die erbarmungslose Hand wegzusetzen, die kürzlich seine Hoffnungen geknickt hatte – unwillkürlich ihm einige nützliche Philosophie beibringen und seinen schwachen Ingrimm über das Geschick bannen; wenn dies übrigens auch der Fall war, so verbarg er es vor sich selbst und ließ es ununtersucht in dem Abgrund seines Stolzes liegen.

»Wo ist mein Schurke!« rief der Major, sich zornig im Zimmer umsehend.

Der Eingeborene, der gerade keinen besonderen Namen führte, aber auf jedes Schimpfwort hörte, zeigte sich sogleich unter der Tür und wagte es, näherzukommen.

»Du Halunke!« rief der cholerische Major – »wo ist das Frühstück?«

Der schwarze Diener verschwand, um das Geforderte zu holen, und man hörte ihn bald in einem so bebenden Zustande die Treppe wieder heraufsteigen, daß während des ganzen Wegs die Teller und Schüsseln auf dem Teebrett zitterten und rasselten.

»Dombey«, sagte der Major, mit einem Blicke nach dem Eingeborenen, der den Tisch ordnete, und ihn mit einem ehrfurchtgcbietenden Schütteln seiner Faust ermunternd, als der Unglückliche einen Löffel falsch legte. »Hier ist ein gepfefferter Rostbraten, eine würzige Pastete, eine Schüssel mit Nieren und so fort. Bitte, nehmt Platz. Ihr seht, der alte Joe kann Euch nur Lagerkost bieten.«

»Ein vortreffliches Mahl, Major«, versetzte der Gast, und zwar sternchenland.com nicht aus bloßer Höflichkeit, denn der Major trug möglichst Sorge für sich selber und liebte in der Tat eine kräftige Kost mehr, als für ihn gut war, sofern seine kaiserliche Gesichtsfarbe hauptsächlich von diesem Umstände herrührte.

»Ihr habt über die Straße hinübergeschaut, Sir«, bemerkte der Major. »Ist unsere Freundin sichtbar?«

»Ihr meint Miß Tox«, versetzte Mr. Dombey. »Nein.«

»Ein prächtiges Frauenzimmer, Sir«, sagte der Major mit einem fetten Gelächter in seiner kurzen Kehle, das ihn beinahe erstickte.

»Ich glaube. Miß Tox ist eine recht wackere Person«, entgegnete Mr. Dombey.

Die stolze Kälte dieser Antwort schien den Major Bagstock ungemein zu ergötzen. Er blähte sich mehr und mehr auf und legte sogar für einen Augenblick sein Besteck nieder, um sich die Hände zu reiben.

»Der alte Joe, Sir«, sagte der Major, »war vor Zeiten in dieser Richtung einigermaßen begünstigt. Aber Joe hat seinen Tag gehabt. J. Bagstock ist ausgetilgt – ausgestochen – ganz und gar geworfen, Sir. Ich will Euch was sagen, Dombey.« Der Major hielt im Essen inne und machte eine Miene geheimnisvoller Entrüstung. »Sie ist ein verteufelt ehrgeiziges Frauenzimmer, Sir.«

»Wirklich?« entgegnete Mr. Dombey mit kalter Gleichgültigkeit, in die sich vielleicht auch ein verächtlicher Zweifel mengte, ob Miß Tox die Anmaßung haben könne, eine so auszeichnende Eigenschaft zu bergen.

»Das Frauenzimmer«, sagte der Major, »ist in ihrer Art ein wahrer Luzifer. Joe B. hat seinen Tag gehabt, Sir, ist aber nicht blind. Ja, Joe sieht scharf. Seine königliche Hoheit der verstorbene Herzog von York machte bei einem Lever die Bemerkung, daß Joe haarscharf sehe.«

Der Major begleitete diese Worte mit einem Blick und sah zwischen dem Essen, Trinken, dem heißen Tee, dem gepfefferten Rostbraten, den Semmeln und seinem Dünkel so geschwollen und rot aus, daß sogar Mr. Dombey um seinetwillen ängstlich wurde.

»Das lächerliche alte Weibsbild, Sir«, fuhr der Major fort, »strebt hoch – strebt himmelhoch, Sir. Ehestandsgedanken, Dombey.«

»Es täte mir leid um sie«, sagte Mr. Dombey.

»Sprecht nicht so, Dombey«, erwiderte der Major mit einer warnenden Stimme.

»Warum sollte ich nicht?« fragte Mr. Dombey.

Der Major antwortete nur mit dem Pferdehusten und fuhr fort, aus Leibeskräften zu essen.

»Sie hat seit einiger Zeit Interesse an Eurem Hauswesen gewonnen«, sagte der Major, wieder innehaltend, »und ist oft bei Euch auf Besuch gewesen.«

»Ja«, versetzte Mr. Dombey mit sehr vornehmer Miene. »Um die Zeit, als Mrs. Dombey starb, fand sie als eine Freundin meiner sternchenland.com Schwester Zutritt. Da sie sich dabei anständig benahm und eine große Vorliebe für das arme Kind zeigte, so wurde eine Wiederholung ihrer Besuche mit meiner Schwester geduldet – ich kann wohl sagen, ermutigt, und so fügte sich’s allmählich, daß sie zu der Familie auf den Fuß der Vertraulichkeit zu stehen kam. »Ich habe« – fügte Mr. Dombey im Tone eines Mannes bei, der ein wichtiges, anerkennenswertes Zugeständnis macht – »ich habe Achtung vor Miß Tox. Sie war so gefällig, meinem Hause viele kleine Dienste zu erweisen – kleine und unbedeutende Dienste vielleicht, Major, aber deshalb doch nicht zu verachten, und ich hoffe, daß ich das Glück hatte, sie durch so viel Aufmerksamkeit und Berücksichtigung, wie überhaupt in meiner Macht stand, anzuerkennen. Namentlich bin ich Miß Tox verpflichtet, Major«, fügte Mr. Dombey mit einer leichten Handbewegung hinzu, »für das Vergnügen Eurer Bekanntschaft.«

»Dombey«, sagte der Major mit Wärme. »Nein. Nein, Sir! Joseph Bagstock kann nicht zugeben, daß diese Behauptung ohne Widerspruch bleibe. Daß Ihr den alten Joe – so wie er ist – kennt, Sir, und daß der alte Joe Euch kennenlernte, Sir, hat seinen Ursprung in einem edlen Geschöpf, Sir – in einem großen Geschöpf, Sir. Dombey!« fügte er mit einem Kampfe bei, den er unschwer zur Schau stellen konnte, da sein ganzes Leben in einem beharrlichen Ringen mit apoplektischen Symptomen aller Art bestand, »wir kennen einander durch Euren Knaben.«

Mr. Dombey schien bei dieser Anspielung gerührt zu sein, was aller Wahrscheinlichkeit nach der Major auch beabsichtigt hatte. Er blickte nieder und seufzte; der Major aber raffte sich wild wieder auf und sagte in Beziehung auf die Gemütsstimmung, von der er sich seiner Aufgabe nach bedroht fühlte, dies sei eine Schwäche, und nichts solle ihn veranlassen, sich ihr zu unterwerfen.

»Unsere Freundin steht allerdings in einem entfernten Zusammenhang mit diesem Ereignis«, sagte der Major, »und J.B. ist bereitwillig, ihr denjenigen Anteil zuzugestehen, der ihr gebührt, Sir. Gleichwohl, Ma’am«, fügte er bei, indem er vom Teller auf- und über den Prinzessinnenplatz hinüberschaute, wo Miß Tox in diesem Augenblick am Fenster mit dem Begießen ihrer Blumen beschäftigt war, »seid Ihr eine ränkespinnende Dirne, Ma’am, und Euer Ehrgeiz ist ein Stücklein unerhörter Unverschämtheit. Wenn Ihr Euch nur selbst lächerlich machtet, Ma’am«, fuhr der Major fort, indem er den Kopf gegen die nichtsahnende Miß Tox hinwiegte und seine Augen das Aussehen gewannen, als wollten sie nach ihr hinüberspringen, »so könntet Ihr es tun nach Eures Herzens Gelüsten, Ma’am, und ich kann Euch versichern, daß Bagstock nicht die mindeste Einsprache erheben würde.« Der Major lachte jetzt fürchterlich, so daß seine Ohrenspitzen und die Adern seines Kopfes sich dabei beteiligten. »Aber wenn Ihr andere Leute dabei bloßstellt, Ma’am«, sagte der Major, »und noch dazu edle, nichtsahnende Leute, denen Ihr die Euch erwiesene Herablassung also vergeltet, dann regt sich das Blut des alten Joe in seinem ganzen Körper.«

»Major«, versetzte Mr. Dombey errötend, »ich will nicht hoffen, daß Ihr Miß Tox eine solche Abgeschmacktheit zutraut, als könnte sie –«

»Dombey«, erwiderte der Major, »ich sage nichts. Aber Joey B. hat in der Welt gelebt, Sir – in der Welt gelebt mit offenen Augen und gespitzten Ohren, Sir; und deshalb gibt Euch Joe die Versicherung, daß die dort drüben ein verteufelt schlaues und ehrgeiziges Weibsstück ist.«

Mr. Dombey warf unwillkürlich einen Blick – und zwar einen zornigen Blick über die Straße hinüber.

»Dies ist alles, was in betreff eines solchen Gegenstandes über Joseph Bagstocks Lippen gehen wird«, sagte der Major mit Festigkeit. »Joe ist kein Ohrbläser; aber es gibt Zeiten, wo er sprechen muß – wo er sprechen will. Zum Henker mit Euren Kunstgriffen, Ma’am«, rief der Major, abermals in großem Zorn seine schöne Nachbarin anredend – »denn Ihr reizt einen zu sehr, als daß man stillschweigen könnte.«

Die Aufregung dieses Losbruchs versetzte den Major in einen Roßhusten-Paroxysmus, welcher geraume Zeit anhielt. Nachdem er sich wieder erholt hatte, fügte er hinzu:

»Und nun, Dombey, da Ihr Joe – den alten Joe, welcher kein anderes Verdienst besitzt, Sir, als daß er zäh ist und ein ehrlicher Kerl – eingeladen habt, bei dem Ausflug nach Leamington Euer Gast und Führer zu sein, so gebietet über ihn ganz nach Eurem Belieben. Er ist vollkommen der Eurige. Ich weiß nicht, Sir«, fuhr der Major fort, indem er sein Doppelkinn in scherzhafter Weise wackeln ließ, »was die Leute auch an Joe sehen, daß er überall in solcher Nachfrage steht. Soviel aber ist gewiß, Sir – wäre er nicht ziemlich zäh und hartnäckig in seiner Weigerung, so wäre er in der halben Zeit vor lauter Einladungen und so fort unter dem Boden.«

Mr. Dombey erkannte in wenigen Worten dankbar den Vorzug an, den ihm Major Bagstock vor so vielen andern ausgezeichneten Mitgliedern der Gesellschaft zuteil werden ließ; der Major aber unterbrach ihn schnell, indem er ihm zu verstehen gab, er folge hierin nur seinen eigenen Neigungen, die in Masse zusammengetreten wären und ihm einstimmig zugerufen hätten:

»J.B., Dombey ist der Mann, den du zum Freund wählen mußt.«

Der Major befand sich nun in einem Zustande von Entleerung, indem die wesentlichen Bestandteile der würzigen Pastete aus den Ecken seiner Augen troffen und der gepfefferte Rostbraten samt den Nieren seine Halsbinde steifte. Da außerdem die Abgangszeit des Eisenbahnzugs nach Birmingham herannahte, mit welchem sie die Stadt verlassen wollten, so half der Eingeborene nicht ohne große Mühe seinem Gebieter in den Überrock und knöpfte ihn ein, bis sein Gesicht glotzend und keuchend dieses Kleidungsstück überragte und der ganze Mann aussah, als ob er in einem Fasse stecke. Dann reichte ihm der Eingeborene in anständigen Pausen zwischen jedem Artikel die waschledernen Handschuhe, den dicken Stock und den Hut, sternchenland.com welch‘ letzteren der Major leichtfertig auf die eine Seite des Kopfes drückte, um sein merkwürdiges Gesicht ein wenig herabzustimmen, Schon zuvor hatte der Eingeborene alles mögliche und unmögliche in Mr. Dombeys Wagen eingepackt, der mit einer ungewöhnlichen Menge von Felleisen und kleinen Mantelsäcken, alle ebenso apoplektisch aussehend, wie der Major selbst, beladen war. Nachdem der Schwarze noch die eigenen Taschen mit Selterser-Wasser, ostindischem Sherry, Röstschnitten, Halstüchern, Teleskopen, Landkarten, Zeitungen und anderem leichten Gepäck, das sein Gebieter möglicherweise schnell auf der Reise brauchen könnte, gefüllt hatte, brachte er die Meldung, daß alles bereit sei. Um die Ausstattung des unglücklichen Fremden, der dem allgemeinen Glauben gemäß in seinem eigenen Lande ein Prinz gewesen, zu vervollständigen, warf ihm, als er auf dem Bedientensitze neben Mr. Towlinson Platz nahm, der Hauseigentümer noch eine Anzahl Mäntel und Überröcke zu, von der Straße aus diese schweren Geschosse gleich einem Titan schleudernd und den armen Neger damit ganz zudeckend, so daß er die Fahrt nach der Eisenbahnstation wie ein lebendig Begrabener antreten mußte.

Aber ehe der Wagen abfuhr und während noch an dem Eingebornen die Beerdigungszeremonien vorgenommen wurden, zeigte sich Miß Tox an ihrem Fenster und schwenkte ein lilienweißes Taschentuch. Mr. Dombey nahm diesen Abschiedsgruß sehr kalt – auch für ihn sehr kalt – auf und beehrte sie mit der möglichst leichten Kopfverneigung, worauf er sich mit sehr unzufriedenem Gesicht in den Wagen zurücklehnte. Dieses Benehmen schien dem Major, der sich gegen Miß Tox mit der größten Höflichkeit benahm, unendliche Freude zu machen, und er saß noch geraume Zeit nachher schielend und keuchend da, wie ein gemästeter Mephistopheles.

Während der lärmenden Vorbereitungen für die Abfahrt des Zuges gingen Mr. Dombey und der Major Seite an Seite auf der Plattform hin und her. Der erstere war sehr schweigsam und düster, der letztere aber unterhielt seinen Gefährten oder vielmehr sich selbst mit allerlei Anekdoten und Reminiszenzen, in denen Joe Bagstock meistens die Hauptfigur spielte. Keiner von beiden bemerkte, daß sie während ihres Spaziergangs die Aufmerksamkeit eines Arbeiters fesselten, der neben der Maschine stand und, so oft sie vorübergingen, an den Hut langte; denn Mr. Dombey pflegte stets über den gemeinen Haufen weg- und nicht nach ihm hinzusehen, während der Major im Augenblick nur Sinn für seine Erzählungen hatte. Endlich, als sie eben wieder umwandten, trat der Mann vor, zog seinen Hut ab, den er in der Hand behielt, und verneigte sich vor Mr. Dombey.

»Bitt‘ um Verzeihung, Sir«, sagte der Mann; »aber ich hoffe, Ihr seid gesund und wohl, Sir.«

Er war in einen Leinwandanzug gekleidet, der reichliche Schmierflecken von Kohlenstaub und Teer zeigte, hatte Asche in seinem Bart und roch schon von Ferne nach halbverschlackten Kohlen. Der sternchenland.com Mann sah zwar schmutzig, aber dabei doch nicht übel aus und war mit einem Worte Mr. Toodle in der Tracht seines Berufs.

»Ich werde die Ehre haben, Euch hinunterzuheizen, Sir«, sagte Mr. Toodle. »Bitt‘ um Verzeihung, Sir, ich hoffe, es ergeht Euch gut?«

Zum Dank für diese teilnehmende Frage sah Mr. Dombey den Mann an, als könnte ihm derselbe schon durch seinen Anblick Schmutz in die Augen streuen.

»Nichts für ungut, Sir«, sagte Toodle, als er bemerkte, daß man sich seiner nicht recht erinnerte, »aber mein Weib Polly, die man in Eurer Familie Richards nannte –«

In Mr. Dombeys Gesicht ging ein Wechsel vor, der eine auftauchende Erinnerung anzudeuten schien. Mr. Dombey erkannte zwar den Arbeiter jetzt, drückte dies aber ärgerlich in sehr demütigender Weise aus, so daß Mr. Toodle nicht wenig betroffen wurde.

»Vermutlich braucht Euer Weib Geld?« sagte Mr. Dombey in seinem gewöhnlichen stolzen Tone, während er die Hand in seine Tasche steckte.

»Nein, ich danke, Sir«, entgegnete Toodle, »kann es nicht sagen. Ich wenigsten« brauche keines.«

Die Reihe des Betroffenwerdens kam jetzt an Mr. Dombey, der linkisch mit der Hand in der Tasche dastand.

»Nein, Sir«, sagte Toodle, wieder und wieder seine Teermütze drehend. »Es geht uns ziemlich gut, Sir, und was das Weltliche betrifft, so haben wir keine Ursache, uns zu beklagen, Sir. Wir haben seitdem vier weiter gehabt, Sir, aber wir schlagen uns durch.«

Mr. Dombey hätte sich gern nach seinem eigenen Wagen durchgeschlagen, und wenn er dabei hätte den Heizer unter die Räder drängen müssen; aber seine Aufmerksamkeit wurde jetzt durch etwas an der Mütze gefesselt, die noch immer in der Hand des Mannes ihre Kreisbewegungen machte, »Wir haben ein Büblein verloren«, bemerkte Toodle. »Ich kann’s nicht leugnen.«

»Erst kürzlich?« fragte Mr. Dombey, nach der Mütze hinsehend.

»Nein, Sir, es sind schon bald drei Jahre; aber alles übrige ist frisch und wohl. Und was das Lesen betrifft, Sir«, sagte Toodle, indem er sich abermals duckte, als wolle er Mr. Dombey an das erinnern, was in betreff des bewußten Gegenstandes vor langer Zeit zwischen ihnen vorgegangen war, »so habe ich’s zuletzt doch noch von meinen Buben gelernt. Die Jungen haben etwas aus mir gemacht, Sir.«

»Kommt, Major!« sagte Mr. Dombey.

»Ich bitte um Verzeihung, Sir«, fuhr Toodle fort, indem er einen Schritt vortrat und die Mütze noch immer in der Hand ehrerbietig zurückhielt, »ich würde Euch nicht mit einer solchen Sache behelligt haben, wär’s nicht wegen meines Sohnes Sieder – sein Taufname ist Robin – derselbe, den Ihr zu einem barmherzigen Schleifer zu machen so gut wart.«

»Nun, Mann«, sagte Mr. Dombey in seiner strengsten Weise. »Was ist mit ihm?«

»Ei, Sir«, entgegnete Toodle, indem er mit sehr betrübtem Gesichte den Kopf schüttelte, »ich muß sagen, daß er auf Abwege geraten ist.«

»So, wirklich?« sagte Mr. Dombey mit einer Art bitterer Selbstbefriedigung.

»Ja seht, Genelmen, er ist in schlimme Gesellschaft gekommen«, fuhr der Vater fort, beide ernst ansehend und, augenscheinlich in der Hoffnung, die Teilnahme des Majors zu gewinnen, letzteren auch mit ins Gespräch ziehend. »So geriet er auf Abwege. Gott gebe, daß er wieder umkehre, Genelmen; aber jetzt ist er auf einem ganz falschen Pfad. Ihr könntet vielleicht auch davon hören, Sir«, fügte Toodle hinzu, »und so ist’s besser, daß ich’s ohne Rückhalt heraussage, wie mein Junge nicht am besten geraten ist. Polly ist schrecklich darüber in Sorgen, Genelmen«, sagte Toodle mit demselben niedergeschlagenen Gesicht und einer abermaligen Berufung an den Major.

»Ein Sohn dieses Mannes, den ich erziehen ließ, Major«, sagte Mr. Dombey, seinem Gefährten den Arm gebend. »Der gewöhnliche Dank!«

»Laßt Euch von dem einfachen alten Joe den Rat geben, an die Erziehung derartigen Volkes nie zu rühren«, entgegnete der Major. »Soll mich Gott holen, Sir, es geht nicht! Jedesmal nimmt es ein schlechtes Ende.«

Der einfache Vater war eben im Begriff, seine Ansicht auszudrücken, der ehemalige Schleifer – gepufft und geknufft, gepeitscht, mit einem Schild versehen und nach Papageienart von einem Unmenschen unterrichtet, der für das Amt eines Schulmeisters ebensowenig paßte, wie ein Hund – könne vielleicht in irgendeiner unentdeckten Beziehung nicht ganz nach einem rechten Plan geschult worden sein; aber Mr. Dombey wiederholte unmutig die Worte »der gewöhnliche Dank!« und ging mit dem Major weiter. Es hielt etwas schwer, den Major in Mr. Dombeys Wagen zu heben, und während er mitten in der Luft schwebte, schwur und fluchte er, sooft sein Fuß den Tritt verfehlte, er wolle dem Eingeborenen lebendig die Haut abziehen, ihm jedes Glied seines Leibes zerschlagen und ihn mit allen andern erdenklichen körperlichen Qualen heimsuchen. Dabei gewann er vor der Abfahrt kaum noch Zeit, heiser zu wiederholen, es gehe einmal nicht, habe stets ein schlimmes Ende genommen, und wenn er ›seinem eigenen Halunken‹ eine Erziehung beibringen wollte, so würde derselbe sicherlich an den Galgen kommen.

Mr. Dombey stimmte ihm in der Bitterkeit seines Herzens bei. Aber es lag etwas mehr in dieser Bitterkeit und in der verstimmten Weise, in der er im Wagen zurücksank, als das Fehlschlagen des edlen Erziehungssystems, wie es von der Gesellschaft der barmherzigen Schleifer gehandhabt wurde. Mit gerunzelter Stirn blickte er hinaus auf die stets wechselnden Gegenstände. Er hatte an der sternchenland.com schlechten Mütze des Mannes ein Stück neuen Flors bemerkt und aus dessen ganzem Benehmen die Überzeugung gewonnen, er trage ihn um seinen – Mr. Dombeys – Sohn.

Also von oben herab bis unten – zu Haus oder auswärts – von Florencen in seinem großen Hause bis zu dem geringsten Knecht, der das vor ihnen dampfende Feuer schürte – alles erhob einen oder den andern Anspruch an seinen toten Sohn und trat ihm als Bieter gegenüber! Konnte er es je vergessen, wie jenes Weib über seinem Bettchen geweint und ihn ihr Kind genannt – wie Paul, aus seinem Schlaf erwachend, nach ihr verlangt, sich bei ihrem Eintritt aufgerichtet und sie mit leuchtenden Augen bewillkommt hatte!

Denken zu müssen, daß dieser anmaßende Heizer mit seinem Trauerzeichen vor ihnen herging – daß er es wagte, sogar durch eine so gewöhnliche Kundgebung sich zu beteiligen an dem Schmerz und den getäuschten Erwartungen, die an dem innersten Herzen eines stolzen Gentlemans zehrten – daß sein verlornes Kind, der vermeintliche künftige Genosse seiner Reichtümer, seiner Entwürfe und seiner Macht, in dessen Verbindung er die ganze Welt wie mit einer doppelten Tür von Gold ausgeschlossen haben würde, einem solchen Haufen Zutritt gestattete, um ihn zu kränken mit ihrer Kunde von seinen vernichteten Aussichten und mit ihrer Dreistigkeit, eine Gemeinschaft des Gefühls mit ihm, der so hoch über ihnen stand, anzusprechen! Ja, vielleicht hatten sie sich sogar eingeschlichen in den Platz, in dem er allein Herr sein wollte.

Die Reise bereitete ihm weder Vergnügen noch Erholung. Da er sich solchen quälenden Gedanken hingab, so brachte er Eintönigkeit in die lebensvolle Landschaft, und die reiche abwechselnde Gegend, in der er pfeilschnell dahinschoß, war für ihn nichts als eine Wildnis voll vereitelter Pläne und fressender Eifersucht. Sogar die Geschwindigkeit, mit der der Zug fortbrauste, erschien ihm wie ein Hohn über den schnellen Lauf des jungen Lebens, das mit so unerbittlicher Beharrlichkeit dem ihm bestimmten Ende zugeführt worden war. Die Gewalt, die sich selbst auf ihrem eigenen ehernen Wege vorwärts drängte, allen Pfaden und Straßen Trotz bietend, sich durch das Herz eines jeden Hindernisses bohrend und lebende Wesen von allen Klassen und Altersabstufungen hinter sich drein schleppend – war ein Bild des triumphierenden Ungeheuers Tod.

Dahin, pfeifend, brausend und rasselnd von der großen Stadt, sich eingrabend unter den Wohnungen der Menschen und die Straßen erdröhnen lassend, für einen Augenblick hinausguckend ins Gefild und wühlend durch die feuchte Erde in Nacht und dichter Luft, wieder hervorbrechend in den so klaren, sonnigen Tag – dahin mit Pfeifen, Brausen und Rasseln durch die Felder und Wälder, durch Getreide und Heu, durch Kalk, Geschiebe, Ton und Fels, an Gegenständen vorbei, so nahe der Hand, daß der Reisende sie fast fassen konnte, aber stets vor ihm fliehend und in trüglicher Ferne unablässig langsam mit sich fortbewegend – gerade so, wie auf dem Wege des erbarmungslosen Ungeheuers Tod!

Durch das Tal, auf der Höhe, über die Heide, über den Fluß – wo die Schafe werden, wo die Mühle geht, wo die Barke schwimmt, wo die Toten liegen, wo die Fabrik raucht, wo der Strom läuft, wo das Dorf sich zusammenschmiegt, wo der Dom steht, wo das öde Moor liegt und der unstete Wind nach Gutdünken Wellen aufwirft oder sie legt – dahin, mit Pfeifen, Brausen und Rasseln, keine Spur zurücklassend, als Staub und Dampf – geradeso wie auf dem Pfade des erbarmungslosen Ungeheuers Tod!

Durch Wind und Licht, Regen und Sonnenschein dahin und immer weiter rollt und brüllt in ungestümer Hast der Zug seinen glatten sicheren Weg. Große Werke, ungeheure Brücken kreuzen sich über ihm, fallen wie ein zollbreiter Schatten auf das Auge und sind dann entschwunden. Fort und immer weiter – stets vorwärts und vorwärts: vorbeihuschende Bauernhütten, Häuser und Paläste, reiche Güter und tätiges Treiben auf den Feldern – Menschen, alte Straßen und Pfade – alles sieht so klein, so verlassen und unbedeutend aus, sobald man es im Rücken hat – was sind sie anders, als die flüchtigen Bilder neben der Bahn des nicht zu bewältigenden Ungeheuers Tod!

Fort mit Pfeifen, Brausen und Rasseln – wieder hinein in die Erde und daselbst einen so wilden, beharrlichen Sturm erzeugend, daß in Mitte der Finsternis und des Wirbels die Bewegung umgekehrt erscheint, als wolle es wütend wieder rückwärts, bis der Strahl des Lichts die feuchte Oberfläche der Wand zeigt, die wie ein wilder Strom vorbeieilt. Wieder hinaus in den Tag und durch den Tag mit schrillem Jubelgezeter, brausend, rasselnd, rennend, alles mit seinem schwarzen Hauch befleckend, bisweilen eine Minute innehaltend, wo ein Häuflein Gesichter zusammengeschart ist, die in einer weiteren Minute verschwinden – bisweilen gierig Wasser leckend, und ehe der tränkende Brunnen zu träufeln aufgehört hat, durch die purpurne Entfernung schreiend, brausend, rasselnd.

Lauter und lauter noch das Getöse, wenn es widerstandslos dem Ziele zugeht und der Weg, noch immer gleich dem des Todes, sich dick mit Asche bestreut. Rings umher alles schwarz – dunkle Wasserlachen, schmutzige Gassen und erbärmliche Wohnungen weit unten. Dicht zur Hand stehen brüchige Wände und einstürzende Häuser; durch die löcherigen Dächer und zerbrochenen Fenster sieht man elende Stuben, wo Mangel und Fieber in vielen grausenhaften Gestalten sich verstecken, während Rauch, gedrängte Giebel, verkrümmte Schornsteine und Ungestalten von Ziegel und Mörtel, sowohl Häßlichkeit des Geistes als des Leibes einschließend, die düstere Ferne versperren. Während Mr. Dombey zu dem Fenster seines Wagens heraussieht, fällt es ihm nicht entfernt ein, das Ungeheuer, das ihn hierherbrachte, habe nur das Licht des Tages auf diese Dinge geworfen, nicht aber sie geschaffen oder Anlaß dazu gegeben. Es war passendes Ende der Fahrt und hätte vermöge seiner traurigen Trümmerhaftigkeit ebensogut das Ende von allem sein können.

So hatte er, dem Gedankengang folgend, das eine erbarmungslose sternchenland.com Ungeheuer noch stets vor sich. Alles blickte ihn schwarz, kalt und totenartig an und erwiderte den Blick in derselben Weise. Überall eine Ähnlichkeit mit seinem Unglück. Um ihn her unbarmherziger Triumph, der, welche Gestalt er auch annehmen mochte, seinen Stolz, seine Eifersucht erbitterte und verwundete, am meisten aber, wenn irgend etwas die Liebe und das Andenken des verlorenen Knaben mit ihm teilen wollte.

Namentlich vergegenwärtigte sich ihm während der Fahrt oft ein Gesicht, das er am Abend zuvor gesehen und das ihn selbst anblickte mit Augen, die in seiner Seele lasen, obschon sie trüb waren von Tränen und sich bald hinter zwei bebenden Händen verbargen. Er hatte es gesehen mit dem Ausdruck der letzten Nacht – dem Ausdruck schüchterner Bitte. Es war nicht vorwurfsvoll; aber es lag etwas Zweifelndes – eine Hoffnung, die sich selbst nicht glauben wollte, darin, wenngleich für ihn in der trostlosen Sicherheit seiner Abneigung dieser Zug verschwand, so daß er Vorwurf darin zu lesen glaubte. Der Gedanke war ihm peinlich – der Gedanke an das Gesicht seiner Tochter.

Vielleicht, weil er in letzter Zeit Gewissensbisse fühlte? Nein. Weil das Gefühl, das es in ihm weckte und von dem er in früheren Tagen eine unklare Vorstellung gehabt hatte, jetzt Form gewann und sich deutlich aussprach; allerdings ergreifend und in einer Weise drohend, daß seine Fassung nicht davor standhalten konnte. Weil das Gesicht überall war mit dem Ausdrucke des Kummers und der Verfolgung, ja sogar ihn wie die Luft zu umgeben schien. Weil er die Pfeile jenes grausamen, erbarmungslosen Feindes, mit dem seine Gedanken rangen, mit Widerhaken versah und ihm ein zweischneidiges Schwert in die Hand drückte. Weil er, während er so dastand und in seinem Innern die wechselnde Szene vor ihm mit den krankhaften Farben seines Geistes ausmalte, stets nur ein Bild des Verfalls, nicht aber hoffnungsvolle Vielseitigkeit und die Aussicht auf Besseres darin sehend – recht wohl wußte, daß mit seinen Klagen das Leben ebensoviel zu schaffen hatte, wie der Tod. Ein Kind war dahin, eins ihm geblieben. Warum mußte ihm statt ihrer der Gegenstand seiner Hoffnungen entrissen werden?

Das ruhige, süße, sanfte Bild seiner Phantasie konnte keine andere Betrachtung in ihm wecken. Sie war ihm vom ersten Augenblick an unwillkommen gewesen – jetzt aber wurde sie ihm zum bitteren Verdruß. Hätte er in dem Sohn sein einziges Kind verloren, so würde er den Schlag schwer, aber doch unendlich leichter empfunden haben, als jetzt, weil er nicht diejenige betroffen, die er, wie er meinte, ohne Leid hätte missen können. Ihr vor ihm auftauchendes liebevolles, unschuldiges Antlitz übte auf ihn keinen beruhigenden, keinen gewinnenden Einfluß. Er wies den Engel zurück und gab dafür dem Quälgeiste Raum, der sein Innerstes zermalmte. Ihre Geduld, ihre Güte, ihre Jugend, ihre Hingebung, ihre Liebe – alles dies waren nur Atome in der Asche, auf die er seine Ferse setzte. Ihr Bild schwebte ihm stets in der ihn umgebenden Nacht vor, erhellte sternchenland.com sie aber nicht, sondern machte das Düster nur noch tiefer. Mehr als einmal auf seiner Reise, und jetzt wieder, als er am Ziel derselben stand und mit seinem Stock Figuren in den Staub zeichnete, kam ihm der Gedanke, ob er denn gar nichts finden könne, um dieses leidige Gesicht von sich abzuwehren.

Der Major, der während des ganzen Weges wie eine zweite Dampfmaschine gepustet hatte und dessen Augen oft über der Zeitung weg ins Freie hinauswanderten, als quöllen aus dem Rauch der Lokomotive lange Prozessionen von geschlagenen Miß Toxes hervor, um nach einem Flug über die Felder hin sich an irgendeinem Zufluchtsorte zu verstecken, brachte seinen Freund mit der Nachricht zu sich, daß die Postpferde eingespannt seien und der Wagen bereitstehe.

»Dombey«, sagte der Major, ihn mit seinem Stock auf den Arm klopfend, »seid nicht so gedankenvoll. Das ist eine schlimme Gewohnheit. Der alte Joe, Sir, würde nicht so zäh sein, wie Ihr ihn seht, wenn er je eine solche Stimmung hätte aufkommen lassen. Ihr seid ein zu bedeutender Mann, Dombey, um gedankenvoll zu sein. In Eurer Stellung, Sir, seid Ihr weit über etwas der Art erhaben.«

Da der Major sogar in seinen freundschaftlichen Verweisen die Würde und Ehre eines Dombey in Rechnung brachte und ein lebhaftes Gefühl für ihre Bedeutsamkeit an den Tag legte, so fühlte sich sein Geführte mehr als je geneigt, einen so verständigen und rücksichtsvollen Gentleman gewähren zu lassen. Er gab sich daher, während sie miteinander ihre Straße gingen, alle Mühe, den Geschichten des Majors ein aufmerksames Ohr zu schenken, und der letztere säumte nicht, sich in seiner Glorie zu zeigen, da er fand, Schritt und Weg befähige ihn weit besser zu Entfaltung seiner Konversationsgabe, als die eben erst verlassene Reisemethode.

Diese Hochflut einer geistreichen Unterhaltung strömte den ganzen Tag fort und fort, und wurde nur durch die gewöhnlichen plethorischen Symptome des Sprechers einmal in Zwischenräumen durch ein Lunch und von Zeit zu Zeit durch einen heftigen Ausfall gegen den Eingeborenen unterbrochen, der in seinen dunkelbraunen Ohren große Ringe trug und dem seine europäische Kleidung ganz und gar nicht passen wollte; sie war nämlich eigensinnigerweise und ohne Rücksicht auf die Kunst des Schneiders lang, wo sie kurz, kurz, wo sie lang, knapp, wo sie weit, und weit, wo sie knapp sein sollte, und die ganze Figur gewann bei den gelegentlichen Stürmen des Majors eine neue Anmut, indem der Afrikaner bei solchen Anlässen sich in seine Hüllen hineinduckte, so daß er sich wie eine eingeschrumpfte Nuß oder ein frierender Affe ausnahm. Als der Abend herankam und der Wagen auf dem von Laub beschatteten Wege bei Leamington weiterrollte, war die Stimme des Majors vom Sprechen, Essen, Kichern und Keuchen so dumpf geworden, als töne sie aus dem Koffer unter dem Bedientensitze oder aus einem Heuschober hervor. In dem Royal-Hotel, wo Zimmer und ein Mahl bestellt worden waren, erging es dem Major gleichfalls nicht besser, denn er überlud seine Sprachorgane sternchenland.com dermaßen mit Essen und Trinken, daß er, als er sich zu Bett begab, gar keine Stimme mehr hatte – ein Umstand, der ihn nötigte, sich seinem schwarzen Diener durch Husten und Ankeuchen verständlich zu machen.

Am andern Morgen aber stand er nicht nur wie ein frischer Riese auf, sondern benahm sich auch beim Frühstück wie ein sich erfrischender Riese. Über diesem Mahle wurde die tägliche Lebensweise besprochen. Der Major sollte die Verantwortlichkeit der Besorgung von Speise und Trank übernehmen; sie wollten jeden Morgen gemeinsam ein Gabelfrühstück nehmen und jeden Tag spät zusammen dinieren. Am ersten Tage ihres Aufenthalts in Leamington zog es Mr. Dombey vor, auf seinem Zimmer zu bleiben oder allein sich in der Gegend zu ergehen; aber am nächsten Morgen machte es ihm Vergnügen, den Major nach dem Kursaal und in die Stadt zu begleiten. So trennten sie sich bis zum Diner. Mr. Dombey ging auf sein Zimmer, um in seiner Weise heilsamen Gedanken nachzuhängen; der Major aber, dem der Eingeborene einen Feldstuhl, einen Überrock und einen Regenschirm nachtrug, stolzierte an allen öffentlichen Plätzen hin und her, sah in den Verzeichnissen der Kurgäste nach, wer schon anwesend war, schaute sich nach alten Damen um, von denen er viel bewundert wurde, versicherte, daß J.B. zäher sei als je, und strich auf allen Wegen und Stegen seinen reichen Freund Dombey heraus. Nie gab es einen Mann, der einen Freund kräftiger zu heben wußte, als der Major, sofern mit Erhebung desselben auch die eigene Persönlichkeit gehoben wurde.

Es war überraschend, welchen Redefluß der Major beim Diner ausströmen ließ, und wie sehr er Mr. Dombey Gelegenheit gab, seine gesellschaftlichen Eigenschaften zu bewundern. Am andern Morgen beim Frühstück wußte er, was die letzten Zeitungen Neues gebracht hatten, und deutete auf mehrere mit denselben in Verbindung stehende Gegenstände hin, über die ihn kürzlich Personen von so hoher Stellung, daß er sich nur dunkle Winke erlauben durfte, um seine Meinung gefragt hatten. Mr. Dombey, der selten über den Zauberkreis von Dombey und Sohns Wirksamkeit hinausgekommen und solange auf sich selbst angewiesen gewesen war, begann an eine Veränderung seines einsamen Lebens zu denken und machte, statt sich für den nächsten Tag zu entschuldigen, wie er anfänglich beabsichtigt hatte, Arm in Arm mit dem Major einen Ausgang.

Einundzwanzigstes Kapitel.


Einundzwanzigstes Kapitel.

Neue Gesichter.

Blaugesichtiger und glotzender – sozusagen überreifer als je, trat der Major, der manchmal räusperte – nicht aus Bedürfnis, sondern in einer freiwilligen Entladung von Bedeutsamkeit –, Arm in Arm mit Mr. Dombey einen Spaziergang auf der sonnigen Seite des sternchenland.com Weges an, seine Backen schwollen dabei über der festanliegenden Halsbinde, seine Beine waren majestätisch gespreizt, und sein großer Kopf wackelte von Seite zu Seite, als wundere er sich in seinem Innern, daß er ein so anziehender Gegenstand sei. Alle paar Schritte begegnete der Major jemand, den er kannte; aber er schüttelte gegen sie nur im Vorbeigehen die Finger und führte Mr. Dombey weiter, ihm schöne Orte zeigend und die Zeit mit Geschichten kürzend, die sich an dieselben knüpften.

Mit vieler Behaglichkeit waren der Major und Mr. Dombey eine Weile in dieser Weise, die Arme eingehenkelt, umhergegangen, als sie einen Fahrstuhl auf sich zukommen sahen, in dem eine Dame saß. Letztere lenkte nachlässig ihr Fuhrwerk durch eine Art Steuer, das vorn angebracht war, während von hinten eine unsichtbare Gewalt die Bewegung veranlaßte. Obgleich die Dame nicht jung war, hatte sie doch ein sehr blühendes, eigentlich rosiges Gesicht, während ihr Anzug und ihre Haltung völlig jugendlich sich ausnahmen. Neben dem Stuhle ging, mit stolzer, erschöpfter Miene einen seidenen Sonnenschirm tragend, als ob eine so schwere Anstrengung bald aufgegeben und das Schirmchen weggeworfen werden müsse, eine viel jüngere Dame von großer Schönheit und hochtragender, eigensinniger Bewegung, die den Kopf in die Höhe warf und ihre Augenlider senkte, als wäre es sicherlich nicht die Erde oder der Himmel, wenn es überhaupt in der ganzen Welt außer dem Spiegel etwas gab, das Betrachtung verdiente.

»Ha, wen zum Teufel haben wir da, Sir!« rief der Major, beim Herannahen der kleinen Lokomotive haltmachend.

»Meine liebe Edith«, sprach in singendem Tone die Dame in dem Fahrstuhl, »Major Bagstock!«

Der Major hatte nicht so bald die Stimme gehört, als er Mr. Dombeys Arm losließ, vorwärts stürzte, die Hand der Dame in dem Fahrstuhl ergriff und sie an seine Lippen drückte. Mit nicht geringer vornehmer Bewegung faltete er seine beiden Handschuhe auf der Brust und verbeugte sich tief gegen die andere Dame. Als jetzt der Stuhl haltmachte, wurde die bewegende Kraft in der Gestalt eines hinten nachschiebenden glutroten Pagen sichtbar, der seine Kraft teils durch das Wachsen, teils durch die Anstrengung erschöpft zu haben schien; denn wenn er aufrecht dastand, war er ein langer, spindeldürrer Junge, dessen Zustand um so verkümmerter zu sein schien, weil er die Form seines Hutes ziemlich benachteiligt hatte, indem er die Lokomotive mit dem Kopf vorwärts zu drängen pflegte, wie solches in Ostindien bisweilen bei den Elefanten der Fall ist.

»Joe Bagstock ist ein stolzer und glücklicher Mann für den Rest seines Lebens«, sagte der Major zu den beiden Damen.

»Ihr falscher Mann«, sagte die alte Dame in dem Stuhle geziert. »Wo kommt Ihr her? Ich kann Euch nicht ausstehen.«

»Dann erlaubt dem alten Joe, als Grund, um geduldet zu werden, einen Freund vorzustellen, Ma’am«, entgegnete der Major, ohne sich irremachen zu lassen: »Mr. Dombey, Mrs. Skewton.« Die Dame sternchenland.com in dem Stuhl benahm sich sehr gnädig. »Mr. Dombey, Mrs. Granger.« Die Dame mit dem Sonnenschirm schien kaum zu bemerken, daß Mr. Dombey den Hut abnahm und sich tief verbeugte. »Ich bin entzückt, Sir«, sagte der Major, »diese Gelegenheit zu haben.«

Es schien dem Major Ernst zu sein, denn er schaute sie alle an und schielte dabei in seiner häßlichen Art.

»Mrs. Skewton, Dombey«, sagte der Major, »richtet eigentlich eine Verheerung an in dem Herzen des alten Joes.«

Mr. Dombey deutete an, daß er sich darüber nicht wundere.

»Ihr treuloser Schelm«, sagte die Dame in dem Stuhl, »damit ist’s vorbei. Wie lange seid Ihr schon hier, böser Mann?«

»Einen Tag«, versetzte der Major.

»Und könnt Ihr nur einen Tag«, erwiderte die Dame, ihre falschen Locken und Augenbrauen leicht fächernd und dabei ihre falschen Zähne als Folie zu der Schminke zeigend – »oder auch nur eine Minute in dem Garten von – wie nennt man’s doch –«

»Vermutlich Eden, Mama«, unterbrach sie die jüngere Dame leichthin.

»Meine liebe Edith«, sagte die andere, »ich kann mir nicht helfen: diese schrecklichen Namen entfallen mir stets – von Eden Euch aufgehalten haben, ohne daß Eure ganze Seele und Euer Wesen begeistert sind von dem Anblick der Natur – von dem Wohlgeruch«, fügte Mrs. Skewton bei, indem sie ihr von Parfümerien getränktes Tuch schwenkte – »ihres unverfälschten Atems, Ihr böser Mensch?«

Der Widerstreit der frischen Begeisterung in Mrs. Skewtons Worten und ihrem hoffnungslos verblichenen Wesen war kaum weniger bemerkbar als der zwischen ihrem Alter, das vielleicht siebzig betragen mochte, und ihrem Anzug, der für eine Zwanzigjährige gepaßt haben würde. Ihre stets gleichbleibende Haltung in dem Fahrstuhl war so, wie sie etwa fünfzig Jahre früher von einem damals fashionablen Künstler, der seiner veröffentlichten Skizze den Namen Kleopatra beifügte, in einer Barutsche aufgenommen worden war; denn die Kritiker jener Zeit hatten die Entdeckung gemacht, das Porträt habe eine auffallende Ähnlichkeit mit dem jener Fürstin, wie sie an Bord ihrer Galeere zurückgelehnt saß. Mrs. Skewton war damals eine Schönheit, und die Wildfänge warfen sich ihr zu Ehren Weingläser dem Dutzend nach über die Köpfe. Die Schönheit und die Barutsche waren dahin; aber die Haltung behielt sie noch immer bei, und eben deshalb mußten auch der Fahrstuhl und der schiebende Page Dienste tun, da nur die Attitüde sie bewog, sich nicht ihrer Füße zu bedienen.

»Ich hoffe, Mr. Dombey ist ein Freund der Natur?« sagte Mrs. Skewton, an ihrer Diamantennadel rückend. Wir müssen hier beiläufig bemerken, daß sie hauptsächlich von dem Ruf einiger Diamanten und ihrer Familienverbindungen lebte.

»Mein Freund Dombey, Ma’am«, versetzte der Major, »ist ihr sternchenland.com sternchenland.com vielleicht im stillen zugetan; aber ein Mann, der so hoch steht in der größten Stadt des Universums –«

»Mr. Dombeys umfassender Einfluß kann niemand fremd sein«, sagte Mrs. Skewton.

Während Mr. Dombey dieses Kompliment mit einem Kopfnicken anerkannte, blickte die jüngere Dame nach ihm hin und begegnete seinen Augen.

»Ihr wohnt hier, Madam?« sagte Mr. Dombey, sie anredend.

»Nein, wir sind an vielen Orten herumgekommen. In Harrowgate, in Scarborough und in Devonshire. Wir machten Besuche und hielten uns hier und dort auf. Mama liebt die Veränderung.«

»Edith natürlich nicht«, versetzte Mrs. Skewton mit einer unheimlichen Schalkhaftigkeit.

»Ich habe nicht gefunden, daß solche Plätze überhaupt Abwechslung bieten«, lautete die mit stolzer Gleichgültigkeit hingeworfene Antwort.

»Auch mir sind sie verleidet. Es gibt nur einen einzigen Wechsel, Mr. Dombey«, bemerkte Mrs. Skewton mit einem leichten Seufzer, »der mir wirklichen Genuß brächte, und ich fürchte, daß es mir nicht vergönnt ist, mich je desselben zu erfreuen. Die Menschen schonen einen so gar nicht. Aber Abgeschiedenheit und Betrachtung sind für mich – wie nennt man’s doch –«

»Wenn Ihr ein Paradies meint, Mama, so sprecht Euch lieber aus, um Euch verständlich zu machen«, sagte die jüngere Dame.

»Meine liebe Edith«, erwiderte Mrs. Skewton, »du weißt, daß ich mich wegen dieser häßlichen Namen ganz auf dich verlassen muß. Ich versichere Euch, Mr. Dombey, die Natur hat mich für ein Arkadien geschaffen. So aber bin ich in die Gesellschaft gelangt. Kühe sind meine Leidenschaft. Nach was ich stets verlangte, war die Einsamkeit einer Schweizerhütte, wo ich leben könnte ganz umgeben von Kühen – und Porzellan.«

Dieses wunderliche Zusammenbringen von Gegenständen, die an den berühmten Ochsen erinnert, der irrtümlicherweise in einen Töpferladen geriet, wurde von Mr. Dombey mit großem Ernst aufgenommen, und er gab seiner Ansicht dahin Ausdruck, daß die Natur ohne Zweifel eine sehr achtbare Einrichtung sei.

»Was mir fehlt«, mäkelte Mrs. Skewton, indem sie sich in ihren welken Hals kniff, »ist Herz.« Sie sprach in einem Sinne eine fürchterliche Wahrheit, wenn auch nicht in dem, wie sie die Phrase brauchte. »Nach was ich verlange, ist Offenheit, Vertrauen, weniger Konvenienz und ein freieres Spiel der Seele. Wir leben in einem schrecklich gekünstelten Zustande.«

Die Herren stimmten bei.

»Kurz«, sagte Mrs. Skewton, »ich sehne mich überall nach Natur. Es würde so ungemein entzückend sein.«

»Die Natur ruft uns fort von hier, Mama, wenn Ihr bereit seid«, sagte die jüngere Dame, ihre schönen Lippen aufwerfend.

Auf diesen Wink verschwand der spindeldürre Page, der über der sternchenland.com Lehne des Fahrstuhls hinweg der Gesellschaft zugeschaut hatte, in dem Hintergrunde, als sei er vom Boden verschluckt worden.

»Halt, einen Augenblick, Withers!« rief Mrs. Skewton, als der Stuhl sich zu bewegen begann, dem Pagen mit der ganzen matten Würde zu, mit der sie vorzeiten den Kutscher mit seiner Perücke, dem Blumenstrauß und seidenen Strümpfen zu befehlen pflegte. »Wo wohnt Ihr, Abscheulicher?«

Der Major wohnte mit seinem Freund Dombey im Royal-Hotel.

»Wenn Ihr ordentlich sein wollt, so könnt Ihr uns jeden Abend besuchen«, lispelte Mrs. Skewton, »Will Mr. Dombey uns beehren, so wird es uns freuen. Withers, fort!«

Der Major drückte die Fingerspitzen, die nach dem Kleopatramodell mit studierter Nachlässigkeit auf der Lehne des Fahrstuhls lagen, abermals an seine Lippen, und Mr. Dombey verbeugte sich. Die ältere Dame grüßte beide mit einem sehr huldreichen Lächeln und einem mädchenhaften Schwenken ihrer Hand, während die jüngere ihren Kopf nur so leicht verneigte, als es die gewöhnlichste Höflichkeit gebot. Der letzte Blick auf das runzlige geschminkte Gesicht der Mutter, das sich in der Sonne unendlich hagerer und unheimlicher ausnahm, als solches bei dem Mangel des Rot je hätte geschehen können, und auf die stolze Schönheit der Tochter mit ihrer anmutigen Gestalt und aufrechten Haltung weckte sowohl in dem Major als in Mr. Dombey unwillkürlich die Lust, ihnen nachzusehen, so daß sich beide in dem gleichen Moment umdrehten. Der Page fast so schräg, wie sein eigener Schatten, arbeitet sich bergauf wie ein langsamer Sturmbock dem Fahrstuhle nach; der obere Teil von Kleopatras Hut flatterte auf den Zoll hin genau in derselben Ecke wie zuvor, und die Schönheit, die der Lokomotive ein wenig vorausging, drückte in ihrer eleganten Form von Kopf bis zum Fuß die nämliche stolze Rücksichtslosigkeit gegen Dinge und Personen aus.

»Ich will Euch etwas sagen, Sir«, begann der Major, als sie ihren Spaziergang wieder aufnahmen. »Wenn Joe Bagstock ein jüngerer Mann wäre, so gäbe es in der ganzen Welt kein Frauenzimmer, das er als Mistreß Bagstock jenem dort vorziehen würde. Beim Georg, Sir«, fügte der Major bei, »sie ist prächtig!«

»Meint Ihr die Tochter?« fragte Mr. Dombey.

»Ist Joey B. ein Pinsel, Dombey«, versetzte der Major, »daß er die Mutter meinen könnte?«

»Ihr machtet doch der Mutter so viele Komplimente«, entgegnete Mr. Dombey.

»Eine alte Flamme, Sir«, kicherte Major Bagstock. »Verteufelt alt. Ich habe meinen Spaß mit ihr.«

»Sie macht auf mich den Eindruck, als ob sie vollkommen gentil sei«, sagte Mr. Dombey.

»Gentil, Sir?« versetzte der Major, indem er stehenblieb und seinem Begleiter erstaunt ins Gesicht schaute. »Die hochgeborne Mrs. Skewton ist eine Schwester des verstorbenen Lord Feenix und eine Tante des gegenwärtigen Lords. Die Familie ist nicht reich – sternchenland.com ja sogar arm – und sie lebt von einer kleinen Rente; aber wenn’s aufs Blut ankommt, Sir!«

Der Major stieß seinen Stock heftig auf und ging weiter, wie es schien in Verzweiflung, daß er nicht zu sagen wußte, was dann war, wenn es auf das ankam.

»Ich bemerkte, daß Ihr die Tochter als Mrs. Granger anredetet«, nahm Mr. Dombey nach einer kurzen Pause das Wort wieder auf.

»Edith Skewton, Sir«, entgegnete der Major, der jetzt wieder haltmachte und mit seinem Stock, um sie darzustellen, ein Zeichen in den Boden schlug, »heiratete mit achtzehn Granger.« Der Major deutete ihn durch eine zweite Kerbe an. »Granger, Sir«, fuhr der Major mit Nachdruck fort, indem er das letztere ideale Porträt berührte und dabei den Kopf wiegte, »war Obrist in unserer Armee – ein verteufelt schöner Bursche von einundvierzig, Sir. Er starb im zweiten Jahr seiner Ehe.«

Der Major strich den Repräsentanten des hingeschiedenen Granger mit seinem Spazierstock durch und ging dann wieder weiter, diesen über die Schulter legend.

»Wie lange ist das schon her?« fragte Mr. Dombey, der aufs neue stehenblieb.

»Edith Granger, Sir«, versetzte der Major, indem er das eine Auge schloß, den Kopf seitwärts neigte, den Stock in seine Linke nahm und mit der Rechten seinen Bruststreif glättete, »ist zurzeit nicht ganz dreißig. Und der Teufel soll mich holen, Sir«, beteuerte der Major, abermals seinen Stock schulternd und wieder weitergehend, »sie ist ein unvergleichliches Frauenzimmer!«

»War Familie da?« fragte Mr. Dombey sogleich.

»Ja, Sir«, antwortete der Major. »Ein Knabe.«

Mr. Dombeys Augen suchten den Boden, und ein Schatten überflog sein Gesicht.

»Er ertrank, Sir«, fuhr der Major fort, »als er kaum vier oder fünf Jahre alt war.«

»Wirklich?« entgegnete Mr. Dombey, den Kopf erhebend.

»Durch das Umschlagen eines Bootes, in das ihn seine Wärterin nicht hätte setzen sollen«, sagte der Major. »Das ist seine Geschichte. Edith Granger ist noch immer Edith Granger; aber wenn der alte Joe B. ein wenig jünger und ein wenig reicher wäre, so sollte der Name dieses herrlichen Geschöpfes Bagstock lauten!«

Bei diesen Worten zuckte der Major die Achseln, blies seine Backen auf und lachte mehr als je wie ein übermästeter Mephistopheles.

»Vorausgesetzt, daß die Dame nichts dagegen hätte, will ich doch meinen?« entgegnete Mr. Dombey kalt.

»Bei Gott, Sir«, erwiderte der Major, »das Geschlecht der Bagstocke ist nicht an ein derartiges Hindernis gewöhnt. Freilich hat es vollkommen seine Richtigkeit, daß Edith schon zwanzigmal hätte heiraten können – aber sie ist stolz, Sir – stolz!«

Mr. Dombeys Gesicht schien auszudrücken, daß er um dessenwillen nicht schlechter von ihr denke.

»’s ist im Grund eine schöne Eigenschaft«, sagte der Major. »Bei Gott ’s ist eine hohe Eigenschaft. Dombey, Ihr seid selbst stolz, und Euer Freund, der alte Joe, achtet Euch darum.«

Mit diesem Tribut für den Charakter seines Gefährten, der ihm durch die Gewalt der Umstände und die unwiderstehliche Richtung ihres Gesprächs abgerungen zu sein schien, schloß der Major die Angelegenheit und ging zu einer allgemeinen Auseinandersetzung über, wie er seinerzeit von herrlichen Frauen und prächtigen Geschöpfen geliebt und gehätschelt worden sei.

Zwei Tage später begegnete Mr. Dombey und der Major der hochgeborenen Mrs. Skewton und ihrer Tochter in dem Kursaal, tags darauf wieder in der Nähe desselben Platzes, wo sie das erstemal mit ihnen zusammengetroffen waren. Nachdem es etwa drei- oder viermal im ganzen geschehen, wurde es um der alten Bekanntschaft willen ein Punkt bloßer Höflichkeit, daß der Major einen Abendbesuch machte. Mr. Dombey hatte ursprünglich nicht beabsichtigt, jemand zu besuchen; aber als ihm der Major sein Vorhaben mitteilte, erklärte er, daß er sich das Vergnügen machen werde, ihn zu begleiten. Der Major beauftragte deshalb den Eingeborenen, noch vor dem Diner den Damen sein und Mr. Dombeys Empfehlung zu melden und zu sagen, daß sie sich die Ehre geben würden, einen Abendbesuch zu machen, falls die Damen allein wären. Als Antwort brachte der Eingeborene ein sehr kleines Billet, das sehr stark nach Parfüm roch und in dem die hochgeborene Mrs. Skewton dem Major Bagstock kurz erklärte: »Ihr seid ein abscheulicher Bär, und ich habe gute Lust, Euch gar nicht mehr zu verzeihen; aber wenn Ihr recht lieb sein wollt«, die letzten Worte waren unterstrichen, »so dürft Ihr kommen. Empfehlungen von mir und Edith an Mr. Dombey.«

Die hochgeborene Mrs. Skewton und ihre Tochter Mrs. Granger bewohnten während ihres Aufenthalts zu Leamington ein Quartier, das vornehm und teuer genug, aber in Raum und Bequemlichkeit etwas beschränkt war, so daß die hochgeborene Mrs. Skewton, wenn sie im Bette lag, ihre Füße im Fenster und den Kopf im Kamin hatte, während ihr Mädchen ihre Schlafstätte in einem so ungemein kleinen Alkoven des Besuchszimmers hatte, daß sie, um sich der ganzen Ausgiebigkeit ihres Lagers zu erfreuen, durch die Tür hinein und heraus sich winden mußte, wie eine zierliche Schlange. Withers, der spindeldürre Page, schlief außerhalb des Hauses unmittelbar unter den Dachziegeln eines benachbarten Milchladens, und die Lokomotive, dieser Stein unseres Sisyphus, verbrachte ihre Nächte in einem Schuppen, zu dem besagten Milchladen gehörig, wo stets frisch gelegte Eier zu finden waren und das mit der Milcherei in Verbindung stehende Geflügel unablässig auf einem zerbrochenen Eselkarren stand, allem Anschein nach fest überzeugt, daß es daselbst gewachsen sei und sich von dem Baume nicht losmachen könne.

Mr. Dombey und der Major fanden Mrs. Skewton in den sternchenland.com Kissen eines Sofas als Kleopatra gruppiert – sehr luftig gekleidet und sicherlich ohne Ähnlichkeit mit Shakespeares Kleopatra, die das Alter nicht zum Welken bringen konnte. Als sie die Treppe hinaufstiegen, hörten sie den Ton einer Harfe, die aber, sobald sie angemeldet waren, zu spielen aufhörte. Edith stand neben dem Instrument, reizender und schöner als je. Die Schönheit dieser Dame hatte die merkwürdige Eigenschaft, daß sie ihre Rechte zu behaupten schien sogar ohne Beihilfe und gegen den Willen ihrer Besitzerin. Edith wußte, daß sie schön war, denn das Gegenteil wäre unmöglich gewesen; aber sie sah aus, als wolle sie mit ihrem Stolze sich selbst trotzen.

Ob sie Reize, die nur eine für sie wertlose Bewunderung hervorrufen konnten, gering anschlug, oder ob sie durch einen solchen Gebrauch derselben sie nur wertvoller zu machen beabsichtigte, – mit Ermittlung dieser Frage hielten sich die Bewunderer, die sie zu schätzen wußten, selten auf.

»Ich hoffe, Mrs. Granger«, sagte Mr. Dombey, indem er sich ihr um einen Schritt näherte, »wir sind nicht schuld, daß Ihr Eurem Spiel ein Ende machtet?«

»Ihr? O nein!«

»Warum spielst du dann nicht weiter, meine liebe Edith?« fragte Kleopatra.

»Ich hörte aus demselben Grunde auf, der mich anfangen ließ – aus Laune.«

Die Gleichgültigkeit, mit der sie das sagte – eine Gleichgültigkeit, die sich nichts weniger als blöde ausnahm, sondern absichtlich stolz gehalten war – stand sehr im Gegensatz zu der Unbekümmertheit, mit der sie ihre Hand über die Saiten gleiten ließ, um sodann nach der vorderen Wand des Zimmers zu treten.

»Ihr müßt wissen, Mr. Dombey«, sagte die schmachtende Mutter, indem sie mit einem Handschirm spielte, »daß hin und wieder meine liebe Edith und ich wirklich fast uneinig werden –«

»Nicht bisweilen ganz, Mama?« entgegnete Edith.

»O, nie ganz, meine Liebe! Pfui, pfui, es würde mir das Herz brechen«, erwiderte die Mutter mit einem leichten Versuch, Edith mit ihrem Schirme zu pätscheln, obschon letztere sich nicht rührte, um dieser Liebkosung entgegenzukommen, – »wegen jener kalten Konventionalitäten, die auch in den kleinsten Dingen beobachtet werden sollen. Warum sind wir nicht natürlicher! Ach, Himmel, mit all dem Sehnen, Trachten und instinktartigen Pochen, das unseren Seelen eingepflanzt ist und einen so hinreißenden Zauber ausübt – warum sind wir nicht natürlicher!«

Mr. Dombey entgegnete, das sei sehr wahr – sehr wahr.

»Wir könnten, glaube ich, natürlicher sein, wenn wir es versuchten«, sagte Mrs. Skewton.

Mr. Dombey meinte, es sei möglich.

»Der Teufel auch, Madame«, sagte der Major. »Wir könnten’s nicht. Wenn nicht die Welt mit J.B.’s bewohnt ist – zähen und sternchenland.com derben alten Joes, Ma’am, einfachen Bücklingen mit harten Rogen, Sir – so können wir’s nicht. Nein, durchaus nicht.«

»Ihr garstiger Ungläubiger«, versetzte Mrs. Skewton, »schweigt!«

»Kleopatra befiehlt«, erwiderte der Major, ihr die Hand küssend, »und Antonius Bagstock gehorcht.«

»Der Mann besitzt keine Empfindsamkeit«, sagte Mrs. Skewton, grausam den Handschirm so haltend, daß der Major ausgeschlossen wurde – »keine Sympathie! Und für was leben wir, wenn nicht für Sympathie! Was anderes wäre so ungemein beglückend. Nie könnten wir’s nur aushalten ohne diesen Sonnenstrahl auf unserer öden, kalten Erde?« fuhr Mrs. Skewton fort, indem sie ihren Spitzenkragen ordnete und wohlgefällig die Wirkung ihres bloßen mageren Arms vom Handgelenk an aufwärts betrachtete. »Mit einem Worte, verstockter Mann!« sie blickte um den Schirm herum nach dem Major hin, »ich möchte, daß meine Welt voll Seele wäre; und der Glaube daran ist so ungemein beglückend, daß ich Euch nicht gestatten werde, ihn zu stören. Hört Ihr das?«

Der Major versetzte, es sei hart von Kleopatra, daß sie von der ganzen Welt verlange, voll Seele zu sein, und doch sich selbst die Seelen und Herzen aller Welt zueignen möchte. Das nötigte Kleopatra, ihn zu erinnern, daß Schmeichelei ihr unerträglich sei, und wenn er sich erlaube, sie wieder in solchen Worten anzureden, so werde sie ihn bestimmt nach Hause schicken.

Da jetzt Withers, der Spindeldürre, den Tee herumbot, so wandte sich Mr. Dombey wieder an Edith.

»Es scheint, daß noch nicht viel Gesellschaft hier ist«, sagte Mr. Dombey in seiner wichtigen gentlemanischen Art.

»Ich glaube nicht. Wir empfangen keine.«

»Ja, wahrhaftig«, bemerkte Mrs. Skewton von ihrem Sofa aus. »Es sind noch nicht viele Personen hier, an deren Umgang uns etwas gelegen ist.«

»Sie haben nicht genug Seele«, sagte Edith mit einem Lächeln – das wahre Zwielicht von einem Lächeln – so eigentümlich waren Hell und Dunkel darin gemischt.

»Ihr seht, meine liebe Edith neckt mich«, sagte ihre Mutter, ihren Kopf schüttelnd, der zuweilen von selbst ein wenig wackelte, als wolle er mit dem zitternden Licht der Diamanten konkurrieren, »Gottlose!«

»Wenn ich nicht irre, seid Ihr schon früher hier gewesen?« sagte Mr. Dombey – noch immer zu Edith.

»O ja, schon öfter. Ich denke, wir waren schon überall.«

»Eine schöne Gegend!«

»Ich glaube so. Alle Welt sagt es.«

»Dein Vetter Feenix wütet darüber, Edith«, nahm ihre Mutter von dem Sofa her das Wort.

Die Tochter erhob leicht ihren anmutigen Kopf, zog die Augen um Haaresbreite in die Höhe, als wolle sie damit andeuten, daß der sternchenland.com Vetter Feenix von allen Sterblichen am wenigsten Beachtung verdiene, und wandte sich dann wieder Mr. Dombey zu.

»Ich hoffe zur Ehre meines guten Geschmacks, daß ich der Umgebung müde bin«, sagte sie.

»Ihr habt fast Grund dazu, Madame«, versetzte er, mit einem Blick auf verschiedene reichlich im Zimmer hängende Landschaftszeichnungen, die, wie er bemerkte, zum Teil Partien aus der nächsten Gegend darstellten, »wenn diese schönen Bilder von Eurer Hand sind.«

Sie gab ihm keine Antwort, sondern saß in stolzer Schönheit da – ganz entzückend.

»Haben sie dieses Interesse?« fragte Dombey. »Sind sie von Euch?«

»Ja.«

»Ihr spielt die Harfe, wie ich bereits weiß?«

»Ja.«

»Und singt?«

»Ja.«

Sie beantwortete alle diese Fragen mit einem auffallenden Widerwillen und mit jener merkwürdigen Miene des Selbstwiderspruchs, die, wie wir bereits bemerkten, ihrer Schönheit angehörte. Dabei war sie übrigens nicht verlegen, sondern vollkommen ruhig. Dennoch schien sie das Gespräch nicht vermeiden zu wollen, denn sie wandte ihm ihr Gesicht und – so weit sie konnte – auch ihre Aufmerksamkeit zu, selbst dann, wenn er schwieg.

»Es stehen Euch wenigstens eine Menge Hilfsmittel zu Gebot, um Euch die Zeit zu verkürzen«, sagte Mr. Dombey.

»Wie sie mir auch zustatten kommen mögen«, erwiderte sie, »so kennt Ihr sie jetzt alle. Ich besitze keine weiteren.«

»Darf ich hoffen, daß ich sie näher kennenlerne?« sagte Mr. Dombey mit feierlicher Stimme und Geste, indem er eine Zeichnung, die er in der Hand hielt, niederlegte und nach der Harfe hinwinkte.

»O gewiß, wenn Ihr es wünscht.«

Mit diesen Worten erhob sie sich, ging an dem Sofa ihrer Mutter vorbei und warf ihr einen scharfen Blick zu, der zwar nur einen Moment dauerte, aber (wenn es jemand hätte bemerken können) viele Ausdrücke in sich schloß, unter denen der des Zwielichtslächelns ohne das Lächeln selbst alle übrigen überschattete. Damit verließ sie das Zimmer.

Der Major, der vollkommene Verzeihung erhalten hatte, rückte einen kleinen Tisch vor Kleopatra hin und setzte sich nieder, um mit ihr eine Partie Piquet zu spielen. Mr. Dombey, der das Spiel nicht kannte, nahm sich gleichfalls einen Stuhl und sah ihnen zu, bis Edith zurückkehrte.

»Ich hoffe, wir werden ein wenig Musik erhalten, Mr. Dombey«, sagte Kleopatra.

»Mrs. Granger war so freundlich, mir das zu versprechen«, versetzte Mr. Dombey.

»Ach, das ist aber hübsch. Gebt Ihr vor, Major?«

»Nein, Ma’am«, erwiderte der Major. »Kann’s nicht.«

»Ihr seid ein barbarischer Mensch«, sagte die Dame. »Ich kann nichts machen. Ihr seid ein Liebhaber der Musik, Mr. Dombey?«

»Sehr«, lautete Mr. Dombeys Antwort.

»Ja. Es ist sehr hübsch«, sagte Kleopatra, nach ihren Karten sehend. »So viel Seele darin – unentwickelte Erinnerungen aus einem früheren Zustande des Daseins – und dergleichen – was in der Tat bezaubernd ist. Wißt Ihr auch«, kakelte Kleopatra, den Pique-Buben umkehrend, der mit den Schuhen zu oberst in ihre Karten gekommen war, »daß, wenn mich etwas verlocken könnte, meinem Leben ein Ziel zu setzen, das die Neugierde wäre, zu erfahren, was in allen Dingen steckt und was sie zu bedeuten haben? Es gibt in der Tat so viele herausfordernde Geheimnisse, die vor uns verborgen sind. Major, Ihr habt auszuspielen!«

Der Major spielte aus, und Mr. Dombey, der zu seiner Belehrung zusah, würde wohl durch die Feinheiten des Spiels bald in die größte Verwirrung gekommen sein. Statt demselben aber Aufmerksamkeit zu schenken, machte er sich Gedanken, wann wohl Edith zurückkommen würde.

Endlich erschien sie und setzte sich zu ihrer Harfe nieder. Mr. Dombey stand auf und trat zuhörend an ihre Seite. Er hatte nur wenig Sinn für Musik und kannte die gespielte Arie nicht; aber er sah, wie sie sich niederbeugte, und hörte vielleicht unter den tönenden Saiten eine ferne Musik seiner eigenen Art, die das Ungeheuer der Eisenbahn zähmte und es weniger unerbittlich machte.

Kleopatra hatte beim Piquet ein sehr kritisches Auge. Es glänzte wie das eines Vogels und beschäftigte sich nicht allein mit dem Spiel, sondern durchlief das Zimmer von einem Ende zum andern, in seiner Schnelligkeit bald die Harfe, bald die Spielerin, bald den Zuhörer – kurz alles erfassend.

Nachdem die stolze Schönheit ihr Spiel beendigt hatte, erhob sie sich, den Dank und die Komplimente Dombeys ganz in derselben Weise wie früher hinnehmend, ging, ohne sich eine Pause zu gönnen, nach dem Piano und begann abermals.

Edith Granger, jeden Gesang, nur diesen nicht. Edith Granger, du bist sehr schön; deine Finger greifen herrlich in die Tasten, und deine Stimme ist tief und reich; aber nicht jenes Lied, das die vernachlässigte Tochter seinem sterbenden Sohne vorsang!

Ach, er kannte es nicht, und wenn es vielleicht auch der Fall war, wie hätte eine von ihren Weisen den starren Mann anregen können! Schlaf, einsame Florence – schlaf! Friede sei mit deinen Träumen, obschon die Nacht dunkel geworden ist und Wolken aufsteigen, die sich in Hagel zu entladen drohen! sternchenland.com

Zweiundzwanzigstes Kapitel.


Zweiundzwanzigstes Kapitel.

Wie Mr. Carker, der Geschäftsführer, ein kleines Geschäft betreibt.

Mr. Carker, der Geschäftsführer, saß so geschmeidig und glatt wie gewöhnlich an seinem Schreibpult und las die Briefe, die ihm zum Öffnen vorbehalten geblieben waren, indem er gelegentlich, je nachdem es ihr Inhalt verlangte, Notizen auf ihre Rückseiten schrieb und sie dann in kleine Haufen abteilte, damit diese an die verschiedenen Departements des Hauses abgegeben werden könnten. Die Post war am Morgen sehr schwer gewesen, und Mr. Carker, der Geschäftsführer, hatte viel zu tun.

Die allgemeine Haltung eines so beschäftigten Mannes, der einen Bündel Papiere in der Hand hat, sie in verschiedene Haufen verteilt, ein anderes Paket aufnimmt, mit zusammengekniffenen Brauen und aufgeworfenen Lippen den Inhalt untersucht, ausgibt, sortiert und zwischendurch nachdenkt, könnte leicht an die eines Kartenspielers erinnern. Das Gesicht Mr. Carkers, des Geschäftsführers, stand im vollen Einklang mit einer derartigen Vorstellung. Es war das Gesicht eines Mannes, der schlau sein Spiel studierte, alle starken und schwachen Punkte desselben genau kannte, seine Karten im Geiste genau nach ihrem Werte ordnete und verschmitzt genug war, die Blätter der andern Spieler zu entdecken, ohne daß er je die in seiner eigenen Hand verriet.

Die Briefe waren in verschiedenen Sprachen geschrieben; aber Mr. Carter, der Geschäftsführer, las sie alle. Wäre in dem Bureau von Dombey und Sohn etwas gewesen, das er nicht lesen konnte, so würde in dem Spiel eine Karte gefehlt haben. Er las fast mit einem Blicke, und kombinierte in schnellem Verlauf einen Brief mit dem andern, ein Geschäft mit dem andern, in solcher Weise dem Häuflein neuen Stoff zufügend – gerade so wie ein Mensch, der die Karten vom Ansehen kennt und im Geiste seine Rechnungen macht, sobald er sie aufgenommen hat. Etwas zu schlau für einen Partner und viel zu schlau für einen Gegner, saß Mr. Carker, der Geschäftsführer, in den Strahlen der Sonne, die schräg durch das Oberlicht der Fenster auf ihn niederfielen, um seinem Spiel allein zuzusehen.

Und obschon es nicht zu dem Instinkt der wilden oder in Häusern wohnenden Katzenzunft gehört, mit Karten zu spielen, war doch Mr. Carker, der Geschäftsführer, katzenartig vom Wirbel bis zur Zehe, während er sich in dem Streifen Sommerlicht wärmte, das auf seinen Tisch und den Boden fiel, als wären letztere eine gebrochene Sonnenuhr und er die einzige Zahl darauf. Mit Haar und Backenbart, die zu allen Zeiten der Farbe ermangelten, nie aber mehr dem Felle einer gelbfleckigen Katze ähnlich, als in dem reichen Sonnenschein, – mit langen, sauber beschnittenen und geschärften Nägeln, mit einem natürlichen Widerwillen gegen jeden Schmutzflecken, der ihn bewog, manchmal innezuhalten, die fallenden Sonnenstäubchen zu beobachten und sie von seiner glatten weißen Hand oder der schneeweißen Leinwand sternchenland.com wegzupusten, saß Mr. Carker, der Geschäftsführer, schlau in seinem Benehmen, mit scharfen Zähnen, leis auftretend, wachsamen Auges, mit glatter Zunge, grausamen Herzens und pünktlich aus Gewohnheit, in geleckter Beharrlichkeit und Geduld an seiner Arbeit, als ob er vor einem Mauseloch lauere. Endlich waren die Briefe abgefertigt, einen einzigen ausgenommen, den er für eine besondere Audienz zurücklegte. Nachdem er die vertraulichere Korrespondenz in ein Schubfach eingeschlossen hatte, läutete er mit seiner Klingel.

»Warum kommst du?« waren die Worte, mit denen er seinen Bruder empfing.

»Der Laufbursche ist unterwegs, und ich bin der nächste«, lautete die unterwürfige Antwort.

»Du der nächste!« murmelte der Geschäftsführer. »Ja! sehr ehrenvoll für mich! Da!«

Er deutete dabei auf den Haufen geöffneter Briefe und wandte sich in seinem Armstuhl verächtlich ab, um das Siegel des Schreibens zu erbrechen, das er noch in seiner Hand hielt.

»Es tut mir leid, dich behelligen zu müssen, James«, sagte der Bruder, sie aufnehmend, »aber – –«

»O, du hast etwas zu sagen. Ich dachte mir’s. Nun?«

Mr. Carker, der Geschäftsführer, erhob seine Augen nicht, um sie auf seinen Bruder zu richten, sondern ließ sie auf dem Briefe haften, obschon er ihn nicht öffnete.

»Nun?« wiederholte er mit Schärfe.

»Ich bin unruhig wegen Harriet.«

»Welcher Harriet? was für einer Harriet? Ich kenne niemand dieses Namens.«

»Sie ist nicht wohl und hat sich in letzter Zeit sehr verändert.«

»Sie hat sich schon vor vielen Jahren sehr verändert«, versetzte der Geschäftsführer. »Weiter kann ich nichts darüber sagen.«

»Ich glaube, wenn du mich anhören würdest –«

»Warum sollte ich dich anhören, Bruder John?« erwiderte der Geschäftsführer, einen sarkastischen Nachdruck auf die beiden letzten Worte legend und den Kopf in die Höhe werfend, obschon er seine Augen nicht aufschlug. »Ich sage dir, Harriet Carker hat schon vor vielen Jahren ihre Wahl getroffen zwischen ihren beiden Brüdern, Vielleicht bereut sie’s, aber sie muß dabei bleiben.«

»Mißverstehe mich nicht. Ich sage nicht, daß sie es bereut. Es wäre schwarzer Undank von mir, wenn ich etwas der Art andeuten wollte«, erwiderte der andere. »Aber glaube mir, James, ihr Opfer tut mir ebenso leid wie dir.«

»Wie mir?« rief der Geschäfteführer. »Wie mir?«

»Ich beklage ihre Wahl – das, was du ihre Wahl nennst – da du darüber zürnst«, sagte der Junior.

»Zürne?« entgegnete der andere und zeigte dabei seine weißen Zähne.

»Oder mißvergnügt bist – wie du willst. Du weißt, was ich sagen will. Es lag nichts Beleidigendes in meiner Absicht.«

»In allem, was du tust, liegt Beleidigung«, erwiderte der Bruder, plötzlich finster nach ihm hinschauend, obschon unmittelbar darauf ein noch weiteres Lächeln folgte, als das letzte. »Sei so gut, diese Papiere fortzunehmen. Ich habe zu tun.«

Seine Höflichkeit war um so viel schneidender als sein Zorn, daß sich der Junior nach der Tür begab. Dort aber machte er noch einmal halt, sah sich um und sagte:

»Als Harriet es vergeblich versuchte, bei deinem ersten gerechten Unwillen und meiner ersten Schmach ein Fürwort für mich einzulegen – als sie dich verließ, James, um meinem Unglück zu folgen und sich in mißverstandener Liebe einem zugrunde gerichteten Bruder zu weihen, weil er ohne sie niemand hatte und verloren gewesen wäre, war sie jung und hübsch. Ich meine, ich könne sie jetzt noch sehen. Wenn du sie besuchen wolltest, so würde sie deine Bewunderung und dein Mitleid erregen.«

Der Geschäftsführer senkte den Kopf und zeigte seine Zähne, als wolle er als Antwort auf ein unbedeutendes Gerede sagen: »Ach, Himmel, ist’s möglich?« aber es kam keine Silbe über seine Lippen.

»Du und ich, wir beide dachten damals, sie werde jung heiraten und ein glückliches frohes Leben führen können«, fuhr der andere fort. »O, wenn du wüßtest, wie freudig sie auf alle diese Hoffnungen verzichtete, wie getrost sie auf dem gewählten Pfade fortging, ohne auch nur ein einziges Mal zurückzuschauen, so könntest du nicht wieder sagen, ihr Name sei fremd in deinen Ohren. Nein, gewiß nicht!«

Wieder senkte der Geschäftsführer den Kopf, zeigte seine Zähne und schien zu sagen: »In der Tat merkwürdig! Du setzt mich in Erstaunen!« Doch abermals verlautete kein Wort.

»Darf ich weitergehen?« fragte John Carker mild.

»Auf deinem Wege?« versetzte der Bruder lächelnd. »Wenn du die Güte haben willst.«

John Carker war im Begriffe, mit einem Seufzer langsam durch die Tür zu schreiten, als ihn die Stimme seines Bruders noch auf der Schwelle zurückhielt.

»Wenn sie so freudig ihren Weg gegangen ist und noch geht«, sagte er, den noch immer ungeöffneten Brief auf das Pult werfend und die Hände fest in seine Taschen steckend, »so kannst du ihr sagen, daß ich ebenso wohlgemut den meinigen verfolge. Hat sie auch nicht ein einziges Mal zurückgeschaut, so magst du ihr bedeuten, ich habe das bisweilen getan, um mir ins Gedächtnis zurückzurufen, wie sie für dich Partei nahm. Meine Entschlüsse sind so fest« – er lächelte jetzt sehr süß – »wie Marmor.«

»Ich sage ihr nichts von dir. Wir sprechen nie von dir. Einmal im Jahr, an deinem Geburtstag, versäumt Harriet nicht, zu sagen: ›Wir wollen uns des Namens James erinnern und ihm Glück wünschen.‹ Weiter reden wir nicht.«

»So sag‘ es meinetwegen dir selbst«, erwiderte der andere. »Du kannst es dir nicht oft genug wiederholen, als eine Lehre, den fraglichen sternchenland.com Gegenstand gegen mich nie zu berühren. Ich kenne keine Harriet Carker. Für mich gibt es keine solche Person, Du magst eine Schwester haben; mache aus ihr, was du willst. Ich habe keine.«

Mr. Carker, der Geschäftsführer, nahm den Brief wieder auf und winkte mit einem Lächeln höhnischer Höflichkeit nach der Tür hin. Der Junior entfernte sich, und er sah ihm eine Weile finster nach; dann drehte er sich wieder in seinem Lehnstuhl, öffnete den Brief und las aufmerksam dessen Inhalt.

Die Handschrift war die seines großen Prinzipals Mr. Dombey und der Brief von Leamington aus datiert. Obschon Mr. Carker mit allen andern Briefen sehr schnell fertig war, las er diesen doch sehr langsam; er erwog jedes Wort, und alle seine Zähne wirkten dabei aufmerksam mit. Nachdem er damit fertig war, fing er wieder von vorn an und beachtete namentlich folgende Stellen: ›Die Veränderung bekommt mir gut, und ich kann noch keine Zeit für meine Rückkehr bestimmen.‹ ›Ich wünsche, Carker, Ihr möchtet es so einrichten, daß Ihr mich einmal hier besucht und mich persönlich über den Geschäftsgang unterrichtet.‹ ›Ich habe vergessen, mit Euch über den jungen Gay zu sprechen. Wenn er noch nicht mit dem Sohn und Erben abgereist ist oder der Sohn und Erbe noch im Dock liegt, so gebt den Auftrag einem andern jungen Menschen und behaltet ihn vorderhand noch in der City. Ich bin noch unschlüssig.‹ »Schade!« sagte Mr. Carker, der Geschäftsführer, und erweiterte seinen Mund, als wäre er aus Gummi-Elastikum, »denn er ist schon weit weg.«

Gleichwohl fesselte diese Stelle, die in der Nachschrift vorkam, noch einmal seine Aufmerksamkeit und seine Zähne.

»Ich glaube«, sagte er, »mein guter Freund, Kapitän Cuttle, erwähnte etwas vom Fortgetautwerden im Kielwasser jenes Tages. Wie schade, daß er so weit weg ist!«

Er legte das Schreiben wieder zusammen, spielte damit, stellte es der Länge und der Breite nach auf den Tisch und drehte es über und über nach allen Seiten – vielleicht mit seinem Inhalt so ziemlich das gleiche vornehmend. Während er noch in diesem Geschäft begriffen war, klopfte Mr. Perch, der Bote, leise an die Tür, kam auf den Zehenspitzen herein, beugte seinen Körper bei jedem Schritt, als ob Verbeugungen die Wonne seines Lebens seien, und legte einige Papiere auf den Tisch.

»Beliebt es Euch, beschäftigt zu sein, Sir?« fragte Mr. Perch, die Hände reibend und ehrerbietig den Kopf auf die eine Seite neigend, wie ein Mann, der fühlt, daß er nicht befugt sei, denselben in einer solchen Gegenwart aufrechtzuhalten, und ihn deshalb so viel als möglich aus dem Weg schaffen möchte.

»Wer will etwas von mir?«

»Ei, Sir«, versetzte Mr. Perch mit sehr sanfter Stimme, »in der Tat niemand, Sir, bei dem sich’s sonderlich der Mühe verlohnte. Mr. Gills, der Schiffs-Instrumentenmacher, Sir, hat vorgesprochen – wegen einer kleinen Zahlung, wie er sagt; aber ich deutete ihm an, Sir, daß Ihr sehr beschäftigt seid.«

Mr. Perch hustete einmal hinter seiner Hand und wartete auf weitere Befehle.

»Sonst niemand?«

»Ich möchte mir nicht die Freiheit nehmen, Sir«, entgegnete Mr. Perch, »zu erwähnen, daß sonst jemand da gewesen sei; aber der gleiche junge Bursche, der gestern und die letzte Woche hier war, Sir, hat um den Platz herum geschlendert, und es sieht schrecklich ungeschäftsmäßig aus, Sir«, fügte Mr. Perch bei, indem er innehielt, um die Tür zu schließen, »wenn man so mitanschauen muß, wie er den Sperlingen im Hof drunten pfeift und sie veranlaßt, ihm zu antworten.«

»Ihr sagtet, er wünsche Beschäftigung – ist’s nicht so, Perch?« fragte Mr. Carker, indem er sich in seinen Stuhl zurücklehnte und den Boten ansah.

»Ei, Sir«, versetzte Mr. Perch, abermals hinter seiner Hand hustend, »er sprach allerdings davon, daß es ihm an Arbeit fehle und er meine, man könne ihm etwas an den Docks zu tun geben, weil er sich auf das Fischen mit der Rute und Leine verstehe: aber –«

Mr. Perch schüttelte sehr bedenklich den Kopf.

»Was sagt er, wenn er kommt?« fragte Mr. Carker.

»Ja, Sir«, entgegnete Mr. Perch mit einem weiteren Husten hinter seiner Hand – seiner gewöhnlichen Zuflucht als einer Demutsäußerung, wenn ihm nichts anderes einfiel – »seine Bemerkung ist in der Regel, daß er untertänigst einen von den Gentlemen zu sehen wünschte, und daß er gerne etwas verdienen möchte. Aber Ihr seht, Sir«, fügte Perch hinzu, indem er seine Stimme zu einem Flüstern ermäßigte und in der Unverletzlichkeit seines Vertrauens sich umwandte, um mit Hand und Knie der Tür einen Stoß zu geben, als ob dann das bereits Geschlossene noch fester schließe, »es ist kaum zu verwinden, daß ein gemeiner Bursche, wie dieser da, spionierend hierher kommt und behauptet, seine Mutter sei die Amme von unseres Hauses jungem Gentleman gewesen, und daß er von unserem Hause hoffe, man werde ihm darum eine Anstellung geben. Gewiß und wahrhaftig«, bemerkte Mr. Perch, »obgleich meine Frau damals ein so kleines Mädchen nährte, als wir nur je mit einem unsere Familie zu vermehren so frei waren, so würde ich mir doch nicht erlaubt haben, eine Bemerkung fallen zu lassen, daß sie fähig sei, Nahrung abzutreten – nein, und wenn’s zehnmal mehr gewesen wäre!«

Mr. Carker grinste nach ihm hin wie ein Haifisch, aber mit einer zerstreuten, gedankenvollen Miene.

»Ob es nicht wohl das beste wäre«, deutete Mr. Perch nach einem kurzen Schweigen und einem weiteren Husten an, »wenn ich ihm sagte, daß man ihn einsperren lasse, falls er sich wieder hier sehen lasse? Was leibliche Frucht betrifft«, fügte er bei, »so bin ich von Natur aus selbst so schüchtern, Sir, und meine Nerven sind durch Mistreß Perchs Zustand so abgespannt, daß ich’s leicht auf mein Gewissen nehmen könnte.«

»Laßt mich diesen Burschen sehen, Perch«, sagte Mr. Carker. »Bringt ihn herein.«

»Ja, Sir. Aber ich bitt‘ um Verzeihung, Sir«, sagte Mr. Perch, indem er an der Tür zögernd stehenblieb–»er ist grob von Aussehen.«

»Gleichwohl. Wenn er da ist, so soll er hereinkommen. Ich will nachher mit Mr. Gills sprechen. Heißt ihn warten!«

Mr. Perch verbeugte sich, schloß die Tür so genau und sorgfältig, als gedenke er, eine Woche auszubleiben, und ging, um die gewünschte Person unter den Sperlingen des Hofs aufzusuchen. Während seiner Abwesenheit nahm Mr. Carker seine Lieblingsstellung vor dem Kamin ein und schaute nach der Tür hin, so daß er, die untere Lippe zu einem Lächeln verzogen, das die ganze obere Zahnreihe zeigte, ein eigentümlich lauerndes Aussehen gewann.

Der Bote ließ nicht lange auf sich warten, und ihm folgten ein Paar schwere Stiefel, die gleich Koffern den Gang entlang polterten. Mit den unzeremoniösen Worten: »Nur herein mit Euch!« – eine sehr ungewöhnliche Einführungsformel von seinen Lippen – brachte nun Mr. Perch einen kräftig gebauten Knaben von Fünfzehn, mit rundem, rotem Gesicht, rundem, glattem Kopf, runden, schwarzen Augen, runden Gliedern und rundem Leib, der außer der allgemeinen Rundung seines Äußeren einen völlig krempenlosen, runden Hut in der Hand trug, zur Tür herein.

Auf einen Wink von Mr. Carker hatte Perch kaum den Burschen vorgestellt, als er sich wieder entfernte. Sobald die beiden sich allein gegenüber standen, faßte Mr. Carker ohne ein Wort der Einleitung denselben bei der Kehle und schüttelte ihn, bis ihm der Kopf von den Schultern zu fallen schien.

Der Knabe konnte sich trotzdem seines Erstaunens nicht erwehren, den Gentleman mit seinen vielen weißen Zähnen, der ihn würgte, und die Bureauwände wild anzuglotzen, als sei er entschlossen, wenn es ihm wirklich ans Leben gehe, so solle doch sein letzter Blick noch den Geheimnissen gewidmet sein, für deren aufdringliche Erspähung er so schwere Strafe erleiden sollte. Endlich brachte er die Worte hervor:

»Ei, Sir, so laßt mich doch los!«

»Dich loslassen!« rief Mr. Carker. »Wie! Ich habe dich jetzt einmal – he?« Ohne Zweifel war die« der Fall, und zwar recht fest. »Du Hund«, fügte Mr. Carker durch die geschlossenen Kiefer sprechend, bei, »ich will dich erdrosseln!«

Die unverhoffte Art dieses Empfangs schlug den Mut Sieders, der sich doch sonst auch aufs Raufen verstand, völlig nieder, und als sein Kopf endlich stationär wurde und er dem Gentleman ins Gesicht oder vielmehr in die Zähne sah, die nach ihm hinkläfften, so vergaß er endlich seine Mannheit so weit, daß er zu heulen begann.

»Ich habe Euch ja nichts getan, Sir«, sagte Sieder, sonst auch Rob oder Schleifer und stets Toodle.

»Du junger Halunke!« entgegnete Mr. Carker, indem er ihn langsam losließ und rücklings wieder in seine Lieblingsstellung zurücktrat, »was soll das heißen, daß du dich unterstehst, hierherzukommen?«

»Ich habe nichts Unrechtes damit gemeint, Sir«, winselte Rob, indem er die eine Hand an den Hals und die Knöchel der andern an seine Augen legte. »Ich will nie wiederkommen, Sir. Ich wollte nur Arbeit.«

»Arbeit, du junger Kain?« wiederholte Mr. Carker, ihn scharf ansehend. »Bist du nicht der faulste Tagedieb in London?«

Die Beschuldigung war zwar sehr kränkend für Mr. Toodle junior, paßte aber so gut auf seinen Charakter, daß er kein Wort der Widerrede vorzubringen wußte; er sah daher den Gentleman mit erschreckter, selbstanklagender und reuevoller Miene an. Wir müssen bemerken, daß Mr. Carkers Anblick so schreckhaft auf ihn wirkte, daß er seine runden Augen keinen Moment von ihm wandte.

»Bist du nicht ein Dieb?« sagte Mr. Carker, dessen Hände in den Hosentaschen staken.

»Nein, Sir«, entgegnete Rob.

»Ja!« sagte Mr. Carker.

»Nein, gewiß nicht, Sir«, sagte Rob schüchtern. »Ihr dürft mir’s glauben, daß ich in meinem Leben nicht gestohlen habe, Sir. Ich weiß zwar, daß ich auf unrechten Wegen ging, Sir, seit ich das Vogelfangen und Wettlaufen anfing. Ein junger Bursch kann freilich denken«, fügte Mr. Toodle junior, mit einem Reueausbruch bei, »daß singende Vögel eine unschuldige Gesellschaft sind; aber niemand weiß, welches Unheil in den kleinen Geschöpfen steckt und wie sie einen herunterbringen können.«

Ihn schienen sie bis auf eine Velpeljacke, sehr abgetragene Hosen, eine besonders kleine rote Weste, die schon einem Brustlätzchen glich, ein darunter hervorsehendes blau kariertes Hemd und auf den erwähnten Hut heruntergebracht zu haben.

»Ich bin nicht zwanzigmal nach Hause gekommen, seit mir’s die Vögel angetan hatten«, sagte Rob, »und das ist jetzt zehn Monate her. Wie kann ich auch in die Heimat gehen, wo alles sich unglücklich fühlt, wenn es mich zu Gesicht kriegt! Ich wundere mich nur«, fuhr Sieder mit einem lauten Weinen fort, indem er sich die Augen mit dem Rockärmel beschmierte, »daß ich mir nicht schon lange das Leben genommen habe!«

Alles das, samt der erstaunten Äußerung, daß das letztere seltene Kunststück nicht gelungen war, sprach der Knabe so, als zögen es Mr. Carkers Zähne aus ihm heraus, und als liege es nicht in seiner Macht, irgend etwas zu verhehlen, solange diese Anziehungsbatterie in voller Tätigkeit war.

»Du bist mir ein sauberes Früchtlein!« sagte Mr. Carker, den Kopf gegen ihn schüttelnd. »Für dich ist Hanf gesät, du feiner Patron!«

»Jawohl, Sir«, erwiderte der unglückliche Sieder, abermals heulend und aufs neue seine Zuflucht zu dem Rockärmel nehmend, »und bisweilen würde ich mich auch nicht darum kümmern, wenn er schon aufgegangen wäre. Mein ganzes Unglück hat mit dem Schwänzen angefangen, Sir; aber was konnte ich auch anderes tun, als schwänzen?«

»Als was?« fragte Mr. Carker.

»Schwänzen, Sir. Die Schule schwänzen.«

»Willst du damit sagen, du habest getan, als gehest du hin, obschon du es unterließest?« fragte Mr. Carker.

»Ja, Sir – das ist schwänzen, Sir«, erwiderte der vormalige Schleifer sehr gedrückt. »Wenn ich hinging, wurde ich durch die Straßen verfolgt, Sir, und war ich dort, so bekam ich Schläge. Deshalb schwänzte ich und verbarg mich irgendwo – und so fing die Sache an.«

»Und du willst mir sagen«, erwiderte Mr. Carker, indem er ihn wieder an die Kehle packte, auf Armeslänge vor sich hinhielt und eine Weile schweigend betrachtete, »daß du einen Platz wünschest?«

»Ich würde es dankbar annehmen, wenn man es mit mir versuchen wollte, Sir«, entgegnete Toodle junior in ersticktem Tone.

Mr. Carker, der Geschäftsführer, drückte ihn rücklings in eine Ecke – der Knabe ließ sich’s ruhig gefallen und wagte kaum zu atmen, ja nicht einmal ein Auge abzuwenden vom Gesicht des Gentleman – und zog die Klingel.

»Sagt Mr. Gills, er solle herkommen.«

Mr. Perch war zu ehrerbietig, um über die Gestalt in der Ecke ein Merkmal der Überraschung oder des Erkennens auszudrücken, und unmittelbar darauf trat Onkel Sol ein.

»Nehmt Platz, Mr. Gills«, sagte Carker mit einem Lächeln. »Wie geht es Euch? Ich hoffe, Ihr erfreut Euch einer guten Gesundheit.«

»Danke, Sir«, versetzte Onkel Sol, sein Taschenbuch herausnehmend und einige Banknoten überreichend. »Meinen Körper belästigt nichts als das Alter. Fünfundzwanzig, Sir.«

»Ihr seid so pünktlich, Mr. Gills, wie einer von Euren Chronometern«, entgegnete der lächelnde Geschäftsführer und nahm aus einem seiner vielen Schubfächer ein Papier heraus, auf dessen Hinterseite er eine Bemerkung verzeichnete, während Onkel Sol ihm über die Schulter zusah. »Ganz richtig.«

»Ich lese in den Seeberichten, Sir, daß der Sohn und Erbe nicht angetroffen worden ist, Sir«, sagte Onkel Sol mit einiger Erhöhung des gewöhnlichen Zitterns in seiner Stimme.

»Dem Sohn und Erben ist keiner begegnet«, versetzte Carker. »Er scheint stürmisches Wetter gehabt zu haben, Mr. Gills, und wurde wahrscheinlich von seinem Kurse abgetrieben.«

»Gebe Gott, daß er in Sicherheit ist«, sagte der alte Sol.

»Ja, gebe es der Himmel!« pflichtete Mr. Carker in jener stimmlosen Art bei, die den aufmerksamen jungen Toodle wieder zittern machte. »Mr. Gills«, fuhr er laut fort, indem er sich in seinen Stuhl zurückwarf, »Ihr werdet wohl Euren Neffen sehr vermissen.«

Onkel Sol, der an seiner Seite stand, nickte mit dem Kopf und seufzte tief auf.

»Mr. Gills«, sagte Carker, seine weiche Hand um den Mund spielen lassend und dem Instrumentenmacher ins Gesicht sehend, »es wäre doch kurzweiliger für Euch, wenn Ihr jetzt einen jungen Menschen sternchenland.com in Eurem Laden hättet, und ich würde es als Gefälligkeit ansehen, wenn Ihr vorderhand einem solchen Quartier geben wolltet. Nein, ich weiß natürlich wohl«, fügte er hastig bei, um dem, was der alte Mann sagen wollte zuvorzukommen, »daß es bei Euch nicht viel zu tun gibt; aber Ihr könnt ihn das Haus fegen, die Instrumente polieren und sonstige geringe Arbeit verrichten lassen, Mr. Gills. Der dort ist der Junge!«

Sol Gills drückte die Brille von der Stirne nach den Augen nieder und betrachtete Toodle junior, der aufrecht in der Ecke stand. Sein Kopf sah, wie es gewöhnlich der Fall war, aus, als sei er frisch aus einem Eimer kalten Wassers gezogen worden, seine kleine Weste hob sich und fiel rasch unter dem Spiel der inneren Erregungen, und seine Augen hafteten unausgesetzt auf Mr. Carker, ohne die mindeste Berücksichtigung des ihm vorgeschlagenen Dienstherrn.

»Wollt Ihr ihm Quartier geben, Mr. Gills?« fragte der Geschäftsführer.

Ohne gerade in Begeisterung zu geraten, erwiderte der alte Sol, er freue sich über jede Gelegenheit, wie gering sie auch sein möge, Mr. Carker einen Gefallen zu erweisen, da ihm dessen Wunsch in einer solchen Sache Befehl sei; der hölzerne Midshipman werde sich glücklich schätzen, einen Gast, den Mr. Carker auserlesen, in sein Berth aufzunehmen.

Mr. Carkers ganzes Zahnfleisch wurde sichtbar, so daß der achtsame Toodle junior nur noch mehr zitterte. Der Geschäftsführer dankte dem Instrumentenmacher für seine Höflichkeit freundlichst.

»Ich will ihn also bei Euch unterbringen, Mr. Gills«, sagte er, indem er aufstand und den alten Mann bei der Hand nahm, »bis ich mich entschlossen habe, was ich mit ihm anfangen will und was er verdient. Da ich durch meine Empfehlung eine Verantwortlichkeit für ihn übernehme, Mr. Gills«, er warf jetzt Rob ein so weites Lächeln zu, daß dieser am ganzen Leibe bebte, »so wird es mir lieb sein, wenn Ihr ihm scharf auf die Nähte geht und über sein Betragen mir Bericht erstattet. Diesen Nachmittag will ich auf meinem Heimwege seinen Eltern, die achtbare Leute sind, einige Fragen vorlegen und über einige Einzelheiten seiner eigenen Angaben weitere Auskunft einholen. Ist das geschehen, Mr, Gills, so will ich ihn morgen früh zu Euch schicken. Gott befohlen!«

Sein Abschiedslächeln war so voll von Zähnen, daß der alte Sol ganz verwirrt wurde und sich nicht recht behaglich dabei fühlte. Er ging jedoch nach Hause und dachte unterwegs an tobende Wellen, scheiternde Schiffe, ertrinkende Menschen, an eine alte Flasche Madeira, die vielleicht nie ans Licht kam, und an andere unheimliche Dinge.

»Jetzt, Bursche«, sagte Mr. Carker, indem er den jungen Toodle an die Schulter faßte und in die Mitte des Zimmers zog – »hast du mich verstanden?«

»Ja, Sir«, lautete Robs Antwort.

»Du begreifst nun vielleicht«, fuhr sein Gönner fort, »daß du, statt hierher zu kommen, in der Tat besser getan hättest, ins Wasser sternchenland.com zu springen, wenn es dir je einfallen sollte, mich zu täuschen oder mir irgendeinen Streich zu spielen.«

Nichts schien Rob klarer zu sein als das.

»Würdest du mich einmal belogen haben, so komm mir nie wieder in den Weg«, sagte Mr. Carker. »Wenn nicht, so warte heute nachmittag in der Nähe des Hauses deiner Mutter auf mich. Ich reite um fünf Uhr von hier weg. Gib mir die Adresse.«

Rob nannte langsam Straße und Hausnummer, die Mr. Carker aufschrieb; auch buchstabierte sie Rob noch einmal durch, als glaube er, das Auslassen eines Striches oder eines Tüpfelchens könnte ihn zugrunde richten. Mr. Perch führte ihn dann zur Tür hinaus, und Rob, der bis zum letzten Moment seine runden Augen nicht von seinem Gönner gewandt hatte, verschwand für eine Weile.

Mr. Carker hatte im Laufe des Tages noch sehr viel zu tun und zeigte verschiedenen Leuten seine Zähne. Im Bureau, im Hof, auf der Straße und auf der Börse glänzten und starrten sie in ihrer ganzen Fülle. Punkt fünf Uhr langte Mr. Carkers Fuchs an. Der Geschäftsführer saß auf und schlug den Weg nach Cheapside ein.

Da um diese Stunde niemand, selbst wenn er Lust dazu hat, leicht schnell durch das Gedränge der City reiten kann, so ließ Mr. Carker sein Tier zwischen den Karren und Wagen hindurch gemächlich im Schritt gehen. Er mied dabei, wo es immer auch war, die feuchten, schmutzigen Plätze der Straße und gab sich ungemein viel Mühe, sich selbst und sein Roß reinzuhalten. Während er so weiterritt und die Vorübergehenden betrachtete, fiel sein Blick plötzlich auf die runden Augen des glattköpfigen Rob, die so fest auf seinem Gesichte hafteten, als hätten sie sich nie von demselben losgelöst, während der Knabe selbst ein Taschentuch, zusammengedreht wie ein gefleckter Aal, um den Leib geknüpft trug und sich augenscheinlich anschickte, seinen Beschützer zu begleiten, mochte dieser nun im Schritt, Trab oder Galopp gehen.

Diese schmeichelhafte Aufmerksamkeit war von so ungewöhnlicher Art und fesselte auch die Aufmerksamkeit der Passanten so, daß Mr. Carker bei erster Gelegenheit eine saubere Straße benutzte und sein Tier zu traben anfangen ließ. Rob tat augenblicklich dasselbe. Mr. Carker ließ sein Roß schärfer ausgreifen, aber Rob verhielt sich auch hier nicht flau. Dann kam ein kurzer Galopp – auch das brachte den Jungen nicht in Verlegenheit. So oft Mr. Carker seine Blicke nach der Wegseite hinüber richtete, sah er Toodle junior stets mit ihm gleichen Schritt halten, ohne daß es denselben anzufechten schien; denn Rob arbeitete sich nach der erprobtesten Weise der Wettläufer mit dem Ellenbogen vorwärts.

Wie lächerlich sich diese Begleitung auch ausnehmen mochte, war sie doch ein Zeichen des über den Knaben gewonnenen Einflusses, und Mr. Carker ritt, wenn er schon nicht dergleichen tat, als ob er darauf achte, in die Gegend von Mr. Toodles Haus. Dort ließ er sein Tier langsamer schreiten, und Rob ging voraus, um ihm den Weg durch die Straßen anzudeuten. Als endlich Mr. Carker einen sternchenland.com an einem benachbarten Tore stehenden Mann herbeirief, der während seines Besuches in den Gebäuden, die an die Stelle von Staggs Gärten getreten waren, das Roß in Verwahrung nehmen sollte, hielt Rob dem absteigenden Geschäftsführer dienstfertig den Steigbügel.

»Nun, Bürschlein«, sagte Mr. Carker, indem er ihn bei der Schulter faßte, »komm mit!«

Dem verlorenen Sohne war es wahrscheinlich nicht sehr wohl zu Mute beim Besuch der elterlichen Wohnung; da ihn aber Mr. Carker vor sich hinschob, so blieb ihm keine andere Wahl, als die rechte Tür zu öffnen und sich in die Mitte seiner Brüder und Schwestern, die in erstaunlicher Anzahl den Teetisch der Familie umstanden, hineinschieben zu lassen. Beim Anblick des Verlorenen, den ein Fremder am Kamisol hatte, brach die ganze zarte Verwandtschaft in ein allgemeines Geheul aus, das Rob durch seine eigene Stimme verstärken half, sobald er in der Mitte der Familie seiner Mutter ansichtig wurde, die den Jüngsten in den Armen hielt und bei seinem Eintritt blaß und zitternd sich erhob.

Fest überzeugt, der Fremde müsse, wenn er nicht Meister Knüpfauf in Person sei, doch zu dessen Gesellschaft gehören, wehklagte die junge Familie nur um so lauter, während die kindlicheren Mitglieder derselben, die die ihrem Alter eigentümlichen Erregungen nicht zu zügeln vermochten, sich wie junge Vögel, wenn sie durch einen Habicht erschreckt werden, auf den Rücken warfen und ungestüm mit den Füßen zappelten. Endlich gelang es der armen Polly, sich Gehör zu schaffen und mit bebenden Lippen zu sprechen:

»Ach, Rob, mein armer Junge, was hast du getan!«

»Nichts, Mutter«, versetzte Rob mit kläglicher Stimme. »Fragt den Gentleman.«

»Ihr braucht nicht zu erschrecken«, sagte Mr. Carker. »Ich habe etwas Gutes mit ihm vor.«

Bei dieser Ankündigung brach Polly, die bisher nicht geweint hatte, in Tränen aus, und die älteren Toodles, die eine Rettung beabsichtigt hatten, öffneten die geballten Fäuste wieder. Die jüngeren Toodles scharten sich um den Schoß ihrer Mutter und sahen unter ihren eigenen runden Armen nach dem banditenmäßigen Bruder und dessen unbekannten Freunde hin. Alles segnete den Gentleman mit den schönen Zähnen, der in so guter Absicht gekommen war.

»Dieser Bursche ist Euer Sohn«, sagte Mr. Carker zu Polly, indem er Rob leicht rüttelte. »Nicht wahr, Ma’am?«

»Ja, Sir«, schluchzte Polly mit einem Knix. »Ja, Sir.«

»Ich fürchte, ein schlimmer Sohn?« fragte Mr. Carker.

»Nie schlimm gegen mich, Sir«, entgegnete Polly.

»Gegen wen sonst?« fragte Mr. Carker.

»Er ist ein bißchen wild gewesen, Sir«, antwortete Polly, den Jüngsten festhaltend, der mit Armen und Beinen strampelte, um sich durch die Luft auf Sieder niederzulassen, »und ist mit schlimmen Kameraden umgegangen. Aber ich hoffe, er hat seinen Fehler eingesehen, Sir, und wird wieder gut werden.«

Mr. Carker betrachtete Polly, das reinliche Zimmer, die reinlichen Kinder und das einfache Toodle-Gesicht, das, das Bild von Vater und Mutter vereint gebend, sich überall um ihn her reflektierte und wiederholte. Der eigentliche Zweck seines Besuches schien erfüllt zu sein.

»Euer Mann ist wohl nicht zu Hause?« fragte er.

»Nein, Sir«, antwortete Polly. »Er ist mit dem Zug fort.«

Der verlorene Rob schien bei dieser Kunde sich sehr erleichtert zu fühlen, obschon seine Geistesfähigkeiten noch immer von seinem Gönner so in Anspruch genommen waren, daß er seine Augen nicht von dessen Gesicht abwandte, wenn er nicht etwa gelegentlich einen Moment erstahl, um der Mutter einen bekümmerten Blick zuzuwerfen.

»So will ich Euch sagen«, fuhr Mr. Carker fort, »wie mir Euer Junge da in den Wurf kam, wer ich bin und was ich für ihn zu tun beabsichtige.«

Mr. Carker tat das in seiner eigenen Art, indem er sagte, er habe sich anfänglich vorgenommen, namenlose Schrecken auf Robs anmaßendes Haupt zu häufen, weil er es wagte, sich in Dombey und Sohns Bereich zu zeigen; aus Rücksicht auf seine Jugend, seine Reue aber habe sich später sein Herz erweicht. Er fürchte zwar, eine Übereilung zu begehen, wenn er sich für den Knaben interessiere, da er sich dadurch leicht den Tadel anderer Menschen zuziehen könne; er tue es übrigens aus freien Stücken und nehme die Verantwortlichkeit auf sich, denn die frühere Beziehung der Mutter zu Mr. Dombeys Familie und Mr. Dombey selbst habe damit durchaus nichts zu schaffen, so daß er, Mr. Carker, in dieser Sache ganz allein die handelnde Person sei. Nachdem er seine gute Absicht ins beste Licht gestellt und von der ganzen anwesenden Familie den wärmsten Dank entgegengenommen hatte, deutete er zwar mittelbar, aber doch ziemlich deutlich an, daß Robs unbedingte Treue und Anhänglichkeit dessen Pflicht der allergeringste Dank sei, den er erwarten könne. Rob fühlte diese große Wahrheit so tief, daß er, mit über die Backen rollenden Tränen seinen Gönner ansehend, heftig mit dem Kopf nickte, bis er fast so wackelig zu sein schien, wie am Morgen unter den Händen des Gentleman.

Polly, die weiß der Himmel wie viele schlaflose Nächte wegen ihres verirrten Erstgeborenen verbracht und denselben seit Wochen nicht mehr gesehen hatte, fühlte sich so ergriffen, daß sie vor Mr. Carker, dem Geschäftsführer, trotz seiner Zähne, wie vor einem guten Geiste hätte niederknien mögen. Da sich jedoch Mr. Carker zum Gehen erhob, so dankte sie ihm nur mit ihren mütterlichen Gebeten und Segenswünschen – ein reicher Dank, wenn er vom Herzen kommt, ja, überreich für alle Dienstleistungen Mr. Carkers, so daß er wohl hätte einen großen Überschuß herauszahlen dürfen.

Als der Geschäftsführer durch den Kinderschwarm zur Tür ging, eilte Rob auf seine Mutter zu und schloß sie und den Jüngsten in die gleiche reuige Umarmung ein.

»Ich will mir jetzt alle Mühe geben, liebe Mutter. Bei meiner Seele, das will ich!« sagte Rob.

»O, tu‘ es doch, mein lieber Sohn! Ich bin überzeugt, du wirst Wort halten, um unserer und deiner selbst willen«, erwiderte Polly, die ihn unter Tränen küßte. »Aber du kommst doch wieder zurück, um mir zu erzählen, wenn du den Gentleman begleitet hast?«

»Ich weiß nicht, Mutter«, versetzte Rob zögernd und schaute zu Boden. »Der Vater – wann kommt er nach Hause?«

»Nicht vor morgen früh um zwei Uhr.«

»So will ich kommen, liebe Mutter!« rief Rob.

Und er eilte durch das schrille Geschrei, mit dem seine Brüder und Schwestern dieses Versprechen aufnahmen, um Mr. Carker zu folgen.

»Wie?« fragte Mr. Carker, der das Abschiedsgespräch mitangehört hatte, »du hast wohl einen schlimmen Vater?«

»Nein, Sir«, versetzte Rob erstaunt, »Es gibt auf der ganzen Welt keinen besseren oder liebevolleren Vater, als der meinige ist.«

»Warum weichst du ihm aus?« fragte ihn sein Gönner.

»Es ist ein mächtiger Unterschied zwischen einem Vater und einer Mutter, Sir«, entgegnete Rob nach einigem Stocken. »Er würde mir kaum glauben, daß ich mich wirklich bessern wolle – obschon ich weiß, daß er’s gerne tun würde; aber eine Mutter – sie glaubt immer, was gut ist, Sir; wenigstens weiß ich das von meiner Mutter, und Gott möge sie dafür segnen.«

Mr. Carkers Mund öffnete sich zum Sprechen; er schwieg jedoch, bis er sein Pferd bestiegen, und den Mann, der es gehalten, entlassen hatte. Dann schaute er aus seinem Sattel scharf auf das achtsame Gesicht des Knaben nieder und sagte:

»Du kommst morgen früh zu mir. Man wird dir dann sagen, wo der alte Gentleman wohnt, der heute morgen bei mir war. Du hast von mir gehört, daß du zu ihm gehen sollst.«

»Ja, Sir«, versetzte Rob.

»Ich nehme großen Anteil an jenem alten Herrn, und wenn du ihm dienst, dienst du mir – hast du mich verstanden? Schon gut«, fügte er bei, denn er sah das runde Gesicht des Knaben bei dieser Frage zur Antwort erglänzen. »Ich sehe, du verstehst mich. Ich will alles von diesem Gentleman erfahren – wie es ihm von Tag zu Tag ergeht; es ist mir angelegentlich darum zu tun, ihm Dienste zu leisten – und ich muß namentlich wissen, wer ihn besucht. Du begreifst?«

Rob neigte das sich nicht von Mr. Carker abwendende Gesicht und sagte – »Ja, Sir.«

»Es wäre mir lieb, wenn ich hörte, daß er Freunde hat, die ihm Aufmerksamkeit erweisen und mit ihm gut sind – denn der arme Mann lebt jetzt sehr verlassen. Deshalb will ich wissen, wer an ihm und seinem Steffen im Ausland Anteil nimmt. Vielleicht kommt eine sehr junge Lady zu ihm auf Besuch. Namentlich über die möchte ich Auskunft erhalten.«

»Ich will Sorge tragen, Sir«, sagte der Knabe.

»Und nimm dich in acht«, erwiderte der Gönner, indem er sein grinsendes Gesicht dem des Knaben näher brachte und ihn mit dem Handgriff seiner Peitsche auf die Schulter klopfte – »nimm dich in acht, daß du über meine Aufträge mit niemand sprichst, als mit mir.«

»Mit niemand in der Welt, Sir«, entgegnete Rob, mit dem Kopf nickend.

»Weder dort«, fuhr Mr. Carker fort, nach dem Platze hindeutend, den sie eben verlassen hatten, »noch sonst irgendwo. Ich will dich auf die Probe stellen, wie treu und dankbar du sein kannst.«

Nach diesen Worten, die durch das Zeigen der Zähne und die Bewegung des Kopfes ebensogut zu einer Drohung als zu einem Versprechen wurden, wandte er sich von Robs Augen ab, die noch immer auf ihm hafteten, als habe er den Knaben mit Leib und Seele durch einen Zauber gewonnen, und ritt weiter. Er war noch nicht weit gekommen, als er bemerkte, daß sein getreuer Knappe, wie zuvor gegürtet, ihm zur großen Belustigung einiger Zuschauer die frühere Aufmerksamkeit schenkte. Das bewog ihn, sein Tier zu zügeln und Rob Gegenbefehl zu erteilen. Um sich zu überzeugen, daß ihm Gehorsam geleistet wurde, drehte er sich im Sattel und sah dem sich Entfernenden nach. Es war merkwürdig, daß selbst jetzt noch Rob seine Augen nicht ganz von dem Gesichte des Reiters abwenden konnte; denn er drehte noch öfter den Kopf herum, um ihm nachzuschauen, und verwickelte sich dadurch in ein wahres Gewitter von Püffen und Stößen, die er von den auf der Straße Laufenden erhielt, ohne aber daß er in der Verfolgung der einen unabweisbaren Idee etwas davon zu verspüren schien.

Mr. Carker, der Geschäftsführer, ritt mit der ruhigen Miene eines Mannes, der die Angelegenheiten des Tages in befriedigender Weise erledigt hat und deshalb sich im Gemüte behaglich fühlt, im Schritt weiter. So selbstgefällig und freundlich, wie es ein Mensch nur sein kann, summte er auf dem Wege durch die Straßen ein Liedchen vor sich hin. Sein Herz schien vor Freude schneller zu schlagen.

Und im Geiste wärmte sich auch Mr. Carker auf einem Herd. Gemächlich zusammengerollt war er bereit zum Springen, zum Kratzen, zum Zerreißen oder zum Samtpfötchen, je nachdem er Laune hatte oder die Gelegenheit sich darbot. Gab es vielleicht einen Vogel in einem Käfig, der seine Blicke auf sich zog?

»Eine sehr junge Dame!« dachte Mr. Carker während seines Liedchens. »Ja, als ich sie das letztemal sah, war sie ein kleines Kind. Ich erinnere mich, mit schwarzen Augen und Locken, und einem schönen Gesicht – einem sehr schönen Gesicht! Sie ist wahrhaftig hübsch.«

Noch freundlicher, behaglicher, und sein Liedchen vor sich hinsummend, bis seine vielen Zähne dazu vibrierten, trieb Mr. Carker sein Pferd weiter und bog endlich in die schattige Straße ein, wo sternchenland.com Mr. Dombeys Haus stand. Er war so geschäftig gewesen, um für schöne Gesichter Gewebe zu stricken und sie mit Maschen zu verdunkeln, daß er kaum daran dachte, das Ende seines Rittes schon erreicht zu haben, und erst als er durch die kalte Perspektive der hohen Häuser hinunter schaute, hielt er einige Schritte vor der Tür rasch sein Pferd an. Um jedoch zu erklären, warum Mr. Carker sein Roß so hurtig zügelte, und was er jetzt mit nicht geringem Erstaunen bemerkte, müssen wir uns eine kleine Abschweifung erlauben.

Sobald Mr. Toots sich aus Blimbers Knechtschaft emanzipiert hatte und in den Besitz eines gewissen Teils seiner irdischen Habe gekommen war, der, wie er während des letzten Halbjahrs seiner Probezeit jeden Abend Mr. Feeder als neue Entdeckung mitzuteilen pflegte, ihm von den Testamentsvollstreckern nicht vorenthalten werden konnte, legte er sich mit großem Fleiß auf die Wissenschaft des Lebens. Von dem edlen Wetteifer beseelt, eine glänzende und ausgezeichnete Laufbahn zu verfolgen, hatte Mr. Toots eine Auswahl von Zimmern möbliert und unter denselben eines mit den Porträts von gewinnenden Rennpferden, die für ihn keine Spur von Interesse hatten, wie auch mit einem Diwan, auf dem es ihm ganz ärmlich zumute wurde, verschönert. In dieser künstlichen Wohnung widmete sich Mr. Toots der Kultur der schönen Künste, die das Dasein verschönern und humanisieren; sein Hauptlehrer darin war ein interessanter Charakter, der Preishahn genannt, der stets in der Schenkstube zum schwarzen Dachs lärmte, im wärmsten Wetter einen weißen Flaus trug, und dreimal wöchentlich für die kleine Entschädigung von zehn Schillingen sechs Pencen per Gang Mr. Toots um die Ohren klopfte.

Der Preishahn, der der eigentliche Apollo von Mr. Toots‘ Pantheon war, hatte bei ihm einen Marqueur eingeführt, der ihn Billardspielen lehrte, einen Leibgardisten, der Fechtstunden gab, einen Wechselreiter, der im Reiten Unterricht erteilte, einen Gentleman aus Cornwales, von dem im athletischen Fach Nutzen gezogen werden konnte, und zwei oder drei andere Freunde, die in die schönen Künste nicht weniger tief eingeweiht waren. Unter solchen Umständen konnte es kaum fehlen, daß Mr. Toots rasche Fortschritte machte, und er säumte nicht, den Unterricht dieser Lehrer bestens auszunutzen.

Wir wissen nicht, wie es kam, aber während sogar diese Gentlemen noch den Glanz der Neuheit für sich hatten, fühlte sich Mr. Toots, ohne sich dafür einen Grund angeben zu können, nicht ganz wohl und behaglich. Es gab Spreu in seinem Korn, die kein Preishahn herauspicken, und düstere Reisebilder vor seiner Phantasie, die nicht einmal ein Athlet niederzuschlagen vermochte. Nichts schien Mr. Toots so wohl zu bekommen, als wenn er stets Karten an Mr. Dombeys Tür abgeben konnte. Kein Steuereinnehmer in den britischen Domänen – das verbreitetste Gebiet, in dem die Sonne nie untergeht, und unablässig der Steuereinnehmer auf den Beinen sternchenland.com ist – war so regelmäßig und beharrlich in seinen Besuchen, wie Mr. Toots.

Mr. Toots ging nie die Treppe hinauf, sondern verrichtete stets dieselbe Zeremonie, für die er sich reich herausputzte, an der Flurtür.

»Ah, guten Morgen«, lautete regelmäßig seine erste Bemerkung gegen den Diener. »Für Mr. Dombey« die zweite, indem er eine Karte abgab – »für Miß Dombey« die nächste, gleichfalls von einer Karte begleitet.

Mr. Toots wandte sich dann um, als ob er gehen wolle; aber der Diener kannte ihn zu gut und wußte, daß er das nicht tun würde.

»O, ich bitte um Verzeihung«, sagte Mr. Toots, als sei ihm plötzlich ein Gedanke gekommen. »Ist die junge Kammerfrau zu Hause?«

Der Diener glaubte es, wußte es aber nicht genau, deshalb zog er an einer aufwärts gehenden Klingel und schaute die Treppe hinauf. Dann pflegte er zu sagen, ja sie sei zu Haus und komme eben herunter. Miß Nipper erschien dann, und der Diener entfernte sich.

»Ah, wie geht es Euch?« fragte dann Mr. Toots stockend, indem er leicht errötete.

Susanna dankte ihm und erwiderte:

»Ganz gut.«

»Was macht Diogenes?« lautete Mr. Toots‘ zweite Frage.

Er hielt sich in der Tat recht gut. Miß Florence liebte ihn mit jedem Tage mehr. Mr. Toots versäumte nicht, diese Meldung mit einem Ausdruck von Kichern zu begrüßen, ähnlich dem, wenn eine Flasche mit schäumendem Getränk geöffnet wird.

»Miß Florence ist ganz wohl, Sir«, fügte Susanna meistens bei.

»O, es ist nicht von Belang – danke Euch«, lautete dann unabänderlich die Erwiderung des Mr. Toots, der sich alsbald schnell auf die Beine machte.

Nun ist gewiß, daß Mr. Toots eine Art Nebel in seinem Kopf hatte, der ihn zu der Folgerung führte, wenn er im Laufe der Zeit erfolgreich die Hand von Florence anstreben könnte, so dürfte er sich für den glücklichsten Menschen halten. Ferner hat es seine Richtigkeit, daß er auf einem weiten Umwege bis zu diesem Punkt gekommen und hier stehengeblieben war. Sein Herz fühlte sich verwundet und schmolz zusammen; er war verliebt. Einmal des Nachts hatte er in dem verzweifelten Versuch, ein Gedicht auf Florence zu schreiben, bis zum Morgen gesessen und sich damit bis zu Tränen gerührt, obschon er in der Ausführung nie mehr als die Worte zustande brachte: »Für dich, Geliebte«; denn die im voraus niedergeschriebenen sieben andern Anfangsbuchstaben verwirrten den Flug seiner Einbildungskraft dermaßen, daß er keine Silbe weiter zu finden wußte.

Außer der Erfindung jener schlauen und politischen Maßregel, täglich für Mr. Dombey eine Karte abzugeben, wußte Mr. Toots‘ Gehirn zur Annäherung an den Gegenstand, der seine Gefühle gefangen sternchenland.com hielt, nichts zu ersinnen, bis er endlich nach tiefer Erwägung zu der Überzeugung kam, ein wichtiger Schritt vorwärts sei, wenn er sich in Miß Susanna Nippers Gunst einschleiche und sodann dieser Dame einen Wink über den Zustand seines Gemüts gebe.

Einige leichte, scherzhafte Aufmerksamkeiten gegen Miß Nipper schienen ihm da« beste Mittel zu sein, um sie für seinen Plan zu gewinnen. Da er jedoch mit sich selber nicht einig werden konnte, so befragte er den Preishahn, ohne jedoch diesen Gentleman ins Vertrauen zu ziehen, indem er ihm bloß andeutete, ein Freund aus Yorkshire habe sich brieflich von ihm (Mr. Toots) eine Auskunft über einen derartigen Fall erbeten. Der Preishahn antwortete, seine Losung sei stets: »Wagen gewinnt«, und meinte noch weiter: »Habt Ihr Euern Mann vor Euch und wißt Ihr, was zu tun ist, so geht hin und tut es.« Mr. Toots meinte, das unterstütze auch seine Meinung von der Sache, und faßte den heldenmütigen Entschluß, am andern Tag Miß Nipper zu küssen.

Tags darauf ließ sich Mr. Toots mit dem größten Wunder der Schneiderkunst versehen, das je von der Bude von Burgeß und Komp. gekommen war, und trat mit dem vorerwähnten Anschlag seinen Weg nach Mr. Dombeys Haus an. Je näher er aber dem Schauplatze des Handelns kam, desto mehr schwand ihm der Mut, und obgleich er schon nachmittags um drei Uhr in der Nähe des Hauses angelangt war, wurde es doch sechs Uhr, bis er an die Tür klopfte.

Alles verlief wie gewöhnlich bis zu dem Abschnitte, wo Susanna sagte, ihre junge Gebieterin sei wohl, und Mr. Toots darauf erwiderte, daß das nicht von Belang sei. Statt aber wie sonst gleich einer Rakete von hinnen zu schießen, blieb Mr. Toots nach dieser Bemerkung zu ihrem großen Erstaunen stehen und kicherte.

»Vielleicht wollt Ihr die Treppe hinaufgehen?« fragte Susanna.

»Ei, ja, ich denke, ich will hineinkommen«, versetzte Mr. Toots«.

Statt jedoch die Treppe hinaufzugehen, stürzte der kühne Toots, sobald die Tür geschlossen war, linkisch auf Susanna zu, umarmte dieses schöne Geschöpf und küßte sie auf die Wange.

»Fort mit Euch!« rief Susanna – »oder ich kratze Euch die Augen aus!«

»Nur noch einen!« sagte Mr. Toots.

»Macht, daß Ihr fort kommt!« entgegnete Susanna, indem sie ihm einen Stoß gab. Und noch obendrein so unschuldiges Volk, wie Ihr! Wer wird zunächst anfangen! Geht Eurer Wege, Sir!«

Susanna fühlte sich nicht sehr verlegen, denn sie konnte kaum sprechen vor Lachen; aber Diogenes hörte auf der Treppe das Rascheln von Kleidern an der Wand, ein Scharren von Füßen, und bemerkte durch das Geländer, daß gekämpft werde und eine fremde Kriegsmacht im Hause war. Da ihm nun das nicht gefiel, so eilte er zur Rettung herbei und hatte im Nu Mr. Toots bei den Waden.

Susanna kreischte, lachte, öffnete die Haustür und eilte die Treppe hinunter; der kühne Toots stolperte die Straße hinaus, sternchenland.com sternchenland.com während sich Diogenes an seiner Beinbekleidung festhielt, als seien Burgeß und Komp. Köche, die diesen leckeren Bissen zu einer Festtagslabung für ihn zubereitet hätten. Nachdem der Hund abgeschüttelt war, überkugelte er sich im Staub, stand wieder auf, kreiste um den schwindligen Toots her und schnappte nach ihm. Und all das Getümmel sah Mr. Carker, der in kleiner Entfernung sein Pferd hatte haltmachen lassen, zu seinem großen Erstaunen aus Mr. Dombeys stattlichem Hause herauskommen.

Mr. Carker behielt den unglücklichen Toots noch immer im Auge, während Diogenes hineingerufen und die Tür geschlossen wurde. Der junge Gentleman nahm jetzt seine Zuflucht nach einem nahegelegenen Torweg und verband das zerschlissene Bein seiner Pantalons mit einem kostbaren seidenen Taschentuch, das einen Teil der wertvollen Ausstattung für das heutige Abenteuer gebildet hatte.

»Ich bitte um Verzeihung, Sir«, sagte Mr. Carker, mit dem gewinnendsten Lächeln auf ihn zureitend. »Ich hoffe, Ihr habt keinen Schaden genommen.«

»O nein – ich danke Euch«, versetzte Mr. Toots, sein glührotes Gesicht erhebend; »es ist nicht von Belang.«

Mr. Toots hätte, wenn es tunlich gewesen wäre, gar gerne angedeutet, daß der Schaden ihn empfindlich schmerzte.

»Wenn die Zähne des Hundes ins Fleisch gegangen sind, Sir« – begann Carker mit einer Darstellung seiner eigenen –

»Nein, danke Euch«, sagte Mr. Toots. »Es ist alles recht und gut – danke Euch.«

»Ich habe das Vergnügen, Mr. Dombey zu kennen«, bemerkte Carker.

»Wirklich?« entgegnete Toots errötend.

»Und Ihr erlaubt mir vielleicht«, fuhr Mr. Carker fort, indem er den Hut abnahm, »in seiner Abwesenheit für ihn mein Bedauern und meine Verwunderung auszudrücken, wie dieser Unfall möglich gewesen ist.«

Mr. Toots ist über diese Höflichkeit und über den glücklichen Zufall, sich mit einem Freund von Mr. Dombey zu befreunden, so erfreut, daß er sein Kartenfutteral, das er nie zu benutzen versäumt, wo sich eine Gelegenheit dazu bietet, herauszieht und Mr. Carker seinen Namen und seine Adresse gibt. Letzterer erwidert diese Aufmerksamkeit damit, daß er ihm seine eigene gibt, und so trennen sie sich.

Wie Mr. Carker langsam an dem Haus vorbeireitet, nach dem Fenster hinaufblickt und das sinnige Gesicht hinter dem Vorhang, das nach den Kindern herunterschaut, zu erspähen sucht, kommt der rauhe Kopf des Hundes daneben zum Vorschein, und Diogenes bellt und knurrt ohne Rücksicht auf alle Beschwichtigungsversuche ihm von oben nach, als wolle er auf ihn niederspringen und ihn in Stücke zerreißen.

Wohl gesprochen, Di, so nahe deiner Gebieterin! Belle ihm in sternchenland.com Ermangelung des anderen nur nach – wieder und wieder mit aufgerichtetem Kopf, funkelnden Augen und geiferndem Rachen. Belle nur zu, wie er dahinschleicht! Du hast eine gute Witterung, Di – fass‘, fass‘ die Katze!

Dreiundzwanzigstes Kapitel.


Dreiundzwanzigstes Kapitel.

Florence ist einsam und der Midshipman geheimnisvoll.

Florence lebte allein in dem traurigen großen Hause. Tag um Tag verging – sie blieb einsam, und die weißen Wände schauten mit leerem Stieren auf sie nieder, als hätten sie eine gorgonenartige Lust, ihre Jugend und Schönheit in Stein zu verwandeln.

Kein verzauberter Platz eines Märchens, mitten im dichtesten Wald eingeschlossen, war je für die Phantasie einsamer und verlassener, als das lauernd in der Straße stehende Haus ihres Vaters in seiner grimmigen Wirklichkeit. Selbst bei Nacht, wenn aus den benachbarten Fenstern die Lichter blinkten, stand es mit seiner spärlichen Beleuchtung da wie ein dunkler Klecks, während es bei Tag ein düsteres Zürnen auf seinem nie lächelnden Gesichte zeigte.

Es standen zwar keine zwei Drachen-Schildwachen davor, die in den Märchen gewöhnlich die gefangene Unschuld hüten müssen; aber außer einem glotzenden Gesicht mit boshaft geöffneten dünnen Lippen, das über den Türbogen alle Kommenden anstarrte, sah man ein ungeheuerliches Phantasiestück von rostigem Eisen über der Schwelle, das sich wie eine versteinerte Laube ausnahm, in Speere und korkzieherartige Spitzen auslief und zu jeder Seite zwei unheilverkündende Löschhörner hatte, als sollte damit gesagt werden: »Wer hier eintritt, lasse das Licht hinter sich!« Auf dem Portal waren keine talismanischen Zeichen eingegraben, aber das Haus hatte ein so vernachlässigtes Aussehen, daß die Knaben, namentlich an der Seitenwand um die Ecke, das Geländer und Pflaster mit Kreide bemalten und Gespenster an die Stalltür zeichneten. Wenn dann Mr. Towlinson die gottlose Jugend verscheuchte, so machte sie zum Dank Porträts von ihm, an denen die Ohren wagerecht unter dem Hut hervorwuchsen. Lärm gab es unter dem Schatten des Daches nicht. Die Blechmusikbande, die einmal in der Woche morgens durch die Straße kam, ließ nie eine Note unter diesen Fenstern ertönen, und alle derartigen Musiken, bis zu der quieksenden, geistesschwachen Drehorgel herunter mit den zitterbeinigen Automatentänzern, die durch sich öffnende Türen hinein- und herauswälzten, wichen wie auf gemeinsamen Antrieb davor zurück, als scheuten sie den hoffnungslosen Platz.

Der Bann, der darauf lag, war giftiger, als derjenige, der verzauberte Häuser für eine Zeitlang in Schlaf legte und sie wieder frisch und unbeschadet erwachen ließ. Die Verödung des Nichtgebrauchs zeigte sich überall in stummer Klarheit. Im Hause sternchenland.com selbst verloren die schwerfällig niederfallenden Vorhänge ihre früheren Falten und gewannen das Aussehen von Leichentüchern. Hekatomben von Möbeln, noch aufgeschichtet und zugedeckt, schrumpften ein wie gefangene, vergessene Menschen und veränderten sich unmerklich. Die Spiegel waren blind vom Hauch der Jahre. Die Farben der Teppiche verschossen und wurden matt, wie die Erinnerung an jene unbedeutenden Vorfälle des Jahres. Tische, die bei ungewohnten Fußtritten zusammenfuhren, knarrten und zitterten. Die Schlüssel rosteten in den Türschlössern. Feuchtigkeit bedeckte die Wände, und mit dem Hervortreten der weiß-grauen Stockflecken schienen die Bilder ins Innere zu kriechen und sich zu verbergen. Schimmel und Moder schlichen sich in den Schränken fort, und ganze Bäume von Pilzen wuchsen in den Kellerecken. Der Staub häufte sich derart an, daß niemand wußte, wie oder woher er kam, und jeden Tag hörte man von Spinnen, Motten und Maden. Auf Entdeckungsreisen ausgezogene schwarze Käfer fand man hin und wieder unbeweglich auf den Treppen oder in einem oberen Zimmer, als wunderten sie sich, wie sie dahin gekommen seien, und nachts begannen die Ratten durch die dunkeln Galerien, die sie hinter dem Getäfel untergruben, zu quieksen und zu scharren.

Die traurige Pracht der Gemächer, die in dem durch die geschlossenen Jalousien einfallenden zweifelhaften Lichte nur unvollkommen sichtbar wurden, stand ganz im Einklang mit dem Gedanken an einen verzauberten Platz – ebenso auch die fleckigen Pfoten der vergoldeten Löwen, die verstohlen unter ihren Umhüllungen hervorlugten – die auf Sockeln stehenden marmornen Büsten, die unheimlich durch ihre Schleier schauten – die Uhren, die nie die Stunde angaben, oder, wenn sie zufälligerweise aufgezogen wurden, falsche Zeiten andeuteten und gespenstische Zahlen schlugen, die nicht auf dem Zifferblatt standen – das gelegentliche Geklimper unter den Hängeleuchtern, das noch schauerlicher tönte als das Geläute von Lärmglocken – träge Luftzüge, die unter diesen Gegenständen umherschlichen, und eine geisterhafte Schar von andern Dingen, die sich vermummt wie auferstandene Leichen ausnahmen. Außerdem war auch noch die große Treppe vorhanden, auf die der Herr des Hauses so selten seinen Fuß setzte und vermittels welcher sein kleines Kind zum Himmel hinaufgestiegen war. Ferner andere Treppen und Gänge, die wochenlang von keinem Fuß betreten wurden, dann zwei geschlossene Zimmer mit ihren flüsternden Erinnerungen an tote Mitglieder der Familie; und in der ganzen Wohnung nur Florence, die sanfte Gestalt, die durch die Öde und das Düster wandelte – sie die einzige, welche den leblosen Dingen einen Anflug von menschlichem Interesse verlieh!

Denn Florence lebte allein in dem verlassenen Hause. Tag um Tag verging – sie blieb einsam, und die weißen Wände schauten mit leerem Stieren auf sie nieder, als hätten sie eine gorgonenartige Lust, ihre Jugend und Schönheit in Stein zu verwandeln.

Auf dem Dach und in den Ritzen des Pflasters begann Gras zu wachsen. Eine schuppige zerbröckelnde Vegetation sproßte um die Fensterrahmen. Bruchstücke von Mörtel verloren ihren festen Halt an der Innenseite der unbenutzten Schornsteine und fielen polternd nieder. Die zwei Bäume mit den rauchbraunen Stämmen waren welk bis oben hinauf, und die dürren Zweige überragten die wenigen Blätter. Durch das ganze Gebäude hatte sich das Weiß in Gelb, das Gelb in Braun umgewandelt, und seit der Zeit, als die arme Dame starb, war es langsam zu einer schwarzen Lücke in der langen eintönigen Straße geworden.

Aber Florence blühte hier wie die schöne Königstochter im Märchen. Die Bücher, die Musik und die täglichen Lehrer waren ihre einzigen Gesellschafter, Susanna Nipper und Diogenes ausgenommen, von denen die erstere infolge der Aufmerksamkeit auf die Studien ihrer jungen Gebieterin selbst gelehrt zu werden begann, während der letztere, vielleicht durch denselben Einfluß besänftigt, den Kopf auf die Fensterbank zu legen und den ganzen Sommermorgen über behaglich seine Augen nach der Straße hin auf- und zuzumachen pflegte. Manchmal reckte er auch seinen Kopf, um mit großer Bedeutsamkeit nach einem lärmenden Wagen zu sehen, der durch die Straße rasselte, während er zu andern Zeiten in aufgebrachter und unerklärlicher Erinnerung an seinen vermeintlichen Feind in der Nachbarschaft nach der Tür hinstürzte, ein betäubendes Gebell anschlug und dann mit der possierlichen Selbstgefälligkeit, die ihm eigen war, und mit der Miene eines Hundes, der einen öffentlichen Dienst geleistet hat, wieder zurückkehrte, um seine Schnauze abermals auf die Fensterbank zu legen.

So lebte Florence in ihrer Wildnis von einer Heimat – in dem Kreis ihrer unschuldigen Beschäftigungen und Gedanken, ohne daß sie darin gestört wurde. Sie konnte jetzt, ohne eine Zurückweisung besorgen zu müssen, nach dem Zimmer ihres Vaters hinuntergehen, an ihn denken und ihr bebendes Herz ihm schüchtern nachsenden. Es war ihr nicht verwehrt, die Gegenstände zu betrachten, die ihn umgeben hatten in seinem Leid, und sich in die Nähe seines Stuhles zu schmiegen, ohne Angst vor dem Blicke, dessen sie sich so wohl erinnerte. Sie konnte ihm kleine Zeichen ihrer Aufmerksamkeit geben, indem sie eigenhändig alles für ihn ordnete, kleine Blumensträuße auf seinen Tisch stellte, sie fortwährend mit andern wechselte, da sie welkten, ehe er zurückkam, jeden Tag etwas für ihn zurichtete und in der Nähe seines gewöhnlichen Sitzes irgendein scheues Merkmal ihres Dagewesenseins zurückließ. Heute war es ein kleines, gemaltes Gestell für seine Taschenuhr; aber morgen hatte sie Angst, es dazulassen, und ersetzte es mit einer andern selbstgefertigten Kleinigkeit, die ihm vielleicht weniger auffiel. Wenn sie in den Nächten erwachte, so zitterte sie bei dem Gedanken, er könnte nach Hause kommen und ihr kleines Geschenk zornig zurückweisen; und dann eilte sie in ihren Pantoffeln und mit klopfendem Herzen hinunter, um es wegzuschaffen. Oft legte sie nur ihr sternchenland.com Gesicht auf sein Pult, nichts zurücklassend als einen Kuß und eine Träne.

Doch keiner wußte davon. Wenn nicht in ihrer Abwesenheit das Gesinde ihr stilles Treiben entdeckte – aber alle hatten große Furcht vor Mr. Dombeys Zimmern – so blieb es ein tiefes Geheimnis in ihrer Brust. Florence pflegte sich zur Zeit der Dämmerung, früh am Morgen und wenn drunten das Essen ausgeteilt wurde, nach diesen Zimmern zu stehlen, und obgleich ihre Sorgfalt jede Ecke derselben verschönerte, ging sie doch so ruhig ein und aus wie ein Sonnenstrahl, nur mit dem Unterschied, daß sie ihr Licht zurückließ.

Eine schattenhafte Gesellschaft begleitete Florence auf und ab in dem widerhallenden Hause und setzte sich mit ihr in den öden Zimmern nieder. Als wäre ihr Leben ein Zaubergesicht, stiegen aus ihrer Einsamkeit dienende Gedanken auf, die sie mit phantastischen Wesenheiten bevölkerten. Sie vergegenwärtigte sich so oft, was ihr das Leben sein würde, wenn ihr Vater für sie ein Herz und er in ihr ein geliebtes Kind hätte, daß sie zuweilen für einen Augenblick fast glaubte, es sei wirklich so, und getragen von dem Strom dieser sinnigen Dichtung schien sie sich zu erinnern, wie sie beide dem verstorbenen Bruder ins Grab gesehen, wie sie dessen Herz unter sich geteilt, und wie sie die Erinnerung an ihn gemeinschaftlich empfunden hatten – wie oft sie jetzt noch von ihm sprachen, und wie ihr Vater liebevoll auf sie niedersah und ihr erzählte von ihrer gemeinsamen Hoffnung und von ihrem Vertrauen auf Gott. Zu andern Zeiten dachte sie sich ihre Mutter noch lebend. O, des Glückes, ihr um den Hals zu fallen und sich mit der Liebe und Zuversicht ihrer ganzen Seele an sie anzuklammern! Ach, und dann wieder die Verödung des einsamen Hauses, wenn der Abend kam und niemand da war!

Doch war ein Gedanke vorhanden – ein Gedanke kaum in ihr klar, aber gleichwohl glühend und kräftig in ihrem Innern – der Florence aufrecht erhielt, wenn sie sich bemühte, ihr so schwer geprüftes treues junges Herz mit Beharrlichkeit zu erfüllen. Wie in alle andern, die mit dem großen Leid unserer sterblichen Natur ringen, hatten sich auch in ihr Gemüt festliche Hoffnungen eingeschlichen, die einer unbestimmten jenseitigen Welt entstammten und ihr wie leise Musik von einer Wiedererkennung in dem fernen Lande, wo der Bruder und die Mutter ihrer harrten, zuflüsterten. Gewiß wußten beide von ihr, hatten Liebe und Mitleid für sie, waren unterrichtet von dem Weg, den sie auf Erden ging. Es gereichte Florence zum Trost, solchen Gedanken Raum zu geben, bis eines Tages – es war bald nachher, als sie ihren Vater nachts spät in seinem Zimmer gesehen hatte – die Vorstellung in ihr auftauchte, wenn sie um sein ihr entfremdetes Herz weine, so könnte sie die Geister der Toten gegen ihn aufregen. So ungereimt und kindisch das Zittern vor einem halbgebildeten derartigen Gedanken erscheinen mag, quoll es doch aus einer liebenden Seele sternchenland.com hervor, und von Stunde an kämpfte Florence gegen die grausame Wunde in ihrem Herzen, indem sie versuchte, an den, dessen Hand ihr dieselbe geschlagen hatte, nur mit Hoffnung zu denken.

Ihr Vater wußte nicht – denn sie behielt es seit jener Zeit für sich – wie sehr sie ihn liebte. Sie war sehr jung, hatte keine Mutter, und leider war niemand vorhanden, der sie gelehrt hatte, ihrer Liebe die geeigneten Worte zu verleihen. Deshalb geduldete sie sich in der Erwartung, die Zeit werde sie in dieser Kunst unterrichten und es ihr möglich machen, ihm eine bessere Kenntnis von seinem einzigen Kinde beizubringen.

Dies machte sie sich zur Aufgabe ihres Lebens. Die Morgensonne leuchtete nieder auf das verblichene Haus und fand diesen Entschluß frisch und rege im Herzen seiner einsamen Bewohnerin. Durch alle Obliegenheiten des Tages beseelte er sie; denn Florence hoffte, je mehr sie lerne, je mehr sie sich ausbildete, desto größer werde seine Freude sein, wenn er einmal so weit gekommen sei, sie zu lieben. Bisweilen wunderte sie sich mit schwellendem Herzen und einer aufsteigenden Träne, ob sie sich auch in irgend etwas hinreichend vervollkommnet habe, um ihn zu überraschen, wann sie sich einmal näherstehen würden. Sie machte sich oft und oft Gedanken, ob es nicht irgendeinen Zweig des Wissens gebe, der sein Interesse mehr als ein anderer zu wecken geeignet sei. Bei ihren Büchern, ihrer Musik und ihrer Arbeit – auf ihren Morgenspaziergängen und in ihren nächtlichen Gebeten hatte sie stets nur dieses einzige Ziel im Auge. Eine seltsame Aufgabe für ein Kind, den Weg lernen zu müssen zu dem harten Herzen eines Vaters!

Wenn die Sommerabende sich zur Nacht vertieften, kamen manche Spaziergänger sorglos durch die Straße und sahen nach dem düstern Haus hinüber, wo sie, im Gegensatz zu diesem, die jugendliche Gestalt am Fenster bemerkten; und gewiß würde es ihren Schlaf getrübt haben, wenn sie gewußt hätten, mit welchen Gedanken sie so sehnsüchtig nach den blinkenden Sternen hinaufsah. Das Haus machte den Eindruck, als müßten Gespenster darin spuken, und das äußerliche Düster, das den auf ihren Geschäftswegen daran Hin- und Hergehenden auffiel, wäre noch erhöht worden, wenn sie in dem Antlitz, auf das die Schatten der Nacht fielen, seine Geschichte hätten lesen können. Aber Florence verfolgte ihr heiliges Vorhaben unbemerkt und unablässig. Ihr ganzes Sinnen ging nur darauf hin, wie sie ihren Vater zu der Überzeugung bringen könnte, daß sie ihn liebte, und kein einziger unsteter Gedanke ihres Innern trat als Kläger gegen ihn auf.

So lebte Florence allein in dem verödeten Hause. Tag um Tag entschwand ihr in der Einsamkeit, und die einförmigen Wände schauten mit dem gewohnten Starrblick auf sie nieder, als hätten sie die Lust der Meduse, ihre Jugend und Schönheit in Stein zu verwandeln.

Eines Morgens stand Miß Nipper ihrer jungen Gebieterin gegenüber, als diese eben ein zusammengelegtes Billett siegelte, und deutete durch ihre Miene an, daß sie den Inhalt des Schreibens billigte.

»Besser spät als nie, liebe Miß Floy«, sagte Susanna; »und glaubt mir, sogar ein Besuch bei den alten Skettlesen wird für uns eine Fügung Gottes sein.«

»Es ist sehr gütig von Sir Barnet und Lady Skettles«, versetzte Florence, ihrer Gefährtin in mildem Ton die vertrauliche Erwähnung der fraglichen Familie verweisend, »daß sie ihre Einladung so freundschaftlich wiederholen.«

Miß Nipper, die vielleicht auf der ganzen Erde die entschiedenste Parteigängerin war, indem sie die von ihr ergriffene Seite in allen Dingen, groß oder klein, verfocht und deshalb in ewigem Krieg mit der Gesellschaft lag, warf ihre Lippen auf und schüttelte den Kopf, als protestiere sie gegen jede Anerkennung von Uneigennützigkeit bei den Skettlesen, da Florences Gesellschaft für das Freundliche der Einladung reichen Ersatz biete.

»Wenn je Leute wußten, wie sie daran sind, so ist es bei diesen der Fall«, murmelte Miß Nipper, den Atem anhaltend: »o, lehrt mich die Skettles nicht erst kennen.«

»Ich gestehe, es ist mir nicht sonderlich um diesen Besuch in Fulham zu tun, Susanna«, entgegnete Florence gedankenvoll: »aber es wird recht sein, wenn ich gehe. Ich denke, es ist besser so.«

»Viel besser«, ergriff Susanna mit einem abermaligen, nachdrücklichen Kopfnicken das Wort.

»Zwar wäre ich lieber hingegangen«, sagte Florence, »wenn niemand dort ist; denn während der Ferien werden sich einige junge Leute im Hause aufhalten. Trotzdem habe ich dankbar zugesagt.«

»Und ich sage, Miß Floy, freut Euch darüber!« versetzte Susanna. »Ah! h –h!«

Dieser letzte Ausruf, mit dem Miß Nipper um jene Zeit oft einen Satz schloß, galt unter der Dienerschaft für eine allgemeine Bezugnahme auf Mr. Dombey und schien in Miß Nipper das Verlangen auszudrücken, diesem Gentleman ein wenig die Meinung zu sagen. Sie erklärte sich jedoch nie darüber, und der Laut verband demgemäß mit dem Vorteil eines sehr scharfen Ausdrucks den Zauber des Geheimnisses.

»Wie lange es doch ansteht, bis wir Kunde von Walter erhalten, Susanna!« bemerkte Florence nach einem kurzen Schweigen.

»Ja wohl lange, Miß Floy!« versetzte ihre Jungfer, »und Perch, der vor kurzem erst nachgesehen hat, ob keine Briefe eingelaufen sind, sagte – doch was liegt daran, was dieser sagt!« rief Susanna, indem sie errötend abbrach. »Was kann er davon wissen!«

Florence schlug rasch die Augen auf, und ein glühendes Rot breitete sich über ihr Gesicht.

»Wenn ich nicht«, sagte Susanna Nipper, augenscheinlich mit einer geheimen Beklommenheit kämpfend und ihre junge Gebieterin voll ansehend, während sie sich Mühe gab, sich in einen Zustand von Zorn gegen Mr. Perchs harmloses Bild zu versetzen – »wenn ich nicht mehr Männlichkeit besäße als dieser Einfältigste seines Geschlechtes, sternchenland.com so würde ich nie wieder einen Stolz in meine Haare setzen, sondern sie hinter meinen Ohren aufbinden und eine grobe Haube trauen, ohne Spitzen und alles, bis mich der Tod von meiner Unbedeutsamkeit erlöste; ich bin zwar keine Amazone, Miß Floy, und möchte mich nicht durch eine solche Entstellung herabwürdigen; aber jedenfalls hoffe ich, daß ich nicht alles gleich aufgebe.«

»Was aufgebe?« rief Florence mit der Miene des Schreckens.

»Ach, nichts«, versetzte Susanna. »Du lieber Himmel, nichts! Es ist nur dieser nasse Papierwickel von einem Menschen, der Perch da, daß man ihm fast mit einem Fingerdruck den Garaus machen möchte, und in der Tat, es wäre für alle Teile ein glückliches Ereignis, wenn sich jemand einmal seiner erbarmen und die Güte haben möchte!«

»Gibt er das Schiff auf, Susanna?« fragte Florence sehr blaß.

»Nein, Miß«, erwiderte Susanna, »ich möchte wohl sehen, daß er so dreist wäre, mir etwas Derartiges ins Gesicht zu sagen! Nein, Miß; aber er geht immer mit einem einfältigen Ingwer um, den Mr. Walter Mrs. Perch schicken sollte, schüttelt dabei seinen erbärmlichen Kopf und sagt, er hoffe, daß er noch kommen werde; freilich, sagt er, könne er nicht zur rechten Zeit für die beabsichtigte Gelegenheit eintreffen, aber doch wohl für das nächste Mal, und dies« – fügte Miß Nipper mit sich steigerndem Unmut bei – »bringt mich in der Tat um alle Geduld mit dem Menschen; denn obschon ich viel ertragen kann, bin ich doch weder ein Kamel, noch bin ich« – schloß Susanna nach einer kurzen Überlegung – »wenn ich mich anders kenne, ein Dromedar.«

»Was sagt er sonst noch, Susanna?« fragte Florence dringend. »Willst du es mir nicht sagen?«

»Als ob ich Euch nicht alles und jedes sagen wollte. Miß Floy«, erwiderte Susanna. »Ach, Miß, er sagt, man fange schon überall von dem Schiff zu reden an, und es sei unerhört, daß ein Schiff nur die Hälfte Zeit zu dieser Reise gebraucht habe; das Weib des Kapitäns sei gestern im Bureau gewesen und habe darüber gejammert, aber jedermann konnte das sagen, und wir haben es fast vorher gewußt.«

»Ich muß, ehe ich meine Reise antrete, Walters Onkel besuchen«, sagte Florence hastig. »Ich will noch diesen Morgen zu ihm gehen. Komm, wir wollen nicht säumen, Susanna.«

Da Miß Nipper gegen diesen Vorschlag nichts einzuwenden hatte, sondern im Gegenteil vollkommen damit zufrieden war, so kleideten sie sich hastig an und machten sich auf den Weg zu dem kleinen Midshipman.

Die Gemütsstimmung, in der Walter an dem Tag, als der Makler Brogley zur Besitznahme gekommen war und in der Seele des armen Knaben sogar auf jedem Kirchturm eine Auspfändung vorgenommen zu werden schien, zu Kapitän Cuttle hineilte, glich vollkommen derjenigen, in der sich jetzt Florence nach Onkel Sols Wohnung begab. Es gab nur den einen Unterschied, daß die Qual des Mädchens durch sternchenland.com den Gedanken erhöht wurde, sie sei vielleicht die unschuldige Ursache, die Walter in Gefahr gestürzt und allen, die ihn liebten, sich selbst mit eingeschlossen, die peinliche Angst der Ungewißheit bereitet hatte. Im übrigen glaubte sie aus allem Gefahr und Hoffnungslosigkeit lesen zu müssen. Die Wetterhähne auf den Türmen und Hausgiebeln warfen geheimnisvolle Winke über Stürme hin und zeigten gleich gespenstischen Fingern auf gefährliche Meere, wo vielleicht Trümmer großer Schiffe schaukelten und hilflose Menschen in einen Schlaf gewiegt wurden, so tief wie das unergründliche Wasser. Als Florence in das Stadtzentrum kam und an Gentlemen vorbeieilte, die miteinander sprachen, fürchtete sie, daß sie von dem Schiff und dessen Untergang reden könnten. Die Bilder und Kupferstiche von Fahrzeugen, die mit rollenden Wellen kämpften, erfüllten sie mit Schrecken. Der Rauch und die Wolken, obschon sie sich nur langsam weiter trieben, gingen viel zu schnell für ihre Besorgnisse und flößten ihr die Furcht ein, daß in diesem Augenblick auf dem Meere draußen ein Sturm wüte.

Mochte nun Susanna Nipper ähnliche Gedanken hegen oder nicht, – jedenfalls gewann es den Anschein, als habe sie auf dem Wege nicht viel Muße für grüblerische Gedanken, da sie, so oft die Menschenmassen sich dichter drängten, fortwährend mit Jungen zu kämpfen hatte, sie schien nämlich mit dieser Art des menschlichen Geschlechts in einer natürlichen Feindschaft zu leben, die unabänderlich losbrach, so oft eine Berührung stattfand.

Im Laufe der Zeit erreichten sie den Teil der Straße, der dem hölzernen Midshipman gegenüberlag, und blieben dort stehen, bis sie mit Sicherheit über den Weg hinüberkommen konnten. Zu ihrer Überraschung bemerkten sie aber unter der Haustür des Instrumentenmachers einen rundköpfigen Jungen, der sein pausbackiges Gesicht gen Himmel gerichtet hielt und, während sie nach ihm hinsahen, plötzlich zwei Finger einer jeden Hand in seinen weiten Mund steckte, um unter dem Beistand dieser Maschinerie in erstaunlich gellendem Ton einigen Tauben zu pfeifen, die in beträchtlicher Höhe durch die Luft flogen.

»Mrs. Richards‘ Ältester, Miß«, sagte Susanna, »und die Plage von Mrs. Richards‘ Leben.«

Da Polly von den wiedererwachten Aussichten ihres Sohnes und Erben Florence Mitteilung gemacht hatte, so war diese auf die Begegnung vorbereitet. Die beiden Mädchen achteten daher nicht weiter auf Mrs. Richards‘ Plage, sondern benutzten die erste günstige Gelegenheit, um über die Straße hinüberzueilen. Der vogelkundige Knabe, der von ihrer Annäherung nichts bemerkte, pfiff wieder aus Leibeskräften und schrie dann in entzückter Aufregung: »Hisch! hu– up! hisch!« – eine Kundgebung, die auf die erschrockenen Tauben eine solche Wirkung übte, daß sie, statt unmittelbar einer Stadt im Norden Englands zuzufliegen, wie ihre ursprüngliche Absicht gewesen zu sein schien, auseinanderzuflattern und zu zögern anfingen. Mrs. Richards‘ Erstgeborener begrüßte sie dann abermals mit einem sternchenland.com gellenden Pfiff und schrie mit einer Stimme, die das Getümmel der Straße weit übertönte: »Hisch! hu–up! hisch!«

Aus dieser Verzückung rief ihn plötzlich ein Rippenstoß von Miß Nipper, der ihn durch die Ladentür hineinwarf, zu irdischen Gegenständen zurück.

»Ist das die Art, wie du deine Reue zeigst, nachdem sich Mrs. Richards Monate um Monate um dich abgehärmt hat?« lauteten die Worte, mit welchen Susanna ihre fühlbare Anrede begleitete. »Wo ist Mr. Gills?«

Rob milderte seinen ersten rebellischen Blick auf Miß Nipper, da er ihr Florence folgen sah, fuhr dieser zu Ehren mit den Fingern in sein Haar und antwortete seiner schönen Feindin, daß Mr. Gills ausgegangen sei.

»So hole ihn nach Hause«, versetzte Miß Nipper gebieterisch, »und sage ihm, daß meine junge Dame hier sei.«

»Ich weiß nicht, wohin er gegangen ist«, entgegnete Rob.

»Ist das deine Reue?« rief Susanna mit beißender Schärfe.

»Aber, wie kann ich ihn holen, wenn ich nicht weiß, wo ich ihn suchen soll?« winselte der verwirrte Rob. »Wie könnt Ihr nur so unvernünftig sein!«

»Hat Mr. Gills gesagt, wann er zurückkommen werde?« fragte Florence.

»Ja, Miß«, antwortete Rob, der abermals seine Finger nach den Haaren führte. »Er sagte, er werde nachmittags früh zurückkommen – in ein paar Stunden etwa, Miß.«

»Ist er sehr in Sorge wegen seines Neffen?« fragte Susanna.

»Ja, Miß«, antwortete Rob, der es unter Vernachlässigung von Miß Nipper vorzog, sich an Florence zu wenden. »Ich kann wohl sagen, daß er sehr in Sorge ist. Es hält ihn gar nichts mehr zu Hause, Miß, und er kann keine Viertelstunde bleiben. Ja, es läßt ihm keine fünf Minuten Ruhe am nämlichen Platz. Er geht umher wie – wie verirrt«, sagte Rob und duckte sich, um durch das Fenster nach den Tauben zu sehen. Dabei hielt er plötzlich mit seinen Fingern inne, die schon zum Zweck eines abermaligen Pfeifens auf dem halben Wege nach dem Munde waren.

»Kennst du nicht einen Freund des Mr. Gills, der Kapitän Cuttle heißt?« fragte Florence nach kurzem Besinnen.

»Den mit dem Haken, Miß?« entgegnete Rob mit einem bildlichen Drehen an seiner linken Hand. »Ja, Miß, er war erst vorgestern hier.«

»Seitdem nicht wieder?« fragte Susanna.

»Nein, Miß«, erwiderte Rob, seine Antwort noch immer an Florence richtend.

»Vielleicht ist Walters Onkel dorthin gegangen, Susanna«, bemerkte Florence zu ihrer Begleiterin.

»Zu Kapitän Cuttle, Miß?« versetzte Rob; »o nein, dort ist er nicht, denn er hat mir ausdrücklich aufgetragen, wenn Kapitän Cuttle sternchenland.com vorspräche, solle ich ihm sagen, sein gestriges Ausbleiben habe ihn sehr überrascht, und er solle warten, bis er wieder zurückkomme.«

»Weißt du, wo Kapitän Cuttle wohnt?« fragte Florence.

Rob antwortete mit Ja und griff nach einem schmierigen Pergamentbuch auf dem Ladentisch, aus dem er laut die Adresse las.

Florence wandte sich wieder an ihre Begleiterin und beriet leise mit ihr, während der rundäugige Rob, des geheimen Auftrags seines Gönners eingedenk, aufmerksam lauschte. Florence machte den Vorschlag, sie sollten zu Kapitän Cuttle gehen, von seinen eigenen Lippen hören, was er von dem langen Ausbleiben aller Nachrichten über den Sohn und Erben halte, und ihn, wenn es anginge, mitbringen, daß er Onkel Sol tröste. Susanna erhob anfangs einige Einwendungen wegen des weiten Weges. Da aber ihre Gebieterin von einer Mietkutsche sprach, so nahm sie ihren Einwand zurück und sagte zu. Es währte einige Minuten, bis sie zu diesem Entschlusse kamen, und Rob, der mit großen Augen dastand, schenkte beiden Sprecherinnen die größte Aufmerksamkeit, indem er abwechselnd sein Ohr der einen oder der andern zuwandte, als sei er der bestellte Schiedsrichter ihrer Gründe.

Endlich wurde Rob abgesandt, um eine Kutsche herbeizuholen, während die beiden Damen im Laden zurückblieben. Als er mit dem bestellten Wagen ankam, stiegen sie ein und trugen ihm auf, Onkel Sol zu melden, daß sie auf dem Rückweg bestimmt wieder vorsprechen würden.

Nachdem Rob der Kutsche nachgeschaut hatte, bis sie ebenso unsichtbar war, wie jetzt die Tauben, setzte er sich höchst diensteifrig hinter das Pult und machte, um ja nichts von dem Gehörten zu vergessen, unter einem ungeheuren Aufwand von Tinte auf verschiedene kleine Papierstreifen seine Notizen. Es war nicht zu besorgen, daß diese Dokumente, wenn sie etwa zufällig verlorengingen, etwas verrieten; denn lange, ehe die Worte trocken geworden, waren sie schon für Rob selbst ein so tiefes Geheimnis, als ob er nie beim Niederschreiben derselben beteiligt gewesen wäre.

Während er noch in dieser Arbeit begriffen war, machte die Mietkutsche, die allerlei unerhörte Schwierigkeiten von Drehbrücken, schmutzigen Straßen, hindernden Kanälen, Frachtwagen, Bohnengärten, Waschhäusern und ähnlichen in jener Gegend reichlich vorkommenden Hemmnissen zu bestehen hatte, an der Ecke von Brig-Place halt. Florence und Susanna Nipper stiegen hier aus und gingen zu Fuß die Straße hinab, um Kapitän Cuttles Wohnung aufzusuchen.

Zum Unglück war gerade einer von Mrs. Mac Stingers großen Scheuertagen. Bei solchen Gelegenheiten ließ sich Mrs. Mac Stinger morgens um drei Viertel auf drei Uhr durch den Polizeidiener wecken und kam dann selten vor nachts zwölf Uhr in die Federn. Die Hauptaufgabe dieser Einrichtung schien darin zu bestehen, daß Mrs. Mac Stinger früh mit dem Dämmern des Tages alles Möbelwerk in den hinteren Garten trug, während des ganzen Tages in Überschuhen sternchenland.com das Haus durchlief und nach Einbruch der Dunkelheit ihre Möbel zurückholte. Diese Feierlichkeiten verstörten jene Täublein, die jungen Mac Stingers, in hohem Grade; denn sie konnten zu solchen Zeiten nicht nur kein Ruheplätzchen finden, sondern wurden auch im Verlauf der Zeremonie in der Regel von dem mütterlichen Vogel tüchtig gepickt und zerzaust.

In dem Augenblick, als Florence und Susanna Nipper sich unter Mrs. Mac Stingers Tür zeigten, war diese würdige, aber furchtbare Frauensperson eben im Begriff, Alexander Mac Stinger, alt zwei Jahre und drei Monate, durch den Hausflur zu tragen und ihn gewaltsam auf das Straßenpflaster niederzusetzen. Alexander war nämlich, weil er nach der Strafe den Atem an sich gehalten, ganz schwarz im Gesicht geworden, und ein kalter Pflasterstein erwies sich in der Regel als ein sehr kräftiges Heilmittel für solche Fälle.

Die weiblichen und mütterlichen Gefühle der Mrs. Mac Stinger wurden natürlich im höchsten Grade verletzt durch die mitleidige Miene, mit der Florence Alexander betrachtete, und so rüttelte und knuffte die empfindsame Dame, statt der Schwäche der Neugier nachzugeben, vor und während der Anwendung des Pflastersteins die Frucht ihres Leibes tüchtig, ohne daß sie den Fremden weitere Aufmerksamkeit schenkte.

»Ich bitte um Verzeihung, Ma’am«, sagte Florence, nachdem das Kind wieder zu Atem gekommen war und denselben zu brauchen anfing, »ist dies Kapitän Cuttles Haus?«

»Nein«, versetzte Mrs. Mac Stinger.

»Nicht Nummer neun?« fragte Florence zögernd.

»Wer hat gesagt, daß es nicht Nummer neun sei?« entgegnete Mrs. Mac Stinger.

Susanna Nipper fiel jetzt plötzlich ein und nahm sich die Freiheit, zu fragen, was Mrs. Mac Stinger damit wolle, und ob sie wisse, mit wem sie spreche.

Als Antwort dafür betrachtete Mrs. Mac Stinger Susanna vom Kopf bis zu den Füßen.

»Was wollt denn Ihr von Kapitän Cuttle? Dies möchte ich doch auch wissen«, sagte Mrs. Mac Stinger.

»Möchtet Ihr? Dann bedaure ich, daß Eure Neugierde nicht befriedigt werden wird«, entgegnete Miß Nipper.

»Sei so gut, zu schweigen, Susanna«, sagte Florence. »Vielleicht habt Ihr die Freundlichkeit, Ma’am, uns zu sagen, wo Kapitän Cuttle wohnt, wenn wir ihn hier nicht finden können.«

»Wer sagt, daß er nicht hier wohnt?« versetzte die ungefällige Mac Stinger. »Ich habe gesagt, es sei nicht Kapt’n Cuttles Haus – und es ist auch nicht sein Haus – Gott behüte, daß es je sein Haus werde – denn Kapt’n Cuttle weiß nicht, wie er ein Haus in Ordnung halten soll – und ist nicht wert, ein Haus zu haben – es ist mein Haus – und wenn ich den oberen Stock an Kapt’n Cuttle vermiete, so tue ich etwas sehr Undankbares und werfe Perlen vor die Säue.«

Mrs. Mac Stinger hatte bei Äußerung dieser Bemerkungen ihre Stimme für die oberen Fenster berechnet und ließ jede Silbe derselben gesondert krachen, als kämen sie aus einer Büchse mit zahllosen Läufen. Nach dem letzten Schuß ließ sich der Kapitän vernehmen, der von seinem Zimmer aus in schwacher Gegenvorstellung die Worte sagte:

»Nur ruhig da unten!«

»Wenn Ihr zu Kapt’n Cuttle wollt – da ist er!« rief Mrs. Mac Stinger mit einer zornigen Handbewegung.

Florence nahm sich jetzt die Freiheit, ohne weiteres Parlamentieren einzutreten, und da auch Susanna ihr folgte, so begann Mrs. Mac Stinger abermals ihre Leibesbewegung in Überschuhen. Alexander Mac Stinger, der noch immer auf dem Pflasterstein saß und zu weinen aufgehört hatte, um auf die Unterhaltung zu lauschen, begann nun wieder zu heulen und unterhielt sich während dieses schrecklichen Konzertes, das eigentlich mechanisch war, mit einer allgemeinen Musterung der Aussicht, die mit der Mietkutsche schloß.

Der Kapitän saß in seinem Zimmer, die Hände in die Taschen gesteckt und die Beine unter seinem Stuhl emporgezogen, auf einer sehr kleinen wüsten Insel, die mitten in einem Ozean von Seifenwasser lag. Seine Fenster, der Kamin und die Wände hatten sich dem Scheuerprozeß unterziehen müssen und waren naß und glänzend von Sand und weicher Seife, die mit ihrem Geruch die Luft erfüllte. In der Mitte dieser traurigen Szene sah sich der nach seiner Insel verschlagene Kapitän mit einer Jammermiene auf dem Meere von Wasser um und schien auf eine freundliche Barke zu harren, die des Weges kam, um ihn aufzulesen.

Als er jedoch den trüben Blick nach der Tür richtete und daselbst Florence mit ihrer Jungfer bemerkte, geriet er in ein Erstaunen, das keine Worte zu schildern vermögen, Mrs. Mac Stingers Beredsamkeit hatte alle andern Laute völlig unvernehmlich gemacht. Deshalb erwartete er denn auch keinen andern Besuch als den des Blutjungen oder des Milchmannes. Als daher Florence eintrat, sich seiner Insel bis an ihre Grenzen näherte und ihre Hand in die seinige legte, stand er entsetzt auf, als glaube er für einen Augenblick, irgendein junges Mitglied aus der Familie des fliegenden Holländers zu sehen.

Der Kapitän gewann jedoch schnell seine Fassung wieder und trug zuerst Sorge dafür, sie auf trockenes Land zu bringen, was durch eine einzige Bewegung seines Armes glücklich vonstatten ging. Dann stach er in die See, faßte Miß Nipper um den Leib und holte sie gleichfalls nach der Insel. Nachdem dies vollbracht war, erhob er mit großem Respekt Florences Hand zu seinen Lippen, steuerte, da die Insel für drei nicht groß genug war, ein wenig auswärts und drehte im Seifenwasser bei, wie eine neue Art von einem Triton.

»Ihr wundert Euch wohl sehr, uns zu sehen,« sagte Florence mit einem Lächeln.

Der unbeschreiblich erfreute Kapitän küßte zur Antwort seinen sternchenland.com Hut und brummte, als läge ein besonders ausgesuchtes Kompliment in den Worten:

»Halt bei! halt bei!«

»Aber ich konnte nicht ruhen«, fuhr Florence fort, »bis ich Eure Ansicht gehört hatte, was Ihr von dem lieben Walter haltet – der jetzt mein Bruder ist. Ich wollte Euch fragen, ob etwas zu fürchten sei und ob Ihr nicht alle Tage seinen armen Onkel besuchen und ihn trösten wollt, bis wir Nachricht von ihm haben.«

Bei diesen Worten schlug Kapitän Cuttle wie in unwillkürlicher Gebärde mit der Hand an den Kopf, der für den Augenblick nicht mit dem harten Glanzhut belastet war, und machte eine Jammermiene.

»Seid Ihr in Sorge wegen Walters Sicherheit?« fragte Florence, von deren Gesicht der verzückte Kapitän seine Augen nicht abzuwenden vermochte, während sie ihrerseits ihn gleichfalls angelegentlich betrachtete, als wolle sie sich von der Aufrichtigkeit seiner Antwort überzeugen.

»Nein, meine Herzensfreude,« sagte Kapitän Cuttle, »ich fürchte nichts. Wal’r ist ein Junge, der durch viel schlimmes Wetter kommen wird. Wal’r ist ein Junge, der jener Brigg so viel Erfolg bringen muß, wie es nur irgendeinem jungen Menschen möglich ist. Wal’r«, fuhr der Kapitän fort, und seine Augen glänzten bei dem Lob des jungen Freundes, während sein Haken sich hob, um eine schöne Redewendung anzukündigen, »ist, was Ihr ein äußeres und ein sichtbares Zeichen der inneren geistigen Kraft nennen könnt – und wenn Ihr es gefunden habt, so biegt ein Ohr ein.«

Florence, die ihn nicht ganz verstand, obschon der Kapitän augenscheinlich meinte, er habe sich sehr deutlich und befriedigend ausgedrückt, blickte ihn mild an, als erwarte sie etwas Weiteres.

»Ich bin völlig unbesorgt, meine Herzensfreude,« nahm der Kapitän seine Rede wieder auf. »Man kann freilich nicht leugnen, daß es in jenen Breiten ganz ungewöhnlich schlechtes Wetter gegeben hat, und die Schiffe sind schon getrieben und getrieben und verschlagen worden – vielleicht bis auf die andere Seite der Welt. Aber das Schiff ist ein gutes Schiff und der Junge ein guter Junge, und es ist, Gott sei Dank,« – der Kapitän machte eine kleine Verbeugung – »nicht leicht, Eichenherzen zu brechen, ob sie nun in Briggen sind oder in eines Menschen Brust. Hier haben wir sie nun in beiderlei Weise, so oder so, und wir dürfen deshalb bis jetzt nicht das mindeste fürchten.«

»Bis jetzt?« wiederholte Florence.

»Nicht das mindeste«, entgegnete der Kapitän, seinen Haken küssend, »und ehe es bei mir so weit kommt, meine Herzensfreude, wird Wal’r von der Insel oder von einem oder dem andern Hafen nach Haus geschrieben haben, so daß alles in Ordnung und schiffsgerecht ist. Und was den alten Sol Gills betrifft«, der Kapitän wurde jetzt feierlich, »so will ich bei ihm aushalten und ihn nicht verlassen, bis der Tod uns trennt, wie auch die stürmischen Winde sternchenland.com wehen, wehen und wehen – seht im Katechismus nach,« sagte der Kapitän nebenher, »und dort werdet Ihr die Ausdrücke finden. Kann es übrigens Sol Gills trösten, wenn er die Ansicht eines seefahrenden Mannes hört, dessen Geist jedem Unternehmen gewachsen ist, das ihm in den Wurf kommt, – eines Mannes, der schon als Lehrling alles durchmachte, so daß er nur mit knapper Not das Leben davontrug, und dessen Name Bunsby ist, so soll ihm dieser Mann in seiner eigenen Stube ein Gutachten geben – ein Gutachten, sage ich Euch, daß ihm Hören und Sehen vergehen wird. Ja« – fügte Kapitän Cuttle prahlerisch bei – »gerade so, als hätte er sich halb den Kopf an der Tür eingerannt!«

»Wir wollen diesen Gentleman zu ihm bringen und mit anhören, was er sagt«, entgegnete Florence. »Ihr werdet doch mit uns gehen? Wir haben eine Kutsche hier.«

Der Kapitän schlug wieder mit der Hand an den seines harten Glanzhutes baren Kopf und schaute verblüfft umher. Doch in demselben Augenblick trug sich ein merkwürdiges Naturereignis zu. Ohne Anmeldung oder Vorbereitung öffnete sich wie von selbst die Tür, und der fragliche harte Glanzhut flog wie ein Vogel ins Zimmer herein, um vor den Füßen des Kapitäns schwerfällig niederzuplumpsen. Dann schlug die Tür ebenso ungestüm, wie sie aufgegangen war, wieder zu, und es erfolgte nichts weiter, um dieses Wunder aufzuklären.

Kapitän Cuttle las seinen Hut auf, betrachtete ihn mit einem Blick der Teilnahme und des Willkomms, drehte ihn und begann mit dem Ärmel daran zu polieren. Während dieser Beschäftigung schaute er gelegentlich nach seinen Gästen hin und sagte mit gedämpfter Stimme:

»Ihr seht, ich hätte gestern und heute morgen zu Sol Gills hinuntersteuern sollen; aber sie – sie nahm ihn weg und gab ihn nicht heraus. Dies ist das Lange und Kurze von der Sache.«

»Du lieber Himmel, wer tat dies?« fragte Susanna Nipper.

»Die Hausfrau, meine Liebe«, versetzte der Kapitän mit grämlichem Flüstern und unter geheimnisvollen Zeichen. »Wir hatten einen kleinen Wortwechsel wegen des Schwapperns dieser Planken da, und sie – mit einem Wort«, fügte der Kapitän hinzu, indem er nach der Tür hinsah und sich durch einen langen Atemzug Erleichterung verschaffte, »sie hat mich meiner Freiheit beraubt.«

»O, ich wünschte nur, daß sie mit mir zu schaffen hätte!« sagte Susanna, in dem Ungestüm ihres Wunsches errötend. »Ich wollte mit ihr schon fertig werden.«

»Meint Ihr, dies ginge so leicht, meine Liebe?« entgegnete der Kapitän, zweifelhaft den Kopf schüttelnd, aber den rücksichtslosen Mut der jungen Schönen mit augenfälliger Bewunderung aufnehmend. »Ich weiß nicht. Es ist eine schwierige Schiffahrt. Es ist sehr schwer, mit ihr fortzukommen, meine Liebe. Seht Ihr, man kann nie sagen, wie sie ihren Schnabel stellen will. Die eine Minute hält sie ihn voll, die nächste geht’s rund herum. Und wenn nicht sie ein sternchenland.com Berserker ist« – fügte der Kapitän bei, und der Schweiß trat ihm auf die Stirne.

Der Satz schloß mit einem nachdrücklichen Pfeifen. Dann schüttelte der Kapitän den Kopf, kam abermals auf seine Bewunderung von Miß Nippers verzweifelter Tapferkeit zurück und wiederholte schüchtern:

»Meint Ihr, es ginge so leicht, meine Liebe?«

Susanna antwortete nur mit einem hochmütigen Lächeln, in dem jedoch so viel Trotz lag, daß der Kapitän vielleicht noch lange in verzückter Betrachtung dagestanden wäre, wenn nicht Florence in ihrer Angst wieder auf den Vorschlag zurückgekommen wäre, ohne Zögern den orakelhaften Bunsby zu Rate zu ziehen. So an seine Pflicht erinnert, drückte Kapitän Cuttle seinen Glanzhut fest auf den Kopf, griff nach einem andern Knotenstock, womit er den an Walter verschenkten ersetzt hatte, bot Florence seinen Arm und schickte sich an, sich durch den Feind Bahn zu brechen.

Es zeigte sich übrigens, daß Mrs. Mac Stinger schon wieder ihren Kurs geändert und den Schnabel, wie sie nach des Kapitäns Bemerkung oft zu tun pflegte, in eine ganz neue Richtung gestellt hatte. Als sie die Treppen hinunterkamen, fanden sie diese musterhafte Frau, wie sie eben auf der Hausschwelle die Matten ausklopfte, so daß der noch immer auf dem Pflasterstein sitzende Alexander in dem Staubnebel nur undeutlich zu erkennen war. Diese häusliche Verrichtung nahm Mrs. Mac Stinger dermaßen in Anspruch, daß sie, als Kapitän Cuttle und seine Gäste vorbeigingen, nur um so stärker klopfte und weder durch ein Wort noch durch eine Gebärde ein Bewußtsein von ihrer Nähe zu erkennen gab. Die Matten übten zwar auf den Kapitän einen Eindruck wie der reichliche Gebrauch des Schnupftabaks, so daß er niesen mußte, bis ihm die Tränen über das Gesicht herunterliefen. Trotzdem aber war er über dieses leichte Entkommen so erfreut, daß er kaum seinem guten Glück glauben konnte; denn selbst zwischen der Tür und der Mietkutsche schaute er mehr als einmal über seine Schulter zurück, augenscheinlich voll Furcht, Mrs. Mac Stinger möchte noch jetzt Jagd auf ihn machen.

Sie erreichten jedoch die Ecke von Brig-Place, ohne weiter von diesem Schrecknis belästigt zu werden, und der Kapitän stieg auf den Kutschbock, weil es ihm seine Galanterie nicht erlaubte, von dem Ersuchen der Damen, sich mit ihnen in den Wagen zu setzen, Gebrauch zu machen. Von hier aus lotste er den Kutscher in seinem Kurse nach Kapitän Bunsbys Schiff, das die »vorsichtige Klara« hieß und ganz in der Nähe von Ratcliffe lag.

Bei dem Kai, vor dem das Fahrzeug dieses großen Kommandeurs zwischen etwa fünfhundert Kameraden eingeklemmt war, so daß das wirre Takelwerk sich wie eine ungeheure Masse halb weggekehrter Spinnweben ausnahm, erschien Kapitän Cuttle an dem Kutschenschlag und lud Florence und Miß Nipper ein, ihn an Bord zu begleiten. Zugleich bemerkte er, Bunsby sei in Beziehung auf Damen im höchsten Grade weichherzig, und nichts könne mehr dazu beitragen, sternchenland.com seinen gewaltigen Geist in einen Zustand von Harmonie zu bringen, als ihr Erscheinen auf der »vorsichtigen Klara«.

Florence entsprach sogleich seiner Aufforderung, und der Kapitän, der ihre kleine Hand in seine ungeheure Pfote nahm, führte sie mit einem gemischten Ausdruck von Gönnerschaft, väterlicher Liebe, Stolz und Feierlichkeit, der recht erbaulich anzusehen war, über verschiedene sehr schmutzige Decks, bis sie endlich zu der Klara gelangten. Dieses vorsichtige Fahrzeug, das außerhalb des Dammes lag, hatte seine Laufplanke abgetragen und stand etwa sechs Fuß von seinem nächsten Nachbar entfernt. Aus Kapitän Cuttles Erklärung schien hervorzugehen, daß der große Bunsby, wie er selbst, von seiner Hauswirtin grausam behandelt wurde; und wenn sie es ihm zuletzt so arg machte, daß er es nicht mehr auszuhalten vermochte, so brachte er als letzte Zuflucht einen Streifen Wasser zwischen sich und seine schöne Feindin.

»Klara, ahoi!« rief der Kapitän, seine Hand als Trichter für den Mund benutzend.

»Ahoi!« antwortete zum Echo ein Junge, der aus dem Raum heraufkam, des Kapitäns Ruf.

»Bunsby an Bord?« brüllte der Kapitän den Jungen mit einer Stentorstimme an, als sei das Fahrzeug wenigstens ein paar hundert Ruten, nicht aber bloß einige Ellen entfernt.

»Ja!« rief der Junge in dem gleichen Ton.

Der Junge schob sodann eine Planke auf Kapitän Cuttle zu, der sie sorgfältig auflegte und Florence hinüberführte. Nachdem das geschehen war, kehrte er zurück, um Miß Nipper zu holen. Sie befanden sich jetzt auf dem Deck der »vorsichtigen Klara«, in deren stehendem Takelwerk allerlei flatternde Kleidungsstücke in Gemeinschaft mit etlichen Zungen und Makrelen trockneten.

Unmittelbar darauf erhob sich langsam über die Scheidewände der Kajüte ein sehr großer menschlicher Kopf mit einem feststehenden Auge in dem Mahagoni-Gesicht, während das andere nach dem bei einigen Leuchttürmen angebrachten Grundsatze beweglich war. Dieser Kopf war mit zottigem, wergartigem Haar geziert, das keine vorherrschende Neigung gegen Nord, Ost, Süd oder West besaß, sondern nach allen vier Strichen des Kompasses und nach jedem einzelnen Punkte desselben hinging. Dem Kopf folgte eine wahre Wüste von Kinn, ein Hemdkragen samt Halstuch, eine unzerreißbare Lotsenjacke und ein Hosenpaar von demselben festen Gewebe. Dieses wurde durch einen so breiten und hohen Gurt festgehalten, daß er (d.h. der Gurt) zugleich die Stelle der Weste vertrat. Besagter Gurt war in der Nähe des Brustbeins mit einigen massiven hölzernen Knöpfen verziert, die einem Brettspiel entnommen zu sein schienen. Als die unteren Teile der Hose sichtbar wurden, zeigte sich Bunsby endlich in vollem Format, die Hände in seine ungeheuren Taschen gesteckt, während sein Blick sich nicht auf Kapitän Cuttle oder die Damen, sondern nach der Stengenspitze richtete.

Das tiefsinnige Aussehen dieses derben, kräftig gebauten Philosophen, sternchenland.com auf dessen ungemein rotem Gesicht ein Ausdruck von Schweigsamkeit thronte, der in vollem Einklang stand mit dem augenfälligen Stolz seines Charakters, schüchterte fast Kapitän Cuttle ein, obschon er sonst gut Freund mit ihm war. Während er Florence zuflüsterte, Bunsby habe in seinem Leben nie Verblüfftsein an sich bemerken lassen, weshalb man im allgemeinen glaube, er wisse gar nicht, was dieser Ausdruck zu bedeuten habe, beobachtete er den Mann, der seine Stengenspitze betrachtete und nachher sich am Horizont umsah. Als endlich das sich drehende Auge in die Richtung des Kapitäns zu kommen schien, begann dieser:

»Bunsby, mein Junge, wie geht’s?«

Eine tiefe, brummende, heisere Stimme, die in gar keiner Beziehung zu Bunsby zu stehen schien und jedenfalls auch nicht den mindesten Eindruck auf dessen Gesicht hervorrief, gab die Antwort:

»Hei, ja, Schiffskamerad, wie wird’s gehen.«

Zu gleicher Zeit tauchte Bunsbys rechte Hand samt dem Arm aus der Tasche empor, schüttelte die des Kapitäns und kehrte wieder zurück. »Bunsby«, sagte der Kapitän, sogleich auf sein Ziel losgehend, »Ihr seid ein Mann von Geist und ein Mann, der eine Ansicht vertreten kann. Da ist nun eine junge Dame, die Euer Gutachten hören möchte in betreff meines Freundes Wal’r, und außerdem habe ich noch einen andern Freund, Sol Gills, eine Persönlichkeit, die wohl verdient, daß Ihr in ihre Rufweite kommt; denn er ist ein Mann der Wissenschaft, die eine Mutter der Erfindung ist und kein Gesetz kennt. Bunsby, wollt Ihr mir den Gefallen erweisen, zu fieren und mit uns zu kommen?«

Der große Kommandant, der dem Ausdruck seines Gesichtes zufolge stets nach irgendeinem Gegenstand in der weitesten Ferne auszulugen und für nichts, was im Bereich von vier Stunden lag, ein Auge zu haben schien, behielt die Antwort hartnäckig für sich.

»Hier ist ein Mann«, sagte der Kapitän, sich an seine schönen Zuhörerinnen wendend und mit seinem ausgestreckten Haken auf den Kommandanten deutend, »der mehr als irgendein lebender Mensch ausgestanden hat. Ihm sind mehr Unfälle begegnet, als allen den Leuten im Matrosenhospital zusammengenommen, und es sind ihm, als er noch jung war, so viele Spieren, Balken und Bolzen um den Kopf geflogen, daß man damit auf dem Chathamhof eine Lustjacht bauen könnte. Was daher in solchen Dingen seine Erfahrung betrifft, so bin ich überzeugt, daß ihm hierin nichts gleich kommt, weder zu Wasser noch zu Lande.«

Der dickköpfige Kommandant schien durch ein leichtes Zucken seines Ellenbogens einige Zufriedenheit über dieses Lob auszudrücken; aber wenn auch sein Gesicht ebenso fern gewesen wäre wie sein Blick, so hätte es die Anwesenden kaum weniger unterrichten können, was in seinem Innern vorging.

»Schiffskamerad«, sagte Bunsby mit einem Male, indem er sich sternchenland.com niederbeugte, um unter eine im Wege liegende Spiere zu sehen, »was wollen die Damen trinken?«

Kapitän Cuttle, dessen Zartgefühl bei der Verbindung einer solchen Frage mit Florence sich entsetzte, zog den Weisen beiseite, schien ihm eine Aufklärung ins Ohr zu flüstern und begleitete ihn nach der Kajüte hinunter, wo er, um nicht Anstoß zu geben, sich selbst den Trunk belieben ließ, den, wie Florence und Susanna durch das offene Fenster sahen, der Weise, der zwischen seinem Berth und einem sehr kleinen Ofen kaum Raum fand, für sich selbst und seinen Freund eingoß. Sie erschienen bald wieder auf Deck, und Kapitän Cuttle führte Florence triumphierend über den Erfolg seines Unternehmens nach der Kutsche zurück, während Bunsby Miß Nipper, die er unterwegs zur großen Entrüstung dieser jungen Dame mit seinem Lotsenärmel wie ein grauer Bär umkrallte, in seine Obhut nahm.

Der Kapitän brachte sein Orakel im Wagen unter, überglücklich, daß er sich dieses Mannes versichert und einen solchen Geist in eine Mietkutsche gezwängt hatte. Auch konnte er sich nicht enthalten, durch das kleine Fenster hinter dem Kutscher oft nach Florence hineinzusehen und sein Entzücken durch Lächeln oder durch ein Klopfen an seine Stirne auszudrücken, um ihr damit anzudeuten, daß Bunsbys Gehirn in voller Tätigkeit sei. Mittlerweile behauptete Bunsby, der noch immer Miß Nipper umarmt hielt – denn sein Freund hatte die Weichheit seines Herzens nicht übertrieben – gleichförmig seine ernste Haltung und gab durch kein weiteres Zeichen kund, daß er der Anwesenheit seiner Nachbarin oder irgendeines andern Gegenstandes sich bewußt sei.

Onkel Sol, der nach Hause gekommen war, empfing sie an der Tür und führte sie sogleich nach dem kleinen Hinterstübchen, das sich seit Walters Abreise seltsam verändert hatte. Auf dem Tische und im Zimmer umher lagen die Karten, auf denen der betrübte Instrumentenmacher oft und oft das vermißte Schiff über die See verfolgte. Er hatte erst noch vor einer Minute mit einem Zirkel, den er noch immer in der Hand hielt, die Trifftung gemessen, die angenommen werden mußte, wenn das Fahrzeug da oder dorthin gekommen sein sollte. Aus diesen Berechnungen suchte er sich zu beweisen, daß man noch lange nicht die Hoffnung aufgeben dürfe.

»Ob es wohl verirrt ist«, sagte Onkel Sol, gedankenvoll über der Karte wegsehend; »aber nein, das ist fast unmöglich. Oder ob es durch ungestümes Wetter verschlagen wurde – aber das ist vernünftigerweise nicht wohl anzunehmen. Oder ob Hoffnung vorhanden ist, es habe den Kurs so weit geändert, um – doch ich kann das kaum hoffen!«

Mit solchen abgebrochenen Andeutungen streifte der arme alte Onkel Sol über die Karte hin, ohne auf ihr einen Flecken hoffnungsvoller Wahrscheinlichkeit zu finden, der groß genug gewesen wäre, um eine kleine Zirkelspitze darauf zu setzen.

Florence sah augenblicklich – es wäre auch schwer gewesen, das nicht zu bemerken –, daß mit dem alten Manne eine auffallende, unbeschreibliche sternchenland.com Veränderung vorgegangen war; denn neben seinem viel unruhigeren und unsteteren Wesen zeigte er eine eigentümliche, nicht damit im Einklang stehende Entschiedenheit, über die sie sehr betroffen war. Einmal kam es ihr vor, er spreche ohne allen Zusammenhang und aufs Geratewohl; denn als sie gegen ihn ihr Bedauern ausdrückte, daß sie ihn am Morgen nicht getroffen habe, entgegnete er anfangs, er habe sie besuchen wollen, obschon er unmittelbar darauf die Antwort zu widerrufen schien.

»Ihr seid also bei mir gewesen?« fragte Florence. »Heute?«

»Ja, meine liebe junge Lady«, versetzte Onkel Sol, indem er sie ansah und dann in verwirrter Weise wegblickte. »Ich wollte Euch noch einmal mit meinen eigenen Ohren hören, ehe –«

Dann hielt er inne.

»Ehe? Was wollt Ihr mit diesem Ehe sagen?« entgegnete Florence, ihre Hand auf seinen Arm legend.

»Habe ich von ›Ehe‹ gesprochen?« erwiderte der alte Sol. »Wenn ich es tat, so muß ich gemeint haben, ehe wir Kunde von meinem lieben Jungen erhalten.«

»Ihr seid nicht wohl«, sagte Florence liebevoll. »Ihr habt so viel in Angst gelebt – gewiß. Ihr seid nicht wohl.«

»Nein, ich bin gesund«, entgegnete der alte Mann, indem er seine rechte Hand schloß und sie ausstreckte, um sie ihr zu zeigen – »so gesund und kräftig, wie es ein Mann von meinen Jahren nur erwarten kann. Seht – sie ist fest. Sollte ihr Herr nicht ebenso entschlossen und standhaft sein können, wie mancher Jüngere? Ich denke doch. Wir müssen abwarten.«

Sein Benehmen mehr als seine Worte, obgleich ihr auch letztere unvergeßlich blieben, machten auf Florence einen so tiefen Eindruck, daß sie gewünscht hätte, ihre Unruhe sogleich Kapitän Cuttle mitteilen zu können. Dieser aber ergriff die Gelegenheit, um den Stand der Dinge auseinanderzusetzen, über den man das Urteil des weisen Bunsby hören wollte, und bat diese gründliche Autorität, sein Gutachten abzugeben.

Bunsby, dessen Auge fortwährend auf irgendeiner Stelle etwa halbwegs zwischen London und Gravesend zu haften schien, streckte zwei- oder dreimal seinen rauhen rechten Arm aus, als wolle er diesen aus Begeisterung um die schöne Gestalt von Miß Nipper schlingen. Diese junge Dame hatte sich jedoch sehr unzufrieden nach der andern Seite des Tisches zurückgezogen, so daß das weiche Herz des Kommandanten der vorsichtigen Klara sich in unerwiderten Regungen erschöpfen mußte. Nach mehreren derartigen Fehlgriffen ließ sich der große Mann, ohne übrigens seine Worte an irgend jemanden zu richten, folgendermaßen vernehmen; oder vielmehr die Stimme in seinem Innern sprach aus eigenem Antrieb und ganz unabhängig aus dem Manne, als sei er von einem grämlichen Geiste besessen.

»Mein Name ist Jack Bunsby!«

»Er wurde John getauft!« rief der entzückte Kapitän Cuttle. »Hört ihn.«

»Und was ich sage«, fuhr die Stimme nach einiger Erwägung fort, »dabei bleibe ich auch.«

Der Kapitän, der Florences Arm in dem seinen liegen hatte, nickte dem Auditorium zu und schien zu sagen: »Jetzt rückt er mit seinen Offenbarungen heraus. Das wollte ich, als ich ihn hierher brachte.«

»Weswegen«, fuhr die Stimme fort, »und warum nicht, und wenn so, wozu ein Widerspruch? Kann jemand etwas anders sagen? Nein. Also Punktum!«

Nachdem seine Folgerung so weit gediehen war, hielt die Stimme inne und ruhte. Dann fuhr sie sehr langsam, wie folgt, fort:

»Glaube ich, daß jener Sohn und Erbe untergegangen ist, meine Jungen? Kann sein. Sage ich so? Wer behauptet es? Wenn ein Schiffer durch den St.-Georg-Kanal nach den Dünen hinaussteuert, was liegt gerade vor seinem Schnabel? Die Goodwins. Er ist nicht gezwungen, auf die Goodwins zu laufen, aber er kann es. Der Sinn dieser Bemerkung liegt in der Anwendung. Diese gehört nicht zu meinen Obliegenheiten. Also zu, legt gut nach vorne aus, und gut Glück für Euch!«

Die Stimme verließ jetzt das Hinterstübchen und begab sich in die Straße hinaus, den Kommandanten der vorsichtigen Klara mit fortnehmend und ihn mit aller bequemen Eile wieder an Bord begleitend, wo dieser sich ohne weiteres hineinbugsierte und seinen hohen Geist mit einem Schlaf erfrischte.

Es blieb also den Hörern dieser weisen Vorschriften überlassen, selbst ihre Anwendung darauf zu machen – nach einem Grundsatz, der stets das Hauptbein von Bunsbys Dreifuß war, wie er zufälligerweise auch die erste Stütze einiger andern Orakelstühle ist. Sie sahen sich gegenseitig mit einiger Ungewißheit an, während Rob, der Schleifer, der sich die harmlose Freiheit genommen hatte, durch das Hochfenster des Daches zu gucken und zu lauschen, in einem Zustand der größten Verwirrung langsam wieder herunterkam. Dagegen war Kapitän Cuttles Bewunderung gegen Bunsby durch die glänzende Art, wie er seinen Ruf mit einem so feierlichen Schluß gerechtfertigt hatte, wo möglich noch erhöht worden. Er schickte sich jetzt an, auseinanderzusetzen, daß Bunsby damit nichts anderes habe sagen wollen, als daß man am Vertrauen festhalten müsse. Bunsby habe kein Bedenken, und das Gutachten eines solchen Geistes sei der wahre Hoffnungsanker mit dem herrlichsten Verankerungsgrund. Florence versuchte zu glauben, daß der Kapitän recht habe, aber Miß Nippel, die mit dicht verschlungenen Armen dastand, schüttelte in entschlossenem Widerspruch den Kopf und setzte auf Bunsby nicht mehr Vertrauen, als sogar auf Mr. Perch.

Der Philosoph schien Onkel Sol so ziemlich in dem nämlichen Zustand verlassen zu haben, in dem er ihn gefunden; denn der alte Mann streifte, den Zirkel in der Hand, noch immer auf der wässerigen Welt umher und konnte keinen Ruheplatz entdecken für die Spitzen seines Instrumentes. Während er noch immer bei diesem Geschäfte sternchenland.com sternchenland.com begriffen war, flüsterte Florence Kapitän Cuttle etwas ins Ohr, worauf dieser seine schwere Hand auf die Schultern seines Freundes legte.

»Wie ist’s Euch, Sol Gills?« rief der Kapitän in herzlichem Ton.

»Nur so so, Ned«, versetzte der Instrumentenmacher. »Ich habe den ganzen Nachmittag an den Abend denken müssen, an dem mein Junge zum ersten Male aus Dombeys Hause zurückkam. Er saß dort, wo Ihr jetzt steht, beim Essen; wir sprachen von Sturm und Schiffbruch, und es wurde mir kaum möglich, ihn von diesem Gegenstand abzubringen.«

Jetzt begegnete sein Blick dem von Florence, der angelegentlich forschend auf seinem Gesicht ruhte. Der alte Mann hielt inne und lächelte.

»Haltet dichter, alter Freund!« rief der Kapitän. »Macht nur ein munteres Gesicht! Ich will Euch was sagen, Sol Gills; sobald ich die Herzensfreude da glücklich nach Haus gebracht habe« – er küßte dabei seinen Haken gegen Florence – »so komme ich zurück und nehme Euch für den Rest dieses lieben Tages ins Schlepptau. Ihr kommt dann mit mir, und wir nehmen irgendwo unsere Mahlzeit ein, Sol.«

»Heute nicht, Ned!« sagte der alte Mann rasch und augenscheinlich sehr bestürzt über diesen Vorschlag. »Heute nicht. Ich kann nicht!«

»Warum nicht?« entgegnete der Kapitän, ihn erstaunt ansehend.

»Ich – ich habe so viel zu tun. Ich – ich wollte sagen, so viel zu denken und zu ordnen. Ich kann in der Tat nicht, Ned. Ich muß wieder ausgehen und dann allein sein. Es gehen mir heute so viele Dinge durch den Kopf.«

Der Kapitän sah zuerst den Instrumentenmacher, dann Florence und dann wieder den Instrumentenmacher an.

»Also morgen«, sagte er endlich.

»Ja, ja, morgen«, versetzte der alte Mann. »Vergeßt mich morgen nicht. Also morgen.«

»Wohl gemerkt, Sol Gills, ich komme früh«, machte der Kapitän zur Bedingung.

»Ja, ja, morgen so früh Ihr wollt«, entgegnete der alte Sol. »Und nun lebt wohl, Ned Cuttle. Gott behüte Euch.«

Während er das sagte, drückte er die Hand des Kapitäns mit ungewöhnlicher Wärme. Dann wandte er sich an Florence, nahm ihre beiden Hände in die seinen und führte sie an seine Lippen, worauf er in sehr befremdlicher Hast mit ihr nach der Kutsche eilte. Sein auffallendes Benehmen machte einen solchen Eindruck auf den Kapitän, daß er zurückblieb und Rob nachdrücklich einschärfte, er solle bis zum Morgen ja recht achtsam auf seinen Gebieter sein. Diese Ermahnung bekräftigte er mit der Vorausbezahlung eines Schillings und dem Versprechen weiterer sechs Pence, die noch vor dem andern Mittag bezahlt werden sollten. Nach Erfüllung dieses freundlichen Dienstes bestieg er, da er sich als die natürliche und gesetzliche Leibwache Florences betrachtete, nicht wenig stolz auf sternchenland.com seine Schutzbefohlene, den Bock und geleitete sie nach Hause. Zum Abschied gab er Florence die Versicherung, er werde sich treulich Sol Gills‘ annehmen; und da ihm Susanna Nippers mutige Worte in betreff der Mrs. Mac Stinger noch immer durch den Kopf gingen, so fragte er schließlich noch einmal die heldenkühne Jungfrau: »Meint Ihr noch immer, dies ginge so leicht, meine Liebe?«

Als sich das verödete Haus hinter den beiden Mädchen geschlossen hatte, kehrten die Gedanken des Kapitäns wieder zu dem alten Instrumentenmacher zurück. Es war ihm nicht recht wohl zumut bei der Sache. Statt daher nach Hause zu gehen, spazierte er etliche Male auf der Straße auf und ab, dehnte seine Muße bis zum Abend aus und speiste spät in einem gewissen Winkelkneipchen der City, dessen keilförmige Wirtsstube von Glanzhüten reichlich benutzt wurde. Seine Hauptabsicht war, nach Einbruch der Dunkelheit noch einmal an der Wohnung seines alten Freundes vorbeizugehen und durchs Fenster hineinzuschauen. Das geschah. Da Hinterstübchen stand offen, und er konnte Sol Gills sehen, wie er an dem Tisch drinnen eifrig schrieb, während der kleine Midshipman, der bereits zum Schutz gegen den Nachttau unter Dach gebracht worden war, von dem Ladentisch aus nach ihm hinschaute. Unter dem letzteren machte sich Rob, der Schleifer, sein Bett zurecht und schickte sich an, den Laden zu schließen.

Durch die Ruhe, die im Bann des hölzernen Midshipmans herrschte, zufriedengestellt, richtete der Kapitän seinen Schnabel nach Brig-Place, fest entschlossen, am andern Morgen in aller Frühe wieder den Anker zu lichten.

Vierundzwanzigstes Kapitel.


Vierundzwanzigstes Kapitel.

Das Studium eines liebenden Herzens.

Sir Barnet und Lady Skettles, sehr achtbare Personen, bewohnten bei Fulham ein hübsches, an den Ufern der Themse gelegenes Landhaus – eine der angenehmsten Wohnungen von der Welt, wenn etwa wettrudernde Fahrzeuge daran vorbeikamen, obschon sie zu andern Zeiten manche kleine Unbequemlichkeiten bot. Darunter müssen wir namentlich den gelegentlichen Besuch des Flußes im Geschäftszimmer und das zeitweilige Verschwinden des Hofs mit seinem Gesträuch berühren.

Sir Barnet Skettles legte seine persönliche Bedeutsamkeit hauptsächlich durch eine altertümliche goldene Schnupftabaksdose und ein schweres seidenes Taschentuch an den Tag, das er in eindrucksvoller Weise wie ein Banner herauszuziehen und mit beiden Händen zugleich in Anwendung zu bringen pflegte. Die erste Aufgabe seines Lebens bestand unablässig darin, die Kette seiner Bekanntschaften auszudehnen. Wie bei einem ins Wasser geworfenen schweren Körper – wir wollen übrigens durch eine solche Vergleichung sternchenland.com den würdigen Gentleman nicht herabsetzen – lag es in der Natur der Dinge, daß Sir Barnet stets einen weiter und weiter greifenden Kreis um sich verbreitete, bis kein Raum mehr übrigblieb. Oder gleich dem Schall, der nach der Theorie eines scharfsinnigen neueren Naturforschers für immer fortschwingen kann in dem unermeßlichen Raum, vermochte nichts in der Entdeckungsreise durch das gesellschaftliche Leben dem wackern Sir Barnet Skettles Einhalt zu tun, als das Ende seines moralischen Spannseils.

Sir Barnet tat sich ungemein viel darauf zu gut, wenn er Leute mit Leuten bekannt machen konnte. Er liebte diese Aufgabe um ihrer selbst willen und auch deshalb, weil sie seinen Lebenszweck begünstigte. Wenn er zum Beispiel so glücklich war, sich eines ungeleckten Neulings oder eines Dorfgentlemans zu bemächtigen und ihn nach seiner gastfreundlichen Villa zu verlocken, so pflegte er ihn schon am andern Morgen anzureden: »Mein teurer Sir, ist jemand da, den Ihr kennenzulernen wünscht – mit dem Ihr zusammentreffen möchtet? Nehmt Ihr Interesse an Schriftstellern, Malern, Bildhauern, Schauspielern oder derartigen Leuten?« Vielleicht antwortete der Unglückliche mit Ja und nannte irgend jemanden, den Sir Barnet ebensowenig persönlich kannte wie Ptolemäus den Großen. Sir Barnet antwortete aber, es sei nichts leichter, als mit diesem Mann in Berührung zu kommen, da er ihn persönlich sehr gut kenne. Dann ging es zugleich zu dem besagten Jemand. Sir Barnet ließ seine Karte dort, schrieb ein kurzes Billett – »Mein teurer Sir, – Strafe Eurer ausgezeichneten Stellung – ein Freund in meinem Hause hegt natürlich den Wunsch – Lady Skettles und ich teilen ihn – hoffen, das Genie sei erhaben über Förmlichkeiten; Ihr werdet uns die ausgezeichnete Gunst zuteil werden lassen, uns das Vergnügen zu schenken – usw., usw.« – und so waren zwei Vögel mit einem Stein tot geworfen – mausetot.

Mit der Schnupftabaksdose und dem wehenden Banner stellte Sir Barnet Skettles am ersten Morgen nach ihrer Ankunft die gewöhnliche Frage an Florence. Als Florence ihm dankend erwiderte, sie kenne niemanden besonders, den sie zu sehen wünsche, flogen natürlich ihre Gedanken dem armen verlorenen Walter zu. Vielleicht war es ebenso natürlich, daß sie ihr Köpfchen ein wenig sinken ließ und mit weicher, bebender Stimme ihre Verneinung vorbrachte, als Sir Barnet Skettles, sein freundliches Anerbieten weiter verfolgend, mit der Frage kam: »Meine teure Miß Dombey, könnt Ihr Euch denn wirklich an niemanden erinnern, von dem Euer trefflicher Papa – ich bitte, ihm, wenn Ihr ihm schreibt, meine und meiner Gattin besten Grüße zu bestellen – wünschen könnte, daß Ihr ihn kennenlernt?«

Skettles junior mit sehr steifer Krawatte und mit sehr ernüchtertem Geist brachte zu Haus seine Ferien zu und schien sehr ärgerlich zu sein über das Drängen seiner trefflichen Mutter, die ihm stets anlag, er solle doch Florence alle Aufmerksamkeit erweisen. Eine zweite und noch schwerere Qual, unter der die Seele des jungen Barnet sternchenland.com keuchte, war die Gesellschaft des Doktor und der Mrs. Blimber, die zu einem Besuch unter das elterliche Dach eingeladen worden, und von denen der junge Gentleman oft sagte, es wäre ihm lieber, wenn sie ihre Ferien in Jericho zubrächten.

»Könnt Ihr Euch auf niemanden entsinnen, Doktor Blimber?« sagte Sir Barnet Skettles, sich an diesen Gentleman wendend.

»Ihr seid sehr gütig, Sir Barnet«, versetzte Doktor Blimber. »In der Tat, es fällt mir niemand besonders bei, und ich lerne meine Nebenmenschen lieber nur im allgemeinen kennen, Sir Barnet. Wie sagt Terenz? ›Jeder, der Vater eines Sohnes ist, hat Interesse für mich‹.«

»Hat nicht etwa Mrs. Blimber den Wunsch, irgendeine merkwürdige Person kennenzulernen?« fragte Sir Barnet höflich.

Mrs. Blimber erwiderte mit süßem Lächeln und mit Schütteln ihrer himmelblauen Haube, wenn Sir Barnet sie mit Cicero bekannt machen könnte, so möchte sie ihn wohl bemühen; da aber eine solche Vorstellung nicht möglich sei und sie sich bereits Sir Barnets und seiner liebenswürdigen Lady Freundschaft erfreue, außerdem diese beiden verehrlichen Personen sie und den Doktor mit ihrem vereinten Vertrauen hinsichtlich ihres lieben Sohnes erfreut hätten – man bemerkte, daß der junge Barnet hierbei seine Nase aufwarf – so bleibe ihr nichts weiter zu wünschen übrig.

Unter solchen Umständen mußte sich Sir Barnet vorderhand mit der versammelten Gesellschaft zufrieden geben. Florence war froh darüber; denn sie hatte unter ihrer Umgebung ein Studium zu verfolgen, das ihr sehr am Herzen lag und für sie zu kostbar und wichtig war, als daß sie es irgendeinem andern Interesse hätte nachsetzen können.

Es hielten sich einige Kinder im Hause auf – Kinder, die sich gegen ihre Väter und Mütter so frei und glücklich benahmen, wie jene rosigen Gesichter, die ihrem Haus gegenüber wohnten – Kinder, die ihrer Liebe keinen Zwang anzutun nötig hatten und diese unverhohlen zeigten. Florence gab sich alle Mühe, ihnen ihr Geheimnis abzulernen, und suchte herauszubekommen, worin sie gefehlt hatte. Es war ihr sehr darum zu tun, die einfache Kunst sich anzueignen, die ihr unbekannt war – wie sie es nämlich angreifen sollte, ihrem Vater zu zeigen, daß sie ihn liebte, um dessen Gegenliebe zu gewinnen.

Manchen Tag beobachtete Florence gedankenvoll diese Kinder, und oft verließ sie an einem schönen Morgen, wenn die Sonne sich in ihrer Pracht herrlich erhob, ihr Lager, um, noch ehe jemand im Hause wach war, am Flußufer hin und her zu wandeln, nach den Fenstern ihrer Schlafgemächer hinaufzublicken und sich die Kleinen, die so liebevoll gepflegt wurden, in ihrem Schlummer zu vergegenwärtigen. In solchen Augenblicken fühlte sich Florence einsamer, als wenn sie in dem großen Haus allein war, und sie sehnte sich bisweilen nach diesem zurück, weil es ihr einen größeren Frieden brachte, wenn sie sich verbergen konnte, als wenn sie mit ihren Altersgenossen umgehen sollte und dabei finden mußte, wie wenig Ähnlichkeit sternchenland.com sie mit ihr selbst hatten. Aber wie auch jedes kleine Blatt, das sie in dem schweren Lesebuch umschlug, ihr in die Seele schnitt, so fuhr sie doch eifrig fort in ihrem Studium und blieb in ihrem Kreise mit der geduldigen Hoffnung, am Ende dennoch die Kenntnis zu erringen, an der ihr so viel gelegen war.

Aber wie an den Kern zu gelangen – wie vorderhand nur erst die harte Schale zu zerbrechen? Es waren Töchter da, die morgens aufstanden und nachts sich zur Ruhe legten – aber sie besaßen bereits die Herzen ihrer Väter. Sie hatten keine Zurückweisung zu überwinden, keine Kälte zu fürchten, keine finstere Stirne zu glätten. Wenn der Morgen fortschritt, die Fenster nacheinander sich öffneten, der Tau auf Gras und Blumen zu trocknen begann und die jungen Füße den Rasen belebten, sah sich Florence im Kreise der frohen Gesichter um und machte sich Gedanken, was sie wohl von diesen Kindern lernen könne. Aber es war zu spät, ihnen etwas abzusehen, denn jedes durfte sich furchtlos seinem Vater nähern, seine Lippen zu dem bereits fertigen Kuß erheben und den Arm um den Nacken schlingen, der sich liebkosend niederbeugte. Mit einer solchen Kühnheit konnte sie nicht anfangen. O, war es möglich, daß die Hoffnung mehr und mehr sich verlor, je eifriger sie sich ihrem Studium hingab?

Sie erinnerte sich noch, daß sogar die Alte, von der sie in ihrer frühen Jugend beraubt worden war – ihr Bild, ihre Wohnung, ihre Worte und ihre Handlungen waren mit der nachhaltigen Schärfe eines fürchterlichen Eindrucks aus einer frühen Lebensperiode ihrem Gedächtnis eingeprägt – liebevoll von ihrer Tochter gesprochen und in dem Schmerz einer hoffnungslosen Trennung von ihrem Kinde sogar bitter geweint hatte. Freilich – wenn sie weiter nachdachte, so mußte sie sich sagen, daß ihre eigene Mutter sie sehr geliebt hatte, und wenn dann ihre Betrachtungen von Zeit zu Zeit schnell durch den weiten Abstand hinglitten, der sich zwischen ihr und ihrem Vater befand, so wandelte sie ein Zittern an. Tränen traten ihr in die Augen, weil sie sich der Vorstellung nicht erwehren konnte, wenn ihre Mutter noch am Leben wäre, würde sie vielleicht auch ihre Liebe entbehren müssen, weil es ihr an jener unbekannten Anmut fehle, die naturgemäß einen Vater fesseln müsse – einer Anmut, die ihr von der Wiege an gefehlt hatte. Sie wußte zwar, daß sie mit dieser Vorstellung dem Andenken ihrer Mutter unrecht tat, da es solchen Gedanken an aller Wahrheit oder überhaupt an einer möglichen Grundlage gebrach; aber sie konnte doch in ihren Bemühungen, ihn zu rechtfertigen und die ganze Schuld nur bei sich zu suchen, nicht verhindern, daß derartige Bilder gleich einer schwarzen Wolke an dem fernen Horizont ihrer Seele hinschwebten.

Unter den übrigen Gästen traf bald nach Florence auch ein schönes Mädchen ein, das drei oder vier Jahre jünger als sie und eine Waise war. Mit ihr kam eine Tante, eine Dame mit grauem Haar, die sich oft mit Florence unterhielt, gleich allen übrigen sie am Abend gerne singen hörte und bei solchen Gelegenheiten stets sternchenland.com mit mütterlicher Teilnahme in ihrer Nähe ihren Platz suchte. Sie waren erst zwei Tage im Hause, als Florence, die an einem warmen Morgen von einer Gartenlaube aus gedankenvoll einer jugendlichen Gruppe auf der Straße zusah und zugleich für den Kopf eines kleinen Wesens darunter, das der Liebling aller übrigen war, einen Blumenkranz wand – die erwähnte Dame und ihre Nichte, die in einem nahen geschirmten Gartenwege auf und nieder gingen, von sich sprechen hörte.

»Ist Florence auch eine Waise wie ich, Tante?« fragte das Kind.

»Nein, meine Liebe. Sie hat zwar keine Mutter mehr, aber ihr Vater lebt noch.«

»Trägt sie ihr Trauerkleid um ihre verstorbene Mama?« fragte das Kind rasch.

»Nein; für ihren einzigen Bruder.«

»Hat sie keinen andern Bruder?«

»Nein.«

»Keine Schwester?«

»Nein.«

»O, wie bedaure ich sie!« sagte das kleine Mädchen.

Als sie eine Weile nachher stehenblieben, um schweigend einigen Booten nachzusehen, nahm Florence wieder Platz – sie war nämlich, als sie ihren Namen hörte, aufgestanden und hatte ihre Blumen gesammelt, um ihnen entgegenzugehen und dadurch anzuzeigen, daß sie sich in Hörweite befinde. In der Erwartung, daß sie nichts mehr hören werde, hatte sie sich wieder an ihr Geschäft gemacht; aber die Unterhaltung begann im nächsten Augenblicke aufs neue.

»Florence wird hier von jedem Menschen geliebt, und gewiß, sie verdient es auch«, sagte das Kind eifrig. »Wo ist ihr Papa?«

Nach einer kurzen Pause versetzte die Tante, daß sie es nicht wisse. Der Ton ihrer Stimme erregte die Aufmerksamkeit Florences, die eben wieder von ihrem Sitz aufgesprungen war, und fesselte sie an die Stelle. Sie drückte hastig ihren Kranz an die Brust und hielt ihn mit beiden Händen fest, damit die Blumen nicht auf den Boden niederfielen.

»Er ist doch in England, hoffe ich, Tante?« fragte das Kind.

»Ich glaube es. – Ja – ich weiß es gewiß.«

»Ist er nie hier gewesen?«

»Soviel ich weiß, nein.«

»Kommt er nie her, um sie zu besuchen?«

»Ich glaube nicht.«

»Ist er lahm, oder blind, oder krank, Tante?« fragte das Kind.

Die Blumen, die Florence an ihre Brust gedrückt hielt, begannen auf den Boden zu fallen, als sie diese verwundert ausgesprochenen Worte hörte. Sie lauschte aufmerksamer, und ihr Antlitz senkte sich.

»Kätchen«, sagte die Dame nach einer weiteren kurzen Pause, »ich will dir über Florence die ganze Wahrheit sagen, wie ich sie sternchenland.com gehört habe, und wie ich glaube, daß es sich verhält. Du mußt aber niemandem etwas davon sagen, meine Liebe, weil es vielleicht hier nur wenig bekannt ist und du ihr dadurch wehtun könntest.«

»Ich will schweigen!« rief das Kind.

»Ich weiß, du wirst dies«, entgegnete die Dame. »Ich kann dir so gut trauen, wie mir selbst. So höre denn, Kätchen – ich fürchte, Florences Vater kümmert sich nur wenig um sie; er sieht sie selten, war in ihrem ganzen Leben nie freundlich gegen sie und meidet sie namentlich jetzt. Sie würde ihn zärtlich lieben, wenn er es ihr gestatten wollte; aber er tut das nicht – obschon sie dabei keine Schuld trifft; auch ist sie bei allen gefühlvollen Herzen sehr beliebt, und man hat großes Mitleid mit ihr.«

Mehr von den Blumen in Florences Händen fielen flatternd zu Boden, und die zurückbleibenden waren feucht, aber nicht von Tau. Das Antlitz des Mädchens senkte sich auf die vollen Hände nieder.

»Arme Florence! Liebe, gute Florence!« rief das Kind.

»Weißt du, warum ich dir das gesagt habe, Kätchen?« fragte die Dame.

»Damit ich recht freundlich gegen sie sei und mir alle Mühe gebe, ihr gefällig zu werden; ist dies der Grund, Tante?«

»Zum Teil«, versetzte die Dame, »aber nicht ganz. Obschon wir sie so heiter sehen und sie ein freundliches Lächeln für jeden hat, indem sie gerne uns allen verbindlich sein und ihren Anteil zur allgemeinen Unterhaltung beitragen möchte, so kann sie doch kaum recht glücklich sein. Meinst du, das sei möglich, Kätchen?«

»Ich fürchte, nein«, entgegnete die Kleine.

»Und du kannst wohl begreifen«, fuhr die Dame fort, »warum der Anblick von Kindern, deren Eltern liebevoll sind – wir haben eben jetzt viele hier – ihr im geheimen schmerzlich werden muß?«

»Ja, meine liebe Tante«, erwiderte das Kind. »Ich begreife das sehr wohl. Die arme Florence!«

Noch mehr Blumen fielen auf den Boden, und die, welche sie an ihre Brust gedrückt hielt, zitterten, als ob ein winterlicher Wind durch sie wehe.

»Mein Kätchen«, sagte die Dame mit ernster, aber ruhiger und linder Stimme, die vom ersten Augenblick an einen tiefen Eindruck auf Florence gemacht hatte, »von allen den jugendlichen Geschöpfen hier bist du ihre natürliche und harmlose Freundin. Es fehlen dir die unschuldigen Mittel, in deren Besitz glücklichere Kinder sind –«

»Es gibt hier keine glücklicheren, Tante!« rief die Kleine, die sich an ihre Verwandte anzuklammern schien.

»– in deren Besitz andere Kinder sind, liebes Kätchen, um sie an ihr Unglück zu erinnern. Deshalb wäre es mir lieb, wenn du versuchen wolltest, ihr eine kleine Freundin zu sein. Der Verlust, der dich betroffen hat – dem Himmel sei Dank, daß du ihn erlittest, ehe du sein Gewicht zu würdigen vermochtest – gibt dir einen Anspruch und einen sicheren Halt bei der armen Florence.«

»Aber es fehlt mir nicht an elterlicher Liebe, Tante – es hat mir nie daran gefehlt, so lange ich Euch hatte«, versetzte das Kind.

»Wie dem auch sein mag, meine Liebe«, entgegnete die Dame, »dein Unglück ist kleiner als das der Florence; denn in der ganzen weiten Welt kann keine Waise so verlassen sein, wie das Kind, das eines seiner Eltern durch den Tod verloren hat und sich nicht in der Liebe des andern für den Verlust trösten kann.«

Die Blumen flogen wie Staub über den Boden hin; die leeren Hände breiteten sich vor dem Gesicht aus, und die verwaiste Florence, die sich niederkauerte, weinte lang und bitterlich.

Aber voll treuen Herzens hielt Florence entschlossen an ihrem guten Vorsatz fest, wie ihre sterbende Mutter sie selbst festgehalten hatte an dem Tag, der Paul das Leben gab. Er wußte nicht, wie sehr sie ihn liebte, und wie lang es auch dauern mochte, sie wollte fort und fort versuchen, eines Tages wenigstens diese Kunde dem Herzen ihres Vaters beizubringen. Mittlerweile wollte sie sich hüten, ja nicht durch ein gedankenloses Wort, einen unbedachten Blick oder einen zufällig hervorgerufenen Gefühlsausbruch eine Klage gegen ihn erkennbar werden zu lassen oder Veranlassung zu ihm nachteiligen Gerüchten zu geben.

Sogar im Verkehr mit dem verwaisten Kind, dem sie so sehr zugetan war und dessen Worte ihr nie aus ihrem Gedächtnis wichen, blieb Florence ihres Vorsatzes eingedenk. Wenn sie die Kleine allzu deutlich vor den übrigen auszeichnete, so meinte sie, daß sie dadurch jedenfalls in einem Sinne, vielleicht sogar in mehreren den Glauben bekräftigte, ihr Vater sei grausam und unnatürlich, und das Vergnügen, das sie in ihrem Umgange fand, war nicht imstande, diesen Schmerz aufzuwiegen. Was sie gehört hatte, war ein Grund, nicht sich selbst zu beruhigen, sondern ihn nur um so mehr zu schonen, und Florence tat dies im Einklang mit dem Verlangen ihres Herzens.

So hielt sie es immer. Wenn aus einem Buche laut vorgelesen wurde und in der Geschichte etwas vorkam, was auf einen unfreundlichen Vater hindeutete, so fühlte sie sich schmerzlich berührt, nicht um ihretwillen, sondern weil man eine Anwendung auf ihn machen konnte. Ebenso erging es ihr bei allen kleinen Vorkommnissen – wenn z.B. ein Bild gezeigt oder unter ihnen ein Spiel gemacht wurde. Der Anlässe, ihm eine solche Zärtlichkeit zu erweisen, gab es so viele, daß es ihr oft sehr schwer zumute wurde, und sie verlor sich nicht selten in den Gedanken, es dürfte in der Tat besser sein, wenn sie wieder nach dem alten Haus zurückkehrte und ungestört in dem Schatten seiner düstern Wände lebte. Wie wenige, welche die holde Florence in dem Lenz ihres jungen Lebens sahen, hatten wohl einen Sinn für den Gedanken, daß die bescheidene kleine Königin jener unschuldigen Spiele eine schwere Last heiligen Kummers in ihrer Seele trug! Wie wenige von denen, die in der erkältenden Atmosphäre ihres Vaters erstarrten, hatten eine Ahnung, welch einen Haufen feuriger Kohlen sie auf dessen Haupt sammelte!

Florence verfolgte geduldig ihre Aufgabe, und da es ihr nicht sternchenland.com gelang, unter der jugendlichen Gesellschaft, die im Hause versammelt war, das Geheimnis jener unnennbaren Anmut zu entdecken, die ihr so sehr am Herzen lag, so ging sie in frühen Morgenstunden allein aus, um sich unter den Kindern der Armen umzusehen. Aber auch sie waren schon zu weit vorgerückt, als daß sie von ihnen hätte lernen können. Längst waren ihnen ihre Plätze im Hauswesen angewiesen, und sie standen nicht gleich ihr außen vor der Tür, die durch einen Querbalken abgesperrt war.

Bei diesen Gelegenheiten bemerkte sie mehrere Male einen Mann, der sehr früh an der Arbeit war, und ein Mädchen von ihrem eigenen Alter pflegte sich dann in dessen Nähe aufzuhalten. Er war ein sehr armer Mann, der keine regelmäßige Beschäftigung zu haben schien, sondern bald zur Ebbezeit an den Flußufern hinging, ob er in dem Schlamm nicht ein und das andere auffinde, bald in dem schlechten Gärtchen vor seiner Hütte sich beschäftigte, wohl auch an einem schlechten alten Boot, das ihm gehörte, zimmerte oder sonst irgendeine Arbeit, die ihm der Zufall darbot, für einen Nachbar besorgte. Wie auch der Mann seine Zeit verbringen mochte, das Mädchen war nie beschäftigt, sondern saß in der Regel untätig und verdrossen in seiner Nähe.

Florence hatte oft gewünscht, ihn anzureden, aber nie den Mut dazu finden können, da er ihr in keiner Weise entgegenkam. Eines Morgens jedoch führte sie der Weg, der unter Bandweiden nach dem Kieselgestade zwischen seiner Wohnung und dem Wasser hinlief, plötzlich auf ihn zu. Er hatte ein Feuer angemacht, um das Pech zu erhitzen, mit dem er das mit aufwärts gekehrtem Kiel daliegende alte Boot ausdichten wollte. Als er den Ton ihres Fußtrittes hörte, richtete er den Kopf empor und wünschte ihr guten Morgen.

»Guten Morgen«, versetzte Florence, näher herankommend. »Ihr seid früh an der Arbeit.«

»Ich wollte oft gerne noch früher anfangen, Miß, wenn ich nur Arbeit hätte.«

»Ist es denn so schwer, Beschäftigung zu erhalten?« fragte Florence.

»Mir wenigstens wird es schwer genug«, antwortete der Mann.

Florence blickte nach der Stelle hin, wo das Mädchen zusammengekauert saß; es hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt, während die Hände dem Knie als Unterlage dienen mußten.

»Ist das Eure Tochter?« fragte Florence.

Er richtete hastig den Kopf auf, schaute mit leuchtendem Blicke nach dem Mädchen und sagte »ja«. Florence sah gleichfalls nach ihr hin und grüßte sie freundlich, das Mädchen aber stieß bloß eine verdrießliche, finstere Antwort aus.

»Fehlt es ihr auch an Beschäftigung?« fragte Florence.

Der Mann schüttelte den Kopf.

»Nein, Miß«, sagte er. »Mein Geschäft muß für uns beide ausreichen.«

»Ihr seid also nur Eurer zwei?« fragte Florence.

»Nur unserer zwei«, entgegnete der Mann. »Ihre Mutter ist schon seit zehn Jahren tot. Martha!« er richtete abermals den Kopf auf und pfiff ihr zu, »hast du nicht ein Wörtchen für die nette junge Dame?«

Das Mädchen machte mit ihren vorwärts gezogenen Schultern eine ungeduldige Gebärde und wandte den Kopf in eine andere Richtung. Ein häßliches, mißgestaltetes, launiges, verdrossenes, zerlumptes, schmutziges Geschöpf – aber es wurde geliebt! Ja – Florence hatte den Blick ihres Vaters gesehen und daraus erkannt, daß dieser Blick durchaus keine Ähnlichkeit habe mit dem Blicke eines gewissen andern.

»Ich fürchte, es ist diesen Morgen schlimmer mit meinem armen Mädchen«, sagte der Mann, in seiner Arbeit innehaltend und das verwahrloste Kind mit einer Teilnahme betrachtend, die in ihrer Rauheit nur um so inniger erschien.

»Sie ist also krank?« fragte Florence.

Der Mann seufzte tief auf.

»Ich glaube nicht, daß Martha in ebenso vielen langen Jahren nur fünf Tage guter Gesundheit hatte«, antwortete er, noch immer nach ihr hinsehend.

»Ja, und mehr als das, John«, sagte ein Nachbar, der heruntergekommen war, um ihm an dem Boote zu helfen.

»Mehr als das, sagt Ihr?« rief der andere, seinen zerbeulten Hut zurückschiebend und mit der Hand über die Stirne fahrend. »Jawohl. Es ist eine lange, lange Zeit.«

»Und je länger es dauerte«, fuhr der Nachbar fort, »desto mehr habt Ihr sie verzogen und ihr den Willen gelassen, John, bis sie zuletzt sich selbst und jedermann sonst zur Last wurde.«

»Mir nicht«, sagte der Vater, wieder an seine Arbeit gehend. »Mir nicht.«

Florence konnte fühlen – wer besser als sie? – welche tiefe Wahrheit in seinen Worten lag. Sie trat ein wenig näher auf den Mann zu. Wie gerne hätte sie dessen rauhe Hand berührt und ihm gedankt für die Güte gegen das unglückliche Geschöpf, das ihm in einem so ganz andern Lichte erschien als allen übrigen Menschen.

»Wer würde auch meinem armen Mädchen den Willen lassen – wer ihr etwas zu Gefallen tun, wenn ich’s nicht täte?« fragte der Vater.

»Freilich, ja, aber alles mit Maß, John«, versetzte der Nachbar. »Ihr beraubt Euch selbst, um ihr geben zu können, und bindet Euch um ihretwillen Hände und Füße. Ihretwegen macht Ihr Euch das Leben elend – und was kümmert sie sich darum? Ich glaube nicht einmal, daß sie es weiß.«

Der Vater erhob abermals den Kopf und pfiff ihr zu. Martha machte mit ihren eingezogenen Schultern dieselbe ungeduldige Gebärde, und er war froh und glücklich.

»Nur deshalb, Miß«, sagte der Nachbar mit einem Lächeln, in dem mehr geheime Sympathie lag, als er in Worten sternchenland.com ausdrückte – »nur um so viel von ihr zu sehen, läßt er sie nie aus seinen Augen.«

»Weil der Tag kommen wird, dem ich schon lang entgegensehen muß«, bemerkte der andere, sich tief über seine Arbeit niederbeugend, »wo nur halb soviel von meinem unglücklichen Kinde – das bloße Zittern eines Fingers oder das Wallen des Haares mir wie ein Auferstehen vom Tod erscheinen wird.«

Florence legte leise einiges Geld auf das alte Boot und entfernte sich.

Und jetzt begann sie sich Gedanken zu machen, ob er wohl dann erfahren würde, daß sie ihn geliebt hatte, wenn sie krank würde und hinschwände gleich ihrem lieben Bruder. Konnte sie dann seinem Herzen teurer werden – kam er vielleicht an ihr Bett, wenn sie schwach war und fast nicht mehr sehen konnte, um sie in seine Arme zu schlingen und die ganze Vergangenheit zunichte zu machen? Wenn sie sich in einer so veränderten Lage befand, vergab er ihr wohl, daß sie nicht imstande gewesen war, ihr kindliches Herz offen vor ihn hinzulegen – daß sie nicht vermocht hatte, ihm die Erregungen mitzuteilen, mit denen sie in jener Nacht sein Zimmer verlassen? O wie viel hätte sie ihm sagen mögen, wenn sie den Mut gehabt hätte, und wie viele Mühe gab sie sich nicht nachher, den Weg kennenzulernen, den sie in ihrer Jugend niemand lehrte!

Ja, wenn es mit ihr zum Sterben käme, dachte sie, so würde sich sicherlich sein Herz erweichen. Sie malte sich aus, wenn sie heiter und sterbensfähig daläge auf dem Bett, das so viele Erinnerungen an den lieben Paul umwebten, so würde er sich ergriffen fühlen und sagen: »Teure Florence, lebe für mich, und wir wollen einander lieben, wie wir es längst hätten tun sollen; ja wie glücklich hätte uns dies nicht seit so vielen Jahren machen können!« Sie dachte, wenn sie solche Worte von ihm hörte und ihre Arme um ihn geschlungen wären, so könnte sie ihm mit einem Lächeln antworten: »Es ist für alles zu spät, nur nicht für dieses. Ich hätte nie glücklicher sein können, mein teurer Vater!« Dies der Abschied von ihm mit einem Segenswunsche auf ihren Lippen.

Das goldene Wasser an der Wand, dessen sich Florence erinnerte, erschien ihr in dem Licht solcher Betrachtungen nur als ein Strom, der zu einem Ruhepunkt und in eine Gegend hineilte, wo die lieben Heimgegangenen Hand in Hand ihrer warteten. Und wenn sie auf den dunklen Fluß niederschaute, der zu ihren Füßen Wellen schlug, entsann sie sich mit heiliger Scheu, aber nicht mit Schrecken jenes wilden Wassers, von dem ihr Bruder so oft gesagt hatte, daß es ihn mit fortreiße.

Der Vater und seine kranke Tochter waren noch frisch in Florences Gedächtnis, überhaupt jene Begegnung kaum eine Woche alt, als Sir Barnet und seine Gattin eines Nachmittags ihr den Vorschlag machten, sie solle sich ihnen zu einem Spaziergang ins Freie anschließen. Da Florence bereitwillig zustimmte, so brachte Lady Skettles als eine Sache, die sich von selbst verstand, den jungen sternchenland.com sternchenland.com Barnet mit herbei; denn nichts bereitete der guten Dame ein größeres Entzücken, als wenn sie ihren jungen Sohn Arm in Arm mit Florence sehen konnte.

Die Wahrheit zu sagen, schien der junge Barnet die Sache in einem ganz andern Licht zu sehen, denn er ließ bei solchen Gelegenheiten oft den bestimmten Ausdruck fallen: »Immer mit dem Mädchen«. Da es jedoch nicht leicht war, Florences sanftes Gemüt zu erregen, so fügte sich der junge Gentleman in der Regel schon nach einigen Minuten gern in sein Schicksal. Sie schlenderten freundschaftlich weiter, während Lady Skettles und Sir Barnet in einem Zustand großer Selbstgefälligkeit und innerer Freude nachfolgten.

In derselben Reihenfolge machten sie auch an jenem Nachmittag ihren Spaziergang, und es war Florence fast gelungen, Skettles junior mit seinem augenblicklichen Schicksal zu versöhnen, als ein Gentleman an ihnen vorüberritt. Dieser sah sie aufmerksam an, packte sein Tier fester beim Zügel, ließ es eine Wendung machen und kam, den Hut in der Hand, wieder zurückgeritten.

Der Gentleman hatte hauptsächlich Florence ins Auge gefaßt, und als die kleine Gesellschaft bei seinem Umkehren haltmachte, verbeugte er sich gegen die junge Dame, noch ehe er Sir Barnet und dessen Gattin begrüßte, Florence konnte sich nicht erinnern, ihn je gesehen zu haben, sondern fuhr unwillkürlich zurück, als er in ihre Nähe kam.

»Mein Pferd ist vollkommen ruhig, darf ich Euch versichern«, sagte der Gentleman.

Es war nicht dieses, sondern etwas an dem Gentleman selbst – Florence konnte sich selbst nicht Auskunft darüber geben –, was sie zum Zurückweichen bewog, als ob ihr etwas Unangenehmes begegnet sei.

»Ich habe, wenn ich nicht irre, die Ehre, Miß Dombey anzureden?« sagte der Gentleman mit einem höchst gewinnenden Lächeln. Als Florence den Kopf neigte, fuhr er fort: »Mein Name ist Carker. Ich kann kaum hoffen, von Miß Dombey anders als dem Namen nach gekannt zu sein. Carker!«

Florence fühlte ungeachtet des heißen Tages eine eigentümliche Anwandlung von Schauder, stellte aber den Reiter ihren Gastfreunden vor, von denen er sehr höflich aufgenommen wurde.

»Ich bitte tausendmal um Verzeihung«, sagte Mr. Carker; »aber ich habe im Sinne, morgen Mr. Dombey in Leamington zu besuchen, und wenn Miß Dombey mir einen Auftrag mitzugeben hat, so brauche ich kaum zu sagen, wie überglücklich ich mich schätzen werde, ihn zu besorgen.«

Da Sir Barnet augenblicklich wußte, Florence wünsche ihrem Vater einen Brief zu schreiben, so machte er den Vorschlag, nach Hause zurückzukehren, und ersuchte zugleich Mr. Carker, ohne Umstände ein Diner bei ihm einzunehmen. Mr. Carker war unglücklicherweise schon zu einer Mahlzeit eingeladen; aber wenn Miß Dombey zu schreiben wünschte, so konnte ihm nichts ein größeres sternchenland.com Vergnügen bereiten, als sie nach dem Hause zu begleiten und, solange es ihr beliebte, als ihr dienstwilliger Sklave zu harren. Während er das mit seinem breitesten Lächeln sprach, beugte er sich ganz zu ihr nieder und tätschelte zugleich den Hals seines Pferdes. Florence begegnete seinen Augen und sah weit mehr, als sie es hörte, ihn die Worte sprechen: »Von dem Schiff sind keine Nachrichten eingelaufen.«

Verwirrt, erschreckt und vor ihm zurückweichend – ja nicht einmal gewiß, ob er wirklich diese Worte gesagt hatte, weil es ihr vorkam, er habe sie in irgendeiner außerordentlichen Weise durch sein Lächeln, nicht aber in Lauten kundgegeben, entgegnete Florence mit leisem Ton, sie sei ihm sehr verbunden, wolle aber nicht schreiben, da sie nichts zu melden wisse.

»Nichts zu melden, Miß Dombey?« fragte der Mann, fast die Zähne nicht öffnend.

»Nein«, sagte Florence; »nichts als – als meine liebevollen Grüße – wenn Ihr so gut sein wollt.«

In ihrer Verwirrung erhob sie mit einer flehentlichen, ausdrucksvollen Miene ihre Augen zu seinem Gesicht. Es war auch für ihn deutlich darin zu lesen, was er zuvor schon wußte, daß jeder Verkehr zwischen ihr und ihrem Vater etwas Ungewöhnliches sei, und daß sie ihn deshalb um Schonung bitte. Mr. Carker lächelte, verbeugte sich tief, nahm Sir Barnets Auftrag, Mr. Dombey seine und seiner Gattin beste Grüße auszurichten, entgegen, verabschiedete sich und ritt weiter. Der Mann machte auf das Ehepaar einen sehr günstigen Eindruck. Florence aber wurde bei seinem Weiterreiten von einem so heftigen Schauder erfaßt, daß Sir Barnet, an eine alte volkstümliche Redeweise erinnernd, sagte, sie sähe aus, als ob jemand über ihr Grab gegangen sei. An einer Ecke wandte sich Mr. Carker noch einen Augenblick um, schaute zurück, machte eine Verbeugung und verschwand, als sei er willens, in dieser Absicht geraden Wegs nach dem Kirchhof zu reiten.