Kapitel 4

Kapitel 4

 

Sie wurden ein stilles und feierliches Brautpaar. Maria blieb kühl und gemessen. Dornach bekämpfte immer siegreich jede Regung seines überströmenden Gefühls. In der Gesellschaft erhoben sich Streitigkeiten, weil die einen behaupteten, er sei ihr, und die anderen wissen wollten, sie sei ihm gleichgültiger. Dennoch erging sich alle Welt in so überzeugten und gerührten Glückwünschen, als ob Romeo und Julia aus ihren Gräbern auferstanden und im Begriffe gewesen wären, sich häuslich einzurichten.

Unter den vielen Oberflächlichen, deren hohles Geschwätz geduldet und für deren als Teilnahme verkleidete Neugier gedankt werden mußte, gab es aber doch auch einige wohlwollende, treue Menschen, gab es vor allem Fürstin Alma Tessin. Maria liebte sie, verehrte ihre grenzenlose Herzensgüte und war voll Mitleid mit ihrer Befangenheit, die von Jahr zu Jahr zunahm. Die Fürstin fragte Maria um Rat, küßte ihre Hände, hatte in ihrer Gegenwart etwas Demütiges und Beschämtes, das dem jungen Mädchen ein Übergewicht über die Frau, die beinahe ihre Mutter hätte sein können, förmlich aufzwang.

Eines Vormittags kam Fürstin Tessin zu Tante Dolph und fand dort das Brautpaar. Maria schritt ihr entgegen, Hermann erhob sich. Alma sah ihn zum ersten Male seit seiner Verlobung, und es geschah unerwartet. Auf ihrem zarten Angesichte wechselten die Farben.

»Graf Dornach«, sprach sie, »ich habe noch nicht Gelegenheit gehabt, Ihnen meinen innigen, meinen freudigen …« sie hielt inne, von unüberwindlicher Verwirrung ergriffen, und blickte beschwörend zu ihm empor: Erbarme dich, schien sie zu sagen, sieh, was ich leide, und erbarme dich. Ihre stumme Bitte blieb unerfüllt. Er verbeugte sich, murmelte ein paar höfliche Redensarten und nahm ihre Hand nicht, die sie ihm zitternd hatte reichen wollen und nun mit einer Gebärde der Trostlosigkeit niedergleiten ließ.

Hermann nahm Abschied und ging.

Das Herz Marias schwoll vor Unzufriedenheit mit ihm. Was berechtigte ihn zu diesem ablehnenden Benehmen gegen ein Wesen, das ihr teuer war? – Almas Verwandtschaft mit Tessin, flog es ihr durch den Kopf. Aber nein! Weder Dornach noch irgend jemand konnte eine Ahnung von dem flüchtigen Interesse haben, das jener Mensch ihr eingeflößt. Tessin war scheinbar nicht mehr um sie bemüht gewesen als zwanzig andere. Daß sie ihm den Vorzug gegeben, blieb ihr sogar gegen ihn selbst streng bewahrtes Geheimnis. Aber die Eifersucht sieht scharf – der arglose Hermann verdankt ihr vielleicht einen Seherblick.

Als er am Abend wiederkam und den wunderschönen Blumenstrauß brachte, der täglich aus den Gewächshäusern von Dornach für die künftige Herrin anlangte, wies Maria die Gabe zurück: »Vorher will ich wissen, was haben Sie gegen Alma?«

Er zögerte mit der Antwort: »Sie ist mir … Aufrichtigkeit über alles, nicht wahr? – Nun denn – sie ist mir unangenehm.«

»Unangenehm? Verzeihen Sie, das begreife ich nicht – ausgenommen, Sie hätten die Kunst entdeckt, die Schönheit zu hassen und die Güte«, rief sie herb, und er erwiderte mit seiner gewohnten bescheidenen Gelassenheit: »Ich habe nicht von Haß gegen Fürstin Tessin gesprochen, ich bewundere ihre Schönheit …«

»Sie sieht eben aus, wie sie ist«, fiel Maria lebhaft ein; »so blond, so weiß, so duftig, von so überirdischer Anmut umflossen habe ich mir in meiner Kindheit die Engel vorgestellt.«

Seltsam war der Eindruck, den diese Worte auf ihn hervorbrachten; ein Schatten von Verlegenheit flog über sein Gesicht, und zugleich malte sich darin die tiefste und liebevollste Rührung.

»Ich will Sie heilen von Ihrer Abneigung«, fuhr Maria fort. »Das Mittel dazu ist einfach: Sie müssen Alma besser kennenlernen, dann wird meine beste Freundin auch die Ihre werden und bei uns ihr zweites Zuhause finden – wenn es Ihnen recht ist.«

Es fiel ihm schwer, den Jubel, den dieses »bei uns« in ihm erweckt hatte, zu unterdrücken; doch bezwang er sich und versetzte: »Sie werden in Ihrem Hause empfangen, wen Sie wollen, und tun und lassen, was Sie wollen; mir wird es recht sein. Nehmen Sie jetzt die Blumen?«

»Gern, und ich danke Ihnen«, antwortete sie und dachte: Er ist ein vortrefflicher Mensch, und ich werde ihn liebhaben wie einen Bruder.

Dornach hörte nicht auf, seine Huldigungen mit der größten Anspruchslosigkeit darzubringen. Seine erfinderischen Aufmerksamkeiten für seine Braut waren in seinen Augen das Selbstverständliche; ein Zeichen der Zustimmung von ihr, einen freundlichen Blick empfing er wie Himmelsgaben. Gräfin Dolph neckte und versicherte ihn, er beschäme die ganze Tafelrunde: solch ein altmodisch ritterlicher Bräutigam wie er bereite dem Ehemann einen schweren Stand.

Hermann lachte und behauptete, daß er nicht mehr sei und nicht mehr sein wolle als korrekt. Maria habe ihm ihren Wahlspruch: »Nur ruhig!« anvertraut, er halte sich an den seinen: »Nur korrekt.«

Und so waren denn seine fürstlichen Geschenke, so war der unerhört großmütige Heiratsbrief, den er ausstellte, so war jeder Beweis seiner unbegrenzten Sorgfalt für das Wohl und Behagen der Gegenwart und Zukunft seiner Braut »nur korrekt«.

Gräfin Dornach benahm sich gegen die Verlobte ihres Sohnes ganz und gar in seinem Sinne, der ihr plötzlich maßgebend geworden. Für die von orthodoxem Familiengeist beseelte Frau war der unmündige Junggeselle Hermann in den respektswürdigen zukünftigen Stammhalter seines edlen Geschlechts verwandelt, und der alten Generation kam nichts mehr zu, als – Platz machen. Agathe trat mit großartigem Gleichmut vor der zurück, die nun an ihrer Stelle die erste im Hause Dornach sein sollte. Sie legte zu deren Gunsten den Majoratsschmuck so gleichgültig ab, als ob es sich um ein Paar getragener Handschuhe gehandelt hätte. Sie traf ihre Anordnungen zur Übersiedlung aus dem Palais nach einem Miethause in der Stadt, wo sie einige Wintermonate, und nach dem Witwensitze Dornachtal, wo sie den größten Teil des Jahres zubringen wollte. Es war dies ein trauriger Aufenthalt in rauher Gegend, zu Füßen der Branecker Berge, und Hermann versuchte in jeder Weise, seine Mutter abzuhalten, ihn zu beziehen. Sie sollte in Dornach bleiben, in dem Flügel des Schlosses, den sie von jeher den drei anderen vorgezogen. Dort hatte sie ihr kurzes Eheglück genossen, dort ein Menschenalter hindurch als Gebieterin gehaust, dort sollte sie auch ferner hausen in der Nähe ihrer Kinder, von ihnen geehrt, geliebt, aber unbehelligt. Sie ließ sich nicht erbitten, ihr Entschluß war unerschütterlich. Sie dankte Gott, sagte sie, für die endlich erlangte Gnade, ihr Leben in Ruhe und im Gebet für sich und die Ihren still zu Ende spinnen zu dürfen.

So tadellos auch alles war, was die Gräfin tat und sagte, Maria vermochte dennoch kein Herz zu ihr zu fassen; diese Tadellosigkeit wurde zu frostig ausgeübt. Das zurückhaltende Wesen ihres Vaters flößte Maria Bewunderung ein, weil sie voraussetze, daß sich ein großer Reichtum hinter demselben verberge. Die Zurückhaltung der Gräfin aber schien ihr einen Mangel verdecken zu sollen. Wenn sie nach einem Besuche bei der Mutter ihres Verlobten Abschied nahm, erhielt sie einen Kuß auf die Stirn, dessen eisige Kälte sie vom Wirbel bis zur Sohle durchschauerte.

Einmal, da Gräfin Dornach einen neuen Beweis ihrer ungeheuren Selbstentäußerung geben wollte, wagte Maria abzuwehren. Agathe lächelte, gab dem olympischen Haupte einen kleinen Ruck ins Genick und sprach: »Nimm es nicht zu hoch, liebes Kind, es geschieht vielleicht nur für die Gräfin von Dornach.«

Am Abend vor der Hochzeit ließ Graf Wolfsberg seine Tochter zu sich bescheiden. Er erwartete sie, am Schreibtisch sitzend, in seinem großen Fauteuil, den Kopf zurückgelehnt, die Beine gekreuzt, und überdachte, was er ihr sagen wollte. Es war gar viel. – Daß sie ihm ein braves und gehorsames Kind gewesen, ihm auch nicht eine Stunde getrübt, daß ihm der Abschied schwerfalle, daß er aber einen Trost finde in der festen Hoffnung, sie werde glücklich sein. Und nun das Lob Hermanns und einige gute Ratschläge für die Zukunft. Dem Grafen war es eine ausgemachte, durch hundert Erfahrungen bestätigte Tatsache, daß jede junge, unschuldige Frau sich in den Mann verliebt, der sie zuerst das Leben kennenlehrt. – Maria wird keine Ausnahme machen, und er wollte ihr auf die Seele binden, in ihrer Leidenschaft nicht selbstsüchtig zu werden und stets ihre Würde zu wahren. Die Treue, meinte er, die der Mann seiner Frau am Altare geschworen, ist eine andere als diejenige, deren Schwur er von ihr empfing. Eine scheinbare Vernachlässigung, eine flüchtige Zerstreuung des Gatten wird von dem Weibe, das sich selbst achtet, übersehen. Was ist ein kurzer Sinnenrausch, dem gewöhnlich klägliche Ernüchterung folgt, im Vergleiche zu der unerschütterlichen, dankbaren Anhänglichkeit an die verehrte Lebensgefährtin, die niemals Nachsicht braucht, aber immer Nachsicht übt … üben soll – und weh ihr, wenn sie es nicht tut – wenn sie, wie jene arme, einst von ihm angebetete Frau …

Der Graf seufzte tief, seine Stirn verfinsterte sich. Die schmerzlichste Erinnerung seines Lebens war in ihm erwacht, und er suchte nicht wie sonst ihr zu entfliehen … Eine holdselige Gestalt stieg vor ihm auf: die Liebe seiner Jugend, seine schwer errungene Frau … Für eine der Töchter des Hauses, welchem sie entstammte, war Graf Wolfsberg kein ebenbürtiger Freier; sie gingen fürstliche Verbindungen ein oder blieben unvermählt. Und dennoch hatte er sie heimgeführt, dem Vorurteil zum Trotze, weil er ihr heißes Herz zu gewinnen verstanden, weil sie, zur Entsagung gezwungen, gestorben wäre und weil ihre Eltern, die schwachen, törichten, sie nicht sterben lassen wollten … Hätten sie es doch getan – welch einen süßen und schönen Tod hätte sie damals gehabt! Sie hätte aus dem Dasein scheiden können, unenttäuscht, im frommen Glauben an den Geliebten. Aber das wurde ihr nicht vergönnt. Sie sollte das Ärgste kennenlernen, bevor sie scheiden durfte, den Zweifel an ihm, an seiner Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit und Treue, an allem, was den Wert des Mannes begründet. Eine gräßliche Empfindung, die sie für Verachtung hielt und die Eifersucht war, bemächtigte sich ihrer. Sie heuchelte nun selbst, spielte die Ahnungslose und forschte und beobachtete ihn und ihren Gast, seine Mitschuldige und sein Opfer, die kleine Schlange Alma, die eben erst aus der Kinderstube in ihre – freilich trostlose -Ehe getreten war, forschte und beobachtete und hatte nur noch einen Wunsch, einen Gedanken, ein Ziel, die Schuldigen zu entlarven, ihnen die Worte ins Gesicht zu schleudern: Feiglinge und Verräter! Da erniedrigte sie sich zur Lauscherin an den Türen, da horchte, da erhorchte sie, was ihr den Verstand raubte – –

Ihre rast- und trostlosen Wanderungen begannen, ihre leichten Schritte glitten durch das stille Haus und weckten mit ihrem kaum hörbaren Schall einen nagenden, nie ruhenden Vorwurf. Er kam nach Jahren und Jahren dem Sinnenden noch zum Bewußtsein, und wenn auch nicht eben Reue, so erweckte er doch nicht mehr die Empörung von einst.

Im Zimmer nebenan ließen Stimmen sich vernehmen. Maria wechselte einige Worte mit dem Kammerdiener, der sich’s nicht hatte versagen können, heute mit ganz besonderer Dienstbeflissenheit die Türen vor ihr aufzureißen. Sie trat ein und ging langsam auf ihren Vater zu: »Du hast mich rufen lassen, es war überflüssig, ich wäre ohnehin gekommen, ich habe dir noch viel zu sagen.«

Er lächelte: »Ganz mein Fall dir gegenüber. – Setz dich.«

Maria rückte einen Sessel in die Nähe des Schreibtisches und nahm Platz.

Der Graf streifte sie mit einem Blicke; dann sah er hartnäckig an ihr vorbei ins Leere. – Das Ebenbild ihrer Mutter, dachte er, aber ihr Schicksal wird ein anderes sein. In dieser schönen Hülle wohnt eine stärkere Seele, ein kräftigerer Geist. Sie ist mein Kind … mein liebes Kind, das ich jetzt hingebe … Eine plötzliche Wehmut erfaßte ihn, eine Art Mitleid mit sich selbst, das er verspottete. Begann er vielleicht schon alt zu werden und sentimental?… Er nahm sich zusammen, er richtete sich gerade auf: »Morgen also –«

»Morgen also, Vater« – ein Beben lief durch ihre ganze Gestalt, sie beugte sich, und seines abwehrenden Winkes nicht achtend, fiel sie vor ihm auf die Knie nieder und schlang die Arme um seinen Hals. »Einmal laß mich dir danken«, sprach sie mit erstickter Stimme, »einmal nur dir sagen: Ich danke dir für alles.«

Ein trockenes Schluchzen entrang sich seiner Brust. Er preßte sie an sich, daß ihr der Atem verging, er drückte seine Lippen auf ihre Haare, auf ihre Stirn und zog sie immer und immer wieder an sein Herz.

Endlich erhoben sich beide und gingen lange nebeneinander in ernstem Gespräche auf und ab.

Mitternacht war vorbei, als der Graf seine Tochter mit einem kurzen: »Gute Nacht, Maria«, fortschickte. Sie stand schon auf der Schwelle, da rief er sie zurück. Es drängte ihn, ihr ein letztes Geschenk, eine Erinnerung an diese Stunde mitzugeben. Suchend sah er im Zimmer umher; sein Blick blieb auf einer kostbaren, goldtauschierten Kassette haften, die auf einem Schranke stand: »Nimm das, es ist längst dein Eigentum, es gehörte deiner armen Mutter.«

Kapitel 5

Kapitel 5

 

Bei der Vermählung am nächsten Tage war alles mustergültig, das Arrangement des Ganzen, die Haltung des Brautpaares, die Toilette der Braut, die Auffahrt vor der Kirche, die Trauung, das Diner und die Equipage Dornachs, in der die jungen Eheleute am Abend nach dem Nordbahnhofe fuhren. Sie hatten einen langsamen Zug gewählt, um nicht allzu früh am Morgen im Schlosse einzutreffen, wo ein feierlicher Empfang ihrer wartete.

Maria drückte sich in eine Ecke des Waggons. Ein Schauer der Angst hatte sie durchrieselt, als die Tür zugeschlagen worden. Da war sie nun allein mit dem Manne, der sie liebte und Herrenrechte auf sie besaß. Gestern noch fühlte sie sich stärker als er; wie hatte sich das so plötzlich geändert – nun zitterte sie vor ihm.

Er bemerkte es wohl, und sein Herz schwoll vor Stolz und Glück. – Fürchte dich nicht, hätte er ihr zurufen mögen, du bist mir so heilig, wie du mir teuer bist … Nicht dein Vater, nicht der Priester konnten dich mir schenken, das kannst nur du allein, und um dieses höchste Gut will ich ringen und werben. Aber er dachte: Nein, nicht Worte machen, beweisen! Und dann sprach er allerlei, und zwar nichts Geistreiches. Vom Wetter, das morgen hoffentlich ebenso wunderschön sein werde, wie es – unglaubliche Beständigkeit für den April! – die ganze Woche hindurch gewesen. Wie ihn das freute, weil Dornach sich zum ersten Male vor seiner Gebieterin im Sonnenglanze zeigen werde, dessen es sehr bedürfe, um nicht einen gar zu düsteren Eindruck hervorzubringen. Er legte Kissen und Plaids zurecht und bat Maria, sich’s bequem zu machen und einige Stunden zu ruhen; sie müsse müde sein, und morgen gebe es wieder einen angestrengten Tag. Maria kam seiner Aufforderung gern nach, sie wollte wenigstens tun, als ob sie schliefe, wenn auch an Schlaf nicht zu denken war bei dem unheimlichen Gefühl, das sie erfüllte in der Nähe dieses Mannes – ihres Mannes. Von Zeit zu Zeit öffnete sie die Augen ein wenig und sah zu ihm hinüber, und immer begegnete sie seinem unendlich liebevoll auf sie gerichteten Blick. Es war ein Ausdruck darin, der sie allmählich sicher machte: ihre Bangigkeit verschwand, ihre Lider wurden schwer und schlossen sich. Was sie für unmöglich gehalten hatte, geschah: sie fiel in tiefen, festen Schlaf.

Die Sonne war seit einer Stunde aufgegangen, als Maria erwachte und auffuhr. Hermann stand am Fenster und begrüßte sie mit einem fröhlichen: »Guten Morgen«, den sie ungemein verlegen erwiderte. Ihre Augen glänzten wie die eines erwachenden Kindes, ihre Wangen waren gerötet – wie gut vertrugen sich das junge Tageslicht und ihre junge Schönheit!

Hermann nahm sie bei der Hand und führte sie ans Fenster. »Siehst du die blaue Bergkette dort?« sprach er; »ihre Umrisse verschwimmen mit den blendenden Farben des Horizonts. Vor ihnen, recht in ihrem Schutze, liegt eine Hügelreihe. Siehst du sie?«

»Ja, ja, und der Gegensatz ist hübsch zwischen dem dunkeln Berghintergrund und den freundlichen Hügeln.«

»Auf einem von ihnen erhebt sich ein graues Gemäuer, das ist Schloß Dornach … Es hat mir sonst ausbündig gefallen, aber neulich, bei meinem letzten Besuche, da ich es mir als deine zukünftige Behausung dachte, fand ich’s deiner ganz unwert, das alte Eulennest.«

Maria protestierte nicht nur aus Höflichkeit; der Anblick des Schlosses, den eine Krümmung des Weges ihr jetzt wieder entzog, war ihr herrlich erschienen.

Sie rollten zwischen Wiesengeländen am Ufer eines wasserreichen Flüßchens der Station entgegen, auf welcher die Eisenbahn verlassen wurde. Zu Wagen ging es weiter bis zum ersten Forsthause auf Dornachschem Gebiet, wo Maria ungestört Rast halten und nur von ihren vorausgesandten Dienerinnen erwartet werden sollte. Lisette hatte sich an deren Spitze gesetzt und durch ihre menschenfresserische Laune bereits alle an den Rand der Verzweiflung gebracht. Seit einigen Wochen befand sie sich im Schlosse, um der Einrichtung von Marias Gemächern vorzustehen. Und nun war sie hierhergekommen, denn sie mußte doch die erste sein, die das arme, ihrer Obhut entrissene Kind begrüßte. Sie tat es wie nach jahrelanger Trennung unter Tränenströmen und Ausbrüchen des Bedauerns; Hermann gegenüber jedoch hüllte sie sich in gehässiges Schweigen. Er verbiß ein Lachen, bot seiner Frau den Arm und führte sie, die sich sanft von ihrer Anbeterin und Tyrannin losmachte, in das Haus.

Lisette stürzte nach und erlebte eine neue Enttäuschung. Die Herrin sprach beim Umkleiden nicht ein Wort der Klage noch der Anklage. Und darauf hatte Lisette gerechnet, um dem seit gestern in ihr gestauten Groll gegen die Roheit und Unverschämtheit der frisch gebackenen Ehemänner die Schleusen zu öffnen. Sie nahm es recht übel, daß ihr keine Gelegenheit zu dieser Erleichterung geboten wurde. Maria war heiter und blieb es während der ganzen Fahrt, die auf ihren Wunsch bald fortgesetzt wurde. Der vierspännigen Herrschaftsequipage zunächst folgten Lisette und die Kammerfrau. Die erstere erhob sich oft in ihrem Wagen, setzte die Brille auf und studierte, soviel es nur möglich war, die Miene ihres Abgottes. Ihr schien der ungeratene förmlich begeistert dreinzuschauen, als man an der Grenze der Ortschaft Dornach anlangte und die Bevölkerung der neuen Mitbürgerin einen feierlichen Empfang bereitete. Dem Programme nach kein anderer denn alle feierlichen Empfänge im guten Lande Mähren: Triumphbogen, Ansprachen, Geschenke an Brot und Salz, Eiern, Hühnern, Enten, Gänsen und einem riesigen Säugling aus Lebkuchen in farbigen Wickeln und garnierter Haube, Böllerschüsse und Vivatrufe. Ungewöhnlich war nur die echte Herzlichkeit, welche diese Kundgebungen beseelte, das Unbeholfene veredelte und dem Herkömmlichen das Gepräge des Neuen und Außerordentlichen gab.

»Du wirst von diesen Leuten sehr geliebt«, sagte Maria zu Hermann.

»Weil ich sie liebe«, erwiderte er vergnügt. »Wenn uns auf Erden etwas mit Zins und Zinseszins zurückgezahlt wird, so ist es unsere Menschenliebe. Ungeliebt durchs Leben gehen ist mehr als Mißgeschick, es ist Schuld.«

Auf dem Platze umlagerte eine dichte Menschenmasse den Eingang zur Kirche. Unter dem Portal stand der alte Dechant mit seinen Kaplänen und den Weihrauchfässer schwingenden Chorknaben. Als der Graf und die Gräfin den Wagen verließen, um in das Gotteshaus einzutreten, verstummte das Jubelgeschrei der Menge; die ehernen Stimmen der Glocken sprachen jetzt allein und begleiteten mit ihrem Schalle den Segen, den der greise Priester auf die Häupter der jungen Eheleute vom Himmel herabrief.

Sie traten aus der Kirche, sie stiegen die breite Treppe langsam hinab. Alle Blicke waren auf Maria gerichtet, mit plumper Neugier, mit Schüchternheit, mit staunender Bewunderung – in manchem Jünglingsauge glühte offenbare Verzückung … Ob jung, ob alt indessen, ob weiblich oder männlich, auf all diesen Gesichtern, die sich ihr zuwandten, las Maria den Ausdruck eines geheimnisvollen, eines ererbten Leids. Und in ihr erwachte der Gedanke: Was dich da anruft mit stummer und unbewußter Klage, das ist die nach Erlösung ringende ewige Dienstbarkeit. Wir die Herren, sie die Knechte. Darbend an Leib und Seele, verdienen sie – unser Brot, mühen sich, zur Erde gebeugt, jahrein, jahraus, damit unser Geist frei und unbehindert auffliegen könne bis an die Grenzen des Erkennens. Ohne ihre harte Arbeit keine Ruhe für uns, kein Genuß, nicht Kunst, nicht Wissenschaft …

Am Fuße der Treppe angelangt, hemmte sie plötzlich den Schritt und griff, wie unwillkürlich schutzsuchend, nach dem Arme Hermanns. Er umschlang und hob sie in den Wagen, voll Besorgnis nach dem Grund ihres plötzlichen Schreckens fragend. »Es ist nichts«, versicherte sie, »gar nichts.«

Und es war ja nichts – eine Sinnestäuschung, ein seltsamer Streich, den ihr Gedächtnis ihr gespielt. Sie hatte gemeint, mitten in dem Gewühl einen höhnisch Lachenden zu sehen, der sie anstarrte, frech wie damals in jener Winternacht. Züge, deshalb so widerlich, weil sie die eines verehrten Antlitzes entstellt widerspiegelten. – Unsinn, sagte sie zu sich selbst. Wie käme der Mensch hierher?

Der peinliche Eindruck war entschwunden, verdrängt durch manchen schönen und lieblichen und durch eine kräftige Lebensfreudigkeit, die ihr ganzes Wesen durchströmte, als sie dahinflog im raschen Trabe der feurigen, schäumenden Pferde, auf sammetweicher, bergansteigender Straße zwischen majestätischen Buchen. Jedem Blick in die Gegend, den zu tun die tief niederhängenden Äste gestatteten, bot sich ein anmutiges Bild. Die Landschaft mit ihren im ersten Frühlingsgrün prangenden Wiesen und Baumgruppen, mit ihren Weihern und fleißig rauschenden Bächlein glich einem wohlgehaltenen Parke.

Und nun sah man zwischen hohen Wipfeln ein spitzes Dach, reich verzierte Schornsteine und Giebel emporragen. Endlich war auch die Avenue erreicht, und da stand Schloß Dornach, altersgrau und prächtig. Es war um die Zeit Pierre Nepveus – die Sage wollte wissen, von ihm selbst – im Mischstile von Gotik und Renaissance erbaut; ein stolzes Denkmal einst begründeter und durch die Jahrhunderte behaupteter Macht.

Mit Kennerblicken betrachtete Maria den malerischen Bau; ihr künstlerischer Schönheitssinn schwelgte in höchster Befriedigung. So umgeben sein ist ein Glück, ein Glück von jeder Stunde … Wie oft hatte sie als junges Mädchen die Ruine im Walde zu Wolfsberg, die ihr Vater verfallen ließ, in Gedanken wiederaufgerichtet und geschmückt mit Türmen und Bildwerken und zierlichen Erkern, daß die Schöpfung ihrer Phantasie beinahe so herrlich wurde wie die Wirklichkeit, die ihr jetzt vor Augen stand.

»Mein Traum«, rief sie aus, »mein in Erfüllung gegangener, noch überbotener Traum!«

Auf dem breiten Kieswege vor dem Hause wimmelte es von Willkommrufenden.

»Der letzte Anprall«, sprach Hermann, »die Beamten und das Forstpersonal.«

»Schon recht«, erwiderte sie. »Sage nur, wem gebührt der erste Händedruck? Dem Hünen mit der lichtblonden Mähne an der Spitze des Heeres – nicht wahr?« Sie deutete auf einen großen, breitschulterigen Mann mit rotbraunem Gesicht und hellen Haaren in zu engem Frack und zu weiter Krawatte. Zu seiner Rechten hielt sich eine stattliche schwarzäugige Dame, zu seiner Linken waren lebendige Orgelpfeifen aufgestellt, acht Knaben, von denen der älteste ihm etwas über den Ellbogen, der jüngste bis zum Stiefelschaft reichte und die alle so weiße Köpfe hatten wie er.

Hermann winkte ihm von weitem zu: »Dem gebührt der erste Händedruck, jawohl, dem, meinem vortrefflichen Vetter Wilhelm.«

Der Vetter nickte und verbeugte sich und befahl seinen Buben auf das bärbeißigste, dasselbe zu tun, und seine Gattin tat es ungeheißen.

Glückstrahlend, Hand in Hand mit Maria, trat jetzt Hermann vor die Gruppe. »Da ist sie«, rief er, »da bringe ich sie …« und zu der übrigen Versammlung gewendet: »Da ist sie, eure Gebieterin und die meine.«

Gott im Himmel, was hatte der Herr Graf angerichtet mit dieser überstürzten Vorstellung! Nicht mehr und nicht minder als die unheilbarste Konfusion hineingebracht in die so wohl vorbereitete, so beharrlich einstudierte Begrüßungsfeierlichkeit. Einzelne Hochrufe ertönten, in die viel zu wenig Stimmen einfielen.

»Sie hätten losgehen sollen«, fuhr der Kommandant der Feuerwehr den Kommandanten der Veteranen an.

»Wie denn ich? Wenn der Wagen steht, hat’s geheißen. Ist er gestanden? Die Herrschaften sind ja noch beim Fahren herausgesprungen. Aber alles eins: Feuer! Feuer! sag ich – Sapperlot!«

Eine Salve wurde abgegeben, Fahnen wurden geschwenkt.

»An Euer gräflichen Gnaden«, flüsterte der Herr Direktor dem Grafen Wilhelm zu.

»An Sie«, sprach der Herr Verwalter.

»An Ihnen«, verbesserte der Herr Kanzleirat. – Aber Vetter Wilhelm, erschüttert in tiefster Mannesseele, wußte kein Wort mehr von der schwungvollen Anrede, die der Herr Schullehrer für ihn verfaßt und ihm eingeprägt hatte, so gut, so fest, daß er eben noch voll Stolz gesagt: »Du, Helmi, Sie, Herr Lehrer, das sitzt da drinnen, das sitzt wie Eisen.«

Und jetzt war auf einmal alles herausgefallen.

Umsonst die höllische Arbeit des Auswendiglernens, umsonst der Aufwand an Todesängsten und berauschenden Hoffnungen, den der arme Autor gemacht, zerstört die Freude der guten Gräfin, in bescheidentlicher Teilnahme einem Rednertriumphe ihres Eheherrn beizuwohnen, wie er ihn erst neulich gefeiert, daheim auf der Schießstätte. – In diesem allerwichtigsten Moment jedoch zuckte es nur unter seinem dichten Schnurrbart und über seine runden, glattrasierten Wangen, und seine Augen, die eher klein als groß waren und dennoch ein Meer umfaßten, ein dunkelblaues Meer von Liebe, wanderten von Hermann zu Maria und von Maria zu Hermann. Auf einmal rief er aus: »Hermann, alter Mensch!… Gnädigste Gräfin, hochverehrte Base – herzlichst willkommen. – Tusch!« fuhr er den Lehrer an, der sich genähert hatte, um ihm einzusagen, und die Dorfkapelle fiel ein, trompetend, geigend und paukend.

Hermann schloß den Vetter in die Arme, küßte die Hand Gräfin Helmis und gab den Buben einen Wink, die Blumensträuße zu überreichen, die sie in Bereitschaft hielten für die neue Tante. Alle stürzten auf sie los und hatten alle, vom Vier- bis zum Vierzehnjährigen, dasselbe Gesicht und waren einer so unbefangen und zutraulich wie der andere. Warum denn nicht? Konnten sie sich nicht sehen lassen, waren sie nicht schön in ihren neuen, von der Mutter genähten Leinwandblusen und ihren von der Mutter frisch gewaschenen Gesichtern und heute mit Zahnpulver geputzten Zähnen?

Maria war gegen die ganze Familie so freundlich, wie eine vollkommen elegante junge Dame es dem ausgesprochensten Landjunkertum gegenüber nur irgend sein kann. Sie entzückte das Ehepaar, sie entzückte jeden, der ihr vorgestellt wurde und mit dem sie einige Worte wechselte. Ihre einfache und taktvolle Leutseligkeit gewann ihr in der ersten Stunde die allgemeine Sympathie und besiegte die Vorurteile der greisen Honoratiorenhäupter, die dem zu erwartenden neuen Regimente ziemlich bedenklich entgegengesehen hatten.

Die »alten Spitzen«, wie die höheren Beamten von der lustigen Frau Adjunktin genannt wurden, kehrten spät abends nach dem Souper im Schlosse in durch und durch angenehmer Stimmung heim. Herren und Damen waren darüber einig, daß die junge Gräfin unbeschreiblich liebenswürdig und halt – eine Dame sei.

»Jeder Zoll eine Dame!« rief der gebildete Kanzleirat. »Und – eine Würde, eine Höhe … Sie verstehen mich, Frau Verwalterin.«

Beim Abschied von seinen Verwandten fragte Hermann: »Wann kommt ihr wieder? – morgen?«

Wie wenn ihm ein schnödes Unrecht zugemutet worden wäre, fuhr Wilhelm zurück: »Was fällt dir ein … in acht Tagen frühestens. Nicht wahr, Helmi?«

»Um keinen Preis früher«, versetzte diese, »es ist ohnehin indiskret genug.«

»Heut in acht Tagen also, es bleibt dabei.«

»Bleibt dabei, wir kommen, natürlich ohne die Rangen … Wirst du schweigen?« wetterte er seinen Erstgeborenen an, der sich erlaubt hatte, gegen diesen väterlichen Beschluß zu murren. »Die Rangen bleiben zu Haus, die Rangen müssen lernen, müssen alles das lernen, was ich nicht gelernt habe, und das ist viel.«

Er nahm Hansel, den Kleinsten, der längst auf einem Kanapee eingeschlafen war, auf den Arm und schritt so seiner Frau, die der Hausherr zum Wagen führte, und seinen anderen voranmarschierenden Söhnen nach.

An der Tür, bis zu welcher Maria ihn begleitet hatte, blieb er stehen, sah ihr in die Augen, und seine Wange an den Kopf des Kindes lehnend, sprach er: »Der achte! ‘s ist eine Nummer – ich genier mich manchmal – ich genier mich eigentlich immer nachträglich und im voraus, denn – wer weiß – und wer kann wissen, was noch nachkommt? – Aber«, und jetzt ging ihm, zum wievielten Male an diesem Abend hat er nicht gezählt, das Herz über, »wenn auch doppelt so viele nachkämen, als schon da sind, in jedem von ihnen wird ein braver Mensch heranwachsen und ein treuer Freund Ihrer, das heißt deiner zukünftigen Söhne, Frau Base, deren erstes Exemplar du uns ehebaldigst bescheren mögest.«

Kapitel 6

Kapitel 6

 

»Du hast mich einem edlen und guten Menschen zur Frau gegeben«, schrieb Maria an ihren Vater in ihrem ersten Briefe aus Dornach. Das Wort »Glück« kam nicht ein einzigesmal vor, aber aus jeder Zeile sprach Zufriedenheit. Maria hatte sehr bald begriffen, daß sie als die Frau Hermanns eine Aufgabe zu lösen haben werde, die ihrem ernsten Sinn entsprach. Anders als in Wolfsberg gestalteten sich in Dornach die Beziehungen zwischen dem Großgrundbesitzer und seinen kleinen Nachbaren. – Dort herrscht eine Art bewaffneten Friedens, offene gegenseitige Feindschaft; eingewurzelte Unredlichkeit und Arglist von seiten der Schwachen, Starrsinn und unerbittliche Strenge von Seite des Starken.

»Ich will nur mein Recht«, sagte der Graf und ging schonungslos vor in der Erreichung dieses Rechtes.

»Das Recht?« sagte Hermann. »Mit welchem Rechte verlangt man einen Begriff des Rechtes von Leuten, die sich immer nur der Gewalt beugen mußten?«

Maria stimmte ihm bei. Sie war wie er ein Kind der neuen Zeit, das Gefühl der Unerträglichkeit fremden Leids, fremder Not und ein heißer Drang zu helfen hatte auch sie oft ergriffen. Nun lag die Macht, ihm Genüge zu tun, in ihrer Hand. Sie empfand eine innige Dankbarkeit für den, der sie ihr gegeben, unter dessen Leitung sie dieselbe ausübte.

»Heute Dienstag und Familiendiner«, sprach Hermann eines Morgens, in das Frühstückszimmer tretend. »Hast du nicht vergessen?«

Sie gestand es ein: »Jawohl, völlig vergessen. – So wäre seit unserer Ankunft eine Woche vergangen?«

»Eine volle Woche. Mir ist sie entschwunden wie ein glücklicher Augenblick … Und dir, Maria? Nicht allzu langsam?«

»Nein, nein«, sagte sie leise.

Er umfaßte sie mit beiden Armen. »Wenn es so fortgeht, werden wir plötzlich ein Paar alte Leute sein. Unvermutet wird uns einst das Alter überraschen; aber ich fürchte es nicht und auch nicht den Tod. Es ist schön zu sterben nach einem schön erfüllten Leben, in dem man nie irre geworden ist an seinem teuersten und höchsten Menschen, wie ich es an dir nie werden kann.«

»Was verstehst du darunter? Was ist der Inbegriff von allem, was du von mir verlangst?« fragte sie.

Hermann sah ihr mit einem langen, verständnissuchenden Blick in die Augen. »Du weißt es ja, vorläufig nur – einen Tausch. Für meine grenzenlose Liebe – dein grenzenloses Vertrauen. Espérant mieux, wie das Motto Antoine Latours gelautet.«

Maria senkte den Kopf. »Du bist so gut, du hast die Geduld mit mir, um die ich dich gebeten habe«, flüsterte sie nach kurzem Schweigen und verbarg plötzlich ihr Gesicht an seiner Schulter.

 

»Die Pferde! Deine Pferde aus Wolfsberg«, ließ jetzt die laute Stimme Lisettens sich im Nebenzimmer vernehmen, und sie selbst schlich herein, lächelnd und bissig, untertänig und grollerfüllt wie immer in Hermanns Gegenwart, welcher in ihren Augen nichts war als der mit einem Privilegium versehene Räuber »des Kindes«. Sie hatte jede trübe Stunde vergessen, die sie in Marias Geburtsort verlebt, und gab Wolfsberg hier im Hause für das Gelobte Land aus. Jeder Brief, jede Sendung, die von dort kam, wurde von ihr empfangen wie ein Gruß aus dem Aufenthalt der Seligen.

»Und der Georg hat sie gebracht, deine lieben Pferde, der alte Georg, der’s nicht erwarten kann, dir die Hand zu küssen, Frau Gräfin, mein Kind«, setzte sie in schmelzendem Tone hinzu. – Dieselben Pferde, die sie ingrimmig gehaßt als immerwährende Gefahrbringer für das Leben und die geraden Glieder Marias, derselbe Georg, den sie verabscheut, weil er diese Pferde gesattelt hatte, standen jetzt in Lisettens höchster Gunst.

Sie sah aus dem Fenster »dem Kinde« nach, das voll Freude über das bevorstehende Wiedersehen seiner vierbeinigen Lieblinge an der Seite Hermanns über den Hof eilte. »Ohne Hut, ohne Handschuhe, freilich, freilich«, brummte Lisette und überließ sich ihrer Gewohnheit, halblaut mit sich selbst zu sprechen, sobald sie allein war: »Wer schaut hier auf dich, du Vogel du, der verliebte Graf gewiß nicht, der denkt an nichts, sieht nichts, ist dumm und blind vor lauter Verliebtheit.«

Sie begab sich in das Schreibzimmer, schellte und befahl dem Stubenmädchen, der Frau Gräfin das Vergessene nachzutragen. Dann fuhr sie in ihrer eine Weile hindurch unterbrochenen Beschäftigung fort. Diese bestand in dem Ausräumen eines Rokokoschreibtisches aus Rosenholz mit Bronzeverzierungen und eingelegten Vieux-saxe-Platten. Lisette wickelte unzählige, sehr wertvolle Sachen und Sächelchen, Bonbonnieren, Dosen, Elfenbeinschnitzereien, Siegel, Flakons aus ihren Papier- und Wattehüllen und legte alles auf einem Tisch in der Nähe des zierlichen Glasschränkchens zurecht, das an der Wand hing und bestimmt war, die kleinen Kostbarkeiten aufzunehmen. Fast jeder dieser Gegenstände weckte in der Alten eine wehmütige Erinnerung an dessen frühere Besitzerin, an Marias Mutter. Es waren sämtlich Geschenke des Grafen. Er hatte sie dereinst aus Paris, wo er kurze Zeit in besonderer diplomatischer Mission in Verwendung gestanden, nach Hause geschickt als Zeichen treuen täglichen Gedenkens. Und wie beglückten und beseligten sie! Mit welchem Eifer suchte die junge Frau vor allem nach dem flüchtig bekritzelten Zettelchen, das diese Sendungen meist begleitete. Meist – nicht immer … und dann, war das sehnlichst Erwartete ausgeblieben, dann fehlte dem Schönen der Reiz, und die Gräfin beugte sich traurig über ihr Kindlein: »Er hat uns heute nicht geschrieben, Maria …«

Sie hat ihn zu liebgehabt. Freilich, freilich. – Lisette sann nach, ihre Lippen verzogen sich zu einem tückischen Lächeln: »Das wirst du ihr nicht nachmachen, mein Vogerl«, murmelte sie, »du hast eine andere Natur. Wenn in deiner Eh eins von euch vor lauter Lieb den Kopf verliert, wird’s der andere sein, nicht du.«

»Worüber lachst du?« fragte Maria eintretend.

»Ach was, nur so – – über den spaßigen Heiligen da.« »Was ist das für ein Heiliger?« Sie reichte der Gebieterin eine Dose, die mit einem Emailbildchen von Petitot, einen jungen, weinlaubumkränzten Faun darstellend, geschmückt war.

Maria betrachtete es zum erstenmal aufmerksam; sie war keine Freundin der Kunst im Kleinen und hatte diesen Bibelots nie ein besonderes Interesse geschenkt. Nun aber bewunderte sie eingehend die feine Arbeit des französischen Meisters, und wie sie dabei das Kästchen hin und her wandte, sprang bei einem Druck ihres Fingers der Deckel auf. Die Dose barg einen goldenen, in Seidenläppchen gewickelten Schlüssel; Marien schien, die Zeichnung der Arabesken seines durchbrochenen Griffes habe Ähnlichkeit mit der Tauschierung der Kassette, die sie am Abend vor ihrer Vermählung von ihrem Vater erhalten und an welcher der Schlüssel fehlte. – Doch hatte sie nicht Zeit, sich der Zusammengehörigkeit der beiden gleich zu versichern, denn die Ankunft ihrer Gäste, die um ein Uhr, eine Stunde vor dem Mittagessen, eintreffen sollten, stand bevor.

Sie kamen auch richtig angefahren, auf die Minute, zwei Seelen und vier Seelchen. Im letzten Augenblicke hatte Wilhelm sich erweichen lassen durch die traurigen Gesichter, mit denen die jüngeren Rangen den Vorbereitungen zur Abfahrt der Eltern zusahen, und sie mitgebracht. Sie waren ja noch so dumm und versäumten nicht gar viel Lernerei. Vater und Mutter baten dringend, sich nicht im geringsten um sie zu kümmern, sie nur im Garten herumlaufen zu lassen. Das Vertrauen konnte man ihnen schenken, daß sie sich in acht nehmen und nicht in den Teich fallen würden. Auf irgendwelche Berücksichtigung bei der Mahlzeit hatten sie keinen Anspruch; sie waren zu Hause abgefüttert worden, und überdies hatte jeder sein Stück Brot im Sacke und konnte damit bequem aushalten bis zur Heimkehr.

Eine so ungastliche Behandlung sollten sie jedoch nicht erfahren, vielmehr durften sie ihre Brotration den Pferden bringen; ihre Mutter und je zwei von ihnen wurden von Maria in der Ponyequipage im Parke herumkutschiert, während die zwei anderen dem Wagen nachrannten, um die Wette mit den Hunden. Bei Tische erhielten sie ihre Plätze nebeneinander, saßen kerzengerade und benahmen sich musterhaft. Trefflich regiert von den kurzen Kommandoworten des Vaters und den abmahnenden oder zustimmenden Blicken der Mutter, entfalteten sie bei aller Dressur einen kleiner Rothäute würdigen Appetit.

Maria hatte sich auf die Freuden des heutigen Familienfestes mit uneingestandenem Grauen gefaßt gemacht, und jetzt erfüllte sie mit Vergnügen ihre Hausfrauenpflichten und unterhielt sich beinahe. Nicht nur mit den Kindern. Der biedere Mann, der, wie sie wußte, den Unterhalt seiner zahlreichen Nachkommenschaft schwer bestritt und ihrer etwaigen Vermehrung dennoch mit naiver Ergebung entgegensah, die Frau mit dem Typus ihres hochadeligen Stammes in den feinen Zügen, die sich ihrer abgearbeiteten Hände so gar nicht schämte und die Haube mit den gefärbten Bändern und das verschossene Foulardkleid so tapfer trug, flößten der neuen Verwandten die herzliche Wertschätzung ein, die bei ihr eine sichere Vorbotin künftiger Freundschaft war.

Bald nach Tische trennte man sich. Hermann und Wilhelm ritten nach einem entlegenen Hof zur Besichtigung eines Baues, der dort aufgeführt wurde. Gräfin Wilhelmine und ihre Kinder kollerten heim in ihrem kürzlich neu lackierten, mit Bauernpferden bespannten grünen Wägelchen.

Maria blieb allein und wollte ihre Einsamkeit zu einer Wanderung durch den Park benützen und einen schönen Aussichtspunkt am Ende desselben erreichen, von dem Hermann ihr gesprochen hatte. Sie nahm seine beiden Jagdhunde als Begleiter mit; semmelfarbige, kurzhaarige, sehr kluge Tiere, die am Tage des Einzugs Marias begriffen hatten: in Abwesenheit des Herrn gibt es jetzt eine Herrin. Auf den Fersen folgten sie ihr, die Nasen gesenkt, mit tief herabhängenden Ohren, und wenn sich’s regte auf der Wiese, im Gebüsch, im dunklen Schatten der Bäume, fuhren sie zusammen, hoben die Nasen in die Höhe, schnupperten, alle ihre Sehnen spannten sich zum Sprunge. – Ein Anruf aber: »Zurück! Lord, Fly, zurück!« und sogleich senkten sie die Köpfe und schritten dahin, gehorsam den Befehlen der Menschen, widerstrebend den Gesetzen ihrer eigenen Natur.

Es war ein kühler Nachmittag; Maria ging rasch vorwärts, von einem wohligen Gefühl der Freiheit beseelt. Daheim wäre ihr verwehrt gewesen, einen weiten Spaziergang allein zu unternehmen, und sie empfand einen großen Genuß in der Ausübung ihrer kaum erlangten Selbständigkeit. Alles trug dazu bei, ihre Wanderlust zu erhöhen, der wolkenlose Himmel, der über ihr blaute, die kräftige Luft, die, gewürzt mit Harzdüften, vom Tanne hergestrichen kam, die Frühlingslieder der Vögel in den Zweigen, die Schönheit der Stätte selbst, die Maria durchschritt. – Sie kam sich vor wie in einem Zaubergarten, den menschenfreundliche Geister pflegten. Sie hatten die Wege besandet, die Wiesen geschoren, die Hecken beschnitten, die Brücklein über den Bach gebaut. Sie hatten die bewimpelten Kähne am Ufer des Weihers befestigt, die Scheiben des Fischerhauses blankgescheuert, daß sie im Abendrot glänzten wie Gold, und waren nach vollbrachtem Werke verschwunden ohne Spur.

Wie wohltuend, wie entzückend schön ist es hier, sagte sich Maria, und zugleich durchblitzt’ es sie: Wenn Tessin jetzt dastände und mich sähe in diesem kleinen irdischen Himmelreich …

Sie hatte ihn verbannen wollen aus ihren Gedanken, es nicht vermocht und – Frieden mit ihm geschlossen.

Was war denn sein Verbrechen gewesen? – Hatte er sie zu täuschen gesucht, je ein Wort von Liebe zu ihr gesprochen?… Und doch war sie beneidet worden um seine Aufmerksamkeit und hatte sich beneidenswert gefühlt und sich nicht Rechenschaft gegeben, worin seine Macht über sie bestand.

Die unbestimmte, unerklärliche Angst, von der sie manchmal ergriffen worden in seiner Nähe, im Banne seiner Augen, durchrieselte sie; eine Ahnung kommenden Leids beklemmte ihr die Brust.

Sie war sich der Zeit nicht bewußt, die verflossen, seit ihre Wanderung begonnen hatte, und staunte, als sie, aus einem Fichtenhain tretend, die Sonne schon tief zum Untergang geneigt sah. Mit verdoppelter Geschwindigkeit eilte sie ihrem Ziele, einer Zirbelkiefer, zu, an deren gewaltigem Stamm eine leichte, geschnitzte Wendeltreppe zu einer runden Altane emporführte, über die der mächtige Baum sein grünes Schirmdach breitete.

Die junge Frau lief die Stufen hinan, um von der hohen Warte aus noch einen letzten Blick des scheidenden Tagesgestirns zu erhaschen. Die Hunde folgten. – Plötzlich schien ihr, als schwanke die Treppe … sie blieb stehen, wartete, an das Geländer gelehnt – das Schwanken dauerte fort. Es war nicht durch sie hervorgebracht. Dort oben mußte jemand auf und ab gehen, langsam und wuchtig. Einen Augenblick dachte sie an Flucht, es war doch gar zu einsam hier. Sogleich jedoch verlachte sie die feige Regung, die sich ihrer hatte bemeistern wollen. Wer konnte es sein? Ein Jäger, im schlimmsten Fall ein Wildschütz. Aber wenn auch, was hatte sie zu fürchten?

Die Hunde knurrten. Die Schritte hielten an, die ihren waren gehört worden.

Wenige Sekunden später betrat sie die Plattform unter dem wütenden Gebell Lords und Flys, die ihr vorangesprungen waren.

»Hoho, die Hunde! Rufen Sie die Hunde!« kreischte eine erregte Stimme ihr entgegen. – Der Mensch, der diesen Hilfeschrei ausgestoßen hatte, preßte den Rücken an den Stamm des Baumes und führte mit dem Stock einen Schlag gegen seine Angreifer, traf sie aber nicht.

Maria hatte ihn auf den ersten Blick erkannt trotz der Veränderung, die mit ihm vorgegangen war. Nicht in Lumpen wie in jener Winternacht, sondern gut gekleidet, in einem lichten Sommeranzug, mit wohlgepflegtem Haar und Bart, wäre seine Erscheinung die eines auffallend hübschen Menschen gewesen ohne den Ausdruck der Verwilderung und der Krankheit in seinem eingefallenen Gesicht.

Auch Maria war bleich geworden: »Hierher!« befahl sie den Hunden, die sich widerwillig fügten, und sprach in hartem Tone den Fremden an: »Der Eintritt in den Park ist nur den Hausleuten erlaubt. Was wollen Sie hier?«

Er hatte seine Sicherheit wiedergewonnen und beeilte sich, es zu beweisen. Den Hut spöttisch lüftend, erwiderte er: »Ich will dasselbe, was Sie wollen – die Aussicht bewundern, die wirklich ganz reizend ist. Erfüllen wir den Zweck unseres Spaziergangs.«

»Frechheit«, murmelte Maria, und die Rechte gebieterisch ausgestreckt, setzte sie laut hinzu: »Fort!«

»Entschuldigen Sie«, versetzte er, »ich bleibe. Ich habe mit Ihnen zu reden und hätte Sie um eine Zusammenkunft ersuchen lassen, wenn nicht der Zufall – oder war es vielleicht ein geheimer Zug des Herzens? – Sie hierhergeführt hätte, Frau Schwester.«

Maria stieß einen dumpfen Schrei aus und wich zurück. Wie dieser Mensch sich jetzt leicht verneigt hatte, war es in einer Art geschehen, mit einer Bewegung des Hauptes, ihr so wohlbekannt, so lieb und sympathisch an einem andern …

»Es beleidigt Sie, daß ich mir erlaube, Ihnen diesen Namen zu geben, aber – er gebührt Ihnen und nicht durch meine Schuld … Bleiben Sie doch«, bat er, als Maria, entsetzt und gequält, sich plötzlich zum Gehen wandte. »Einmal müssen wir uns aussprechen, warum nicht lieber heute als morgen. Was ich Ihnen zu sagen habe, ist bald gesagt. – Unser Vater hat meine Mutter betrogen – wie die Ihre, nebenbei bemerkt«, brach er höhnisch aus.

»Lüge!« sprach Maria; er aber fuhr fort, ohne sich unterbrechen zu lassen.

»Ich mache ihm keinen Vorwurf, ich klage ihn überhaupt nicht an. Unser Vater hat viel Geld auf mich verwendet – schade darum! –, mich erziehen, mir Grundsätze beibringen lassen wollen. Ganz vergeblich, denn – ich habe sein Blut in meinen Adern. Daß sein Sohn ihm gar zu gut nachgeraten, empörte den vortrefflichen Mann. Endlich zog er seine Hand von mir ab … Der Grund ist eigentümlich – was?« Er brach in ein Lachen aus, das allmählich in ein heftiges Husten überging. Auf dem Taschentuche, das er an die Lippen drückte, zeigten sich dunkelrote Flecken. »Da«, sagte er, »ich bin fertig. Zuviel Verschiedenes kennengelernt im Leben, zuviel Vergnügen und zuviel Elend. Jetzt bin ich fertig, fertig, hörst du? Der schlechte Spaß mit der Schneeschaufelei hat mir das letzte Almosen vom Grafen eingebracht, das allerletzte! Laß mich nicht auf dem Stroh sterben, gib mir ein Obdach, Frau Schwester.«

Sie starrte ihn an wie verloren. »Lügen, Lügen! – ich glaube nicht – ich glaube Ihnen nicht …«

»Wäre freilich das Bequemste, wird aber nicht durchzuführen sein. Fragen Sie nur den Grafen, meinen Schwager, der weiß von mir, Wolfi Förster, nennen Sie mich ihm nur. Ich will ihn sprechen, das heißt euch, in der Fischerhütte am Weiher, morgen vormittag zehn Uhr. Kommt gewiß, ich könnte euch sonst Unannehmlichkeiten bereiten. – Jetzt jagt der verfluchte Krankheitsteufel mich heim nach dem Bauernhotel, in dem ich mich vorläufig einlogiert habe.« Er knöpfte seinen Rock zu, Fieberfröste schüttelten ihn. »Auf Wiedersehen.«

Damit reichte er Maria die Hand, sie zog die ihre mit Abscheu zurück. »O Frau Schwester«, rief er, »du bist noch hochmütiger als unser edler Herr Vater!«

Kapitel 7

Kapitel 7

 

Hermann hatte die Erzählung von Marias Abenteuer im Parke schweigend angehört und sich am nächsten Morgen zur Zusammenkunft mit Wolfi im Fischerhause eingefunden.

»Ein Schwerkranker, vielleicht ein Sterbender«, sagte er bei seiner Rückkehr. »Mag er nun sein, wer er will, wir können ihm die Aufnahme, um die er bittet, vorläufig wenigstens nicht verweigern.«

»Wir können – du meinst, wir dürfen nicht«, fragte Maria. »So hat denn dieser Mensch einen Anspruch …«

»Genausoviel Anspruch«, unterbrach er sie, »als wir Erbarmen mit ihm haben.«

»Mir flößt er keines ein, er ist zu keck«, gab sie zur Antwort. Sie erkundigte sich kaum nach dem, was für ihn geschah, obwohl Lisette dem hergelaufenen Gast eine ganz merkwürdige Teilnahme bezeigte. Es war ihm eine kleine Wohnung im Hause einer Hegerswitwe angewiesen worden, das am Saume des Waldes und doch nahe genug am Dorfe lag, um den täglichen Besuch des Arztes zu ermöglichen. Diesen, einen sehr gutmütigen und sehr neugierigen ältlichen Herrn, beehrte Lisette mit ihrem Vertrauen. Sie saßen nebeneinander am Bette des Kranken, der in den ersten Tagen aus stumpfer Bewußtlosigkeit nur auffuhr, um in Fieberphantasien zu verfallen, in denen er lachte und schwatzte und alle Geheimnisse seiner armen, verkommenen Seele ausplauderte.

Der Doktor trank förmlich jedes seiner Worte. »Fräulein Lisette«, sagte er einmal, »da werden verborgene Familienverhältnisse vor uns enthüllt.«

Sie lächelte: »Bin eingeweiht, Herr Doktor, und brauche mir darauf nichts einzubilden. Wer das Haus kennt, kennt diesen wilden Sprößling, der in Wolfsberg zur Welt gekommen ist. Wäre auch schwer zu verleugnen gewesen bei der Ähnlichkeit und bei dem impertinenten Spektakel, den seine Mutter vor der Hochzeit des Herrn Grafen gemacht hat – als ob nicht viele andere dieselben Ansprüche … Na, darüber ist nichts zu sagen …« brach sie plötzlich ab.

»Sagen Sie doch, Fräulein, genieren Sie sich nicht und sagen Sie doch!«

Lisette erwiderte mit einem kleinen Achselzucken voll Koketterie: »Können sich selber denken. So ein Herr wie unser Graf, so eine Schönheit, kann der was dafür, daß ihm die Weiber nachlaufen? – ‘s ist ihre Sach und ihre Schuld. So ein Herr wird sich nicht auf den heiligen Aloisius hinausspielen.«

Doktor Weise stimmte bei. Er hätte gern einen recht nichtsnutzigen Witz gemacht, um auf das alte Fräulein den blendenden Eindruck eines Don Juan hervorzubringen. Weil er aber von Natur ein keuscher Mann war, wollte ihm nichts Frivoles einfallen.

Lisette erneuerte den feuchten Umschlag auf Wolfis Stirn. »Ein so hübscher Bursche und soll schon sterben«, seufzte sie. »Recht traurig, aber im Grunde doch das Beste für ihn und auch für die anderen.«

Der Doktor sah seinen Patienten, der jetzt ruhig atmete und sanft zu schlafen schien, prüfend an: »Gut gebaut, kräftig, kann sich noch eine Zeitlang wehren.«

»Wie lange zum Beispiel?«

»Schwer zu erraten – möchte mich nicht vor Fräulein blamieren« – er verbeugte sich galant –, »ich glaube nur, bei vortrefflicher Pflege – in dieser gesunden Luft – vielleicht noch zwei Jahre.«

Der Kranke schlug die Augen auf und blickte ihn zornig an: »Esel«, sagte er, so laut er konnte, »merken Sie nicht, daß ich wach bin?«

»Ich merke, daß Sie Ihre Besinnung wieder haben, und gratuliere«, sprach der Arzt, nicht im geringsten beleidigt.

»Zwei Jahre – wieviel Tage sind das?… rechnen …« Wolfi begann langsam zu zählen, seine Stimme wurde immer schwächer, er schlief wieder ein.

»Schon bei Besinnung«, flüsterte Lisette, »das hätte ich nicht geglaubt. Das ist eine schöne Kur von Ihnen, Sie reißen ihn am Ende gar noch heraus. Aber dann ist das erste« – diese Worte wurden von einer bezeichnenden Gebärde begleitet –, »abreisen.«

»Wird schwerlich dazu kommen, Fräulein«, erwiderte der Doktor und verbeugte sich noch galanter als vorhin.

Lisette aber warf einen Blick in den kleinen Spiegel, der an der Wand über dem Schranke hing, und sagte zu sich: Ich weiß eigentlich nicht, warum ich so altmodische Hauben trage.

Zur selben Stunde war Maria im Schloß an ihren Schreibtisch getreten mit der Absicht, den letzten Brief Wolfsbergs zu beantworten. Ein Brief, reich an ernsten und eigentümlichen Gedanken, voll tiefer Empfindung und Zärtlichkeit, den sie mit Stolz und innerster Herzensbefriedigung gelesen und wieder gelesen. Nie hatte ihr Vater so liebreich zu ihr gesprochen, wie er an sie schrieb; jetzt fürchtete er nicht mehr, sie zu verwöhnen.

Am Tische Platz nehmend, bemerkte sie, daß die Kassette aus dem Nachlasse ihrer Mutter neben die Mappe gestellt worden war.

Eine alte Bekannte! Wie oft hatte Maria sie stehen gesehen, immer auf demselben Platz im Zimmer ihres Vaters, und ihre feinen Ornamente betrachtet. Jetzt holte sie den kleinen Schlüssel, dessen Griff ihr in ähnlicher Weise durchbrochen und verziert geschienen hatte, aus der Emaildose und steckte ihn in das Schloß. Er paßte, wollte sich aber nicht drehen lassen. Viel Geduld und Geschicklichkeit mußte angewendet werden, bevor es gelang, der Deckel aufsprang und der Inhalt zum Vorschein kam. Der bestand aus einem zerrissenen Heft, dessen vergilbte Blätter mit einer zarten, feinen Schrift dicht bedeckt waren, und aus alten, mit einer verblaßten Schleife zusammengebundenen Briefen. Maria zog einen derselben hervor. Ihr Vater hatte ihn als Bräutigam an ihre Mutter gerichtet, und die glühendste Leidenschaft sprach sich darin mit hinreißender Beredsamkeit aus. Wie mußten die Beteuerungen, diese Schwüre überzeugt und beseligt haben! Wie reich war das Leben, das durch die Liebe eines solchen Mannes geschmückt worden! Und wenn auch früh erloschen, es hatte den köstlichsten, den seltensten Inhalt gehabt – ein volles Glück.

Maria griff nach einem der Blätter, auf denen sie die Schrift ihrer Mutter erkannt hatte. Es hing mittelst eines Seidenfadens lose mit den anderen zusammen und war, wie alle, ein Bruchstück. Das Ganze machte den Rest eines Heftes aus, das einst ziemlich stark gewesen sein mochte. Verbogen und zerknittert fand sich noch der Umschlag vor. Maria glättete ihn, so gut es ging. Er trug die mit größtem Fleiß kalligraphisch ausgeführte Aufschrift: »Im Himmel« und das Datum 1850. Aber die schönen Lettern waren durch Kreuz- und Querstriche verunstaltet, recht wie mit kindischer Zerstörungslust, und eine unsichere Hand hatte sich bemüht, als Vignette einen Teufel hinzuzeichnen; die kaum zu entziffernden Worte: »Der König des Himmels« und das Datum 1858 standen darunter.

Maria las hier und dort einen Satz, eine Zeile; ihr Gesicht verfinsterte sich; wie versteinert blickte sie nieder auf die verstümmelten Blätter. Die stummen, toten Zeichen aber wurden lebendig und sprachen und gaben Zeugnis von einem längst eingesargten Schmerz. Der überwundene, der vergessene, da war er aus dem Grabe auferstanden und stöhnte erschütternd seine Klagen aus.

Sie fanden einen qualvollen Widerhall in der Seele Marias. Nun war ihr einmal wieder etwas zerstört worden: ein beglückender Glaube … Glaube? Nein, ein Glaube, der auf einem Irrtum beruht, ist ein Wahn. Maria wäre sehr gestimmt gewesen, dem ihren nachzuweinen: das Künstlerische in ihrer Natur sträubte sich gegen die Zerstörung des Ideals, das ihr Vater ihr bisher gewesen war. Da fiel ein Wort ihr auf, das am Rande eines der mißhandeltsten Bogen des seltsamen Tagebuches stand: WAHRHEIT, groß geschrieben, von einer leichten Arabeske umschlungen.

Maria blickte nicht mehr auf, bevor sie den Sinn der letzten ihr noch halbwegs verständlichen Zeile in sich aufgenommen hatte. – Dann küßte sie die Blätter innig und lange, trug sie zum Kamin, verbrannte sie und erwartete auf den Knien das Verlöschen der Flammen. Das Geheimnis der Toten blieb aufbewahrt im Herzen ihres Kindes.

Einige der aus dem Zusammenhang gerissenen Stellen, die sich dem Gedächtnisse Marias fast vollständig eingeprägt, lauteten:

 

»Die Wahrheit verlange ich von dir. Du sollst nicht lügen. Treu sein, festhalten, was dein Herz einmal ergriffen hat, kannst du nicht. Du bist schwach und hilflos deinen Leidenschaften gegenüber. Sei wenigstens wahr. Dem Schwachen Bedauern, dem Lügner Verachtung.

 

Eifersüchtig ist nicht das rechte Worte. Würde ich sonst deinen Wolfi lieben? Würde ich sonst das Andenken seiner Mutter ehren? – Und ich hätte Grund, auf sie eifersüchtig zu sein, denn sie hat dich mehr geliebt, als ich dich liebe; ich hätte dir nicht geopfert, was sie dir geopfert hat: ihre Eltern, ihre Heimat, Ehre und Pflicht.

Wenn meine Tochter erwachsen sein wird, werde ich ihr sagen: heirate nicht aus Liebe. Man glaubt, vereint sein mit dem Geliebten, das ist der Himmel auf Erden. Es ist nicht wahr. Was macht den Himmel zum Himmel? Daß ein Gott darin regiert und – – –

 

Wenn Gott nur so gut wäre, wie wir sind gegen unsere braven Diener, dann hätte er mich erhört. Habe ich nicht alle meine Pflichten getreu erfüllt?… war ich nicht gläubig und fromm? Wenn Gott gut und gerecht wäre, hätte er mich gehört. Aber es ist überhaupt kein Gott im Himmel, nur ein Teufel, und der straft mich.

 

Geliebter, wenn die Jugend hinter uns liegen wird, wenn du zu mir zurückgekehrt sein wirst und ich dir alles verziehen haben werde, dann lesen wir zusammen, was ich jetzt schreibe, und reichen uns die Hände und lachen – und weinen auch ein wenig.

 

… daß du Alma verleitest – sie hat ein Gewissen. Es schläft jetzt nur, du hast es eingeschläfert, du weißt, wie man das macht … aber es wird erwachen, und dann – – –

Ich glaube es nicht, ich will es wissen, mich überzeugen, euch auflauern. Ich bin jetzt ein Jäger, ihr seid das scheue Wild …

 

Manchmal fürchte ich und manchmal hoffe ich den Verstand zu verlieren. Wir werden mein Tagebuch nicht zusammen lesen, Geliebtester. Ich glaube, daß ich es zerreißen muß. Die schöne Schilderung der glücklichen Tage – schon fort. In kleine, kleine Stücke gerissen und fliegen lassen von ›hoher Altane am Turm‹… Wie sie stoben im Winde … Woran habe ich gedacht? woran nur? An mein Glück oder was? Ich weiß nicht mehr …«

 

Bei dem nächsten Besuch, den Hermann im Hegerhause machte, begleitete ihn Maria. Der Kranke erholte sich sehr langsam von dem letzten heftigen Anfall seines Leidens. Er lag in tiefer Erschöpfung dahin, halb wachend, halb schlafend, nahm nur widerstrebend die Nahrung, die man ihm reichte, und zählte ohne Unterlaß an seinen Fingern, wieviel Monate, Wochen, Tage er noch zu leben habe. Die Rechnung war ihm aber zu schwer und wollte nicht stimmen. Gegen alle, die ihm nahten, Hermann nicht ausgenommen, legte er feindseliges Mißtrauen, ein mürrisches und schroffes Wesen an den Tag, das sogar die Geduld seines langmütigen Arztes sehr oft erschöpfte.

Nur wenn Maria an sein Bett trat, glättete sich seine Stirn, er lächelte; unter seinem kleinen schwarzen Schnurrbart schimmerten seine Zähne hervor, jung und gesund wie die eines Kindes. In der Tiefe seiner dunklen Augen entzündete sich ein unheimlicher Glanz: »Frau – – –« sprach er und machte eine lange Pause. Fürchtest du dich, fürchtest du das Wort, das ich jetzt sagen könnte? fragte sein boshafter und drohender Blick. Aber der ihre hielt ihn im Bann. Stolz und kalt ruhte er auf ihm, und er murmelte verwirrt: »Frau Gräfin.«

Sie kam regelmäßig, aber nicht an bestimmten Tagen, wöchentlich zweimal, auf der Rückkehr von ihren Gängen durch das Dorf. Dort hatte sie die Armen und Kranken besucht, war wohl auch in die Schule getreten und hatte einer Unterrichtsstunde beigewohnt. Sie hatte getadelt, gelobt, mit vollen Händen gegeben und mit alledem nur eine Einführung ihrer Schwiegermutter aufrechterhalten – nicht ganz in deren Sinn jedoch.

Gräfin Agathe hatte von den Leuten, denen sie Hilfe angedeihen ließ, eine Gegenleistung gefordert: »Du bekommst das unter der Bedingung, fortan das Wirtshaus zu meiden. – Du bekommst jenes unter der Bedingung, daß du von heut ab deine religiösen Verpflichtungen pünktlich erfüllst.«

Maria hingegen stellte nicht nur keine Bedingungen, sie lehnte sogar den Dank ab, dessen meist überschwengliche Äußerungen ihr widerstrebten. So verstimmte sie die Geistlichen und die Lehrer, die gewohnt gewesen waren, ihren Teil von der gräflichen Wohltätigkeit mittelbar einzuheimsen, und entwertete ihre Geschenke bei den Empfängern. – Wie hoch soll denn angeschlagen werden, was umsonst zu haben ist?

»Mit einer Hand geben und die andere zum Nehmen ausstrecken«, sagte Maria zu Hermann, »ekelt mich an.«

»Das versteh ich nicht«, entgegnete er. »Was diesen Menschen vor allem anderen fehlt, was ihnen vor allem anderen beigebracht werden muß, ist das Pflichtgefühl. Mit Wohltaten wirst du es nicht wecken.«

»Wecke ich es, wenn ich ihnen einen Handel vorschlage, einen Tausch?«

»Viel eher. Wenn du einem anderen Gutes tust und zum Preis dafür verlangst, daß auch er etwas Gutes tue, kannst du damit einen Begriff von Billigkeit in ihm erwecken, eine Ahnung dessen, was Pflicht ist. Und wenn du das getan, hast du ihm unendlich mehr genützt als durch momentane Linderung seines Elends.«

Sie mußte das gelten lassen und tat es gern. Es freute sie, von ihm überwiesen zu werden, sich seiner größeren Erfahrung zu beugen, seine schlichte Lebensweisheit anzuerkennen. Ein schönes Leben ließ sich an seiner Seite führen, ein tätiges und hilfreiches Leben. Für alles fand sich Zeit darin, auch für die Pflege ihrer geliebten Kunst.

Im Spätsommer sollte Graf Wolfsberg zu längerem Aufenthalt bei seinen Kindern eintreffen. Kurz vor dem Tage jedoch, an dem sie ihn erwarteten, kam seine Absage. Er hatte die vorläufige Vertretung eines hohen Herrn an einem fremden Hofe übernehmen und den Besuch in Dornach auf ein Vierteljahr hinausschieben müssen.

Der Gleichmut, mit dem Maria diese Nachricht empfing, setzte Hermann in Erstaunen, wie schon längst das Schweigen, das sie seit ihrer Verheiratung über Alma Tessin beobachtete. Ein Brief von ihrer einst besten Freundin, den er selbst ihr gebracht hatte, war unbeantwortet geblieben. Hermann fragte nicht warum. Er wollte seiner Frau eine peinliche Erörterung ersparen; es lag ja klar am Tage: der Zufall, den die Blinden blind nennen, hatte hier gewaltet und Maria in Kenntnis von Dingen gesetzt, die ihr bisher sorgfältig verborgen worden.

Der Herbst kam, die Weihnachtszeit rückte heran. Schnee und Eis bedeckten die Wiesen und die Weiher, die Natur war tot – scheintot. Unter dem Herzen Marias aber regte sich ein neues Leben und strebte frisch und kräftig dem Tageslicht entgegen.

Kapitel 8

Kapitel 8

 

Ein banger Tag in Dornach.

Die stattliche Frau, die seit einer Woche im Schloß wohnte, der die Mahlzeiten auf ihrem Zimmer serviert wurden und die zum Verdruß des Kellermeisters mittags und abends eine Flasche Bordeaux vertilgte, weilte seit zwei Uhr nachts am Bette der Gräfin. Auf dem Bahnhofe wartete eine Equipage die Ankunft des Schnellzugs aus Wien ab, mit dem der Herr Professor ankommen sollte. Der Herr Doktor hatte sich in Lisettens jungfräulichem Gemache etabliert, und wenn sich ein Geräusch auf dem Gange vernehmen ließ, trat er hinaus und sprach zu dem etwa Vorbeikommenden: »Ich bin hier – daß Sie’s wissen – für den Fall, daß ein Arzt nötig wäre, daß Sie wissen, wo er zu finden ist.«

Niemand hörte auf ihn, er war ganz uninteressant. Die gespannte Aufmerksamkeit richtete sich ausschließlich auf die Frauen, denen Gelegenheit zu irgendeiner Handreichung in der Nähe der Wochenstube gegeben war.

Am Nachmittage mußte Hermann sich’s gefallen lassen, vom Schmerzenslager seiner Frau, an dessen Ende er mit verstörtem Gesichte stand, durch Base Wilhelmine entfernt zu werden.

Jetzt waren sie in seinem Schreibzimmer, sein Vetter und er. Wilhelm hatte mitten auf dem Diwan Platz genommen, sich vorgebeugt und beschäftigte sich damit, seine dicken roten Finger knacken zu machen. Hermann ging rastlos neben dem Bücherschrank, der die Längenwand einnahm, auf und ab und pfiff entsetzlich falsch oder versank in ein düsteres Schweigen oder pflanzte sich vor Wilhelm hin und starrte ihn an.

Die Dämmerung war eingebrochen, der Kammerdiener erschien.

»Was willst du?« fragte sein Herr.

»Die Lampe anzünden.«

»Wir brauchen keine Lampe«, brachte Hermann mühselig hervor, und Wilhelm dachte: Dem armen Kerl ist das Weinen nah.

»Heute«, sagte er nach einer Pause, »haben wir drei Marder in der Falle gefangen«, worauf sein Vetter erwiderte: »Wieviel Uhr ist es?«

»Fünf hat’s just geschlagen.«

»Dann muß ja um Gottes willen der Professor schon hier sein.« Er schellte, und es dauerte unglaublich lang, bis endlich ein Lakai eintrat und meldete, der Herr Professor sei angelangt, und Lisette habe ihn zur Frau Gräfin geführt.

Eine Stunde verfloß, in der die Zeit bleierne Wellen rollte und Wilhelm die nutzlosen Versuche, Hermanns Gedanken abzulenken, aufgab. Plötzlich blieb dieser stehen und lauschte. Er hatte die hastenden Schritte, die sich nahten, erkannt, es waren die Wilhelminens. Sie riß die Tür auf. Das Nebenzimmer war hell erleuchtet, und wie von strahlendem Goldgrund hob ihre Gestalt auf der Schwelle sich ab. »Hermann?« rief sie fragend in das Dunkel hinein. »Komm, Hermann, komm – du hast einen Sohn!«

»Und Maria …«

»Wohl, Gott sei Dank.«

Er stürzte auf sie zu und hob die schwere Frau in seinen Armen in die Höhe und jauchzte laut.

»Was heißt denn das?« sagte sie. »Nimm dich zusammen. Sie ist noch matt. Wenn du dich nicht zusammennimmst, darfst du nicht zu ihr.«

»Oh – ich nehme mich …« er machte einen ungeheuren Aufwand an Selbstüberwindung, warf sich in die Brust, umschlang seine Base und zog sie mit sich fort. »Wilhelm, telegraphiere du an meine Mutter, an meinen Schwiegervater«, rief er noch atemlos zurück und durchmaß den ganzen Weg auf den Fußspitzen, betrat Marias verhängtes Zimmer unhörbar wie ein Sylphe und hätte am liebsten Wolkenform angenommen, um ihr zu nahen.

Sie lag ganz still, war blaß – blaß bis an die Lippen und sah unendlich müde aus. Aber sie lächelte ihn an, glücklich, sanft und milde. Das Herz wollte ihm übergehen vor Rührung – doch sie haßte es, bedauert zu werden; er durfte nichts sagen, er küßte nur leise ihre Hände und blickte dabei mit einer gewissen Verlegenheit nach einem weißen Bündel aus Stoffen, Spitzen, Stickereien, Bändern, das neben sie hingelegt wurde.

»Ich gratuliere Ihnen zu einem Prachtbuben«, sprach der Professor, aus dem Nebenzimmer tretend.

»Wo?« stotterte Hermann, und Wilhelmine brach aus: »Jesus Maria, da doch!«

Da – ganz richtig. Unter den Stickereien und Spitzen guckte etwas hervor. Ein kleines braunrotes Gesicht, mit faltenbedeckter Stirn, mit lichtscheuen, fest zugedrückten Äuglein, einer Nase, die mit unzähligen kleinen gelben Pünktchen bedeckt war, und einem winzigen Mund. Es waren auch Pfötchen zu sehen, die unverhältnismäßig lange Finger hatten und die zartesten schmalsten Nägel. Das also war der »Prachtbub«, das war der »Sohn«.

Hermann wunderte sich und küßte auch ihm die Hände.

Maria erholte sich langsam, und Doktor Weise, der nach der Abreise des Professors Ordinarius geworden, wurde nicht müde, die größte Schonung zu empfehlen. »Besonders der Nerven. Nur keine Aufregung, Herr Graf, Fräulein Lisette, Fräulein Klara, nur keine Aufregung!« – Er freute sich, daß die Taufe nicht vor dem vierzehnten Tage stattfinden konnte, weil es dem Grafen Wolfsberg, der durchaus selbst als Pate seines Enkels fungieren wollte, unmöglich war, früher einzutreffen.

Der Graf schrieb oder telegraphierte täglich, und es schien Hermann, als ob diese Botschaften ihres Vaters Maria peinlich berührten. Zuletzt wagte er nicht mehr, sie ihr mitzuteilen. Nun aber fragte sie allabendlich: »Kommt der Vater?« und als endlich die Antwort lautete: »Morgen«, da flammte eine fiebernde Röte auf ihren Wangen auf. Sie schloß die Augen, in kurzen, raschen Schlägen klopfte ihr Herz, eine unnennbare Bangigkeit überkam sie.

»Was ist dir?« fragte Hermann. »Maria, was bekümmert dich? Es ist etwas, das dich bekümmert und das du mir verschweigst.«

Sie seufzte tief auf. »Laß es« – bat sie, »wir wollen nie davon sprechen. Geh jetzt, es ist spät. Ich muß Ruhe haben und Kräfte sammeln für morgen.«

»Natürlich«, erwiderte er und befand sich schon auf den Fußspitzen und schlug sein beliebtes Sylphentempo an.

Maria winkte ihn zurück: »Eines möchte ich dich bitten – bringe es dem Vater vor. Das Kind soll Hermann heißen, Hermann Wolfgang … Verstehst du mich? Und dir, Lieber, möge es nachgeraten.«

Er ging beseligt, er machte sich selbst zum Hüter der Ruhe, nach der sie verlangte. Mehr als Stille ringsumher vermochte er jedoch nicht herzustellen. Eine so tiefe Stille, daß Maria das Atemholen des Kindleins hören konnte, dessen Wiege dicht an ihrem Bette stand. – Es war unerhört brav, schrie gerade soviel, als sich’s für einen zwei Wochen alten Jüngling gehört, sog seine Nahrung aus der mütterlichen Brust und schlief und lächelte oft im Schlafe.

Und der Anblick seines Friedens war die einzig wirksame Labung, die Marias Seele empfangen konnte in dieser letzten Nacht vor dem Wiedersehen mit ihrem Vater. Ein Wiedersehen und keines – es sollte ja ein anderer Mensch vor sie treten, nicht der, den sie geliebt und angebetet, einer, der gelogen, betrogen und getötet – einer, den sie gerichtet hatte.

Am nächsten Morgen war er da, völlig unermüdet, trotz der langen Reise. Den Wagen, der ihn auf der Station erwartete, hatte er seinem Kammerdiener überlassen und kam zu Fuß an. Ein tüchtiger Marsch in der tauigen Frühe war ihm Bedürfnis gewesen nach zweien im Waggon verbrachten Nächten.

Sein Schwiegersohn lief ihm entgegen, die beiden Männer schüttelten einander die Hände. Wolfsberg fragte zuerst nach Maria und dann unverzüglich nach Waschwasser und ließ sich in die für ihn bereiteten Zimmer führen.

Eine halbe Stunde später stand er vor seiner Tochter, mit unnachahmlich kunstvoller Nachlässigkeit gekleidet, duftend von Reinlichkeit und Eau de Toilette, einen freudig gerührten Ausdruck in seinem energischen Gesichte. Er klopfte Maria auf die Wange und sagte, halb zu Hermann, halb zu ihr: »Mager ist sie geworden.«

Sie hätte aufschreien mögen: Ich weiß, was du getan hast, und werde es dir nie verzeihen! – aber sein Anblick, seine Stimme, sein flüchtiger Kuß auf ihre Stirn übten ihre alte Macht. Sie beugte sich ihr fast ohne Widerstreben. – Er ist ja doch mein Vater, dachte sie.

Der Graf schenkte seinem Enkel die gebührende Aufmerksamkeit, setzte sich an das Bett Marias und begann mit ihr zu sprechen, mehr von sich als von ihr, offenherzig, vertrauensvoll, recht wie zu einem ebenbürtigen Geiste, dessen Verkehr er lange und schwer entbehrt. Ihre Kälte und Beklommenheit waren ihm sofort aufgefallen. Er schrieb sie ohne weiteres der richtigen Ursache zu: Maria hatte etwas, das ihn in ihren Augen herabsetzte, erfahren. Durch wen? – Um gegen Hermann auch nur den Schatten eines Verdachtes zu hegen, war Wolfsberg zu sehr Menschenkenner. Was liegt auch daran, dachte er, durch wen deine Illusionen über mich zerstört wurden, du armes Kind, sie sind fort. Du mußt lernen, mich zu nehmen, wie ich bin, und einsehen, daß du dennoch stolz auf deinen Vater bleiben kannst. – Da entfaltete er seine ganze zielbewußte Liebenswürdigkeit, stellte sich in das hellste Licht – indem er einen Irrtum, irgendein begangenes Unrecht eingestand. Mit der Miene eines Emporblickenden ließ er sich zu ihr herab, die er weit übersah. Galt es doch, einen erschütterten Einfluß wiederzugewinnen, eine schwankende Neigung wieder zu befestigen: zu erobern, mit einem Wort …

Wie ihm die Aufgabe gelang! – Wie seine Tochter, als er nach kurzem Aufenthalte Schloß Dornach verließ, ihn liebte, mehr als je! Der Starke war hilflos seinen Leidenschaften gegenüber, gab das nicht Grund, ihn zu bemitleiden? Und wer hatte seine Kämpfe gesehen? Mit so feinem Sinn für alles Edle begabt, was mußte er leiden unter dem Bewußtsein seiner Fehlbarkeit! Er gehört ja nicht zu denen, die sich feig über ihre Mängel hinwegtäuschen. Dieser Selbsterkenntnis, sagte sie sich, war wohl auch seine harte Zurückweisung Tessins entsprungen. Vielleicht fand er – in einer Hinsicht wenigstens – zwischen dem und sich Ähnlichkeit … Er wollte seine Tochter vor den schmerzvollen Enttäuschungen bewahren, die er ihrer Mutter bereitet hatte.

Nach wie vor weihte Maria der Toten die frömmste und getreueste Erinnerung, doch war sie in ihren Augen nicht mehr das Opfer eines Verbrechens, sondern die Märtyrerin eines unabwendbaren Schicksals, eine leidverklärte Heilige, vor deren Bild sie in Andacht versank.

Allmählich kehrte ihre Heiterkeit zurück und wuchs mit dem Gefühle zunehmender Kraft und wiedererlangter Gesundheit. Sie hatte es durchgesetzt, sie nährte ihr Kind selbst, obwohl das jetzt »niemand« mehr tut und selbst die Ärzte ihr davon abgeraten. Aber sie wußte wohl, was sie sich zutrauen durfte.

Ihr Vetter Wilhelm trug eine Bewunderung für sie zur Schau, die sich in den ausbündigsten Aufmerksamkeiten äußerte. Den ganzen Winter hindurch kam er allabendlich, bei jedem Wetter, herübergeritten, machte halt im Schloßhofe, fragte: »Wie geht’s?« und kehrte nach erhaltener Antwort heim auf seiner kugelrunden Falbin. – Sobald die Wege wieder fahrbar geworden, kamen die Familiendiners am Dienstag von neuem in Aufnahme.

Nach dem ersten hatte Wilhelm seinen Vetter in eine Fensterecke gedrückt und ihm geheimnisvoll zugeflüstert: »Deine Frau war bisher immer wunderbar – gemütlich aber ist sie erst jetzt geworden. Das macht das Kind, ja, mein Lieber … Man sagt: des Herzens Schrein – ganz falsch, es sind Schreine. Da und dort steht einer offen von Jugend auf. Die anderen öffnen sich nach und nach – ich spreche nur von guten Menschen natürlich – und den Schlüssel zum wichtigsten bringt manchmal ein Kindlein mit, in seiner kleinen Hand.«

In der Tat schien Maria ein ungetrübtes Glück in ihrer Ehe gefunden zu haben. Und war sie nicht auch beneidenswert vor Tausenden? Vergöttert und angebetet von einem Manne, den sie innig wertschätzte, Mutter eines blühenden Kindes, schön, ohne eitel, und hochbegabt, ohne ehrgeizig zu sein, reich genug mit Glücksgütern gesegnet, um dem regsten Wohltätigkeitssinne Genüge tun zu können, gehörte sie zu den Auserwählten des Schicksals. Sie selbst empfand es als eine Pflicht, sich zu ihnen zu zählen.

Früher, als Hermann es gestatten wollte, hatte sie sich wieder in den Hütten der Armen eingefunden, aber mahnen und drängen mußte er, bevor sie den Entschluß faßte, die Schwelle Wolfis nach langer Zeit von neuem zu überschreiten.

Er war, kaum erholt von einem abermaligen heftigen Anfall seines Leidens, dennoch aufgestanden, um sie zu empfangen, und kam ihr einige Schritte entgegen. Ein greisenhafter Zug bildete sich um seinen Mund, als er sie anlächelte. »Endlich, Frau Gräfin«, sprach er mit schwacher und heiserer Stimme, »endlich – Sie sehen, es geht besser. Ihr großer Arzt gibt mir nur noch beiläufig fünfhundert Tage zu leben, aber ich beabsichtige, Ihnen länger zur Last zu fallen, als der Gelehrte sich’s träumen läßt, ich …«

Hermann unterbrach ihn mit der Aufforderung, jetzt das Bekenntnis zu tun, das er auf dem Herzen habe.

»Aber verderben Sie mir die Freude nicht, Frau Gräfin«, sprach Wolfi.

»Welche Freude?«

»Die, zuzuhören, wenn Sie Klavier spielen … Staunen Sie nur! Der elende Kerl, der Wolfi, hat Sinn für Musik – besonders für diejenige, die Sie treiben.« Er klopfte mit der flachen Hand auf seine Brust. »Balsam, Frau Gräfin. – Ich habe mich auf allerlei Umwegen in die Nähe des Schlosses geschleppt, bis zum Gartenhaus hinter den Fliederbüschen, und gelauscht … Ja, das war Musik! Dabei läuft es einem kalt über den Buckel, und das ist das Rechte. Ich hatte Ihnen soviel Leidenschaft gar nicht zugetraut. – Sie haben es da«, er griff ans Herz, »und in den Fingern, und ich hätt es auch gehabt, wäre gewiß ein Künstler worden … Aber hat’s denn sein dürfen?… Was, Künstler – Lump! Eine Satzung des großen Grafen: Aus dem Künstler wird nichts, wenn nicht der Lump in ihm die Begeisterung dazu gibt … Also ich bitte um freien Eintritt in das Gartenhaus, bitte auch, den Hunden und den Leuten aufzutragen, mich dort unbehelligt zu lassen, wenn ich komme, was nicht gar zu oft geschehen wird. Aber ich darf? – ich darf?« wiederholte er ungeduldig.

Maria zögerte: »Ein versteckt lauschendes Publikum ist nicht angenehm.«

»Flausen! was wissen Sie, wenn Sie spielen, von einem Publikum.«

Hermann legte seine Fürsprache ein, und der Wunsch Wolfis wurde gewährt.

Von diesem Tag an verlängerte Maria ihre Besuche bei dem Kranken. »Ein Mensch, der sich noch Empfänglichkeit für das Schöne erhalten hat, kann nicht ganz schlecht sein«, meinte sie und betrachtete es als ihre Aufgabe, diese Seele, die schon so bald vor den ewigen Richter gerufen werden sollte, zu retten. Sie hielt den Zynismus, mit dem er ihre Vorstellungen aufnahm, für eine scheußliche Maske, und die Einwendungen, die er ihr machte, für erbärmliche Prahlereien.

Eines Nachmittags fand sie ihn in großer Aufregung. Er war mit dem Lesen eines Briefes beschäftigt und empfing sie mit den Worten: »Habe ich noble Korrespondenten, he? Sehen Sie doch die Unterschrift.«

Sie las mit peinlicher Verwunderung »Felix Tessin«.

Wolfi steckte den Brief ein. »Ja«, sprach er nachlässig, »der antwortet einem doch, erinnert sich doch der einstigen Jugendfreundschaft. – Sie lächeln ungläubig? Sie können den Gassenkehrer nicht vergessen, der hat Ihnen einen unauslöschlichen Eindruck gemacht. Aber dieser Episode meines bewegten Lebens gingen andere voran … Ei, ei – nun, was ist denn los?« Er stockte.

Maria hatte eine Art, den Kopf zu heben und Leute, die etwas taten oder sagten, das ihr mißfiel, dabei anzusehen, die den Kecksten in Verwirrung brachte.

Wolfi erfuhr es jetzt. »Ohne Sorge! Wozu diesen Aufwand an Würde?« spöttelte er, »ich denke nicht daran, mich in Details einzulassen, ich sage nur: Wir waren befreundet. Felix und ich studierten in Heidelberg zusammen – fragt mich nur nicht was –, wurden zusammen relegiert. Tessin kümmerte sich nicht um die Anzahl der Ahnen, die einer hatte, sondern um die der Frauenherzen, die er bezwang, und um die Klinge, die er führte. Die meine hat er schätzen gelernt bei jenem Überfall, den ein beleidigter Ehemann gegen ihn in Szene gesetzt hat … Ja, wir waren Freunde!«

»Und einer des anderen wert«, sprach Maria und wandte sich, um ihr Erröten zu verbergen. Wie hatte sie diese Worte sprechen können? War ihre Erbitterung gegen Tessin nicht längst überwunden?

Sie stand auf und verließ das Zimmer.

Lisette, von der sie sich hatte begleiten lassen, überhäufte Wolfi mit Vorwürfen, ehe sie der Gebieterin folgte.

Er aber blickte aus dem Fenster der hohen Gestalt nach, die langsam hinter den Bäumen des Parkes entschwand, und murmelte zwischen den Zähnen: »O Majestät, meinen letzten Lebensfunken für einen Flecken auf deinem Hermelin!«

Kapitel 9

Kapitel 9

 

Noch ein Herbst auf dem Lande, noch einmal die Weihnachtszeit in Dornach, die Gräfin Agathe bei ihren Kindern zubrachte, im Anblick ihres Enkels schwelgend. Nach dem Neuen Jahre trennte man sich. Hermann und Maria fuhren zum Winteraufenthalte nach Wien, Gräfin Agathe kehrte in ihre Einöde zurück, nicht ohne die jungen Leute gemahnt zu haben, daß es auch gegen die Gesellschaft Pflichten zu erfüllen gibt. Während des langen Witwenstandes der Gräfin war kein Fest gefeiert worden im alten Dornachischen Palast, den ein prachtliebender Ahnherr der Gastfreiheit seiner Nachkommen erbaut. Allabendlich nur hatte sich das schwere Tor vor der soliden Equipage einer Familienmutter oder der ehrwürdigen Stiftskarosse geöffnet und Glock zehn hinter ihr wieder geschlossen unter den tiefen Bücklingen des gähnenden Portiers, der nach und nach zu der Überzeugung gelangt war, der Zweck des Lebens sei auszuruhen.

Das sollte nun anders werden, viel gründlicher anders, als die Gebieter des Hauses beabsichtigt hatten. Ihr Vorsatz, sich frei zu erhalten von dem Zwange, alles mitzumachen, erwies sich als unausführbar; in kurzer Zeit waren sie von dem Wirbel erfaßt. Die Welt sprach zu ihnen wie zu allen ihren Kindern: Gib dich mir ganz, eine Halbheit kann ich nicht brauchen. Und Maria wenigstens tat der Welt den Willen, und diese bereitete ihr dafür Triumphe von berauschender und von denen, die sie als junges Mädchen gefeiert hatte, ganz verschiedener Art.

Wenn sie früher die Summe dessen zog, was sie sollte, was von ihr verlangt wurde, so lautete das Resultat: gefallen. Jetzt hingegen schienen alle Menschen nur einen Wunsch, nur einen Ehrgeiz zu haben, den: ihr zu gefallen. Ein Lächeln, ein freundliches Wort von ihr beglückte, die geringste Bevorzugung des einen machte hundert Neider.

Der erste Ball bei Dornach hatte ungeteiltes Lob geerntet, ein zweiter Enthusiasmus erregt. Nun sollte ein dritter am vorletzten Faschingstag stattfinden.

Zu dem eine Einladung zu erhalten, bemühte sich jemand, der bisher die Nähe Marias sorgfältig gemieden hatte: Felix Tessin. Sie war ihm anfangs dankbar gewesen für seine Zurückhaltung; doch sagte sie sich endlich, daß in dieser etwas viel Auffälligeres liege als in den banalen Huldigungen, die ihr von jung und alt dargebracht wurden.

Mit welchem Rechte machte er eine Ausnahme? War zwischen ihnen das geringste vorgefallen, das ihm erlaubte, sich anders als alle anderen gegen sie zu benehmen?

Fast freute sie sich, als sie eines Tages seine Karte fand und ihm eine Einladung zum Ball senden konnte. Es war Zeit, daß er seine Sonderstellung aufgab. Erst unlängst hatte Hermann gesagt: »Tessin hat seine Niederlage noch nicht verschmerzt, er grollt«, und als Maria ihn staunend und bestürzt angeblickt, ganz ruhig hinzugefügt: »Vor einem braven Manne, den du mir vorgezogen hättest, wäre ich zurückgetreten, vor Tessin nicht. Ich hätte ihn eher niedergeschossen als zugegeben, daß er dich heimführt.«

Maria zwang sich mühsam eine gleichgültige Miene ab: »Wie – du hast etwas entdeckt von dem mißlungenen Versuch des Grafen Tessin, sich auf die einfachste Weise den Einfluß meines Vaters zu sichern? – Allen Respekt! Außer dir ist dieser kleine diplomatische Fehlgriff niemandem aufgefallen.«

»So war auch ich einmal scharfsichtig«, hatte Hermanns Antwort gelautet. »Die Liebe tut Wunder.«

An dieses Gespräch erinnerte sich Maria oft, als die Stunde immer näher kam, in der sie Tessin als Gast in ihrem Hause sehen sollte. Und welche Vorsätze faßte sie nicht! Mit welcher Unbefangenheit wollte sie ihm entgegentreten und sogleich den kühl freundlichen Ton anstimmen, der von nun an zwischen ihnen herrschen sollte.

Der Faschingmontag kam heran. Es war neun Uhr; Maria hatte ihre Toilette beendet und sich noch in das Kinderzimmer begeben, um dem Kleinen gute Nacht zu sagen. Er erwachte, als sie sich über ihn beugte, stieß ein freudiges Lachen aus und griff mit beiden Händen nach dem glitzernden Diadem auf ihrem Haupte. Sie wehrte ihm, küßte ihn, schläferte ihn wieder ein und flüsterte ihm zu: »Du bist doch mein Höchstes und Liebstes.«

Dann begab sie sich hinüber nach den taghell erleuchteten, blumendurchdufteten Festräumen … Alles noch leer und still. Nur im Wintergarten, in dem soupiert werden sollte, der Obergärtner aus Dornach und seine Leute mit dem Ordnen einer Palmengruppe beschäftigt. Und in der Galerie der Haushofmeister, der mit so feierlichem Ernste, als ob er einem Ministerrate präsidierte, den schwarzbefrackten Kammerdienern und den goldbetreßten, perückengeschmückten Lakaien seine Befehle erteilte.

Im kühlen Ballsaale ging Hermann mit dem Direktor der Kapelle, einem berühmten und liebenswürdigen Künstler, in lebhaftem Gespräch auf und ab. Als Maria sich näherte, blieben beide stehen, und der Musiker rief unwillkürlich aus: »Wie schön Sie sind, Frau Gräfin!«

»Nicht wahr?« erwiderte sie, seine Bewunderung ebenso unbefangen hinnehmend, wie er sie geäußert hatte: »Diese Spitzen – eine geklöppelte Symphonie; das Diadem, ein Meisterstück unseres Köchert, prächtig und doch leicht, ich spüre es kaum – lauter Geschenke meines Mannes …« Und seine geringsten, dachte sie. Hatte er sich ihr nicht selbst völlig zu eigen gegeben? Sein erster und letzter Gedanke gehörte ihr, und was ihr Leben schmückte und schön und reich machte, vom Größten bis zum Kleinsten, war das Werk dieses Mannes, der im Besitz ihres Selbst noch sehnsüchtig nach ihrer Liebe rang.

Von unendlicher Dankbarkeit ergriffen, freute sie sich, so schön zu sein, freute sich, daß ihn heute viele glücklich preisen würden. Strahlenden Auges blickte sie in den Spiegel … Sie konnte zufrieden sein mit sich. Nie hatte ein Kleid ihr besser gestanden als dieses farbig-farblose, eine Mischung von Grau und Lila, für die die Sprache keine Bezeichnung hat. Das kostbare, goldgestickte Spitzengewebe, das eben von ihr gerühmt worden, umgab die herrlich geformte Büste, bildete eine schmale Spange zwischen der Schulter und dem Oberarm und wallte, kunstvoll gerafft, vom Gürtel nieder bis zu der langen, mit schwerem Goldbrokat gefütterten Schleppe. Die edle, in zarter Fülle prangende Gestalt war wie von einer goldenen Wolke umschimmert, und eine Wonne für das Auge die gelassene und stolze Anmut ihrer Bewegungen.

Allmählich füllten sich die Säle. Übermütig oder abgespannt, mit vergnügten, erwartungsvollen oder mit gelangweilten Mienen wogten die Ankommenden herein. Die paar hundert Menschen, welche die sogenannte große Welt ausmachen, trafen einmal wieder an einem und demselben Orte zusammen – Blüte des Adels, Häupter und Angehörige uralter Geschlechter, die ihr Blut rein erhalten hatten von jeder Vermischung mit dem nicht Ebenbürtiger.

Da stehen sie, eine große Gruppe bildend, die in ihrer Art einzigen, die berühmten Wiener Komtessen. Die Reden einiger sind so frei und so derb, daß es nicht leicht ist, die Harmlosigkeit zu ermessen, mit welcher sie geführt werden. »Slang« und nichts weiter, das fliegt sie so an. Die spricht’s ihrem Vater und jene ihrem Bruder und eine der anderen nach. In Wahrheit aber sind sie sorgfältig betreut worden, von ihrem ersten Atemzuge an behütet vor dem Anblick des Häßlichen und Schlechten, aufgewachsen in Unkenntnis des Elends und der Schuld. Und jetzt führt man sie ein in das Leben, zu welchem das vergangene nur eine Vorbereitung war; sie nähern sich seiner Schwelle, als wäre sie diejenige der Himmelspforte, und klopfen herzhaft an.

Und die jungen Herren – sämtlich studierte Leute, wenn auch nicht immer viel mehr, als nötig ist, um die Offiziersprüfung zu machen. So mancher von ihnen hat auf der Schulbank neben dem Sohn des Schneiders oder des Branntweinbrenners gesessen und manche sauer erworbene gute Klasse dem Ehrgeiz zu verdanken gehabt, sich nicht regelmäßig von einem Plebejer überflügeln zu lassen. Ob sie jedoch gedenken, das Erlernte baldmöglichst wieder zu vergessen und nur noch ihrem Vergnügen zu leben, oder ob sie sich fühlen als angehende Marschälle, Botschafter, Minister: dieselbe Zuversicht, daß es die Welt nur gut mit ihnen meinen könne, beseelt alle, und sie treten hinein wie junge Könige in ihr Reich.

»Schau, wie sie grüßen«, sagte Hermann zu seinem Schwiegervater. »Da hat sich eben ein blühender Schwarm frischgebackener Leutnants und Attachés durch die Menge gedrängt, um der Hausfrau seine Reverenz zu machen. Sie stehen unbeweglich, nur die Arme werden noch etwas mehr geründet, die Schultern noch ein wenig höher emporgehoben als gewöhnlich. Ein leichter Ruck, der Kopf neigt sich – beileibe nicht zu tief! – eine Viertelsekunde lang – der Gruß ist abgefertigt.«

»Modern«, sprach Wolfsberg. »Die Bursche sind alle nach demselben Rezept eingetunkt und steif glaciert in Eleganz.«

»Und soviel Gutes, das sich hinter den Faxen verbirgt, soviel Bravheit, Tüchtigkeit, Mut und – wie oft – Talent!«

»Wenn sie nur damit etwas anzufangen wüßten … Guten Abend, Fürstin«, unterbrach er sich, das freundliche Kopfnicken einer wohlerhaltenen stattlichen Dame mit tiefer Verbeugung erwidernd.

»Ich suche einen Platz auf der Estrade zwischen ein paar Nachbarinnen, die nicht gar zu arg besessen sind vom mütterlichen Ballwahnsinn. Einen Mauerfliegenplatz, mein lieber Graf«, sagte sie lachend und in bester Laune, obwohl sie wußte: Beim ersten Geigenstrich wird es sie erfassen mit fast unbezwinglicher Lust, sich noch einmal – ein allerletztes Mal – im Reigen zu schwingen … Ach! wenn sie sich nicht schämte vor ihrer siebzehnjährigen Tochter …

Die Ankunft des Hofes wurde gemeldet; Hermann eilte den hohen Gästen auf die Treppe entgegen, und bald darauf eröffnete Maria den Ball am Arme eines jungen Erzherzogs.

Während der ersten Tänze, umringt und umdrängt, in Anspruch genommen von ihren Hausfrauenpflichten, hatte sie ihn noch nicht gesehen, an den sie seit dem Beginn des Festes fortwährend dachte. Plötzlich meinte sie seine Anwesenheit zu fühlen. – Er ist da, sagte sie sich und erblickte ihn. Eine entsetzliche Verwirrung bemächtigte sich ihrer. Seine dämonische Schönheit fiel ihr wie etwas Neues auf.

Er stand neben dem Fauteuil Gräfin Dolphs, in eifrigem Gespräch mit ihr. Eifrig ihrerseits, sie war lebhaft angeregt, ein leichtes Rot färbte ihre welken Wangen, ein heiter satirisches Lächeln umspielte ihre Lippen, ihre scharfen Züge waren von dem Ausdruck der Zufriedenheit erhellt, die sie nur im Verkehr mit wirklich gescheiten Männern empfand. Tessin sprach wenig, aber jeder der kurzen Sätze, die er vorbrachte, schien eine Welt von Gedanken in dem verständnisvollen Geiste der Gräfin zu wecken.

Er brach das Gespräch ab, als sein suchender Blick dem Marias begegnete, und kam auf sie zugeschritten. Sie wechselten einige Redensarten, er bat um die nächste Polka.

»Ich gebe Ihnen die dritte – mit meiner Kusine Wolfsberg; sie hat, wie mir eben anvertraut wurde, keinen Tänzer«, antwortete Maria.

Tessin verneigte sich und ging, um die Komtesse zu engagieren, eine der Unbegabtesten ihres Geschlechts, für die jeder Ball eine Übung im Sitzen war.

Der Kotillon, den Tessin mitmachte, bot ihm endlich die ersehnte, glücklich wahrgenommene Gelegenheit zu einer Entschädigung. Scheinbar zufällig führte ihn eine Wahltour mit Maria zusammen. Mit leidenschaftlicher Hast umschlang er sie. »Einmal wieder!« sagte er so laut, daß sie erschrak, und schon flogen sie dahin, und ihr Atem mischte sich mit dem seinen, und sein Mund streifte ihre Haare, und er drückte sie an sich und sprach: »Ich habe Sie gemieden, Gräfin – aus Sorge für meine Seelenruhe«, und sie erwiderte mit einer Stimme, die ihr selbst fremd klang und herb und unsicher war … Nein, nein, so hatte sie ihm nicht begegnen wollen: »Und was sichert sie Ihnen jetzt?«

»Nichts, aber ich will sie zu gewinnen – das heißt zu befestigen suchen – fern von Ihnen.«

Sie lachte: »An welchem Ende der Welt?«

Statt zu antworten, flüsterte er ihr zu, rasch und überstürzt: »Es wäre schön gewesen, auch jetzt noch zu schweigen, wie ich geschwiegen habe, als man mich bei Ihnen verleumdete – leugnen Sie doch nicht«, kam er dem Einwande zuvor, den sie erheben wollte –, »verleumdete und Sie die Frau eines anderen wurden … Es wäre heldenhaft gewesen, ich weiß, schweigend in die Verbannung zu gehen – aber zu so hoher Tugend vermag ich mich nicht aufzuschwingen, und Sie sollen wissen …«

»Also wirklich in die Verbannung«, unterbrach sie ihn; »da bedaure ich ja sehr die kleine Nicolette.«

Das hätte sie nicht sagen dürfen! Oh, wie sie das wußte, als es zu spät, als es schon gesagt war und spöttischer Triumph aus den Augen des Herzenskundigen leuchtete, der in ganz verändertem und leichtfertigem Tone fragte: »Die Kleine – Sie erinnern sich ihrer? War sie nicht nett?«

Sie sprach ihn nicht mehr an diesem Abend, den er ihr, den sie selbst sich vergällt hatte, den sich ins Gedächtnis zurückzurufen ihr peinlich wurde. Sie hörte, daß er einen »exotischen« Posten angenommen hatte und Österreich und Europa für Jahre verlassen sollte, sehr bald wahrscheinlich, vielleicht schon in einigen Wochen; der Zeitpunkt war noch nicht genau bestimmt.

Fast täglich führte die ruhelose Geselligkeit, in der sie lebten, sie zusammen. Sie trafen einander auf dem Eise, im Prater, bei Diners, in Soireen. Und er, mit großer Geschicklichkeit, mit steter Beherrschung seiner selbst, wußte immer da zu sein, wo sie war, und sich dann mit allen außer mit ihr zu beschäftigen. Er machte auf das eifrigste der und jener koketten Frau in Marias Gegenwart den Hof, er verschwendete die Schätze seines Geistes und seines Witzes an irgendeine hübsche Dutzend-Komtesse.

Das war so seltsam, so unerwartet nach seinem kühnen Versuch einer Erklärung auf dem Balle. Sie belächelte es, fand es kindisch, ihrer und seiner unwürdig und nahm den Kampf dennoch auf, den er ihr bot. Allerdings beschäftigte sie sich dabei mehr als billig mit ihm, dachte an ihn – immer und immer! Anfangs rang sie gegen diese törichte Besessenheit, dann erinnerte sie sich des großen Wortes: »Wir befreien uns von unseren Leidenschaften, wenn wir sie denken.« – Von unseren Leidenschaften – um wieviel eher denn von einer Marotte. Überdies stand Tessin am Morgen seiner Abreise; er einmal fort, und der kleine Krieg, den sie miteinander geführt, und die Laune, die ihn heraufbeschworen hatte, waren vergessen.

Gräfin Dolph, zu deren, wie sie selbst sagte, senilen Eitelkeiten es gehörte, mit der Marquise du Deffand verglichen zu werden, nannte Tessin, der sich regelmäßig in ihrem auswattierten, vor jedem Zuglüftchen sorgfältigst verwahrten Salon einfand, ihren Horace Walpole. Sie sang sein Lob in allen Tonarten, und ein Massenchor von schönen Damen stimmte ein. Tessin war nie so ausschließend und siegreich in der Mode gewesen wie jetzt, da sein Nimbus dadurch noch erhöht wurde, daß er einen Scheidenden umgab.

Die aus Überzeugung Unwissenden, die geschworenen Feindinnen der Geographie begannen diese verachtete Wissenschaft zu pflegen. Landkarten von Asien fanden nie dagewesenen Absatz in aristokratischen Häusern, die Wege, die Tessin nehmen sollte oder konnte, wurden mit farbigen Stiften auf denselben eingezeichnet. Eine unerhörte Wanderlust regte sich plötzlich in hundert jungen weiblichen Herzen.

Es versteht sich von selbst, daß die Abende bei der Gräfin Dolph, die sonst wenig Anziehungskraft besaßen, bis zum Ende der Fastenzeit besucht wurden wie ein Gnadenort. Die gastlich geöffnete Zimmerreihe der großen Wohnung, welche die Gräfin im Hause ihres Bruders beibehalten hatte, stand fast leer, während das Gelaß, in dem die Hausfrau ihren Günstling empfing, immer überfüllt war.

Der Graf mied diese Gesellschaften, weil Tessin ihr Mittelpunkt war, und Maria fand sich so selten ein, als unauffälligerweise geschehen konnte. Einmal aber kam sie nach der Oper, begleitet von Hermann, und bald nach ihnen erschien Wolfsberg. Er befand sich in schlechter Stimmung; um seinen Mund lagerte der böse Zug, den Maria einst gefürchtet hatte und der ihr jetzt noch unangenehm war, weil er eine Härte verriet, zu welcher ein Überlegener wie er sich gegen Geringere nicht hinreißen lassen durfte. Er schritt durch das Gedränge bis in die Nähe der Gräfin Dolph, die in ihrem kissenreichen Lehnstuhl am Ende des Zimmers ruhte und mit dem auf einem Taburett neben ihr sitzenden Tessin scherzte. Ein kleiner Hofstaat von besonders eifrigen Anhängern umgab sie und mischte sich gelegentlich in ihr Gespräch.

»Begum Somru und Dyce«, sagte Wolfsberg im Vorübergehen zu seiner Tochter, und sie versetzte: »Nein, Stuwer & Nachfolger – sie sprechen ein Feuerwerk.«

Der Graf reichte seiner Schwester die Hand, würdigte einige der Damen seiner freundlichen Beachtung und bemerkte erst nach einer Weile, daß Tessin aufgestanden war und der Erwiderung seines Grußes harrte.

Nun sah er ihn. Die Blicke beider Männer kreuzten sich wie blanke Schwerter. Der jüngere senkte seine Augen nicht, und Wolfsberg sprach: »Sind Sie reisefertig?« »Seit vier Wochen, Exzellenz.«

»Um so besser, denn Sie werden wohl kaum noch ebenso viele Tage hier zubringen. Was meinen Sie?«

»Immer das, was Euer Exzellenz meinen.« »In all und jedem«, fiel die kleine Gräfin Felicitas Soltan, genannt Fee, ein, die zu den ausgesprochenen Lieblingen Wolfsbergs gehörte. Er lauschte gern dem reichen Quell des Unsinns, der aus ihrem hübschen Mund sprudelte, und fand, ihr Plaudern sei ein höchst anmutiges Geräusch, bei dem er ausruhe. – Fee war reich und elternlos zu sechzehn Jahren durch ihre Verwandten an einen viel älteren Mann verheiratet worden, der sie zwei Jahre später zur Witwe machte. Jetzt genoß sie ihr junges Dasein und das sich selbst erteilte Privilegium, alles zu sagen, was ihr durch den Kopf fuhr. Es hatte viel Staub aufgewirbelt in diesem Fasching, daß sie sieben Heiratsanträge ausgeschlagen, weil sie, ihrer eigenen Behauptung nach, seit ihrer Kindheit in Tessin verliebt war »bis über die Ohren«. Jüngst hatte er sich einige Tage lang auffallend mit ihr beschäftigt und vernachlässigte sie jetzt wieder ebenso auffallend.

Maria durchschaute sein Spiel. Sie wußte wohl, wessen Befremden es erregen sollte, und daß es ohne weiteres eingestellt worden, als es seinen geheimen Zweck verfehlt hatte.

Jetzt rief die kleine Fee sie an und zwang sie, neben ihr Platz zu nehmen. »Hörst du«, fragte sie, »wie bald Tessin uns verlassen soll?… Ihr könnts euch um ihn kränken, wenn’s euch freut. Ich kränk mich nicht – ich reis ihm nach.«

Alle lachten, und Tessin sprach achselzuckend: »Sie wären in größter Verlegenheit, Gräfin. Sie haben ja keine Ahnung von dem Wege, den Sie nehmen müßten.«

Fee zog ihr feines Kindergesicht in ernste Falten: »Ich werd halt fragen, ich werd auf die Bahnhöf fahren, ich werd an jeden Stationschef schreiben in die vier Weltteil.«

»Immer schlimmer«, versetzte Tessin, und seine Augen ruhten mit unbarmherzigem Spotte auf ihr, »denn nur im fünften leben Gelehrte, die Ihre Schrift lesen können.«

Sie suchte nach einer Antwort und fand keine. »Schau, wie er mit mir is«, flüsterte sie ihrer Nachbarin zu. Ihr Mund verzog sich zum Weinen; sie sprang auf und sprach mit einem Schluchzen in der Stimme: »Das is hier eine Hitz, nicht zum Aushalten!«

Maria folgte ihr. Sie traten beide ans Fenster; Fee preßte ihre glühende Stirn an die Scheibe. Tränen flossen über ihre Wangen.

Eine halbe Stunde später verließ das Ehepaar Dornach die Gesellschaft und wurde auf der Treppe von Tessin eingeholt.

»Ich begreife nicht«, sagte Hermann zu ihm, »wie du Freude daran finden kannst, eine Frau, die dich liebt, lächerlich zu machen.«

»Mich liebt?« erwiderte Tessin mit einer weder durch diese Worte noch durch den Ton, in dem sie gesprochen waren, gerechtfertigten Gereiztheit. »Ein Wetterfähnchen, das liebt?«

»Der Tausend! – Du wirst doch niemandem aus seiner Unbeständigkeit einen Vorwurf machen?«

»Jedem den schwersten«, sprach Tessin mit großem Nachdruck.

Am folgenden Morgen erhielt Hermann ein Telegramm von dem Gewissensrat seiner Mutter, Pater Schirmer. Er berichtete auf eigene Faust, daß die Gräfin – wenn auch unbedenklich – erkrankt sei.

Der Entschluß, am selben Abend zu reisen, war sogleich gefaßt. Die Anordnungen dazu wurden getroffen, das Kind mit seiner Kamarilla unter der Obhut Lisettens nach Dornach gesandt.

Maria geleitete den Kleinen zur Bahn, nahm Abschied von Tante Dolph und schickte ihrem Vater eine Zeile der Nachricht ins Ministerium. Nach Hause zurückgekehrt, betrat sie das leere Kinderzimmer und verließ es schnell wieder – es machte ihr einen peinlichen Eindruck. Sie ging zu Hermann hinüber; er war zu seinem Geschäftsmanne gefahren und hatte gesagt, man solle ihn nicht vor der Essenszeit, sieben Uhr, erwarten.

Nun lehnte Maria etwas müde in ihrem Fauteuil am Schreibtisch. In dieser ganzen letzten Vergangenheit hatte sie sich geklammert an die Liebe zu ihrem Kinde, hatte jede Stunde, die ihr angestrengtes Weltleben ihr übrigließ, mit Hermann zugebracht. Bald sollte sie nur für diese beiden leben, durch nichts zerstreut, durch nichts in Anspruch genommen sein als durch die berechtigten, die heiligen Empfindungen, die in ihr Dasein getreten waren wie zum Ersatz zweier anderer, völlig verwandelter: der anbetenden Liebe zu ihrem Vater, der innigen Zuneigung zu der einzigen Freundin, die sie jemals zu haben geglaubt.

Ich bin reich genug, sagte sie sich und hatte das Gefühl, daß noch einige Stunden vergehen müßten, ehe sie zu dem vollen Genuß dieses Reichtums kommen könne. Dann würde die unerklärliche Sehnsucht, die ihr jetzt immer und immer die Seele beklemmte, verschwunden, und sie würde frei sein – frei – –

Die Tür des Salons, der an ihr Schreibzimmer grenzte, wurde geöffnet, ein Kammerdiener trat ein und fast zugleich mit ihm derjenige, den er anmeldete: Graf Tessin.

Kapitel 10

Kapitel 10

 

»Entschuldigen Sie, Gräfin«, sagte er, am Eingang erscheinend und stehenbleibend, »daß ich Ihnen nicht Zeit lasse, mich fortzuschicken. Ich hörte aber, daß Sie heute reisen, und habe noch dringend mit Ihnen zu sprechen.«

Es war unmöglich, ihn abzuweisen in Gegenwart des Dieners. Maria ging dem Besucher in den Salon entgegen und nahm Platz an einem Tischchen, auf dem ihre Arbeit lag. Sie bot alle ihre Kräfte auf, um eine unbefangene Haltung zu bewahren, und wies Tessin einen Sessel ihrem Kanapee gegenüber an.

Gott im Himmel, wie fassungslos fühlte sie sich, wie seltsam war ihr zumute! Die Zunge klebte ihr am Gaumen, eine eiserne Faust schnürte ihr die Kehle zu, ihr Herz klopfte, ihre Pulse flogen – und diesen tollen Aufruhr ihres ganzen Wesens brachte – Schmach und Verbrechen! – seine Nähe hervor.

Er hatte das Wort genommen, und sie, nur mit sich selbst beschäftigt, hörte, ohne zu verstehen, ohne sich Rechenschaft von dem zu geben, was er sagte. Er bat für jemanden um Nachsicht und Schonung, er tat es in seiner eindringlichen, bestrickenden Weise. So warm, so sanft, so bescheiden hatte ihn wohl noch niemand bitten gehört. Nichts Einschmeichelnderes auf Erden als der Klang seiner Stimme. Der Name, der immer wieder auf seine Lippen kam, war der Almas.

Plötzlich raffte Maria sich auf aus ihrem schweren Kampfe. »Was wollen Sie eigentlich?« fragte sie rauh. »Was soll ich für Alma tun?«

»Was ich für sie erflehe.«

»Und das ist?«

»Oh – Sie schenken mir nicht einmal soviel Aufmerksamkeit als dem ersten besten Bettler, der Sie auf der Straße anspräche«, rief Tessin vorwurfsvoll. »Woran denken Sie? Immer nur an den Glückseligen, der durch Sie der Erste unter den Menschen geworden ist. Ja, ja, ja! der ist der Erste, der sich rühmen darf, das höchste Erdengut zu besitzen, eine Frau wie Sie.«

»Er rühmt sich nicht«, wandte sie ein.

Tessin lachte: »Es wäre menschlich – und er hat die Verpflichtung, eine Vollkommenheit zu sein, und wird ihr gerecht. Aber auch ein anderer, ein Geringerer, dem sein Glück zugefallen wäre, hätte verstanden, sich dessen ebenso würdig zu machen … Gräfin, Gräfin! – Mir selbst traue ich zu, daß ich an Ihrer Seite nicht nur gut, daß ich sogar ein Vorkämpfer des Guten hätte werden können.«

Maria neigte sich über ihre Arbeit und sprach: »Man tut das Gute um des Guten willen. Aus einem anderen Grunde getan ist es wertlos.«

»Sie leugnen die Bekehrungen durch Heilige, durch Propheten«, entgegnete Tessin, »die hinreißende Macht des Beispiels? – Ich gehöre nicht zu den Auserwählten, die am Urquell schöpfen. Ich bedarf einer Freundeshand, großmütig genug, es für mich zu tun und mir dann etwas mitzuteilen von der herrlichen Labe … Der Wohltäter des Menschen ist immer nur der Mensch. Ich gäbe jeden göttlichen Schutz und das sogenannte Walten und Vorsehen einer unendlichen Weisheit um die Treue eines Herzens, das mich liebt, und beneidenswert wäre ich, wenn es mir freistände den Tausch einzugehen … Gräfin«, begann er nach kurzem Schweigen wieder, »so unwichtig ich Ihnen auch bin, haben Sie vielleicht doch bemerkt, daß eine große Veränderung mit mir vorgegangen ist in der kurzen schönen Zeit, in der ich gewagt habe, die Augen zu Ihnen zu erheben … So voll Ehrfurcht, so demütig und – so töricht kühn … Oh, wenn ich noch erröten könnte, bei dem Geständnisse müßte ich’s« – und eine dunkle Blutwelle stieg ihm ins Gesicht –, »denn ich hoffte, Sie zu erringen … Kindisches Wagnis, nach solchem Ziele zu streben. – Ein Verwandter Alma Tessins darf nicht der Schwiegersohn des Grafen Wolfsberg werden. Ich hätte es wissen und auf das gefaßt sein sollen, was geschah.«

»Was geschah?«

»Ich wurde gestrichen aus den Reihen Ihrer Bewerber …« »Meiner Bewerber?… Sie hätten um mich geworben?«

»Sie wissen es nicht? Ihr Vater hat es Ihnen verschwiegen!« rief Tessin bitter und ironisch aus. »Das ist Wolfsbergische Politik! Weder offenherzig noch gerecht, aber klug. Warum Sie vor eine Wahl stellen, da man doch entschlossen ist, Ihnen keine Wahl zu lassen? – Über Sie war verfügt; Sie waren, ehe Sie es ahnten, dem Grafen Dornach versprochen.« »Versprochen?« rief Maria mit Entrüstung aus.

»Sagen wir denn: bestimmt. Über mich schritt Ihr Vater einfach hinweg, nachdem ich entwurzelt worden in Ihrer guten Meinung … durch ihn – ich bitte, leugnen Sie nicht –, durch ihn. Auf welche Weise, frage ich nicht. Das Leben eines Weltmannes, der jede Mode berufsmäßig mitmacht, bietet Blößen genug. Und ich trage keinen Harnisch. Jeder gegen mich abgesandte Pfeil trifft meine unbeschützte Brust … Sie aber, Gräfin, – so weise, so gerecht, so hochherzig, Sie hatten für mich nicht eine Entschuldigung, nicht einen milden Gedanken. Sie wandten sich von mir ab, stumm und verächtlich – ich werde die Art nie verschmerzen, in der Sie sich von mir abgewandt haben!«

Sie war erschüttert von seiner Anklage, sah ihn an und sprach, alle Geistesgegenwart verlierend: »Auch Sie blieben stumm – hätten Sie damals gesprochen. Jetzt ist es zu spät.«

»Zu Ihnen gesprochen?« fragte er rasch, ihre letzten Worte überhörend, »zu Ihnen, in deren Herzen nichts für mich sprach? Nichts, sonst würden Sie mich nicht so leicht aufgegeben haben. Auch ist ein Verschmähter nicht immer aufgelegt, sich zu rechtfertigen. Ein Verschmähter ist leicht gekränkt, ist reizbar. Nein, ich wollte warten, bis ich Ihnen zugleich sagen konnte: Leben Sie wohl, und Ihnen wenigstens meine Uneigennützigkeit beweisen. Unglaublich albern, nicht wahr? Es ist zum Lachen. Das nennt man doch Torheit um Torheit begehen … Wahrhaftig, ich hätte es anders angefangen, wenn ich nicht das Unglück haben würde – Sie zu lieben.«

Was sollte sie erwidern? Sie gab ihm recht im stillen. Ihr gegenüber hatte er seine Verführungskünste nicht ausgeübt. Der Mann, von dem es hieß, daß er sich nie vergeblich um Frauengunst bemüht habe, nie von denen, die er verließ, vergessen worden sei, ihr war er nie anders als bescheiden genaht. Sie konnte ihm nicht widersprechen, als er von neuem begann:

»Sagen Sie mir, ob ein Gymnasiast sich gegen die stumm und heiß Vergötterte ungeschickter, blöder hätte benehmen können, als ich mich gegen Sie benahm?… Vorbei! Mein ›freudenreiches‹ Leben bleibt leer, ist nichts. Nun will ich’s mit dem Ehrgeiz versuchen«, fuhr er mit einem tiefen Seufzer fort, »dem Auskunftsmittel so manches Gescheiterten. Wenn Sie einmal hören, daß ich irgend etwas ›geworden‹ bin, das zu sein der Mühe wert scheint, dann erinnern Sie sich dieser Stunde und wägen die Bedeutung ab, die äußerer Glanz des Daseins für mich haben kann.«

Er hielt inne, er wartete, Maria schwieg. Schüchtern beinahe kam Tessin nach einer Weile auf seine erste Bitte zurück, sprach wieder von Alma: »Haben Sie Mitleid mit einer Unglücklichen, ein wenig Mitleid, Gräfin. Sie selbst wagt es nicht, Sie anzuflehen. Sie glaubt nicht einmal, an einem Orte mit Ihnen wohnen zu dürfen; sie vergräbt und verzehrt sich auf dem Lande in Einsamkeit und Reue …«

»Sie tut recht«, unterbrach ihn Maria kalt und leise. »Mit welcher Stirn vermochte sie es früher, mit mir zu verkehren und – es ist unfaßbar – mit hundert Menschen, die alle in Kenntnis waren von ihrer unsühnbaren Schuld.«

»Unsühnbar? Ich meine, sie sühnt.«

»Möge sie es versuchen.« Damit erhob sie sich, und er sprang auf: »Sie entlassen mich?«

»Leben Sie wohl.«

»Ihre Hand!… Reichen Sie mir zum Abschied die Hand. Ein paar Duellanten reichen sich die Hand, wenn einer den anderen entwaffnet hat. Gräfin Maria, ich habe die grausamste Niederlage erfahren, ich habe alles verloren, Hoffnung, Mut, Kraft. Sie haben sogar den elenden Stolz gebrochen, der mich noch aufrecht hielt – aus Erbarmen, geben Sie mir die Hand!« Seine Zähne knirschten, sein edles stolzes Gesicht war leichenblaß.

Maria machte eine verneinende Bewegung mit dem Haupte. Nach einem letzten fragenden, beschwörenden Blick verneigte er sich und trat aus dem Zimmer.

Maria blickte ihm nach. Da war ja ein vollständiger Sieg über sich selbst von ihr errungen worden; denn wahrlich, das Erbarmen, um das er gebeten hatte, füllte ihre Brust zum Zerspringen, und süß und wonnig wäre es ihr gewesen, die Hand zu erfassen, die er beim Abschied nach ihr ausstreckte, und ihm zu sagen: Sie leiden nicht allein. Nehmen Sie diesen Trost mit sich.

Aber sie hatte ihm die Hand nicht reichen dürfen. Er würde gefühlt haben, daß sie zitterte und eisig war, weil alles Blut zu dem aufrührerischen Herzen strömte, das ihm so toll entgegenschlug.

 

Knapp vor der Abfahrt des Zuges trafen Hermann und Maria auf dem Bahnhofe ein, und wenige Minuten später dampfte die Lokomotive durch die Halle.

»Ist das nicht Tessin?« fragte Hermann, auf eine dunkle Gestalt deutend, die im Schatten eines Pfeilers stand und den fortrollenden Wagen nachblickte.

Maria hatte ihn längst gesehen: »Ja, es ist Tessin.«

»Mit dem Gesicht eines Selbstmörders«, versetzte Hermann. »Er ist mir unheimlich seit einiger Zeit.«

Es war wieder eine laue, schöne Frühlingsnacht wie vor zwei Jahren, als sie ihre Hochzeitsreise nach Dornach angetreten hatten. Maria drückte sich in eine Ecke und schloß die Augen, und wieder, wenn sie sich öffneten, begegneten sie dem treuen, liebevollen Blick des Mannes, der über ihr wachte.

Ihre Verstimmung war ihm sogleich aufgefallen. Er schrieb sie der überstürzten Abreise zu, die allen eben jetzt besonders reichlich gebotenen Vergnügungen der Stadt ein plötzliches Ende machte, fand sie sehr begreiflich und bedauerte, Marias Opfer egoistisch angenommen und zugegeben zu haben, daß sie ihn nach Dornachtal begleitete.

»Wenn wir meine Mutter getrost verlassen können«, sagte er, »fahren wir im Mai nach Wien zurück zu den Rennen.«

Maria widersprach: »Das wollen wir nicht tun, du hast kein Interesse daran, und ich, glaube mir, ich sehne mich nach der Ruhe in Dornach. Dorthin wollen wir, sobald die Mutter unserer nicht mehr bedarf. Nach Dornach, Lieber – dort wird alles gut werden.« Unwillkürlich, mehr zu sich selbst als zu ihm, waren die letzten Worte gesprochen, und nicht mit Zuversicht – mit peinvollem Zweifel.

Hermann ergriff ihre Hände: »Was soll erst gut werden? was ist nicht gut?… Sprich, sag es mir, du mein alles, mein Kind und meine Gottheit. Beglückerin! was fehlt dir zum Glücke?«

Sie entzog ihm ihre Hände, um sie auf seine Schultern zu legen, und sah tief in seine friedlichen Augen hinein: »Mein Freund … Mein Freund«, wiederholte sie und dachte daran, ihm alles zu gestehen, ihm zu sagen: Hilf – befreie mich – ich ringe in entsetzlichen Banden. Es frißt mir am Herzen, es ist ein sündiges Mitleid, eine verbrecherische Sehnsucht. Hilf, hilf, rette mich vor dem Wirrsal, in das ich geraten bin!

Sollte sie so zu ihm sprechen?

Eines Augenblicks Dauer, und sie staunte, wie der Einfall ihr hatte kommen können. War denn nicht jede Gefahr vorbei? Was galt es noch zu bekämpfen? – Einen Sturm von Empfindungen, dessen sie allein Herr werden wollte.

»Mir fehlt nichts«, sagte sie, »es sind Launen, Bester, die jeder Sterbliche hat, du allein ausgenommen. Ich kann nur wiederholen, was ich dir schon als Braut sagte: Habe Geduld mit mir.«

 

Gräfin Agathe empfing ihre Kinder, als sie am nächsten Tage kurz vor dem Mittagessen bei ihr eintrafen, mit sehr absichtlich betonter Überraschung. Sie befand sich zwar noch zu Bette, aber nur aus Rücksicht für die viel zu weit getriebene Ängstlichkeit ihres Hausarztes. Es sei ihr höchst unangenehm, versicherte sie, den Kleinen allein in Dornach zu wissen – noch dazu ihretwegen. Eine Einwendung ließ sie nicht gelten und blieb dabei: »Ohne seine Mutter ist ein so junges Kind immer allein. Nur um mich keine Sorgen! Was der Herr beschließt, haben wir in Demut hinzunehmen. Aber ich hoffe von seiner Gnade, daß er mein Gebet erhören und mich noch hier lassen wird, um meinen dritten Enkel zu segnen. Drei müssen es sein. Einer für Dornach, einer für Gott, einer für den Kaiser.«

»Majoratsherr, Priester, Soldat«, murmelte Pater Schirmer, nickte dreimal dazu, kreuzte seine kleinen Hände über dem Magen und guckte aus winzigen Augen über die runden Polster der Wangen mit einer wahren Fülle von Wohlwollen und Freundlichkeit vor sich hin.

Die Gräfin beruhigte sich erst, als Maria ein Telegramm nach Dornach abgesandt hatte, in dem sie ihr Eintreffen für den drittnächsten Tag ankündigte. Hermann wurde gebeten, länger zu bleiben. Es geschah auf Veranlassung Pater Schirmers, der, mit dem Amte eines Sekretärs betraut, infolge seines Bestrebens, »jede Störung der Harmonie zwischen Gutsbesitzer und Gutsverwaltung hintanzuhalten«, einen verderblichen Schlendergang in der Leitung der Geschäfte geduldet hatte. Mit Schrecken war er sich des Unheils bewußt worden, das seine Ohnmacht angerichtet. Das Eingreifen der festen Hand Hermanns war notwendig.

So kam denn Maria allein in Dornach an.

Auf der Station wartete Wilhelm und empfing seine Base bewegt wie ein Liebhaber. Er bestellte ein Willkomm-Lallen von seinem »Prachtneffen«, die wärmsten Grüße Helmis und Handküsse der Rangen. Er konnte die schriftlichen Nachrichten über das Befinden Wolf Forsters, die Doktor Weise im Laufe des Winters nach Wien geschickt hatte, bestätigen. Der Patient war wohl genug, um Dornach verlassen und die Fahrt nach einem Jagdschlößchen Hermanns, das ihm zum bleibenden Aufenthalt angewiesen wurde, unternehmen zu können. Er selbst freue sich sehr darauf und spreche nur noch von seiner lang gehegten und mühsam gebändigten »Passion« für das lustige Waidwerk.

»Lauter Gutes, lieber Wilhelm, du bringst lauter gute Botschaft«, sprach Maria, und Tränen traten ihr in die Augen.

»Das Beste bringen Sie«, rief er aus, »Sie bringen sich.«

»Wie sagst du? Sie!?«

»Entschuldige! das macht der Respekt … Nach so langer Trennung kommt es mir ordentlich keck vor …« Er wurde verlegen und schwieg.

Sie rollten im raschen Trabe der Pferde dahin.

Durchsichtig blau und wolkenlos wölbte sich über ihnen der Himmel. Im Westen, in einer Einsattelung der Bergkämme, bildete die untergehende Sonne einen blendenden Feuerherd und sandte ihre Strahlengrüße über die keimende, knospende, blühende Welt, die sie zu neuem Leben erweckt hatte.

Ewig gelöstes, ewig unlösbares Rätsel, Frühlingswunder! – Still ließ Maria es auf sich einwirken und betete die eine und einzige Kraft an, die webt und treibt im Hälmchen auf der Wiese, widerhallt aus der tönenden Brust der Nachtigall, unwiderstehlich lockt und ringt im Menschenherzen.

Man war vor dem Schlosse angelangt, Wilhelm bestieg seinen Gaul und ritt heim, nachdem er versprochen hatte, sich morgen als Pater familias in Dornach einzufinden.

Maria hielt ihr Kind in ihren Armen; sie küßte und liebkoste es und wiederholte ihr Sprüchlein: »Alles gut – lauter Gutes – –«

Ach, wenn der bittere Vorwurf nicht wäre! der nagende, peinvolle Vorwurf gegen einen Menschen, der nicht in ihrer, nein, in dessen Schuld sie stand, unerbittlich grausam gewesen zu sein. Sie hätte sich überwinden, ihm die Hand reichen und sagen sollen – was hielt sie ab, welche Pflicht verbot es ihr? – : Ich habe Sie geliebt. Dereinst, als ich noch frei war. Die Verhältnisse haben uns getrennt. Nun wollen wir unsere Schuldigkeit als brave Menschen tun und beim Wiedersehen nach Jahren, wenn die Empfindung, die uns jetzt noch bedrückt und verwirrt, erloschen sein wird, einander als alte Freunde entgegentreten.

Hätte sie doch so gesprochen, so sprechen können! Schwäche, Schwäche, daß sie es nicht gekonnt. Jetzt bleibt der Stachel in ihrer Brust, der Tropfen Gift in ihrem Blute. Sie sollte den Blick nie vergessen, den er ihr beim Scheiden zugeworfen.

Als sich Maria in ihr Schlafgemach begeben hatte, erschien Lisette, um gute Nacht zu wünschen und eine Botschaft von Forster zu überbringen. »Er geht also fort«, sagte sie, »und läßt dich bitten, inständig, daß du morgen Klavier spielst und dann hinkommst in den Pavillon. Er möcht sich gar so gern bei dir empfehlen und dir auch den weiten Weg ersparen bis zur Hegerin. Wirst du kommen?«

»Ja.«

»Noch etwas, denk dir. Heut hat er Besuch gehabt, der Wolfi. Ein Freund von ihm, der eine weite Reise macht, hat sich hier aufgehalten von einem Zug zum andern.«

Maria rückte den Schirm, der auf dem Tische stand, vor die Lampe. »Wer?« fragte sie.

»Den Namen weiß ich nicht. So ein hübscher großer; das Gesicht wie von einem Italiener. Hat einen Backenbart, rabenschwarze, etwas gelockte Haare, die Nase gebogen, das Kinn ausrasiert. Vielleicht kennst du ihn. Ich hab ihn zwar nie bei uns gesehen.«

Nachdem die Alte sich entfernt hatte, durchwandelte Maria noch lange das Zimmer und dachte dessen, den jede Minute, jede Sekunde weiter hinwegtrug von ihr und der wohl auch wachte und litt wie sie und ihr grollte und zürnte …

Er war da gewesen, er hatte die Erinnerung an die Stätte, an der sie lebte, mitnehmen wollen in seine freiwillige Verbannung. – Einen Tag nur – nur einen, und sie hätten einander noch gesehen und den Abschied nehmen können, den sie sich in immer holderen, reineren Farben ausmalte.

Der Morgen kam. – Das Kindlein wankte ebenso tollkühn wie unsicher an der Hand der Wärterin in das Schlafgemach herein, dem Bette seiner Mutter zu und jauchzte ihr entgegen …

Maria erhob sich nach wenigen Stunden eines unerquicklichen, durch wüste Träume gestörten Schlafes. Sie wollte ihr Tagewerk beginnen, aber sie hatte Blei in den Gliedern, einen eisernen Reifen um den Kopf. Alles wurde ihr schwer, alles versagte, sogar die getreue Kunst. Sie schloß das Klavier, nachdem sie einige Akkorde angeschlagen hatte, eilte hinab ins Freie, umschritt das Haus und wanderte durch einen Fliedergang dem Pavillon zu. Forster wartete ihrer dort; sie wollte ihn treffen und durch den letzten, der den Scheidenden noch in der Heimat gesprochen, eine Kunde von ihm haben.

Sie war angelangt und überschritt die Stufen, die zum Pförtchen des kleinen Baues hinaufführten, einer zierlichen und luxuriösen Spielerei aus dem 18. Jahrhundert. Er enthielt zwei durch Rundbogen getrennte Zimmer. Die Wände und die Möbel waren mit gelbem chinesischem Seidenstoff überzogen, die Fenster mit demselben kostbaren Gewebe verhangen.

Als Maria aus dem grellen Tageslicht in die goldige Dämmerung trat, schwamm es ihr vor den Augen, und sie vermochte nicht, einen scharfen Umriß zu unterscheiden. Aus dem Nebenzimmer nahte jemand langsam und zögernd, wie ihr schien. »Forster«, rief sie.

Keine Antwort. Nach einer Weile erst ihr leise geflüsterter Name.

Maria erkannte die Stimme sogleich und schrie auf: »Sie!« Tessin stürzte ihr entgegen mit inbrünstig gefalteten Händen … sie streckte die ihren abwehrend aus: »Fort!… wie können Sie es wagen?… das ist Verrat. Gehen Sie!«

Er schüttelte den Kopf: »So nicht. Ich hab’s versucht – es ist unmöglich.« Entschlossenheit in jeder Bewegung, die Brauen drohend zusammengezogen, trat er näher.

Sie wich schweigend zurück und schritt dem Ausgang zu. Da warf er sich zwischen sie und die Tür, und als Maria ans nächste Fenster rannte und es zu öffnen versuchte mit bebenden Fingern, die den Gehorsam versagten, glitt ein finsteres Lächeln über seine Züge.

»Sie wollen Leute herbeirufen, tun Sie es doch. Der Gewalt muß ich weichen. – Aber nicht lebendig … das sage ich Ihnen – und Sie«, er hob beteuernd die Rechte, »Sie glauben mir das.«

»Wahnsinn«, stammelte Maria, von Furcht und Schrecken durchbebt.

»Nein, Verzweiflung!… Was hab ich Ihnen getan? warum verachten Sie mich? – Ich habe Sie unaussprechlich geliebt.« »Und was haben Sie mir getan? Sie haben mich verschmäht, mißhandelt, wie ich nicht dulde, daß man mich mißhandle. Sie haben die reinste Empfindung meines Lebens verkannt, mir gemeine Beweggründe zugeschrieben, mich verletzt, kalt und berechnend, an der empfindlichsten Stelle meines Herzens -geben Sie mir Genugtuung!« Er sah sie an, verstört, in rasender Erregung … Aber plötzlich, wie durch Zaubergewalt beschwichtigt, sank er auf das Knie.

Was war denn geschehen?

Eine von Angst gefolterte Frau, die mit ihren Tränen kämpfte, stand vor ihm. Ihr Stolz war gebrochen; mit ersterbender Stimme sprach sie: »Sie müssen fort.«

»Ja, ja?« er faßte ihre widerstrebende Hand. »Unter einer Bedingung … Geben Sie mir das Zeichen des Erbarmens, um das ich schon gefleht habe. Ich will als Gnade empfangen, was mein Recht wäre, was Sie mir schuldig sind für alles … auch für den Mord des besseren Menschen, der in mir schlummerte, der erwachen wollte unter Ihrem Einfluß und den Sie getötet haben, als Sie mich aufgaben.«

Immer heißer bestürmte er sie, immer überzeugender strömte die Rede von seinen Lippen, ein berauschender Hauch der Leidenschaft ging von ihm aus: »Was verlange ich denn? Ein Wort des Trostes mit auf den Weg, einen gütigen Blick, einen Händedruck …«

Das durfte sie gewähren, das war es ja, wonach sie sich gesehnt hatte all die Tage lang – vor dem Scheiden auf ewig ein Lebewohl in Frieden und Versöhnung.

Seine Augen flammten zu ihr empor, sie neigte sich, ihr Blick ruhte in dem seinen, und sie flüsterte: »Weil es unsere letzte Begegnung ist, Tessin, so wissen Sie … ich habe nicht leicht verzichtet. Sie sind mir nicht gleichgültig gewesen …«

Da brach er in jubelndes Entzücken aus: »Endlich! Endlich!« – Weich und zärtlich, in wonniger Dankbarkeit preßte er seine Stirn, seine Lippen auf ihre Hand, und Maria, im schwersten Kampfe ringend, flüsterte ihm leise zu: »Nun fort.«

Ganz verwandelt, außer sich, sprang er auf: »Nein, und nein! – Du hast mich geliebt, du liebst mich noch!« Er zog sie in seine Arme und erstickte mit seinen Küssen den Schrei, den sie ausstieß.

Sie wollte sich ihm entziehen – sie wollte sich retten – und lag an seiner Brust, unwiderstehlich hingerissen wie von einer Naturgewalt.

Zwei trunkene Menschen hatten kein Bewußtsein mehr von Ehre, Pflicht und Treue, ihnen versank die Welt und jegliches Erinnern.

 

Die Sonne stand im Scheitel, Maria war allein.

Seit langem, langem – seit einer Ewigkeit … Oder nicht? – war sie eben erst verlassen worden beim Aufschrecken aus einem gräßlichen, seligen, unmöglichen Traum?…

Sie saß da, die Hände auf den Tisch gelegt, das Gesicht in die Hände vergraben, als die Tür geöffnet und ein keuchender, pfeifender Atem hörbar wurde.

Wolfi schleppte sich herein, auf einen Stock gestützt, und fiel schwer auf den Diwan neben Maria hin. Er streckte die Beine aus, lehnte sich zurück und stöhnte: »Da hab ich’s. – Das war ein teurer Spaß.«

Maria starrte ihn an, entsetzt über sein Aussehen. Es war das eines Sterbenden. »Sie sind erschöpft, der Weg hierher war Ihnen zu weit«, sagte sie.

»Der Weg hierher?« Er wollte lachen, doch kam nur eine Art Schluchzen aus seiner Kehle. »Das nicht, aber daß ich Ihren Liebhaber durch den Wald hab führen müssen – damit er sich nicht verirrt. Und dann sein Dank … Mich niederzustechen hat er gedroht, weil ich nicht schwören wollte, mein Maul zu halten. Ihm schwören, dem Menschen ohne Treu und Glauben.«

Maria war versteinert. So war sie in eine Falle gelockt worden. Tessin hatte einen Vertrauten gehabt. Haben müssen. Natürlich – zu Gelegenheiten braucht man Leute, die sie machen, Helfer, Hehler. Einen wie den Niederträchtigen da … Ihr Herz stand still, als diese Gedanken sie so klar, so kalt durchblitzten. Kommt der Tod? – Ach, käme er doch von selbst, daß ich ihn nicht suchen müßte – denn, wie könnte sie jetzt noch leben?

»Müd, müd bin ich«, stöhnte Wolfi, »ich liege schlecht – hilf ein wenig.«

Von Abscheu und Ekel ergriffen, rang Maria mit sich selbst, doch beugte sie sich, er umklammerte ihren Nacken, sie faßte ihn an den Schultern, legte ihn – er kam ihr leicht vor wie ein Kind – der Länge nach auf das Ruhebett und schob Kissen unter seinen Kopf: »Bleiben Sie so. Ich schicke den Arzt.«

»Brauche ihn nicht – nicht ihn – dich allein – mir ist schon besser … Deine Sorgfalt tut mir wohl. – Wärst du immer gütig gegen mich gewesen – ich hätte dir vielleicht erspart – vielleicht … Gewiß weiß man’s nicht – ein Mensch wie ich« – er stockte, schwerer noch rang sich der Atem aus seiner Brust, die roten Flecken auf seinen Wangen färbten sich dunkler. Nun ging eine seltsame Veränderung in seinen Zügen vor; sie nahmen plötzlich einen milden, fast edlen Ausdruck an.

»Du bist nicht mehr stolz«, sprach er kaum vernehmbar, »verachtest niemanden mehr?«

Sie, mit herzzerreißender Klage, antwortete: »Nur mich!«

»Wirst du jetzt Bruder zu mir sagen?«

»Bruder.«

»Triumph …!« Seine letzte Kraft erschöpfte sich in der Anstrengung, mit welcher er dieses Wort hervorbrachte. Aus seinem Munde quoll ein Blutstrom, sein Kopf, den er ein wenig erhoben hatte, sank in die Kissen.

Maria stieß einen Schrei aus: »Zu Hilfe! Zu Hilfe! er stirbt!«

Kapitel 1

Kapitel 1

Die Vorstellung des »Fidelio« war zu Ende; das Publikum strömte aus dem Opernhause und zerstreute sich rasch nach allen Richtungen. Seit vierundzwanzig Stunden fiel Schnee, emsig, unablässig, in großen Flocken; er lag schwer auf den Dächern, verschleierte die Lichter in den Lampen, machte die Mühe der Wege ausschaufelnden Arbeiter fast vergeblich. Geräuschlos rollten die Equipagen vor; in Pelze gehüllte Männer und Frauen stiegen in weich gepolsterte Wagen. Ein paar Ladendiener hoben ihre sommerlich gekleideten Schönen in einen Komfortable mit zerbrochenen Fenstern. Wie der Wind sauste ein Fiaker nach dem anderen davon. Den Hut auf dem Ohr, den Schnurrbart gewichst, saßen die Eigentümer des »feschen Zeugels« etwas vorgebeugt auf ihrem Bock, in jeder Hand einen Zügel; und die Pferde griffen aus und gaben her an Lebenskraft, was sie geben konnten, um grüne Majoratsherrchen, hochgeborene Reiteroffiziere und Sportsleute so geschwind als möglich zum Spiel in den Jockeiklub zu bringen. An den Rand der Straße gedrängt, rumpelten dichtbesetzte Gesellschaftswagen, von abgejagten Mähren geschleppt, von schlaftrunkenen Kutschern regiert, den Vororten zu. Solide Bürgersfamilien gingen wohlverwahrt, mit geschärftem Appetit – man wird so hungrig im Theater – nach Hause, wo ein kräftiges Abendessen sie erwartete, oder begaben sich in eine Restauration.

Gemächlich, trotz des bösen Wetters, schlenderten einige Infanterieoffiziere dem nächsten Kaffeehause zu. Ein kleines Fähnlein, aber tatendurstig und eroberungssicher. Sie sprachen von den eleganten Damen in den Logen und von den Tänzerinnen und den Pferden anderer. Ein »Einjahrig-Freiwilliger«, der Sohn eines geadelten Bankiers, der sich ihnen angeschlossen hatte, sagte mit Vorliebe: »Wir Kavaliere« und »wir vom Turf«. Daß sein Sessel im väterlichen Kontor das einzige Rößlein war, auf dessen Rücken er es je zu einem Gefühl der Sicherheit gebracht, verschwieg er.

Die Herren wurden von einer jungen Lehrerin überholt, die eiligen Schrittes die Wanderung nach ihrer Wohnung angetreten hatte. Ihr Mantel war fadenscheinig, aber sie fror nicht; ihr Weg war weit und einsam, doch ihr bangte nicht. Sie schwelgte im Nachgenuß der Wonne, die ihrem kunstverständigen Sinn eben geboten worden. Es gab doch auch in ihrem schweren, harten Dasein Stunden der herrlichsten Erhebung. Die Kraft, die sie aus ihnen geschöpft, sollte lange vorhalten. Wer das Manna für die Seele auf Kosten des täglichen Brotes erwerben muß, kann sich dieser holden Labung nicht oft erfreuen.

In der Opernstraße war eine Arbeiterabteilung mit dem Aufrichten einer Schneepyramide beschäftigt, als ein Brougham, mit Rassepferden bespannt, im feierlichen Trabe vorbeikam. Die Flammen eines Gaskandelabers erleuchteten einen Augenblick das Innere des Wagens. Zwei Damen saßen darin, die eine alt und von kränklichem Aussehen, in dunklem Capuchon und Überwurfe, die andere sehr jung, sehr schön, barhäuptig, mit klassischem Profil, ihre Gefährtin um Kopfeshöhe überragend.

»Ho!« rief der dicke Pferdelenker in lässig warnendem Tone den Straßenkehrern zu, und alle zogen sich zurück – nur einer nicht. Der sprang vor, sah mit spöttischer Vertraulichkeit zu dem Kutscher hinauf und zwang ihn auszuweichen, was dieser tat, ohne den Kopf zu wenden, während der Diener neben ihm murmelte: »Wieder zurück aus Amerika und – Gassenkehrer? Gibt’s denn dort keine solche Anstellung?«

»Gibt’s gewiß«, lautete die Antwort, »damit is ihm aber nit gedient. Will uns hier aufpassen und Skandal machen, der Lump.« – Diese Bezeichnung galt einem schlank- und hochgewachsenen Burschen mit blassem Gesicht, eingefallenen Wangen und großen dunkelbraunen Augen. Er trug zerlumpte Kleider; ein kleiner, durchlöcherter Hut, den er ins Genick zurückgeschoben hatte, ließ die Stirn und die trotz der Verkommenheit, die sie ausdrückten, noch hübschen Züge frei. Mit frechem Behagen pflanzte er sich im Lampenscheine auf, und die junge Dame, die den Kopf ans Wagenfenster neigte, unverschämt anstarrend, präsentierte er vor ihr den Besen wie ein Gewehr.

Die Equipage fuhr davon, die Arbeiter lachten: »Schaut’s den Wolfi an!« und Wolfi, den Zornigen spielend, rief: »Dumme Bagage, was lacht’s? – Was hab ich getan?… Militärische Ehren erwiesen. Wem? – der Gräfin Maria Wolfsberg, meiner – meiner lieben Verwandten.«

Die so Bezeichnete hatte bei der Gebärde des Taglöhners keine Miene verzogen, doch verfärbte sie sich ein wenig und sagte mit beklommener Stimme zu ihrer Begleiterin: »Tante Dolph, hast du den Menschen gesehen? Im zerrissenen Sommerrock, mit geplatzten Schuhen bei dieser Kälte …«

»Oh, meine Liebe, der hat seinen Schnaps im Leibe, dem ist wärmer als mir«, erwiderte die Tante fröstelnd.

»Hast du auch gesehen, was er getan hat?«

»Ja, ja – ein Spaßvogel.«

»Das ist kein Spaßvogel – das ist ein Feind, der uns haßt.«

Der Gräfin unterbrach sie: »Hör auf. Du bist nervös. Dazu hat man in deinem Alter noch kein Recht. Ein Betrunkener erlaubt sich einen Scherz – was weiter? Man sieht es, wenn es einen unterhält, sieht es nicht, wenn es einen verdrießt – darüber nachdenken ist krankhaft.«

Maria schwieg. Sie ließ sich nicht gern in einen Streit mit ihrer Tante ein, weil sie regelmäßig den kürzeren zog. Die Tante war klug und schlagfertig; ihr Bruder, Graf Wolfsberg, nannte sie sogar weise und verehrte in der um viele Jahre älteren Schwester seine Vertraute, Ratgeberin und Freundin. Sie hingegen liebte auf Erden nichts als ihn. Kränklich von Jugend auf und sehr unabhängigen Sinnes, hatte sie niemals einen Beruf zur Ehe in sich verspürt und die zahlreichen Bewerber um ihre unscheinbare Persönlichkeit und um ihr glänzendes Vermögen einen nach dem anderen ohne Seelenkampf abgewiesen. Gräfin Adolphine oder Dolph, wie sie in der Familie genannt wurde, lebte seit langem auf ihrem Gute der Pflege ihrer Rheumatismen und ihres Vermögens, das sie, bedeutend vermehrt, ihrem Bruder zu hinterlassen gedachte. Als dieser Witwer wurde, brachte sie ihm, seiner Bitte nachgebend, ein großes Opfer. Sie verzichtete auf ihre Selbständigkeit im eigenen Haushalte und machte sich zur Leiterin des seinen. Da die Zeit kam, Maria in die Welt zu führen, tat sie noch mehr: sie entsagte der ihr notwendigen Bequemlichkeit und Ruhe und durchwachte manche Nacht auf dem Balle, den schmerzenden Kopf mit Diamanten bedeckt und so unvorteilhaft aussehend im großen Staat, daß nicht einmal ihre Kammerfrau es wagte, sie zu bewundern. Dabei langweilte sie sich grausam, langweilte sich sogar, wenn sie die anderen durch ihren scharfen und sprudelnden Witz vortrefflich unterhielt. »Glücklicher Bertrand de Born«, sagte sie, »dem doch die Hälfte seines Geistes nötig war. Ich wäre froh, wenn ich nur für ein Zehntel des meinen Abnehmer fände!«

Zu Hause angelangt, zog sich die Gräfin in ihre Gemächer zurück, während Maria in den Salon ihrer Wohnung trat. Jeden Abend erwartete sie hier einen verehrten Gast – ihren Vater. Es geschah fast nie umsonst. So wenig Zeit das hohe Staatsamt, das er bekleidete, und die Genußsucht, der nachzugeben er selbstverständlich fand, ihm übrigließen: die Stunde, mit der Maria ihren Tag beschloß, wußte er für sie freizuhalten.

Sie ließ sich jetzt den Theatermantel von ihrer Kammerzofe abnehmen und begann sogleich den Tee zu bereiten, zu dem alle Anstalten auf einem Tischchen neben dem Etablissement getroffen waren.

Maria widmete ihrer Beschäftigung die größte Sorgfalt. Mit dem Vorsetzen einer Tasse Tees hatte sie alle kindlichen Pflichten, die ihr Vater ihr auferlegte, erfüllt. Es wäre ihr heißer Wunsch gewesen, etwas für ihn tun, ihm etwas sein zu können; aber sie fühlte wohl, daß die Ahnung eines solchen Ehrgeizes im Herzen seiner Tochter ihn lachen gemacht hätte. Er wollte sie heiter und glücklich sehen, und wenn sie seine Fragen: »Hast du dich unterhalten? – Freut dich dies? – Freut dich jenes?« mit Ja beantwortet hatte, dann wich der strenge Ernst, der gewöhnlich auf seinem Antlitz lag. Dank seiner Großmut hatte sie ihre Wohnung in ein kleines Museum verwandeln können; fiel es ihr aber ein, bei der Betrachtung eines Bildes, einer Bronze etwas von ihren neuerworbenen Kenntnissen in der Kunstgeschichte durchblicken zu lassen, dann wurde seine Miene so spöttisch, daß Maria verwirrt schwieg und sich beschämend albern vorkam. Und der kostbare Blüthner, mit dem er sie jüngst überrascht und der dort in der Ecke stand, eingehüllt in weiche, indische Gewebe, noch hatte sie seinem Spender nichts anderes darauf vorspielen dürfen als Operettenarien und Tanzmusik. Sie war nicht leicht abzuschrecken gewesen, hatte immer einen Übergang gefunden aus dem Trivialen ins Schöne, aus dem Zerstreuenden ins Erhebende – aber nach den ersten Takten schon wurde das gefürchtete »Gute Nacht, Maria« gesprochen, und der Graf war aus dem Zimmer verschwunden. In solchen Fällen pflegte sie sich nicht zu unterbrechen; es hätte ihn, der sich in seinem Hause gegen Rücksichtnahme wehrte wie ein anderer gegen Rücksichtslosigkeit, sehr verdrossen. Nun blieb Maria in seiner Gegenwart bei dem Vortrage von Arietten und Walzern. Die Musik, die ihrem Geschmack entsprach, übte sie aus vor dem Bilde ihrer Mutter, das lebensgroß an der Wand über dem Piano hing. Du hättest deine Freude an mir gehabt, sprach sie in Gedanken zu ihr. Du hättest gewußt, daß ich nur zu wollen brauche, um eine Künstlerin zu werden. Aber ich werde nicht wollen, ich darf nicht. Unsereins darf so etwas nicht. Hättest du das auch gefunden, Mutter?

Ihr Blick haftete voll inniger Begeisterung auf dem edlen Angesicht, dem das ihre so ähnlich sah. Es war dasselbe reine Oval, dieselbe von kleinen Locken der reichen, aschblonden Haare beschatteten Stirn. Sie bildete zwei kaum sichtbare Hügel über den feinen Brauen, den etwas tiefliegenden blaugrauen Augen. Es war derselbe Schnitt der schlanken Nase, der leicht geschwellten Lippen und dieselbe wahrhaft königliche Gestalt. Aber ein anderer Geist offenbarte sich in jedem der beiden schönen Wesen. Marias ganze Erscheinung bekundete Entschlossenheit, Seelenstärke, Klarheit. Die Verstorbene hingegen hatte einen Ausdruck von eigentümlicher Schwermut und hilfloser Schüchternheit. Das Bild, aus dem sie unvergänglich jung und lieblich herabsah, war in ihrem achtzehnten Jahre, dem ersten Jahre ihrer Ehe, gemalt worden. Es stellte sie dar in einem weißen Spitzenkleide, mit bloßem Halse, mit nachlässig herabhängenden Armen, eine weiße, kaum aufgeblühte Rose in der Hand. Den Kopf leicht vorgeneigt, schien sie traumverloren zu lauschen. Maria besann sich noch, sie so gesehen zu haben im Konzert, in der Oper, und auch wenn der Vater oder sie zu ihr sprachen.

Aber diese freudigen Erinnerungen an die Mutter lagen fern, und die, die sich an eine spätere Zeit knüpften, waren unsäglich traurig. Die Gräfin, von einer Gemütskrankheit ergriffen, war langsam hingesiecht. Immer teilnahmsloser, immer schattenhafter wandelte sie stundenlang im Sommer durch den Garten, im Winter durch die Zimmer und durch die Gänge, blieb manchmal horchend an einer Tür stehen, machte eine Gebärde des Entsetzens und trat ihre Wanderungen stumm und rastlos wieder an.

Die ersten Symptome des Leidens sollten durch einen heftigen Schrecken hervorgerufen worden sein, dessen Veranlassung niemand in Marias Umgebung kennen wollte. Sie zweifelte nicht, daß ein Geheimnis da verborgen liege, und ließ nicht nach in ihrem leidenschaftlichen Eifer, es zu entdecken. Ganz besonders wurde ihre ehemalige Kinderfrau, die mit unbegrenzter und sklavischer Liebe an ihr hing, mit Fragen von ihr bestürmt.

»Sag es mir, Lisette, geh, sag es mir«, hatte sie einst gefleht und, so geizig sie mit ihren Zärtlichkeiten war, ihren Arm um den Hals der Getreuen geschlungen. »Wenn du mich liebhast, sagst du’s gleich, in dieser Minute … Wenn du es nicht sagst, dann weiß ich, daß dir nichts an mir liegt.«

Lisette sank in sich zusammen. Ratlos und verzweifelt starrten ihre grauen Augen ins Leere, ihre Wangen wurden fahl, und ihre Lippen bebten. »Wär ich doch tot«, jammerte sie, »daß mich das Kind nicht mehr fragen könnt.«

– Tot? – Maria trat weg von ihr und senkte den Kopf.

Lisette hatte sich den Tod gewünscht. Sie, die nicht von ihm reden hören konnte, die in jedem, der ihn nur nannte, ihren Feind sah, die das Leben als das höchste aller Güter schätzte, noch soviel von ihm erwartete, die tanzen wollte auf der Hochzeit Marias und Kinder des Kindes heranziehen, alle – und wenn ihrer zwölfe wären!… Lisette hatte sich den Tod gewünscht!

Das junge Mädchen war tief ergriffen und mußte Tränen niederkämpfen, um laut und vernehmlich sagen zu können: »Ich werde dich nie wieder fragen.«

Maria hatte Wort gehalten. – Seitdem waren sechs Jahre vergangen.

Kapitel 2

Kapitel 2

 

Der Vorhang des Nebenzimmers war mit leiser Hand zurückgeschoben worden, Lisette erschien am Eingang und ihre sanfte, unterwürfige Stimme sprach: »Maria, Kind, darf ich herein?«

»Du bist noch auf?« lautete die vorwurfsvolle Erwiderung, und Lisette entschuldigte sich: »Hatte schon Nacht gemacht, schon längst. Aber du weißt, daß ich nicht einschlafen kann, bevor ich deinen Wagen ins Haus rollen höre.«

»Wie lächerlich«, versetzte Maria, wandte sich ab und nahm Platz in einem Fauteuil.

Lisette stützte, nähertretend, den Arm auf dessen Lehne: »Kann früher nicht einschlafen. Und dann muß die Klara kommen und mir berichten – weh ihr, wenn sie das einmal versäumen würde! –, sie ist da und lustig und guter Dinge. Heut jedoch hör ich: Sie hat traurig ausgesehen …«

»Spionage!« fiel ihr Maria ins Wort.

»Nenn’s wie du willst, das ist mir gleich; nur glaube nicht, daß du daran etwas ändern kannst. – Also traurig ist das Kind? Ja, ja, ich seh’s.« Ihr Ton wurde tief schmerzlich, in ihrem kleinen, spitznasigen Gesichte malte sich eine peinvolle Bangigkeit. »Was ist denn geschehen?«

»Ach, Lisette, ich bitte dich, mach keine Geschichten. Was soll mir geschehen sein? – Ich bin verstimmt, ja, aber aus einem Grunde, der dir keine Sorgen machen wird.«

»Wollen erst sehen. – Sprich, mein Vogerl, sprich, damit ich beruhigt zu Bett gehen kann.«

Maria erhob den Kopf und sah der Dienerin, die sich zu ihr herabneigte, fest und streng in die Augen: »Die Menschen, die eine eiskalte Nacht wie diese im Freien zubringen und hungernd und frierend die Straßen fegen werden – die tun mir leid.«

Lisette bäumte sich lachend zurück. »Nein, das Kind! – Nein, das ist zu arg. Die Leute, die Gott danken für den Schnee, den er vom Himmel fallen läßt, damit sie Arbeit kriegen, die sich nichts anderes wünschen als Arbeit, von klein auf nichts anderes gewohnt sind als Arbeit, die bedauerst du!« Sie wurde in dem Lobgesang, den sie nun auf Marias »goldenes Engelsherz« zu erheben begann, unterbrochen.

Im Hofe, nach dem die Fenster der Komtessenwohnung gingen, war es laut geworden. Pferdegetrappel ließ sich hören, die Portiersglocke gab das Herrenzeichen.

Lisette verabschiedete sich, und Maria ging ihrem Vater bis an die Schwelle entgegen; sie begrüßten einander mit einem Händedruck.

»Guten Morgen und guten Abend«, sprach Maria. »Ich wollte nachmittags einen Augenblick zu dir, aber Walter sagte, du habest Besuch.«

»Dornach war bei mir und blieb so lange, daß ich kaum Zeit gehabt habe, Toilette zu machen zum Diner.«

»Bei?«

»Bei Fürstin Alma.«

»War’s schön?«

»Kannst dir’s denken. Dreißig Personen, dreißig Grade und dreißig Gänge.«

»Du übertreibst, wie immer, wenn es sich um ein Fest bei Alma handelt. Sie kann tun oder lassen, was sie will, du tadelst alles. Und ich weiß, wie peinlich ihr das ist und wie großen Wert sie auf dein Urteil legt.«

Mit diesen Worten stellte Maria eine Tasse Tee vor den Grafen hin, der sich in einen Lehnstuhl neben dem Tische niedergelassen hatte. Er warf einen seltsamen, fast drohenden Blick auf sie, senkte ihn aber rasch, als er in den Zügen seiner Tochter der völligsten Unbefangenheit begegnete.

Wolfsberg galt noch jetzt, da er sich in der zweiten Hälfte der Vierzig befand, für einen den Frauen gefährlichen Mann. Er war mittelgroß, von schlanker und geschmeidiger Gestalt, ein berühmter Reiter und Jäger. Einer gewissen kühlen und würdevollen Zurückhaltung in seinem Wesen verdankte er den Ruf großer Verläßlichkeit, der ihm zahlreiche Freunde erwarb. Seine Erziehung hatte er, früh verwaist, in Deutschland, bei Verwandten seiner verstorbenen Mutter, im Sinne des Wortes – genossen. Mit einer außerordentlichen Bildungsfähigkeit begabt, war er mühelos ein guter Student gewesen, und es blieb auch später sein Ehrgeiz, jeden seiner Erfolge für einen spielend errungenen gelten zu lassen. »Ich nehme das Leben nicht ernst«, sagte er oft und machte dazu eine beinahe finstere Miene.

Eines aber gab es in diesem Leben, das er dennoch ernst nahm, und das war seine Tochter und das Glück, das er ihr bereiten wollte in Gegenwart und Zukunft.

»Maria«, begann er, »es hat sich heute jemand um die Erlaubnis bei mir beworben, unser Haus besuchen zu dürfen. Du wirst wohl erraten wer?«

Sie lächelte ihn freudig an: »Felix Tessin.«

»Tessin? – du scherzest.«

»Es war nicht meine Absicht«, erwiderte Maria und senkte bestürzt die Augen.

»Wie? Du könntest glauben, daß ich Tessin angehört hätte, wenn er mir mit einer solchen Zumutung gekommen wäre?«

»Warum nicht?« fragte sie zögernd, und ihr Vater antwortete mit der offenbaren Absicht, sich nicht in Erörterungen einzulassen: »Du solltest wissen, was ich von ihm halte.«

»Nun, recht viel. – Ein so geistvoller, begabter Mensch, dem du selbst eine schöne Zukunft voraussagst.«

»Das heißt, ich glaube, daß er so ziemlich alles erreichen dürfte, was er anstrebt. Er ist ehrgeizig und klug, jagt hohen, aber nicht unerreichbaren Zielen nach und kann um so leichter ankommen, da er sich wenig Skrupel macht in der Wahl seiner Mittel.«

»Vater!«

»Nun?«

»Das wäre ja schrecklich.«

Er zuckte die Achseln. »Tessin hält sich gewiß, wie heutzutage so mancher, für einen, der ›jenseits von Gut und Böse‹ steht. Ein so ungewöhnlicher Mensch, so bezaubernd in seiner dunkeln Manfred-Schönheit, so verwöhnt von den Frauen.« Der Graf sprach gelassen und spöttisch, ohne daß es im geringsten schien, als ob er seine Tochter beobachte, und las doch in ihren bewegten Zügen, was ihn peinlich überraschte – daß er ein wenig spät kam mit seiner Warnung. Es galt mehr, als einen flüchtigen Eindruck verwischen, es galt eine Empfindung entwurzeln, weh tun. Den Ellbogen auf den Tisch und die Hand an Stirne und Wange lehnend, fuhr er ernsthaft fort: »Wenn Tessin nicht ein Verwandter –« der Freundin deiner Mutter, wollte er sagen, brachte es aber nicht über die Lippen, »der Fürstin Alma wäre, hätte ich verhütet, daß er dir vorgestellt werde. Indessen hat sie es mir schwer genug gemacht, ihn, außer bei offiziellen Empfängen, von denen ich einen Botschaftsrat nicht ausschließen kann, von meinem Hause fernzuhalten. Die gute Fürstin wird eine Schwäche für ihn nicht los; sie vergißt nie, daß sie sein Jugendtraum gewesen ist, seine erste und letzte ideale Liebe.«

»Vor ihrer Verheiratung; ich habe davon gehört.«

»Vorher – nachher. Was hätte er darum gegeben, an der Stelle seines älteren Vetters, des Fürsten Tessin, zu sein, der die Braut heimführte. – Es dauerte eine Weile, bis er das zwecklose Schmachten satt bekam und eine praktische Richtung im Leben und in der Liebe einschlug. Und heute können seine Huldigungen ein junges Mädchen nicht mehr stolz machen. Sie teilt sich darein mit Persönlichkeiten, mit denen sie gewiß nichts gemein haben möchte.«

»Zum Beispiel?« fragte Maria erstickten Tones, und ihr Vater spöttelte: »Nein wirklich, ich bekomme Respekt vor den Komtessensoireen. Man klatscht ja dort nicht mehr, kümmert sich nicht mehr um das Tun und Lassen der jungen Herren. Schade um ihre schönsten dummen Streiche, sie machen keinen Effekt. Was wissen denn die Komtessen, wenn sie nichts wissen von Mademoiselle Nicolette, dem Stern der ersten Quadrille?«

Maria war sehr blaß gewesen, jetzt färbten sich ihre Wangen: »Doch – sie wissen viel und schwatzen noch mehr von ihr und vom Grafen … Ich höre aber nicht zu, wenn jemandem übel nachgeredet wird … du hast mich das gelehrt.« Sie versuchte einen scherzenden Ton anzunehmen, es gelang ihr nicht, es war zu schwer. Sie hätte weinen und schluchzen mögen.

Der Graf sah es, und es tat ihm leid, von einer schwächlichen Regung jedoch hielt er sich frei. Es mußte sein, mit dieser Neigung mußte sie fertigwerden. Auch ohne den entscheidenden Grund, der ihr unbekannt bleiben mußte, würde Wolfsberg eine Heirat zwischen Maria und dem leichtfertigen Tessin nie gestattet haben. Und so versetzte er: »Die üble Nachrede trifft auch manchmal das Richtige.«

Ein schwerer Seufzer stieg aus der Brust Marias. »Du tust ihm vielleicht Unrecht«, wagte sie einzuwenden.

»Er ist unwahr und gewissenlos – unterbrich mich nicht – ich spreche von jener Gewissenlosigkeit, die sich von der des Falschspielers oder des Diebes unterscheidet wie das Ungreifbare vom Greifbaren … Genug.« Er wandte sich ihr plötzlich zu und sah sie an: »Du hast schlecht geraten. Der mich bat, ihm Gelegenheit zu geben, von dir gekannt zu werden – denn dich zu kennen, behauptet er –, ist Hermann Dornach.«

Sie biß sich auf die Lippen. »Welche Ehre! Und was hast du ihm geantwortet?«

»Daß ich mit dir reden und ihm dann Bescheid geben will. Er wird bejahend lauten, wenn du Rücksicht nimmst auf das, was ich wünsche. Du verbindest dich damit zu nichts. Ich verlange nur: beobachte ihn, prüfe dich. Er wird deine Achtung gewinnen, aber die Sympathie allein gibt den Ausschlag, und – da stehen wir an der Grenze unseres freien Willens. Der Verstand sagt, der klare Blick sieht, hier ist ein Mensch, so vortrefflich, daß eine brave Frau mit ihm glücklich werden muß. Es ist kaum anders möglich, als daß ihre Freundschaft und Hochschätzung für ihn sich allmählich zur Liebe und Begeisterung steigert. Und dort ist ein anderer, an dessen Seite sie Enttäuschung auf Enttäuschung zu erwarten hat. Sie wird gewarnt, ahnt wohl selbst etwas davon – was hilft’s? – Ein dunkler Instinkt bleibt der Herr. Das Echte läßt sie gleichgültig, und unwiderstehlich fühlt sie sich zum Falschen hingezogen.«

»Unwiderstehlich?« Trotz und Zorn funkelten aus Marias Blicken. »Wenn du das auf mich anwendest, kennst du mich nicht.«

»Hoho!« sprach er, sehr zufrieden mit dem hervorgebrachten Eindruck. »Da bleibt mir nichts übrig, als mich zu entschuldigen. Aber das möchte ich wissen – ob du nie ausgelacht worden bist, wenn du die Verteidigung Mademoiselle Nicolettes und ihres Gönners übernahmst?« – Er ersparte ihr die Antwort, die sie mühsam vorzubringen suchte. »Und dann, warum hast du gesagt: ›Welche Ehre!‹ als ich dir die Botschaft Dornachs bestellte?«

»Weil alle Welt es dafür ansehen würde. Es ist ja unglaublich, wie sie es mit ihm treiben. Die Papas und Mamas machen dem jungen Manne den Hof … Oh, wenn sie ihm die Töchter buchstäblich an den Kopf werfen könnten – da sähe man Komtessen fliegen!… Und die überbieten noch die Taktlosigkeit der Eltern, ihm und seinem zweiten Ich, seiner Mutter gegenüber … Ich schäme mich für die anderen … Das alles ist so empörend und für Dornach so demütigend, weil es so unpersönlich ist und nur seinem Rang und seinem Reichtum gilt.«

Sie ereiferte sich und sprach mit einer Heftigkeit, die außer Verhältnis zu deren scheinbarem Grunde stand.

Peinlich berührt, lenkte der Graf das Gespräch ab und brachte es erst später auf den Freier zurück, der, wie es bei ihm feststand, sein Schwiegersohn werden sollte.

Als er sie verlassen hatte, ging Maria zu Bette und konnte zum ersten Male in ihrem Leben nicht sogleich einschlafen. Jedes Wort über Tessin, das ihr Vater gesprochen hatte, klang schmerzhaft in ihrer Seele nach. Die Erinnerung an alles wurde lebendig, das Maria ein tolles Geschwätz genannt und dem sie ihr Ohr verschlossen hatte. Nun aber wußte sie, die Menschen, die von ihr der Verleumdung angeklagt worden, die hatten recht, und ihr Vater hatte recht und sie allein unrecht mit ihrer törichten Glaubensseligkeit, mit ihrer übel angebrachten Bewunderung Tessins, mit ihrem Stolz auf sein ritterliches Werben … Guter Gott, das war so unpersönlich wie die dem Grafen Dornach dargebrachten Huldigungen. Ein ehrgeiziger Diplomat, ein praktischer Mann hatte gewünscht, der Schwiegersohn des Grafen Wolfsberg zu werden, und die dazu unerläßlichen Schritte mit liebenswürdiger Formgewandtheit unternommen … Das Herz war bei dem Geschäfte nicht im Spiele – wäre auch nicht zu vergeben gewesen, es befand sich bereits in anderweitigem Besitz.

Ein Schwall von neuen Empfindungen brach über Maria herein. Sie war die Beute von etwas Fremdartigem und Unschönem, dem sie sich entreißen wollte, und wollen konnte sie noch, das sollte ihr Vater sehen – ihr Vater und noch ein anderer …

Ihre Lider wurden schwer und schlossen sich. Ein Augenblick der Betäubung, dann fuhr sie auf … Ob sie jetzt wußte, was es heißt: hassen?… Nein, nein … sie fühlte nur ein tiefes Bedauern, wie wenn ihr ein Herrliches und Schönes, an dem ihr das Herz gehangen hatte, verunstaltet worden wäre. Er, den sie hoch über alle Menschen gestellt, unwahr und gewissenlos!

Sie hörte noch vom Turme der nächsten Kirche zwei Uhr schlagen, dann schlief sie ein und träumte, Tessin trete als Schneeschaufler verkleidet an ihr Bett, präsentiere mit dem Besen und engagiere sie zum Kotillon. Sie folgte ihm durch den Ballsaal und schämte sich ihrer Nachttoilette und ihrer nackten Füße. Auch ihres Tänzers schämte sie sich, der in einem fort grinste und der wirkliche Schneeschaufler war. Und wie sie ihn jetzt so recht ins Auge faßte, entdeckte sie etwas Merkwürdiges. Der zerlumpte Mensch erinnerte an ihren Vater, er hatte wie jener die breite Stirn, die dichten, zusammengewachsenen Brauen. Maria neigte sich zu ihm und sprach: »Beim ersten Blick ist mir etwas an Ihnen aufgefallen – ich wußte nur nicht gleich, was es war …« Sie erwachte, lächelnd über diesen Traum und mit unglaublich leichtem Herzen für ein junges Mädchen, dem eben eine erste Illusion zerstört worden. Es ist aus, dachte sie, ich hätte nicht geglaubt, daß man so schnell mit einem Gefühl fertigwerden kann, das doch wie Neigung ausgesehen hat … Nein, nicht nur ausgesehen!… Die anderen wollen belogen sein – warum aber mich selbst belügen?… Ich habe ihn geliebt, innig und heiß.

Und aufschluchzend drückte sie ihr tränenüberströmtes Gesicht in das Kissen.

Kapitel 3

Kapitel 3

 

Am nächsten Tage machte Hermann Dornach seinen ersten Besuch, wurde für morgen zu Tische geladen und brachte einige Abende im Familienkreise zu. Gräfin Dolph fand ihn charmant und unglaublich gescheit für einen Majoratsherrn. Sie rechnete es ihm hoch an, daß er mit ihr, der bösen Zunge, die den meisten Scheu einflößte, so rasch vertraut wurde. »Einfach die Folge seines guten Gewissens«, erklärte sie. »Eine Anklage gegen ihn wäre ein Schuß ins Blaue; der sieht ruhig zu, wie ich meine Pfeile spitze; er gehört nicht zu den Leuten, denen vor mir graut.«

Und wirklich schwand in ihrer Gegenwart die leise Befangenheit, die bei einem Manne, den zu verwöhnen alle Welt wetteiferte, für den Laien so befremdlich und dem Herzenskundigen eine Bürgschaft echten Seelenadels war.

Man sagte, diese Befangenheit sei die Folge der übertriebenen Strenge, mit welcher er unter der Leitung seiner Mutter erzogen worden war. Die Gräfin hatte ein Gegengift anwenden wollen gegen die Kriecherei der Parasiten, des Beamtenheeres, der Dienerschaft und gegen die grenzenlose Nachsicht eines schwachen und kränklichen Vaters für sein einziges Kind. Aber die Dosis war zu stark gewesen und hatte nicht nur keine Selbstüberhebung aufkommen lassen, sondern auch kein rechtes Selbstvertrauen. Die Gräfin sah den begangenen Fehler ein und suchte ihn noch beizeiten gutzumachen. Sie hatte nach dem Tode des Grafen die Vormundschaft über Hermann, die sie tatsächlich immer geführt, auch formell angetreten und schenkte nun dem achtzehnjährigen Jüngling uneingeschränkte Freiheit. Ein kleiner Mißbrauch derselben wäre leicht verziehen gewesen, kam aber nicht vor. Hermann besuchte landwirtschaftliche Schulen in Deutschland und England, jagte Löwen in Nubien und Elefanten in Indien, diente einige Jahre in einem eleganten Kavallerieregimente und widmete sich später der Verwaltung seiner Güter. Er war dreiunddreißig Jahre alt geworden, ohne in die Lage gekommen zu sein, andere Schulden als die seiner Freunde bezahlen zu müssen, ohne ein Mädchen verführt, ohne den Ruf einer Frau gefährdet zu haben. Und doch kochte das Blut in seinen Adern so heiß wie in denen irgendeines seiner Alters- und Standesgenossen, und doch hatte er in seinen wenigen Liebesverhältnissen mehr echte und wahrhafte Empfindungen ausgegeben als sie alle zusammengenommen in ihren zahllosen Zirkus- und Halbweltsabenteuern. Übrigens erschienen ihm von dem Augenblick an, in dem er Maria kennenlernte, seine ernsthaftesten Schwärmereien und Leidenschaften wie Kinderspiel.

Es geschah auf einem Balle, den er aus Gehorsam gegen seine Mutter besucht hatte. Er kam ja überhaupt nur aus Gehorsam zu ihr nach Wien, um dort in die große Welt zu gehen, wo er kein Vergnügen fand und wo die Bemühungen um seine Gunst ihn anekelten.

Tante Dolph war Zeuge seiner ersten Begegnung mit Maria und dann selbst der Gegenstand seiner eifrigsten und ehrfurchtsvollsten Aufmerksamkeiten gewesen. Sie erinnerte sich plötzlich ihrer Jugendfreundschaft mit Gräfin Agathe Dornach und machte ihr einen Besuch, der bald erwidert wurde. Die alten Damen sagten zueinander: »Liebes Kind«, und jede hatte das Gefühl ihrer Überlegenheit über die gute Bekannte von einst, mit der sie später auseinandergekommen war wegen völlig verschiedener Anschauungen und gleich schroffer Unduldsamkeit. Agathe berühmte sich, eine orthodoxe Katholikin zu sein; Dolph, ganz ungläubig, ließ nicht gelten, daß ein vernünftiger Mensch fromm sein könne, es wäre denn ein Dienstbote, ein Bauer oder ein Prinz. Agathe fürchtete für Dolphs ewiges Heil, diese fürchtete Agathens Bekehrungsversuche, die stets in der Behauptung gipfelten, die Skepsis entstehe aus der Halbbildung, und weiter als bis zu einer solchen brächten Frauen es nicht. Ob sich diese Gegensätze zwischen den beiden Damen im Laufe der Jahre gemildert oder verschärft hatten, danach wurde jetzt nicht gefragt und das Berühren heikler Punkte sorgfältig vermieden. Der Graf, ein Konversationskünstler ohnegleichen, half spielend über ein paar Abendstunden hinweg; das Gespräch, das er beherrschte, wurde lebhafter geführt als das zwischen den jungen Leuten am Teetisch nebenan. Maria war schweigsam, Hermann nicht beredt. Er sagte aber dennoch viel, denn jeder seiner Blicke enthielt eine glühende Erklärung der innigsten Liebe.

Eines Tages nun geschah es, daß Gräfin Dornach sich bei Maria anmelden ließ und mit einer Miene eintrat, als ob sie die Schlüssel des Himmels zu überreichen hätte. In würdevoll gelassener Weise brachte sie im Auftrage Hermanns die Anfrage vor, ob er um Marias Hand werben dürfe.

»Dein Jawort würde ihn beseligen«, schloß sie, »und du kannst es ihm getrost geben. Ich schmeichle niemandem, am wenigsten mir selbst in meinem Sohne. Mein Urteil über ihn ist das eines jeden Unparteiischen und lautet: Es gibt keinen vernünftigeren Menschen, keinen besseren, keinen edleren.« Sie hielt inne, sie wartete auf eine Erwiderung; da keine erfolgte, fuhr sie fort: »Wenn deine Mutter lebte, würde ich mich zuerst an sie gewendet haben, und sie wäre es, die jetzt zu dir spräche. Nimm an, daß es durch meinen Mund geschieht.«

Maria senkte die Augen, ihre Lippen zitterten, aber sie schwieg.

»Ein sicheres Glück bietet sich uns im Leben selten. Dem, der es einmal abgewiesen hat, wird es schwerlich wiederkehren«, fuhr die Gräfin nach einer Pause noch kälter und förmlicher als früher fort. »Indessen hast du recht zu erwägen. Dein Zögern gefällt mir; es beweist, daß du den Ernst des Schrittes kennst, den andere junge Mädchen oft so leichtsinnig unternehmen. Ich habe Vertrauen zu dir. Wenn ich deine Einwilligung, deine einfache Einwilligung mit nach Hause nehme, so enthält sie für mich alle heiligsten Schwüre, die ein ehrliches Mädchen ihrem zukünftigen Gatten nur irgend leisten kann.«

»Jawohl, das enthielte sie auch … Ich bitte Sie –«

»Wieder: Sie! Bleibe ich dir denn fremd?« – »Ich bitte dich, sage dem Grafen Hermann – –« eine unaussprechliche Bangigkeit bemächtigte sich ihrer; sie blickte in das marmorblasse Gesicht der Gräfin: – So lieblos wie die Tante, dachte sie.

»Nun, was sag ich ihm?«

»Daß ich heute abends – Ihr kommt ja doch? – selbst mit ihm sprechen werde.«

Sie küßte der Gräfin, die sich ziemlich enttäuscht erhob, die Hand und begleitete sie bis zur Treppe.

In ihr Zimmer zurückgekehrt, schritt sie lange in hoher Erregung auf und ab und quälte sich mit der Frage: Warum will ich’s tun? – Ist mein Grund nicht ein verwerflicher?… Und dann setzte sie sich ans Klavier und spielte und wurde allmählich ruhiger. Und dann kam Tante Dolph und las ein Telegramm von Wilhelm Dornach vor, einem Bekannten aus uralter Zeit, dessen Existenz sie längst vergessen hatte. Auf ein Gerücht hin, das in seine ländliche Einsamkeit gedrungen war, schickte der gute, dumme Mensch ihr seine Glückwünsche zur Verlobung ihrer Nichte mit seinem Vetter.

Die Gräfin lachte über die Eile des armen Teufels, seine geheuchelte Freude an den Tag zu legen. Als nächster Anwärter auf das Majorat konnte der ganz unbegüterte und mit einer zahlreichen Familie gestrafte Mann doch nichts anderes gewünscht haben, als daß sein Vetter ledig bleibe. Ein insdiskreter Wunsch, ja, aber der natürlichste von der Welt. Sie nahm Platz auf der Chaiselongue mit dem Rücken gegen das Bild ihrer verstorbenen Schwägerin, das anzusehen sie überhaupt vermied, klagte über Kopfschmerzen und rieb die eingefallenen Schläfen mit Kölner Wasser. Sie war leidend und in gereizter Stimmung. Sogar als sie ihr jetziges Lieblingsthema anschlug, das Lob Hermanns, geschah es mit einer Beimischung von Spott.

»Heil der Frau, die er heimführt!« rief sie aus, »ihre Ehe wird freilich sein wie jede, in der nur ein Wille herrscht.«

Sie beantwortete den erstaunten Blick Marias mit der Frage, ob denn Hermann nicht von seiner Kindheit an gelernt habe, sich einer Weiberregierung zu fügen?… Wie albern müßte doch die Frau sein, die es nicht verstände, einen so vortrefflichen Elementarunterricht als Grundlage zu weiterer Ausbildung zu benützen! Gute Lehren, wie das anzufangen sei, kamen nun in Fülle. Ernst gemeinte wie spaßhafte und alles mit Beispielen erläutert. Man sehe das Ehepaar Heinburg. Im Anfang war er ein Spieler und brachte die Nächte im Klub zu, während sie daheim saß und weinte. Das hat sich nach und nach geändert – durch ihr Verdienst! Jetzt spielt sie, und er weint. »Und deine Freundin Emmy, die sich zum Altar schleppen ließ wie ein Lamm zur Schlachtbank und in ihrer Ehe einen so guten sicheren Hafen gefunden hat, von dem aus sie allerlei abenteuerliche Fahrten unternehmen kann in die stürmische See!«

Ein Klopfen an der Tür ließ sich hören, und Fräulein Nullinger, die Gesellschafterin Gräfin Dolphs, schlüpfte herein. Sie wurde von der Gebieterin »Nulle« genannt, was sie empörte, und litt infolge ihres aufregenden Dienstes an Nervosität. Obwohl sie jetzt nur die harmlose Meldung zu machen hatte, daß die Schneiderin gekommen sei und gesagt habe, sie könne nicht lange warten, zuckte es dabei krampfhaft um ihren Mund.

»Schon gut, setzen Sie sich«, erwiderte Dolph und fuhr fort, Freund und Feind durch die Hechel zu ziehen. Sie nannte viele Namen ganz flüchtig und obenhin; an dem, der ihn trug jedoch, blieb ein Makel hangen, oder er wurde mit einer Lächerlichkeit behaftet.

Maria hörte ihr heute aufmerksamer zu als sonst und dachte: Sie hat wohl recht. Was soll auch an den übrigen Menschen sein, wenn Tessin nichts taugt? Und Gräfin Dolph, wie ein echter Schauspieler, den schon die Teilnahme eines einzigen Zuhörers begeistert, übertraf sich selbst in ihrer fragwürdigen Kunst und geriet in den kleinen Witz- und Bosheitsrausch, der ihr so gesund war. Ihr Gesicht, das, wie sie selbst sagte, eine Karikatur der schönen Züge ihres Bruders war, belebte sich, und ihre Kopfschmerzen verschwanden.

Fräulein Nullinger verlor endlich die Geduld und erhob sich, noch um eine Schattierung höher gefärbt als gewöhnlich. »Ich werde der Schneiderin sagen«, sprach sie, »daß Frau Gräfin jetzt lästern müssen und keine Zeit für sie haben.«

Dolph lachte. »Ach was, mein Lästern: ein gerader Kerl, der gleich Farbe bekennt. Aber das Ihre!… Wenn Sie anfangen: Ich hab den oder die recht gern, das ist, wie wenn ein Reiter sein Pferd zusammennimmt, bevor er ihm eins hinaufgibt.«

Sie ging in munterster Laune, war auch später bei Tische heiter und anscheinend ganz wohl. Am Abend jedoch stellten sich plötzlich ihre Kopfschmerzen wieder ein und zwangen die Leidende, ihr Zimmer aufzusuchen, kurz bevor Hermann und seine Mutter gemeldet wurden. Ausnahmsweise hatte Wolfsberg zu Hause gespeist und nachmittags im Salon den Damen Gesellschaft geleistet. Er empfing die Gräfin mit tausend Entschuldigungen seiner Schwester, die sehr zur Unzeit unwohl geworden; Agathe äußerte ihre Teilnahme mit ganz besonderer Wärme und ersuchte den Grafen, sie zu ihrer Freundin zu geleiten, was alsbald geschah. – Die jungen Leute blieben allein.

Beiden stieg die Röte in die Wangen. Ihm schien die Gelegenheit zu einer entscheidenden Unterredung plump und ungeschickt geboten; ihrer bemächtigte sich ein peinliches Gefühl, halb Empörung, halb Bangigkeit. Regungslos stand sie da, hatte die Brauen zusammengezogen und blickte ins Feuer des Kamins. Nach einer Pause, die, je länger sie dauerte, desto schwerer zu unterbrechen war, begann Hermann bewegt und zagend: »Meine Mutter hat mit Ihnen gesprochen, Gräfin … Sie kennen die kühne Frage, die ich so vermessen bin, an Sie zu stellen. Die leiseste Hoffnung auf eine bejahende Antwort würde mich beglücken … Darf ich sie fassen?«

Maria schwieg, aber sie wandte sich ein wenig und blickte ihn von der Seite so fremd an, als ob sie ihn heute zum ersten Male sähe. Sein Äußeres war ungemein gewinnend, sie mußte es gestehen. Verstand, Güte, Geradheit sprachen aus seinem hübschen Gesicht, leuchteten aus seinen treuherzigen Augen. Er trug einen kleinen Schnurr- und Backenbart, die reichen braunen Haare waren kurz geschnitten und ließen die edel geformte Stirn und die Schläfen frei. Seine Gestalt hatte etwas Festes, Kräftiges, und doch fehlte es ihr nicht an männlicher Anmut.

»Antworten Sie mir«, sagte er.

Und sie, »der Held« im Kreise ihrer jungen Freundinnen, die Unerschrockene, die ja mit sich selbst im reinen und fest entschlossen war, ihre Hand in die des ungeliebten Freiers zu legen, flüsterte nun bestürzt: »Ich weiß nicht … ich weiß nicht –«

Ihre Verzagtheit ergriff und rührte ihn; er machte sich Vorwürfe, er hatte zu früh gefragt, er hätte dem Drängen seiner Mutter nicht nachgeben, sich von dem Entgegenkommen des Grafen nicht verleiten lassen sollen. Nun bemühte er sich, seine Übereilung gutzumachen: »Sie sind noch unentschieden«, nahm er wieder das Wort, »ich sehe es und finde es begreiflich. – Überlegen Sie, prüfen Sie mich streng und lang. Ich mache es Ihnen nicht schwer – in meiner Seele gibt es keine Abgründe …«

»Mein Gott, nein«, sprach Maria, »das ist nicht … nein, nein –« und zwei Worte, Anfang und Ende ihrer jungen Weisheit, kamen fast unhörbar über ihre Lippen … Worte ihres Vaters, die er seiner gelehrigen Schülerin eingeprägt hatte: »Nur ruhig!« – Dereinst, als sie sich in Verzweiflung über die Leiche ihrer Mutter geworfen … und viel später, auf der Jagd, als ihr scheuendes Pferd dem Mühlstrom zugerast … und dann auf ihrem ersten Ball, als sie, von übermütiger Fröhlichkeit ergriffen, so laut gelacht, so toll getanzt, immer hatte sein eindringliches: »Nur ruhig!« sie zur Besinnung gebracht.

Auch in diesem Augenblick erinnerte sie sich der väterlichen Mahnung nicht umsonst und vermochte ihren abgebrochenen Reden mit einem Scheine von Gelassenheit hinzuzufügen: »Sie irren – ich bin entschlossen.«

»Wozu?… Nein?«

»Ja.«

»Heil mir!« rief er mit tiefinnerstem Jubel und ergriff ihre Hand, die sie, wieder erfaßt von ihrer früheren Bangigkeit, aus der seinen zu lösen suchte. Er aber hielt sie fest.

»Sie ist mein, mein kostbarstes Eigentum – und Ihr freies Geschenk, nicht wahr, Maria? – Niemand hat Sie beeinflußt, Sie hätten sich nicht beeinflussen lassen; Sie sind zu stolz, zu selbständig.«

»Doch«, versetzte sie und erhob nun endlich ihr gesenktes Haupt. Nie in ihrem Leben hatte sie einen Menschen so bewegt gesehen, und – merkwürdig – was ihr als der Ausbund des Lächerlichen galt: ein Verliebter, dessen Empfindung nicht völlig erwidert wird, kam ihr jetzt höchst ernsthaft vor und traurig sogar, traurig für sie. Er, mit seinem großen, wahrhaftigen Gefühl, er war der Reiche und sie arm neben ihm. »Doch«, wiederholte sie leise, »der Wunsch meines Vaters hat Einfluß auf mich gewonnen – im Anfang.«

»Und später, was bestimmte Sie später, was bestimmt Sie jetzt? Seien Sie aufrichtig gegen mich, Gräfin, wie ich es immer gegen Sie sein werde. Was bestimmt Sie … ich … ich weiß, daß es nicht Neigung ist.« Mühsam hatte er dieses Geständnis vorgebracht, denn er täuschte sich nicht über die Gefahr, die es in sich schloß.

Aber Maria lächelte, freudig fast: »Daß Sie es trotzdem mit mir wagen wollen, das eben bestimmt mich … Und das Vertrauen, das Sie mir beweisen – und das Vertrauen, das Sie mir einflößen.«

»Dank!« sprach er, und aus seinen ehrlichen blauen Augen leuchtete eine wonnige Zuversicht. »Das ist ein schöner Bund: Ihr Vertrauen und meine ehrfurchtsvolle Liebe! Eine solche Liebe reicht aus für zwei gute Herzen, sie hat eine mitteilende Kraft. Wissen Sie warum? Weil sie sich nie aufdrängt, sich niemals ein Recht anmaßt. Ihr gegenüber gibt es keine Pflicht, nur Gnade und Wohltat. Und welche edle Frauenseele würde nicht endlich gerührt von … Genug!…« unterbrach er sich, »sonst verrate ich noch, daß diese Uneigennützigkeit nichts ist als der größte Egoismus – der Egoismus, Sie glücklich zu sehen.«

Mit beiden Händen zog er ihre Hand an seine Lippen, an seine Brust. Maria fühlte das ungestüme Pochen seines Herzens, auf seinem Angesicht jedoch, das sich über das ihre neigte, lag Frieden, und es erschien ihr wie verklärt von tiefster Seligkeit.

Der schweigsame Mann wurde beredt; er fand für seine Empfindung den Ausdruck, der gewinnt, für seine Gedanken das überzeugende Wort. Maria hörte ihm zu und sagte sich: Er ist wahr und warm. – Und vielleicht war es das, wonach sie sich sehnte von Kindheit an: Wahrheit und Wärme. Wohl hatte man sie vergöttert und verwöhnt; aber wieviel Falschheit war bei dieser Vergötterung, die servile Leute ihr erwiesen, wieviel – wenigstens äußere – Kälte bei der Verwöhnung, die sie von ihrem Vater und nun erst von Tante Dolph erfuhr.

»Der Ernst auf Ihrer Stirn«, sprach Hermann, »der hat mich bezaubert; er ist, was ich zuerst an Ihnen geliebt habe, und jetzt wird es mein heißes Bestreben sein, ihn allmählich zu zerstreuen. Sie sollen gefeit durchs Leben wandeln, eingehüllt in meine Liebe … Ich bin zu glücklich«, brach er aus – »ich verdien es nicht – was müßte der sein, der Sie verdiente, Maria! Maria!«

Sie trat einen Schritt zurück, sie vermied den Blick voll leidenschaftlicher Andacht, der den ihren suchte, und sprach: »Nein, nicht so – Sie sind ja besser als ich … haben Sie Geduld mit mir.«