Kapitel 7

Kapitel 7

 

Am nächsten Tage erschien er nicht mit seinem Gesuche. Auch am nächstfolgenden erwartete ihn der Rat vergebens.

Es wurde in seine Wohnung geschickt, nachzufragen, ob er erkrankt sei. Seine Hausfrau befand sich in großer Sorge, war einmal um das andere zur Polizei gerannt, das unbegreifliche Ausbleiben ihres Mietsmannes dort anzuzeigen und zu Nachforschungen aufzufordern. Sie hatte auch Ziegler von der Sache in Kenntnis gesetzt, und der irrte schon seit zwei Tagen rastlos umher auf der Suche nach seinem Freunde.

Aber vergeblich; Andreas kam nicht zum Vorschein. Da und dort wollte man einen Menschen gesehen haben, auf den die Beschreibung, die von ihm gemacht wurde, paßte, doch bemühte man sich umsonst, seine Spur zu verfolgen. Kaum entdeckt, verlor sie sich wieder.

An einem kalten Märzabend kehrte Ziegler von einem seiner erfolglosen Streifzüge zurück. Der Vorort, in dem er nach dem Vermißten gesucht hatte, lag schon eine tüchtige Strecke hinter ihm. Er wanderte am Saume der mit Pappeln bepflanzten Landstraße mißmutig heimwärts.

Schon flimmerten Lichter in den Fenstern der Vorstadthäuser, die er zunächst zu erreichen trachtete, schon kämpften in der Ferne lange Reihen matter Gasflammen mit dem Zwielicht. Ziegler war zu einer Stelle gelangt, wo die Straße einen weiten Bogen um kleine Anhöhen bildete, und lenkte querfeldein, den Weg abzuschneiden.

Er ging rasch, mit großen Schritten. Um ihn alles still. Nur von Zeit zu Zeit drang von der Straße herüber das ächzende Knarren eines schwerbeladenen Frachtwagens, ein Peitschenknall und der fluchende Anruf des Fuhrmanns an seine Gäule.

»Hei! Die Märzluft weht scharf über die Wintersaaten. Ein schöner Frühlingsgruß für all die Millionen Triebe, die in der Natur erwacht sind, knospen und keimen«, brummt der Wanderer und eilt immer schneller vorwärts. – Plötzlich stößt sein Fuß an einen auf dem Boden liegenden Körper … Weiß Gott, da ruht, den Kopf auf einem Erdhügel gebettet, ein Mensch in sanftem Schlafe. Ziegler beugt sich über ihn. Es ist Andreas.

Eine bleierne Blässe bedeckte sein Gesicht, und es hatte die Unbeweglichkeit des Todes.

Ewige Güte, atmet er denn?!

Angstvoll lauschte der Freund … Lange, lange nichts, kein Hauch, keine Regung … Endlich hob sich die Brust tief und rasch mehrmals nacheinander. Dann wieder die frühere leblose Ruhe. Ziegler griff nach der Hand des Schläfers, sie glühte, ungleich und hastig rieselten ihre Pulse dahin.

Die Uhr lief ab, das Lämpchen flackerte ungeduldig seinem Erlöschen zu.

»Andreas! Andreas!« rief Ziegler schmerzlich aus. Jener erwachte und richtete sich in den Armen seines Freundes auf. Ein Ausdruck unaussprechlicher Freude glitt über sein Gesicht, als er den Getreuen erkannte.

»Glaubst du einige Schritte machen zu können? Nur bis zur Straße, dort ruhst du wieder, indes ich einen Wagen herbeihole.«

»Warum sollt ich nicht gehen können?«

»Du scheinst mir krank.«

»Oh, mir ist wohl!… Frieden! Frieden hier!« flüsterte Andreas und legte die Hand auf die Brust. »Ich alte Stubenfliege habe mir ihn erwandert … Möchtest du’s glauben?«

Seine Rede wurde unverständlich.

»Komm«, bat Ziegler, »komm, Andreas.«

»Wohin?«

»Nach Hause jetzt, dann fährst du nach den Bergen, wirst in einem schönen Schlosse wohnen, bei edlen Menschen; wirst Stücke schreiben, wie sie uns gefallen, uns beiden, und sie mir vorlesen, wenn ich dich besuche.«

Andreas lächelte, wie ein Weltbesieger lächeln würde, wenn man ihm ein Spielzeug aus der Kinderzeit brächte, damit er sich daran ergötze.

»Nein, nein«, sprach er, »das ist vorbei – selig überwunden! – O diese Rast!«

»Vorbei?« fragte Ziegler vorwurfsvoll, »vorbei die Liebe zur heiligen Poesie? – das edle Ringen des Dichters? Du fliehst aus dem Kampfe?«

»Ich habe ihn beendet. Doch beginnt ein neuer, ein anderer, und in dem werde ich siegen!«

Andreas stand aufrecht und sprach leise, aber eindringlich und klar; sein Gesicht leuchtete im Widerscheine eines überirdischen Glückes.

»Das Kunstwerk aus mir heraus zu bilden, es hinzustellen, den Menschen eine Leuchte – dazu fehlte mir die Kraft. Aber der geheimnisvolle Drang nach Gestaltung des Schönen soll dennoch sein Genüge finden … In mir vermag ich’s auszubilden!… Jeden Mißklang, jede kleinliche Empfindung aus der Seele bannen, alles Wollen und Können zusammenstimmen zu einer mächtigen Harmonie … Ein Kunstwerk leben – welch eine Wonne, Freund!«

Wehmütig, mit grollendem Mitleid erwiderte der: »Dazu bereitet man sich wohl vor, indem man aufgeregt und fiebernd umherschweift im Wettersturm? Komm, du armer Träumer, komm.«

Und sorgsam knöpfte er ihm über die Brust den Kastor zu. Wie sah der aus, der mürbe Geselle!

Widerstandslos ließ sich Andreas von seinem Führer geleiten, und langsam schritten sie durch die sinkende Nacht der großen Stadt zu, die im Nebel vor ihnen lag.

 

Wenige Wochen, nachdem sie ihren Knaben nach dem Friedhof geleitet hatten, folgten Ziegler und seine Frau dem Sarge ihres Freundes dahin. Eine kleine Anzahl Beamter schloß sich ihnen an, sogar Rat Seydelmann kam gefahren und warf die erste Scholle Erde in das Grab des harmlosen Menschenkindes, das im Leben nicht viel lauter gewesen war als jetzt in seiner letzten Behausung.

Die Zeremonie war beendet, die Beamten gingen heim, mehr oder weniger gerührt.

Ein ernstes, schönes Paar, das bisher abseits gestanden hatte, näherte sich langsam. Der Mann und die Frau schienen tief ergriffen; er trug einen prächtigen Blumenkranz, den sie ihm nun abnahm und auf das frische Grab legte. Ziegler und seine Gattin traten zu ihnen, und sie grüßten einander wie gute Bekannte.

»In diese Ruhe paßt er besser als in das lärmende Treiben der Welt«, sprach Auwald, und Ziegler erwiderte: »Jawohl. Der paßte in das Menschengewoge wie eine Perle in eine Kugelmühle.«

Sie wechselten noch einige Worte.

»Wir haben uns an einem Sterbebette kennengelernt, aber fürs Leben«, sagte Auwald.

»Auf Wiedersehen in Steiermark«, fügte seine Frau hinzu.

Man drückte einander herzlich die Hände; Auwald und Mathilde verließen den Friedhof.

Ziegler jedoch hielt noch eine Besprechung mit dem Totengräber, indessen die Mutter am Grabe ihres Kindes betete. Endlich traten auch die beiden den Heimweg an. Aber Ziegler hatte noch etwas auf dem Herzen, das nicht einmal seine treue Genossin erfahren sollte. Am Gitter angelangt, hieß er sie warten und kehrte allein nach dem Hügel zurück, unter dem der Freund schlief, den er geliebt, der Dichter, den er bewunderte. Hier, nachdem er sich überzeugt hatte, daß niemand in der Nähe war, der ihn beobachten konnte, warf er sich auf beide Knie nieder und verharrte so einige Augenblicke in stummem Schmerze.

Dann zog er mit zitternder Hand einen frischen Lorbeerzweig aus der Brusttasche seines Rockes und legte ihn zu Häupten des Grabes neben den duftenden Blumenkranz.

Kapitel 2

Kapitel 2

 

Wie er damals aus der Theaterkanzlei herausgekommen war, darüber hat Andreas in der Folge oft nachgedacht, doch ist er nie zu einem Resultate gelangt. Eines nur steht fest, was in fünfundzwanzig Jahren nicht geschehen war, geschah – man vermißte seine Gegenwart im Büro.

Er hatte sich auf dem Wege dahin verirrt, war in einen ihm völlig unbekannten Stadtteil geraten, in ein Babel von neuen Häusern, neuen Brücken und Straßen. Steinerne Adern, durch die eine mächtig erwachte Tätigkeit ihre raschen Wellen trieb, Früchte und Pflanzstätten rüstiger Unternehmungslust. Alles fremd, alles wie durch Zauber entstanden über Nacht.

Andreas eilte staunend vorwärts und wiederholte unablässig: »Eine neue Welt! eine neue Welt!«

Kein Wunder auch. – Sein Stück war angenommen, sein Stück wurde aufgeführt, sein Stück! – das konnte in der alten Welt nicht geschehen. Während er in seinem Büro kopierte und addierte und in seinem Stübchen träumte, hatte sie sich umgestaltet.

Es war Abend geworden, als seine Irrgänge ihn endlich in die Nähe des Hoftheaters lenkten. Unwiderstehlich zog es ihn hinein. Das versäumte Mittagessen deckte den Preis des Eintritts in diesen Tempel, in dem sich vielleicht bald die geliebten Gebilde seiner Phantasie verkörpern, Leben gewinnen und die Gemüter aufmerksam lauschender, verständnisvoller Menschen ergreifen und erschüttern sollten.

Mit Mühe fand Andreas auf der letzten Galerie ein letztes Plätzchen. Er drückte sich höflich zur Seite, sooft ein neuer Ankömmling auf mehr oder minder energische Weise den Wunsch kundgab, an die Brüstung vorzudringen. Immer weiter gegen die Wand geschoben, besorgte er, zuletzt der Vorstellung kaum mehr folgen zu können. Doch kam es besser. Wenn es ihm nur gelang, sich mit einer Hand an dem eisernen Dachsparren festzuhalten und sich mit einem Knie an die Bank vor ihm zu stemmen, konnte er den Kopf so weit vorstrecken, daß er immer noch beinahe die halbe Bühne übersah.

So war es ihm doch möglich, dem bevorstehenden Genusse mit einem gewissen Behagen entgegenzuhoffen.

Es wurden zwei neue Lustspiele aufgeführt, ein einaktiges und darauf eines in mehreren Aufzügen. Das erste Stück begann. Eine einfache Handlung; aber voll inneren Lebens. Die Charaktere fein und sicher gezeichnet, lauter wirkliche Menschen, an Schwächen und Irrtümern reich, aber Teilnahme erregend und ihrer wert. Und nun erst der Dialog! – ganz durchweht von Anmut, ganz durchsprüht von Geistesfunken. – – Andreas lauschte hingerissen und betrübt.

Dahin, sagte er zu sich selbst, dahin bringst du’s nie. Niemals werden deine schwerfälligen Gedanken so klaren Ausdruck finden in so feiner Form. Dir ist diese spielende Grazie versagt, diese heitere Ausführung, der im sicheren Gefühle des Könnens die Arbeit zum Genusse wird.

Das Stückchen ging zu Ende mit einer überraschenden und doch ungemein klug angebahnten Wendung.

Andreas bereitete sich vor, in den Applaus einzustimmen, der nun im Hause losbrechen mußte, statt dessen blieb alles still. Im Parterre erhoben die Herren sich von ihren Sitzen und kehrten der Bühne den Rücken zu. Ein schwacher Versuch, Beifall zu spenden, der auf der zweiten Galerie unternommen wurde, rief sofort lebhaften Widerstand hervor, einige Zischlaute ertönten.

»Applaudieren auch noch?« sagt jemand und pfeift herzhaft, und lachend stimmen seine Nachbarn ein.

Was ist das? denkt Andreas, sind die Anforderungen des Publikums so hoch gestiegen? Ist ihm das Vortreffliche nicht mehr gut genug?… Wie werde ich vor solchen Richtern bestehen?

Der Vorhang erhob sich wieder, das zweite Stück begann. Eine derb komische Szene versetzte das Auditorium sofort in die heiterste Stimmung, und Andreas lachte mit. Aber er lachte an dem Abende nicht mehr. Der harmlose Scherz artete bald in unlautere Zweideutigkeiten aus, die Handlung wurde sinnlos, alle Gestalten auf der Bühne verzerrten sich zur Karikatur, und was sie darstellten, war ein frivoles Possenspiel.

Wie mußte sich das Publikum beleidigt fühlen, dem man ein Werk vorzuführen wagte, dessen Wirkung berechnet war auf niedrige Neigungen im Menschen, auf kindische Neugier, auf Ungeschmack, auf die Freude am Rohen und am Häßlichen.

Andreas schauderte bei dem Gedanken an den Unwillen, den es erregen, an das Strafgericht, das es heraufbeschwören müsse. Und – wieder hatte er sich getäuscht. Der Beifall stieg von Akt zu Akt; vielfach gerufen, erschien am Schlusse des letzten der Autor auf der Bühne. Eine schwankende Gestalt, der es an Muskeln und Knochen zu gebrechen schien. Er trat, sich in den Hüften wiegend, vor bis an die Rampe und verneigte sich nachlässig mit dreistem Lächeln.

Er hatte nicht umsonst auf die Gemeinheit vertraut, sie jubelte ihrem Dichter zu, bereitete ihm einen lärmenden Sieg.

Und das konnte geschehen? und das geschah in dem Hause, in dem die heilige Dichtkunst ihre reinsten Triumphe gefeiert hatte?

Alles erhob sich von den Sitzen. Andreas gelangte mit der Menge in die Halle und lehnte sich hier schwer aufatmend an einen Pfeiler, an dem die Ankündigung der morgigen Vorstellung angeheftet war. Er las den Theaterzettel, die Preise der Plätze, das Repertoire der Woche. Für den letzten Tag derselben war angesetzt: »Zum erstenmal: Marc Aurel.«

Eine brennende Glut stieg ihm in das Gesicht, und seine Knie wankten.

»Noch nicht! noch nicht!« rief er laut und unwillkürlich aus.

Die Umstehenden sahen ihn erstaunt an, einige lachten. Er wurde totenblaß vor Scham und stürzte sich wie ein Verzweifelter in die Menschenflut, die dem Ausgange zudrängte.

Am nächsten Morgen erschien er vor allen anderen im Büro, begann die Papiere auf seinem Pulte zu ordnen und vermochte nicht damit zustande zu kommen. Jeder der eintreffenden Kollegen fragte ihn, was ihm fehle, und Finanzrat Seydelmann meinte: »Wenn Sie krank sind, so bleiben Sie zu Hause.«

Aber er fühlte sich nicht krank, nur peinlich unbehaglich und von dem Drange beseelt, sich nützlich zu machen. Er spitzte die Bleistifte aller seiner Kollegen und füllte Tinte nach, und als der Sekretär, witzig wie immer, äußerte, ihm sei hungrig zumute, holte er eiligst für ihn ein Weißbrot aus dem nächsten Bäckerladen.

Nur sich regen, nur nicht ruhig bleiben auf einem Flecke, nur nicht am Pulte sitzen der Wanduhr gegenüber, deren langer Zeiger sich so schnell, beinahe sichtbar, bewegte, vorwärts, vorwärts – unaufhaltsam – einer Stunde zu – – wenn er ihrer dachte, lief es ihm mit leisem Prickeln über den Scheitel, als ob seine Haare sich sträubten.

Die Arbeit, die er in diesen Tagen verrichtete, mag ihm der Staat verzeihen. Sie war durchaus unbrauchbar und zog ihm die erste Rüge von seinem Chef zu. Die größte Strenge wird immer gegen den besten Arbeiter geübt. Bei dem, der sich niemals eine Nachlässigkeit zuschulden kommen ließ, erscheint die erste am unverzeihlichsten. So war denn auch der Tadel des Finanzrates ein herber und schloß mit den Worten: »Ich weiß nicht, wie Sie mir vorkommen.«

Worauf Muth sich leichthin, wie es gar nicht in seiner Art lag, verneigte und mit verbindlichem Lächeln erwiderte: »Jawohl! jawohl!«

Andreas hatte sich vorgenommen, der Aufführung seines Dramas nicht beizuwohnen; wie kam es, daß er trotzdem lange vor Beginn der Vorstellung auf der ersten Bank in der letzten Galerie saß und nicht wankte und nicht wich, wie arg er auch gedrängt und gestoßen wurde?

Das Parterre, die Logen füllten sich allmählich, es wurde laut geschwatzt; besonders lebhaft unterhielt sich eine Gruppe von Herren in den vordersten Reihen, zunächst dem Orchester.

Unter ihnen erblickte Andreas den Verfasser des Lustspiels, das er jüngst in denselben Räumen mit soviel Beifall hatte aufführen sehen. Bestürzt wandte er den Blick einer Loge zu, in der eine Dame sich allein befand … O Wonne!… O Schmerz! Sie, die schüchtern aus weiter Ferne angebetete Frau. Hatte der Zufall, die Gewohnheit oder eine leise Ahnung sie hergeführt, um Zeugin des Triumphes oder der Niederlage ihres stillen Bewunderers zu sein?

Er drückte das Gesicht in die Hände, und eine eigentümliche Empfindung bemächtigte sich seiner. Mitten in der Menge kam er sich vor wie ihr entrückt, wie schwebend auf Flügeln in einer ganz reinen, ganz lichten Atmosphäre. Und er sah doch wieder dieselbe Menschenmenge vor sich, unter sich, alle Räume eines glänzend erleuchteten Hauses füllend und seiner Dichtung atemlos lauschend. Dann hörte er tausendstimmig seinen Namen rufen und sah sich selbst auf der Bühne stehen, und Kränze und Blumen flogen ihm zu Füßen.

Und die schöne Frau dort in der Loge nickte ihm beifällig und bewundernd zu und war erstaunt, in dem großen, ruhmgekrönten Dichter den kleinen demütigen Beamten wiederzuerkennen, den sie einmal vor Jahren gesprochen und niemals ganz vergessen hatte, nie … Da schlug’s wie gellendes Gelächter an sein Ohr: Narr, erwache! Was du träumst, wird nur dem Genius oder dem Glücklichen. Du bist keines von beiden!

Aber eine andere melodische Stimme flüsterte ihm zu: Träume, arme Menschenseele, träume fort. Laß dich ganz durchdringen von der Seligkeit, die dich jetzt erfüllt, bewahre, wenn sie erloschen sein wird, die Erinnerung an sie. Träume, träume, wiege dich in deinem Wahne und wünsche nie, daß er dir zur Wahrheit werde. Wie dem Körper sein Schatten, folgt dem Glücke das Leid und dem Erfolge Enttäuschung, Ekel und Schmerz!…

Die Musik im Orchester verklang, das Schauspiel begann. Andreas wurde plötzlich ruhig und seiner selbst bewußt. Manchmal ward es ihm ganz leicht ums Herz, weil er dachte: Possen, das ist nicht mein Stück! Das ist ein andres, das nur denselben Namen trägt. Dann wieder tönten ihm seine sorgfältig gefeilten Verse entgegen, und hie und da blitzte doch ein Schimmer von Ähnlichkeit hindurch zwischen den Personen, die sich dort auf den Brettern bewegten, und denen, die er zu schaffen gemeint und liebevoll in der Seele gehegt hatte ein ganzes Jahr.

Sein »Marc Aurel« erfuhr dasselbe Schicksal, das neulich dem kleinen Lustspiel zuteil geworden war. Das Publikum ließ ihn lautlos an sich vorübergehen. Ein bescheidener Applausversuch, den am Schlusse einige Besucher der zweiten Galerie unternahmen, fand Widerstand, aber keinen heftigen, da allen Anwesenden ein möglichst rasches Davoneilen aus dem Theater wichtiger war als das Schicksal der Novität, die eben aufgeführt worden.

Andreas ging langsam nach Hause. Dichte Schneeflocken, vom Sturme gejagt, umwirbelten sein heißes Gesicht wohltuend kühl. Je weiter er sich von der Stadt entfernte, je menschenleerer wurden die Straßen. Nur vor den Kneipentüren standen noch kleine Gruppen von Arbeitern. Ein Betrunkener vertrat Andreas den Weg und schimpfte ihm nach, als dieser ihn zur Seite geschoben hatte und weiterwanderte. In der Nähe seiner Haustüre angelangt, sah er vor ihr eine lange Gestalt auf und ab rennen, die Arme übereinander schlagen und mit den Füßen stampfen, um sich zu erwärmen.

»Nun, wie ist’s gegangen?« rief ihm eine wohlbekannte Stimme zu, und eine wohlbekannte knochige Hand legte sich wie Blei auf seine Schultern. »Ich konnte nicht in das Theater kommen. Mein Junge ist krank und auch die Frau. Wie ist’s gegangen?«

»Ich weiß nicht«, antwortete Andreas, »ich glaube schlecht. O mein Freund, wir haben uns geirrt, ich bin kein Dichter.«

»Versündige dich nicht«, rief Ziegler, »ein Dichter bist du. Aber heutzutage ist das kein Mittel mehr, den Leuten zu gefallen.«

Im Büro nahm Andreas, als er am folgenden Tage eintrat, unter seinen Kollegen eine ungewöhnliche Bewegung wahr. Sie flüsterten eifrig zusammen, sobald sie ihn jedoch erscheinen sahen, wurde das Gespräch abgebrochen. Der Sekretär nahm rasch eine Zeitung von seinem Pulte und tat, als sei er auf das eifrigste mit Lesen beschäftigt.

»Das Feuilleton der Staatszeitung bringt heut eine köstliche Kritik von Moritz Salmeyer!« rief er. »Ich kenne den Verfasser, treffe ihn manchmal bei meinem Schwager, dem Buchhändler. Ein noch junger Mann, von dem auch unlängst ein Lustspiel aufgeführt wurde, das rasend gefallen hat. Boshaft ist er, aber verteufelt gescheit. Da hat er einen armen Dichter verarbeitet, dessen Drama gestern im Hoftheater kläglich durchgesunken ist. Lesen Sie, Muth, Sie werden lachen.«

Mit eiskalten Fingern nahm Andreas das Blatt und las die darin enthaltene Kritik über sein Stück.

Der Rezensent erzählte zuerst die Handlung in einer Weise, die sie als eine Ausgeburt des Blödsinns erscheinen ließ. Sodann beschäftigte er sich nicht mehr mit dem Werke, sondern mit der Person des Verfassers. Er bewies seine Talentlosigkeit, seinen Mangel an Verstand; er griff seinen Charakter an. Dies alles mit einer Lustigkeit, die an jene des Clowns im Zirkus gemahnte.

»Nun, was sagen Sie?« fragte der Sekretär. »Wie mag dem armen Tropf von Poeten zumute sein, wenn er das liest?«

»Als hätte ihn Hanswurst mit der Britsche erschlagen«, erwiderte Andreas und setzte sich an seinen Arbeitstisch.

Erschlagen unter Lachen und Scherzen. Die letzte, die reifste Arbeit seines Geistes war nicht einmal einer ernsthaften Beurteilung würdig.

Noch nie hatte er an sein Alter gedacht, jetzt fiel ihm das Bewußtsein seiner fünfundvierzig Jahre schwer auf das Herz. Was konnte die Zukunft noch gutmachen? – er hatte keine mehr. Was konnte er von sich erwarten, nachdem er, urteilslos und blind, ein langes Dasein hindurch Werke geschaffen hatte ohne Wert und Zweck?

Das Bestreben seines ganzen Lebens war töricht gewesen, lächerlich alles, seine Hoffnungen, seine Entzückungen, ja selbst seine Resignation.

Sogar sie, die bescheidene, entsprang einer Überhebung. Wo kein Anspruch vorhanden ist, da gibt es auch kein Verzichten. Nun wurden ihm die Augen geöffnet, nun sah er sich in seiner Erbärmlichkeit, und schlimmer noch, als er war, sahen ihn die anderen, die seine Verurteilung gelesen hatten – die seine, ja, er zweifelte nicht, daß sein Geheimnis, Gott weiß durch welchen Zufall, verraten sei. Gewiß! es ist so, und die Folgen werden nicht ausbleiben. Seine Kollegen werden ihm ihr Wohlwollen entziehen, ihm vielleicht sagen: Gehen Sie; ein Mensch, der öffentlich verhöhnt worden ist, gehört nicht in die Gesellschaft ehrenhafter Männer.

… Schande! Schande!… Fressende Qual, nicht zu ertragen, nicht zu besiegen – – sie umspinnt ihn, sie haftet fest an ihm, nie mehr zu tilgen, nie mehr! – Sein Wesen erstarrt unter ihrem Hauche – o könnt er sterben!

Aber so gut wird es ihm nicht. Erst muß noch alles wirklich erlitten sein, was er jetzt in Gedanken erleidet.

Im Zimmer entsteht eine Bewegung, er neigt den Kopf tiefer über das mit Worten und Zahlen bedeckte Blatt auf seinem Pulte, die schwarzen Zeichen laufen wütend durcheinander wie aufgescheuchte Ameisen.

Nun wird ein Flüstern hörbar, Schritte nähern sich, eine Stimme ruft: »Herr Muth!«

Und er springt empor.

Seine Kollegen stehen in zwei dichten Reihen vor ihm, an ihrer Spitze in feierlicher Haltung der Finanzrat und der Finanzsekretär. Jetzt, denkt Andreas, jetzt werden sie mir sagen, daß sie nicht mehr mit mir dienen wollen, daß ich um meine Entlassung bitten soll.

Der stattliche Rat weidete sich einen Augenblick an der Bestürzung seines Untergebenen und begann dann voll Salbung laut und langsam: »Sie feiern, Herr Muth, heut Ihr fünfundzwanzigjähriges Dienstjubiläum. Ich und Ihre Kollegen, wir laden Sie ein, teilzunehmen an einem zu Ihren Ehren im Gasthofe ,Zum weißen Lamm’ veranstalteten kleinen Festsouper. Und findet dasselbe um neun Uhr statt.«

Als ob er ihn nicht verstanden hätte, starrte Andreas den Sprecher mit weit aufgerissenen Augen an, in denen sich Überraschung, Freude, unaussprechliche Dankbarkeit spiegelten. Seine Hände, die die Sessellehne umklammert gehalten hatten, lösten sich, und er preßte sie ineinandergefaltet an seine Brust. Er wollte vortreten, die Knie brachen unter ihm, er wollte sprechen, die Stimme versagte ihm, und schluchzend wie ein Kind sank er auf seinen Platz zurück.

Auf eine derart überwältigende Wirkung ihrer freundlichen Demonstration waren die Herren nicht gefaßt gewesen, und sie rief bei ihnen eine nicht geringe, wenn auch männlich bekämpfte Rührung hervor.

Einige versuchten zu lächeln, keinem gelang’s. Der erste Kommissär zwinkerte dem zweiten zu; dabei gerieten die Muskeln seines Gesichts in ein sonderbares Zucken, und in seinen Augen zitterte etwas, das ihm Schmerz zu machen schien, denn er wendete sich plötzlich vom Lichte ab. Der Magazinverwalter verzog den Mund, als hätte er Tinte getrunken, und schnaubte sich so schmetternd in sein mit einer Ansicht von Sanssouci geschmücktes Taschentuch, daß der Sekretär sich’s nicht versagen konnte, ihm zuzurufen: »Der Teufel, Heinecke, Sie sollten Postillion werden!«

Finanzrat Seydelmann, dessen berühmte Trockenheit zu der Sage Veranlassung gegeben hatte, er werde nach seinem Tode nicht in Verwesung, sondern in Streusand übergehen, klopfte Muth auf die Schulter und sprach leise und väterlich ermunternd: »Seien Sie ein Mann!«

Kapitel 3

Kapitel 3

 

Im großen Speisesaal des Gasthofes »Zum weißen Lamm« war ein Tisch für die Beamten gedeckt. Oben an der Tafel, zwischen dem Finanzrat und dem Finanzsekretär, erhielt Andreas seinen Platz. Als er ihn einnahm, bemerkte er mit Überraschung, daß sich auf seinem Teller ein großer Vogel niedergelassen hatte, der eine frische Rosenknospe im Schnabel trug.

Dieser Vogel war aber nichts anderes als Muths sinnreich zusammengelegte Serviette. Ja, das mußte man ihm lassen: im Serviettenfalten besaß der Oberkellner im »Lamm« eine eigene Kunstfertigkeit, und den Festgebern war es angenehm, daß er sie heut ausgeübt zu Ehren des Jubilars.

Andreas blickte gerührt im Kreise seiner Kollegen umher. Er hätte nicht gedacht, daß sie ihn liebten. Er hatte sich immer fern von ihnen gehalten, kaum manchmal dem oder jenem einen kleinen Dienst erwiesen. Und nun gaben sie ihm ein so offenkundiges Zeichen ihrer freundschaftlichen Gesinnung! Er war zu bewegt, um sprechen, essen oder trinken zu können, aber er fühlte sich über die Maßen geehrt und suchte vergeblich zu begreifen, warum es ihm nicht gelang, recht froh zu werden. Doch nagte etwas an seinem Herzen wie das dumpfe Bewußtsein eines Unglücks, etwas, das meltauartig auf seine Lebensfreude gefallen war und sie vernichtet hatte bis auf den Grund.

Dann quälte ihn die Frage, ob er nicht betrügt, indem er Achtungsbeweise von achtungswerten Männern entgegennimmt, die ihm diese vielleicht versagen würden, wenn sie wüßten, daß er es ist, dessen Schmach in einem großen öffentlichen Blatte am selben Morgen verkündigt worden war.

Wenn sie wüßten – dachte er. – Wenn sie wüßten!

Unweit des Tisches der Beamten hatte eine kleine, aber laute Gesellschaft sich angesiedelt, und der Sekretär wechselte wiederholt mit einem ihrer Teilnehmer Grüße und Winke. Jetzt beugte er sich zu Andreas und flüsterte ihm zu: »Sehen Sie sich um, dort sitzt Salmeyer, wissen Sie, der Verfasser des Feuilletons, über das wir so sehr gelacht haben.«

Ein kalter Schauer lief über den Rücken des Angeredeten, und er starrte den Sekretär mit solcher Bestürzung an, daß dieser unwillkürlich ausrief: »Was haben Sie denn?«

Die Antwort blieb aus; statt ihrer ertönte ein mächtiges: »Meine Herren!« durch den Saal. Finanzrat Seydelmann hatte sich erhoben, das Champagnerglas in der Hand, und blickte mit majestätischer Ruhe im Kreise seiner Untergebenen umher, die sich beeilten, gleichfalls aufzustehen.

Andreas ahnte, was nun folgen würde, und hätte den Boden beschwören mögen, ihn zu verschlingen. Er kam sich vor wie erdrückt zwischen Ehre und Schande, beide zu groß, um ertragen zu werden von ihm, dem schwachen Manne, beide weit über sein Verdienst und über seine Schuld …

Seydelmann hielt eine stattliche Rede, in welcher er Muth dreimal Gerechtigkeit widerfahren ließ: als Menschen, als Kollegen und als Staatsbeamten, und schloß mit den geflügelten Worten: »Stimmen Sie mit ein, meine Herren, in das freudige ›Glück auf!‹ das ich dem von uns Gefeierten zurufe: – Er lebe hoch!«

»Er lebe hoch!« schallte es aus den Kehlen der ganzen Tischgesellschaft, laute Fröhlichkeit hatte sich ihrer bemächtigt.

»Sie müssen antworten«, flüsterte der Sekretär Andreas zu, und der raffte sich auf. Aber statt des Glases erhob er nur die flehend gefalteten Hände: »Schonen Sie meiner, hochverehrte Herren – haben Sie Nachsicht – haben Sie Dank!… Mögen Sie selbst hochleben, viel höher als ich – Sie – Sie alle!« brachte er mühsam hervor.

Es steht in Frage, ob jemand hörte, was Andreas gesagt hatte; daß sich jedoch ein allgemeiner Jubel erhob, als man ihn nicht mehr sprechen sah, ist gewiß. Die Beamten wurden immer munterer und dachten noch nicht daran, aufzubrechen, als sich ihre Nachbarn am kleinen Tische schon zum Fortgehen anschickten. Salmeyer ging mit den anderen. Gottlob! – die Luft im Zimmer wird minder drückend sein, wenn er fort ist … Er stand schon an der Türe, da rief ihn der Sekretär zurück – er kam, sie schüttelten einander die Hände. Der Literat wurde den übrigen Beamten vorgestellt, eingeladen, Platz zu nehmen und ein Glas Wein zu leeren auf das fernere Gedeihen seines Witzes, von dem Proben zu zitieren der Sekretär nicht müde wurde.

Das ihm gespendete Lob schien Salmeyer weniger zu schmeicheln als zu belustigen. Er ließ es über sich ergehen wie etwas, das man zwar nicht brauchen kann, aus Höflichkeit jedoch hinnimmt.

»Und Ihr heutiges Feuilleton«, rief sein Bewunderer, »das ist prächtig, hören Sie. Es mag keine kleine Kunst sein, über ein langweiliges Theaterstück eine kurzweilige Kritik zu schreiben.«

»Ja«, erwiderte Salmeyer, »die Kritik ist gut. Und wenn Sie erst die Pointen« – er sprach po-ïn, verlieh dem i zwei Pünktchen – »kennen würden, die darin angebracht sind! – Freilich versteht man diese nur dann recht zu würdigen, wenn man weiß, wer sich hinter dem Pseudonym Karl Stein verbirgt.«

Andreas schrak zusammen.

»Wer ist es? Können Sie uns das nicht sagen?« fragte der Sekretär und erhielt zur Antwort: »O ja! Es ist der Gemahl der noch jetzt berühmt schönen Mathilde Auwald. Der Graf Hieronymus von Auwald.«

»Wer?!« schrie Andreas laut auf, und viele Stimmen riefen durcheinander: »Der Graf von Auwald?« – »Der berühmte Dichter?« – »Der gefeierte Redner?« – »Der Führer der Liberalen?«

»Ja, ja«, sagte Salmeyer mit überlegenem Lächeln, »alle diese Eigenschaften spricht ihm der Volksmund zu. Was es damit in Wahrheit auf sich hat, lassen wir dahingestellt sein … Ich meine, sein Liberalismus und seine Schriftstellerei sind der Blinde und der Lahme, die wir aus dem Fabelbuche kennen; allein käme keiner ans Ziel. In seinen Gedichten, die von Freisinnigkeit triefen, war er nicht anzugreifen – mit seinem tendenzlosen Drama aber …«

»Woher vermuten Sie«, unterbrach ihn Andreas mit beklommenem Atem, »daß dieses Drama von ihm sei?«

»Aus dem Pseudonym auf dem Komödienzettel!« entgegnete Salmeyer. »Es ist dasselbe, unter dem sein erstes, jetzt vergessenes Epos erschien.«

»Dasselbe?« stammelte Andreas, und der Literat fuhr fort: »Mit einem tendenzlosen Drama, sage ich, und mit der Anonymität, hinter der er sich versteckt, fordert er die rücksichtslose Kritik heraus. – Nun – sie erscheint. So hoch stehen die Kunstwerke des gräflichen Jakobiners doch nicht, daß es unmöglich wäre, ihnen beizukommen. Seine Exzellenz wird gestaunt haben über die zweischneidige Klinge, die wir führen. Bei jedem Streiche blutet entweder der Staatsmann oder der Poet. – Das schönste ist, wie ich ihm aus seinem Werke heraus beweise, daß seine großen Fähigkeiten nicht minder als seine Grundsätze zweifelhafte Dinge sind …«

»Aus seinem Stücke heraus beweisen Sie ihm das?« fragte Andreas, und alle Anwesenden erschraken über den verzweiflungsvollen Ausdruck in seinen Zügen.

Salmeyer schaukelte sich auf seinem Sessel und erwiderte mit selbstbewußter Ruhe: »Unwiderleglich.«

»Wenn Sie das getan haben, so sind es wenigstens nicht die Fähigkeiten und Grundsätze des Grafen von Auwald, die Sie damit anzweifeln«, sagte Andreas. Seine Lippen bebten, und mit Mühe setzte er die Worte hinzu: »Sondern die meinen.«

»Die Ihren? – Was heißt das?… Ich bitte um Deutlichkeit … Developpieren Sie sich!« scherzte Salmeyer.

Andreas antwortete ihm nicht; er richtete sich an seine Kollegen, die voll Spannung zugehört hatten, und sprach festen Tones: »Das Schauspiel ,Marc Aurel’ ist von mir.«

»Von Ihnen?« – »Was Teufel?« – »Sie machen schöne Geschichten!« erscholl es ringsumher.

»Mystifikation der Presse!« schrie Salmeyer. »Ich habe die Presse nicht mystifizieren wollen«, beteuerte Andreas. »Ich habe dieses Stück, wie schon manches andere vorher«, schaltete er errötend ein, »unter dem Pseudonym Karl Stein eingereicht, weil es mir unbekannt war, daß der Graf von Auwald diesen Dichternamen geführt hat.«

Finanzrat Seydelmann hatte sich gegen Andreas gewendet, als jener seine Erklärung abgab, und ihn unverwandten Blickes angestarrt. Jetzt machte er mit seiner breiten Hand eine prächtig einleitende Bewegung und hob in feierlichem Tone an: »Sie müssen, Herr Muth, es bleibt Ihnen jetzt nichts anderes übrig, Sie müssen sich öffentlich als Verfasser des ,Marc Aurel’ bekennen.«

»Ich bin dazu bereit«, erwiderte Andreas.

»Überlassen Sie das mir! Ich will’s besorgen!« rief Salmeyer. Er war im Zweifel gewesen, ob er die Sache von der komischen oder von der ernsten Seite nehmen solle. Jetzt entschied er sich für das erstere und brach plötzlich in ein schallendes Gelächter aus. Dann entschuldigte er sich angelegentlich und nicht ohne Liebenswürdigkeit bei dem, wie er sagte, »zustande gebrachten Dichter«. Die Stimmung der ganzen Gesellschaft wurde bald wieder munter und ungemein günstig für Andreas, dessen Traurigkeit zu zerstreuen man herzlich beflissen war.

»Seien Sie guten Mutes, guter Muth!« sagte der Sekretär.

»Eine Dummheit muß jeder Mensch im Leben begehen!« setzte der Verwalter treuherzig tröstend hinzu. So treuherzig, daß Andreas mit tief gerührter Dankbarkeit die Hand drückte, die ihm der wohlwollende Mann über den Tisch hinüberreichte.

Kapitel 4

Kapitel 4

 

Schon am nächsten Morgen brachte die Staatszeitung folgende Notiz: »Wir erhalten soeben die Bestätigung unserer an dieser Stelle bereits ausgesprochenen Vermutung, daß der geachtete Beamte, Herr Andreas Muth, der Verfasser der letzten Novität unseres Hoftheaters, des Schauspiels ,Marc Aurel’, sei. Der sittliche Gehalt des Stückes dürfte ihm trotz eines gewissen Mangels an dramatischem Leben und an theatralischer Wirkung noch einige Zeit hindurch die Teilnahme des Publikums erhalten.

Das liberale Herrenhausmitglied, das gestern allgemein als der Urheber des in Rede stehenden Schauspiels genannt wurde, ist somit von dem Verdachte losgesprochen, eine neue Probe der Vielseitigkeit, die er so oft auf politischem Felde gab, auch auf poetischem Gebiete abgelegt zu haben.«

»,Unserer ausgesprochenen Vermutung’ «, sagte Seydelmann, nachdem er seinen Beamten diese Notiz vorgelesen hatte. »Sehen Sie den Schalk! Gestern ,vermutete’ er etwas ganz anderes. Aber das leugnet er heute rundweg ab.«

»Natürlich!« rief der Sekretär – »und er muß es tun. Das fordert seine journalistische Ehre.«

»Wieso?« fragte Seydelmann und sah den Untergebenen scharf über die Achsel an, worauf dieser ein wenig verlegen schwieg.

»Mir ist es fürchterlich«, sprach Andreas, »daß Herr Salmeyer diese Gelegenheit zu einem neuen Ausfall gegen den Grafen von Auwald benützte.«

»Gegen solche Ausfälle wird der wohl gepanzert sein«, spottete der Rat – er hatte heute seinen widerspruchslustigen Tag. – »Was liegt einem Manne, wie er ist, an dergleichen Plänkeleien? – Übrigens – was kümmert Sie der Graf?«

»Was?…« Andreas geriet in Verwirrung.

»Oder kümmert er Sie?« fuhr Seydelmann fort und achtete nicht der angstvoll ablehnenden Gebärde des Angeredeten. -»Nun, wenn Sie in Verbindung mit ihm stehen, werden Sie wohl wissen, ob er genug großer Herr ist, um solche Angriffe zu ignorieren, oder genug kleiner Dichter, um Notiz von ihnen zu nehmen.«

Sein Blick ruhte forschend und unerbittlich auf dem Unglücklichen, der aussah wie ein Bild der Bestürzung und der ertappten Schuld.

»Ich stehe in keiner Verbindung mit dem Herrn Grafen«, sprach Andreas endlich.

»Nicht? – Dann ist jedenfalls der Anteil, den Sie an ihm nehmen, sehr merkwürdig. Gehen Sie gefälligst an Ihre Arbeit.«

Einige Kollegen Muths besuchten die nächste Aufführung des »Marc Aurel« und erklärten, das Schauspiel sei »recht gut gemacht« und hätte »eine schöne Sprache«. Nur zwei alte kleine Beamte schüttelten den Kopf und fanden es denn doch – man möge über seine vorgebliche Tendenzlosigkeit sagen, was man wolle – gar zu radikal.

Eine Woche lang unterhielt man sich im Büro damit, vor Andreas den Namen »Auwald« bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit auszusprechen, und ergötzte sich an der Verlegenheit, in die er jedesmal kam. Doch auch dieser Scherz verlor allmählich seine Wirkung auf die Lachlust der Beamten und geriet endlich in Vergessenheit.

In Andreas hatte sich seit der Aufführung seines Stückes eine große Wandlung vollzogen. Wenn er jetzt sein Stübchen betrat, begrüßte ihn der Frieden nicht mehr, den er sonst dort gefunden hatte. Unruhig ging er auf und ab, blieb vor dem Bilde der Gräfin von Auwald stehen und sah es wehmütig an. Seine Schaffenslust war dahin, denn der Glaube an sein Talent war dahin. Er täuschte sich darüber nicht – ein Mißverständnis hatte sein Werk auf die Bühne gebracht, und als er es dort erblickte, schien es nur ein Schatten seines eigenen Gebildes. Die Umrisse fand er wieder, aber wo blieb die Farbe und das Leben?

Das Können macht den Künstler, nicht das Wollen, und sein Können war weit zurückgeblieben hinter seinem Wollen. In seinem Herzen wallten die Feuerwogen der heißen Empfindung, sein Auge war allem Schönen geöffnet, sein Geist geadelt durch den Umgang mit den edelsten Geistern der Vergangenheit, an ihnen hatte sein Geschmack sich geläutert und herangebildet, aber ihm fehlte die Macht zu sagen, was er fühlte.

Sein Schauspiel war dreimal aufgeführt und dann zu den Toten geworfen worden. Als er es nicht mehr auf dem Repertoire angesetzt fand, atmete er erleichtert auf und dachte: Es ist überstanden!

In seinem Dienste war er eifriger denn je, erfinderisch in Aufmerksamkeiten gegen seine Kollegen, der erste und der letzte in der Kanzlei. Ihm schien, als hätte er etwas gutzumachen, als müsse er beweisen, daß, wenn er auch getan, was sich eigentlich für einen Beamten nicht schickt, er dennoch sein Amt mit Eifer versehe und das Brot des Staates nicht umsonst esse.

»Sie reiben sich auf«, sprach eines Tages der Rat zu ihm.

»Es ist mir ein Vergnügen, Euer Hochwohlgeboren«, erwiderte Andreas.

»Dabei sehen Sie aber sehr übel aus«, meinte Seydelmann und ließ die Einwendung, daß Andreas sich vollkommen wohlfühle, nicht gelten.

»Eine kleine Erholung täte Ihnen not, und die können Sie sich gönnen. Gehen Sie aufs Land, Sie haben die Mittel dazu. Die Hoftheaterdirektion hat Ihre Tantieme, da man dort Ihre Adresse nicht kennt, auf das Büro geschickt. Sie beträgt dreihundert Gulden. Quittieren Sie.«

Andreas traute seinen Ohren nicht. Eine solche Summe sein? ..Sein eigen dreihundert Gulden!… Ein Reichtum, von dem er nie geträumt, der ihm vom Himmel fiel. –

»Dreihundert Gulden!!«

»Was überrascht Sie denn so sehr?« fragte der Rat, »ich glaube wahrhaftig, Sie haben an die Tantieme gar nicht gedacht.«

»Ich muß gestehen, nein«, antwortete der Poet ganz beschämt.

 

Es ist doch eine eigene Empfindung, mit einem kleinen Vermögen in der Tasche das Büro zu verlassen, das man betreten hat so arm wie eine Kirchenmaus!

Aufs Land soll er gehen? – Warum nicht? – Er nimmt seinen Täufling mit, den kleinen Jungen Zieglers. Das Kind kränkelt ohnehin beständig, es wird sich in guter Luft erholen und kräftigen. Sie können die Osterferien zusammen in den Bergen zubringen, in den schönen Bergen, von denen Andreas soviel gehört, gelesen, die er aber niemals gesehen hat.

Und dann: im Haushalte des Freundes ist so manches der Erneuerung bedürftig – und im eigenen erst!… Was stände dem alten Lehnsessel wohl besser als ein neuer Überzug? Ein brauner oder vielleicht – ein grüner? Braun ist gediegen und paßt im Grunde besser zu dem schwerfälligen Charakter des biederen Ruhespenders. Freilich macht sich grün gar so freundlich, und wer weiß? – Nun, man kann’s ja überlegen.

Was sich Andreas jedenfalls gönnen wird, das ist eine Auffrischung seiner kleinen Bibliothek. Einen neuen Horaz vor allem, in dem seinen kann er, weil das Papier so grau und der Druck so schlecht ist, bei Lampenlicht nicht mehr lesen.

Neben diesen soliden Wünschen taucht plötzlich ein frivoler auf. Sein Winterüberzieher, der Kastor, der ist doch schon sehr gebraucht, und die Nähte nehmen sich in dem dunkelhaarigen Grund wie regulierte Flüsse aus mit flachgetretenen Ufern.

Ein neuer Überrock täte not. Es war Andreas recht peinlich, daß er seinen Kastor angehabt hatte, als er der Gräfin zum letztenmal begegnete. Als ein Mann in beschränkten Lebensverhältnissen mag er ihr erscheinen, aber nicht notleidend und bettelhaft.

Ach, schon der Gedanke an alle die kleinen Behaglichkeiten, mit denen er sich umgeben wird, ist ein Glück. Er steht im Begriffe kennenzulernen, was ihm fremd geblieben war von Jugend auf: – den Wohlstand! – Wohlstand, trauliches Wort!… Wie viele kleine Freuden bedeutet es – wie stellt der Wohlstand seinen Mann so frei und unabhängig hin, mehr als unabhängig, der Wohlstand heißt nicht nur: Ich brauche nichts, sondern auch: Ich kann geben!

Mehrere Tage hindurch beschäftigte sich Andreas mit dem Vorgenusse seiner künftigen Erwerbungen, und die Sehnsucht nach Erfüllung der Wünsche, die er noch vor kurzer Zeit als unerreichbar belächelt hatte, wurde brennend und unwiderstehlich. Voll Ungeduld erwartete er jetzt das Ende der Kanzleistunden und sagte beim Fortgehen mit wichtiger Miene zum Amtsdiener: »Ich eile, ich habe einige Einkäufe zu besorgen.«

Er hatte einmal wieder mehrere Läden besucht, da er sich aber vornahm, nichts zu übereilen, noch keinen Kauf geschlossen, als er, ein kleines Liedchen munter vor sich pfeifend, an einen jungen Menschen anrannte, der ihn zuerst derb anfuhr, dann aber, höflich um Entschuldigung bittend, die Kappe zog.

Andreas erhob das Haupt und erkannte in dem vor ihm Stehenden den Studenten Otto Klein, der bei seinem Freunde Ziegler zur Miete wohnte.

»Sie, lieber Ottone?« rief Andreas, »Gott zum Gruße! – Wie geht’s zu Hause? Was macht mein Täufling? Ich wollte längst Ihren Burgherrn besuchen, wurde aber immer davon abgehalten. Heut indessen komme ich gewiß!«

»Kommen Sie, Herr Muth«, erwiderte der Student, »es wird ihn freuen, den armen Mann. Helfen können Sie ihm freilich auch nicht, aber gleichviel, besuchen Sie ihn.«

»Nicht helfen? – Wovon?«

»Der kleine Andreas ist gestorben.«

»Gestorben?!« rief Muth in tiefster Bestürzung. »Gestorben?

…Und ich weiß nichts … Und man hat mir nichts sagen, mich nicht rufen lassen?…«

»Herr Ziegler ist halb verrückt, hat den Kopf verloren«, fuhr Otto betrübt fort. »Sie kennen sein verschlossenes Wesen. Selbst seine Frau erfuhr erst heut, daß der Unglückliche einen Wechsel unterschrieben hat für ihren leichtsinnigen Bruder. – Nun haben die Leute die Leiche des Kindes im Hause und die Pfändung vor der Tür.«

»Und ich weiß nichts! Und man sagt mir nichts!« wiederholte Andreas.

»Wozu auch, lieber Herr Muth?« sprach der Student. »Damit Sie sich mit ihm kränken? – Das trifft er schon allein.«

»Um wieviel handelt es sich?« fragte Andreas und fuhr mit beiden Händen in seine Rocktaschen.

»Um viel, gewiß um dreihundert Gulden.«

»So – so.«

Ein tiefer Seufzer entrang sich der Brust des Poeten.

»Und wann müßten die beschafft werden?«

»Spätestens bis morgen nachmittag. Ich bin, sehen Sie, auf dem Wege nach dem Versatzamte.« Er schlug seinen dünnen Mantel auseinander und zeigte ein Bündel mit verschiedenen Habseligkeiten vor, das er unter demselben verborgen hatte. »Aber wenn ich auch meinen letzten Stiefel hintrage, ich bringe kaum den zehnten Teil der Summe zusammen, die wir brauchen.«

Damit empfahl er sich.

Andreas hielt ihn zurück.

»Sie sind brav«, sagte er, »aber behalten Sie Ihre Stiefel. Lassen Sie den Ziegler nicht verzweifeln. Vielleicht ist Hilfe näher, als Sie glauben.«

Andreas sah sich nach keinem Laden mehr um, er eilte seiner Wohnung zu. Dort angelangt, öffnete er die Lade seines Tisches, nahm seine drei schönen Banknoten heraus und legte sie in einer Pyramide vor sich hin. Er bewunderte die zierliche Schrift, die Zeichnung, das Papier. Endlich beugte er sich traurig zurück in seinen Armsessel und strich liebevoll über die Seitenlehnen des getreuen Dieners.

Keinen neuen Überzug also, alter, guter Kerl. Tröste dich, auch dein Herr bekommt keinen.

Dann trat er an den Kleiderschrank, nahm den Kastor heraus, bürstete ihn sorgfältig und sagte vor sich hin: »So ganz schlecht ist er eigentlich doch nicht.«

Kapitel 5

Kapitel 5

 

Draußen auf dem Gange ließen sich Stimmen vernehmen. »Tür Nr. 19?« fragte die eine. »Ja, ja«, antwortete die andere. Ein rasches Klopfen, ein rasches Öffnen der Tür, und hereintrat, den Hut auf dem Kopfe, den Spazierstock geschultert – Herr Moritz Salmeyer.

»Ich überfalle Sie«, sprach er zu dem über diesen unerwarteten Besuch verblüfften Andreas. »Ah! Ah!… Sie wohnen hier recht hübsch. Aussicht ein Dach, ein paar Schornsteine, zwischendurch ein bißchen Himmel.«

Er nahm den Hut ab und setzte sich in den Lehnstuhl, den ihm Andreas mit den Worten zurechtrückte: »Ich weiß nicht, was mir die Ehre verschafft …«

»Der Wunsch, Ihnen nützlich zu sein. – Eine Art von Reue!« sagte Salmeyer. Er schlug ein Bein über das andere, stützte den Ellbogen auf die Sessellehne, das Gesicht auf die Hand und sah den Poeten mit gescheiten Augen an, in denen ein Strahl von wirklichem Wohlwollen glänzte.

»Ich will Ihnen einen Rat geben und einen Vorschlag machen. Ich interessiere mich für Sie und bin bereit, Ihre Bestrebungen zu fördern.«

»Sie, mein Herr?«

»Zur Sache! – Haben Sie alle Rezensionen gelesen, die über Ihr Stück geschrieben wurden?«

»Nein, doch höre ich, daß sie fast ausnahmslos abfällig lauteten.«

»Nun denn! Daraus mögen Sie ersehen, daß sich heutzutage in der Literatur nichts machen läßt, wenn man nicht wenigstens einen Teil der Kritik für sich hat. Ein Buch, ein Stück hinausschicken in die Welt und denen, die ihm die Wege bahnen, einen Ruf machen sollen, nicht sagen: Nehmt euch meiner Arbeit an, das ist so kühn, daß man es schwerlich klug nennen darf.«

»Aber …« wollte Andreas einwenden.

»Erlauben Sie!« fiel ihm Salmeyer ins Wort. »Jeder Schaffende bedarf der Gunst der Kritik. Ein Tor, der sie verschmähte, wenn sie ihm angeboten wird.« Er machte eine kleine Pause und sprach dann mit einer komisch huldvollen Bewegung: »Sie bietet sich Ihnen an. Noch mehr, die Kritik nimmt Sie auf in ihre Genossenschaft … Erlauben Sie!« wiederholte er, da sich Andreas von neuem anschickte, ihn zu unterbrechen. »Ich bin Redakteur des Feuilletons der Staatszeitung, ich öffne Ihnen die Spalten unseres Blattes.«

»Mir?!« rief Andreas.

»Warum nicht?«

»Weil ich ein langsamer Arbeiter, weil ich nicht schlagfertig bin.«

»Das ist im Anfange keiner – und dann, ich dränge Sie nicht. Liefern Sie mir nur jeden Monat einen Aufsatz über dies und das … Historische Essays, ästhetische Aperçus, verwerten Sie Ihre Lesefrüchte. Sie können auch Kritiken bringen über neue Erscheinungen in der Literatur. Versuchen Sie sich einmal als Humorist; wer weiß, ob Sie nicht, Ihnen selbst unbewußt, Talent zur Satire haben? Es findet sich oft bei solchen zurückgezogenen, melancholischen Naturen wie die Ihre.«

»Spotten Sie meiner?« fragte Andreas.

»Fällt mir nicht ein!« erwiderte Salmeyer ungeduldig. »Ich sagte schon, daß ich mich Ihnen hilfreich erweisen will … Mein Handwerk ist, die Leute zu unterhalten oder zu plagen … Ihnen will ich Gutes tun. Schlagen Sie Kapital aus dieser Velleität. – Ein rascher Entschluß! Nehmen Sie meinen Antrag an. Wenn Sie Fuß fassen in der Kritik, ist Ihre Schriftstellerlaufbahn gesichert. Ihr Drama wird in allen Zeitschriften, die mit uns in Verbindung stehen, besprochen, an vielen Bühnen angenommen werden und auf einigen vielleicht Erfolg haben.«

»Und dann?« fragte Andreas. »Daß mein Stück keinen Erfolg hatte, das ist es ja nicht, was mich niederdrückt. Was – Erfolg!… Den machen die anderen. Aber die Leistung ist mein, für die habe ich einzustehen; die habe ich gerichtet und den Stab gebrochen über mein Talent.«

»Lächerlich«, entgegnete Salmeyer. »Sie haben soviel und mehr Talent als hundert andere, die damit Glück machen … Bei Ihnen ist nur ein Umstand bedenklich …« Er hielt inne, zwinkerte mit den Augen und fuhr dann lebhaft fort: »Sie sind zu spät geboren! Vor dreißig oder fünfzig Jahren wäre man Ihnen verständnisvoll entgegengekommen, Ihre Stimme hätte einen lauten Widerhall erweckt. Aber heute!… Die Menschen, für welche Sie schreiben, sind tot.«

»Damit ist alles gesagt«, sprach Andreas schmerzlich. »Ich bin nur ein Pfuscher. Der rechte Dichter schreibt für solche, die noch nicht geboren sind.«

»Das ist eine Phrase!« erklärte Salmeyer. »Welchen Maßstab legen Sie an?«

»Den höchsten natürlich«, antwortete Andreas leuchtenden Auges, »den einzig berechtigten in der Kunst, der zeitlichen Offenbarung des Ewigschönen und des Ewigguten.«

Der Literat lachte. »Also auch Sie beten dieses hohle Schlagwort nach. Ich hätte mir’s denken können. Wann werdet ihr endlich einsehen, ihr Träumer, daß nichts bleibend ist als die Veränderung, nichts schön, als was dafür gilt, nichts gut, als was Nutzen bringt.«

Andreas erhob sich. Ihm schwindelte. Alles, woran er geglaubt, woran er sich begeistert, was ihm den festen Halt geboten hatte, konnte das weggeleugnet und schwankend genannt werden? – Und wenn – warum hatte er’s nicht selbst, nicht früher erkannt?

»Ich bitte Sie«, hub Salmeyer von neuem an, »verzichten Sie auf Ihre Ideale. Stimmen Sie sich herab. Sinken Sie, sinken Sie! herunter – bis zum jetzigen Geschmack! Je mehr Sie sich verfeinern, desto unverständlicher, ungenießbarer werden Sie, und werden es endlich mit Recht. Ein hohes Streben, das immer unbelohnt bleibt, beschädigt zuletzt den reinsten Charakter, weil es ihn verbittert. Glauben Sie mir: tragen Sie den Anforderungen des Tages Rechnung! Unser heutiges Publikum will nicht Erhebung, es will Unterhaltung, und den, der sie ihm gewährt, belohnt es nach Verdienst, sehr oft über Verdienst … Zum Beispiel – mich!… Meinen Sie, daß ich mich täusche über den Wert der Produktionen, denen ich meine Popularität verdanke?… Doch genug! Sie sind nicht ohne Talent, machen Sie nur davon den richtigen Gebrauch.«

Er hatte, während er sprach, die Banknoten vom Tische genommen und rollte sie zu Tüten zusammen, faltete sie zu dreieckigen Hütchen. Jetzt hielt er sie in die Höhe.

»Ihre Tantieme, nicht wahr?«

Andreas nickte bejahend.

»Soviel«, sprach Salmeyer leichthin, »bezahlt die Staatszeitung für drei meiner Feuilletons. Ich schreibe sie meistens im Kaffeehause, auf dem Billard, zwischen zwei Kegelpartien. – Nun, was beschließen Sie?«

»Mir selbst treu zu bleiben, meinem alten Selbst, von dem ich doch nicht mehr lassen kann«, erwiderte Andreas und glättete die Banknoten, die Salmeyer wieder auf den Tisch gelegt hatte, sorgfältig mit beiden Händen.

»Nach Ihrem Belieben denn!« sagte der Journalist gereizt. »Sie gehören zu den Leuten, denen nicht zu helfen ist.«

Er stand auf, wendete sich und bemerkte das Bild der Gräfin von Auwald über der Bücherstelle.

»Ha!« rief er aus, »die schöne Auwald! – Wie kommen Sie zu ihrem Porträt?«

»Ich habe es gekauft«, stotterte Andreas erblassend, wie im Vorgefühle eines Unglücks.

Der Literat drohte ihm mit dem Finger: »So – so – gekauft?… Ei, Sie stiller Sünder!… Deshalb also Ihre Parteinahme für den Gemahl?…«

»Was meinen Sie?« fragte Andreas in peinvoller Bestürzung.

»O die böse, böse Welt – o diese vornehmen Damen!« seufzte Salmeyer mit drolligem Pathos. Er schlug eines der Manuskripte auf und blätterte darin.

»Das sind wohl Ihre Werke?… Und wie schön geschrieben, wie prächtig! – zehn – fünfzehn – wahrhaftig, fünfzehn sorgfältig ausgearbeitete Theaterstücke! In jedem, ich bin’s überzeugt, so viel Gutes, daß man, wär’s von einem Freunde und Mitarbeiter, leicht ein Lorbeerreislein für den Dichter daraus entsprießen lassen könnte. Aber Sie wollen nichts von uns, und alle diese Buchstaben bleiben tot.«

Andreas blickte zu dem Sprechenden empor. Ein eigentümlicher Ausdruck feiner Selbstironie belebte seine Züge: »Tot diese Buchstaben, von denen ich jeden mit soviel Liebe hingemalt habe? – Das doch nicht«, sagte er. »Jeder davon ist ein Teilchen einer Gedankenseele; sie fügen sich zu Worten zusammen, und Worte bilden den Körper des Gedankens.«

Der Literat hörte ihm mit lächelnder Aufmerksamkeit zu und rief plötzlich: »Ich war blind! Ich war blind!… Nein, Sie sind nicht angetan, mitzuwirken in unserer heißen Werkstätte, in unserer großen stoffzermalmenden Maschine! Sie werden niemals ein Rädchen, nicht einmal eine Speiche an einem Rädchen sein.«

Er klopfte mit keckem Humor Andreas auf die Schulter: »Sie selbst sind Stoff und sollen verarbeitet werden. Und damit grüße ich Sie!«

Salmeyer sah aufmerksam im Zimmer umher, als wollte er sich dessen Bild fest einprägen, und ging.

Andreas wartete, bis er sicher sein konnte, ihn auf der Treppe nicht mehr einzuholen, und schlug dann hastigen Schrittes den Weg nach Zieglers Wohnung ein.

Es dunkelte schon, als Andreas vor dem Hause anlangte, und er zögerte einzutreten und vielleicht die Ruhe des Freundes zu stören. Im Hofe brannte eine Gasflamme und warf ihren flackernden Schein auf das Fenster des von Ziegler bewohnten Zimmers im Erdgeschosse. Andreas konnte nicht wahrnehmen, ob sich noch Licht darin befand, denn der Vorhang war herabgelassen.

Er trat an die Tür der kleinen Küche, die den Eingang zur Stube des Lehrers bildete. Die Klinke gab seinem leisen Drucke nach, man hatte vergessen abzusperren. Im angrenzenden Gemache herrschte tiefe Stille; ein schwacher Schimmer fiel durch die Risse der geborstenen Türe. Andreas näherte sich und pochte.

Nach einer Weile antwortete eine Frauenstimme zögernd: »Herein.«

Die Eheleute saßen am Tische einander gegenüber. Das Weib nähte an einem Knabenhemde, der Mann hielt die Hände über den Knien verschränkt und starrte regungslos vor sich hin auf den Boden. Er erwachte nicht aus seinem Sinnen, als Andreas eintrat und der Frau die Hand reichte, die sie weinend ergriff.

Erst nachdem der Freund ihn angeredet hatte, erhob er den Kopf.

»Ei, ei!« sprach er und betrachtete Muth mit verwirrtem Blicke, dann, als besänne er sich plötzlich, fügte er hinzu: »Vorlesen? ganz recht, ein neues Drama?… Ich bin begierig.«

»Nein, nein«, antwortete Andreas und sah nach der Ecke des Zimmers hin. Dort ruhte, mit einem Linnen bedeckt, auf dem Lager der Eltern die Leiche des Kindes. Ihr zu Häupten brannte eine Wachskerze, mit einem Kränzlein künstlicher Blumen umwunden, daneben stand ein Kruzifix aus schwarzem Holze.

Als die Frau die Richtung bemerkte, die das Auge des Besuchers genommen, machte sie eine abwehrende Bewegung.

»Sehen Sie ihn jetzt nicht an«, bat sie. »Morgen bahren wir ihn erst auf. Ich bin noch nicht zustande gekommen mit seinem Sterbehemde. Mein Gott, in der langen Krankheit wurde soviel gebraucht …«

»Not im Hause«, sagte der Mann. »Ehrlicher Name dahin. Mein Wort gegeben – es nicht gehalten. Nicht halten können.«

»Du wirst Wort halten, du kannst es!« rief Andreas, zog ein Päckchen aus der Tasche und legte es vor Ziegler hin.

»Das ist dein, dein Eigentum.«

Der Lehrer sah ihn fragend an, faltete die Banknoten auseinander, und stumm vor Erstaunen schob er sie seiner Frau hin. Die stieß bei dem unerwarteten Anblick einen Freudenschrei aus, der jedoch in einem schmerzlichen Schluchzen endigte. Sie legte die Stirn auf den Rand des Tisches, und ihre Tränen flossen unaufhaltsam.

»Woher kommt das?« fragte Ziegler, auf das Geld deutend.

Andreas legte ihm die Hand auf die Schulter.

»,Marc Aurel’ schickt es, dem du auf die Bühne geholfen hast.«- Er sprach zu seinem alten Freunde wie zu einem Kind. -»Du allein, mit deinem Rate: Einreichen! – weißt du noch? – Sonst hätte ich mich ja niemals getraut …«

Ziegler lehnte weder ab, noch sagte er ein Wort des Dankes. Er reichte Andreas nicht einmal die Hand. Er sah seinen Retter nur an, lange, fest. Und dem war dabei zumute, als wüchse und erstarke er unter diesem Blicke, als erlöse dieses ehrliche Auge, das ihm das Glück verdankte, sich wieder frei erheben zu können, ihn, ihn selbst von allem Leid, von aller Pein. Als stände er in der Schuld des Mannes, durch den ihm gegönnt worden zu erfahren, was es heißt, einem guten Menschen wohlzutun.

Ziegler erhob sich lautlos wie einst beim Schlusse der Vorlesungen und trat an das Fenster. Dort stand er unbeweglich. Angstvoll betrachteten ihn Andreas und die Frau. Sie wagten kaum zu atmen.

Endlich kam er zu ihnen zurück; die peinliche Spannung war aus seinem Gesichte verschwunden. Sein Weib stürzte sich an seine Brust.

Andreas aber benützte diesen Augenblick, um hinwegzueilen. Er fürchtete, sich von seiner Rührung übermannen zu lassen.

Kapitel 6

Kapitel 6

 

Am Morgen des nächsten Sonntags wurde der kleine Ziegler begraben. Andreas begleitete die Eltern auf dem Heimweg vom Friedhofe noch eine gute Strecke und ging dann seiner Wohnung zu.

Unter dem Tore begegnete er seiner Hausfrau, die zugleich ihre eigene Hausbesorgerin war; eine rüstige Witwe von fünfzig Jahren. Sie hatte ihn nicht selten merken lassen, daß sie keineswegs abgeneigt wäre, ihren stattlichen Nacken noch einmal dem Ehejoch zu beugen, im Falle sich ein Mann fände von reinen Sitten und von geachteter Lebensstellung – ein Beamter zum Beispiel –, der den Wert dieser freiwilligen Unterwerfung zu würdigen wüßte.

Das Gesicht der Dame, das sich sonst bei Muths Anblick immer freundlich erhellte, grollte heut wie eine Gewitterwolke.

Sie hielt Andreas eine Nummer der Staatszeitung hin und sprach: »Lesen Sie doch das Zeug da. – Heilige Jungfrau!… Mir soll man so etwas nicht weismachen. Ich kenne Ihren Lebenswandel und weiß, wer ein und aus geht bei meinen Mietsleuten. – Zeitungsjuden! Lügenpack!« fügte sie mit der vollsten Energie ihres konfessionellen und staatsbürgerlichen Bewußtseins hinzu.

Der Zeitungsartikel, der die Hausfrau so sehr in Harnisch brachte, führte den Titel: »Die letzten Originale«, war mit M.S. unterzeichnet und in seiner Art ein Meisterstück. Andreas las ihn mit schaudernder Bewunderung.

Nicht mehr als zwanzig bis dreißig Zeilen waren jeder der Persönlichkeiten gewidmet, die Salmeyer in seinem Aufsatze mit beißender Satire, mit etwas Sentimentalität und mit ausbündigem Talent schilderte. Es war kein Zweifel möglich, daß hier nach der Natur gezeichnet worden, doch war’s in einer Art geschehen, die die Urbilder der Porträts, trotz ihrer unverkennbaren Ähnlichkeit, nicht berechtigte zu sagen: »Ich fühle mich getroffen«, so fest ihnen auch der Pfeil im Fleische saß.

Der geschickteste Staatsanwalt hätte den Versuch aufgegeben, den Verfasser dieses Libells zur Verantwortung zu ziehen. Seine Anklage wäre ihm unter den Händen zerronnen, ein Ding, das man sehen muß, aber nicht fassen kann.

In einem Kapitel des Feuilletons war Andreas geschildert. Er sah sich selbst in dem Bilde des rastlos und unbelohnt schaffenden Dichters. Mit welchem dämonischen Geiste war es entworfen! mit welcher Divinationsgabe! – Wie war die Wurzel aller seiner Leiden bloßgelegt! – das Mißverhältnis in ihm zwischen Drang und Talent, zwischen dem Blick für das Künstlerische und dem Blick für das Praktische, zwischen seinem Verständnis der Vergangenheit und seinem Nichtverstehen der Gegenwart. Mit welcher Virtuosität war das Messer geführt, das seine Brust öffnete und sein Herz enthüllte, sein zuckendes Herz, das er mit so keuschem Stolze vor jedem Menschenauge verbarg!

Den Schluß des Aufsatzes bildete, nach einer kurzen Beschreibung der Dachstube des Gelehrten, folgende »schöne Stelle«:

 

»Und allabendlich öffnet sich die Tür dieses stillen Heiligtums, und hereinschwebt, geschmückt zu den Festen in den Fürstensälen unserer Residenz, eine dort heimische und gefeierte Schönheit.

Und über den armen Poeten beugt sich ihre königliche Gestalt. Auf der bleichen Stirn des Denkers ruhen Lippen so duftig und frisch wie die Rose im Tau. Lippen, für deren Kuß die Reichsten, die Edelsten, die Mächtigsten ihre Schätze hingäben, ihren Ruhm, ihre Macht!…

Vergebliche Liebesmühe!… Für sie steigt die Göttin nicht aus den Wolken. Ihnen ist sie unerreichbarer als dem Sünder die himmlische Au, als dem Wanderer im Wüstenbrand der schattenkühle Wald.«

Um dieser Abgeschmacktheit die entsprechende Würze zu geben, waren die beiden Silben des Namens Auwald mit gesperrter Schrift gedruckt.

Andreas hatte langsam gelesen, Wort für Wort, seinen Augen nicht trauend, wegzweifelnd, was er sah … Er träumt, er fiebert. Seine Phantasie treibt mit ihm ein fürchterliches Spiel, zeigt ihm den Namen, der ihm heilig ist, schmachvoll an die Öffentlichkeit gezerrt, besudelt und entweiht. Teuflischer Traum, hinweg mit deinem Spuk!

O sich nur besinnen – nur besinnen, und er verschwindet …

Aber nein!… Es steht da … schwarz auf weiß, unleugbar steht es da …

Andreas sprang auf. Rote Funken tanzten vor seinen Augen, eine Empfindung wahnsinniger Wut loderte in ihm empor.

Außer sich rannte er im Zimmer umher und suchte in seiner friedlichen Behausung nach einer Waffe – nach irgend etwas, das als solche dienen konnte. Aber da war nichts als ein spanisches Rohr mit schwerem Messingknopfe, ein Erbstück seines Vaters. Das ergriff er und eilte zur Tür.

In diesem Augenblicke öffnete sie sich, und auf der Schwelle stand in seiner ganzen Breite und Wucht Finanzrat Seydelmann.

»Wohin?« rief dieser, als Andreas, den Stock in der Hand, an ihm vorbeistürzen wollte, ohne Notiz zu nehmen von der unerhörten Ehre, die ihm durch einen Besuch seines Chefs zuteil wurde.

»Bleiben Sie!« befahl Seydelmann und drängte den Widerstrebenden mit überlegener Kraft in das Zimmer zurück. »Was wollen Sie tun?«

Er hatte sich dem Tische genähert und deutete mit einer Hand auf die Zeitung, die dort aufgeschlagen lag, während er mit der andern den Arm Muths umklammert hielt.

»Mit dem Stocke über den Verfasser dieses Artikels herfallen? Einen Skandal machen? Einen Kriminalprozeß heraufbeschwören? Sie – ein Beamter!… Das, was heut der Gegenstand des Geschwätzes ist in einigen Salons und in einigen Kaffeehäusern und morgen vergessen sein wird, zum Markt- und Kneipengespräch machen?… Sie sind verrückt! Meiner Treu – verrückt!«

»Widerrufen muß er! Ich will ihn dazu zwingen!« keuchte Andreas. »Er muß öffentlich Abbitte tun, muß bekennen, daß er erfunden, gelogen, schändlich verleumdet hat!«

»Widerrufen? – Und was?« fragte der Rat. »Er hat ja nichts behauptet. Sie scheinen das Feuilleton nicht zu Ende gelesen zu haben. Er verwahrt sich am Schlusse ausdrücklich gegen den Verdacht, daß er nach der Natur gezeichnet hätte.,Die letzten Originale’ sind Figuren aus einem Romane, den er unter der Feder hat und für vollständig erfunden erklärt.«

»Damit schützt er nur sich!« fiel Andreas zornig ein. »Das Publikum weiß, was von solchen Erklärungen zu halten ist.«

»Da haben Sie recht, leider recht«, bestätigte der Rat, »und ich staune, woher Ihnen diese plötzliche Einsicht kommt, da Sie doch so wenige bewiesen, indem Sie einen Menschen, der von Indiskretionen lebt, zu Ihrem Vertrauten machten.«

»Zu meinem – Vertrauten?!« rief Andreas.

Der Finanzrat betrachtete seinen Untergebenen mit einem durchbohrenden Blicke.

»Herr Salmeyer kann doch nicht erraten haben …«

Er stockte und fuhr nach einer Pause in verändertem Tone fort: »Ihre Bestürzung, Ihre Verlegenheit, sooft der Name Auwald vor Ihnen ausgesprochen wird, brachten noch ganz andere Leute als diesen Rezensenten auf die rechte Fährte.«

Andreas stiegen die Haare zu Berge. Also wirklich – man glaubte, was er nicht auszudenken wagte? – hielt das Unsinnige für möglich?… Ein dummer, blöder Wahn, für den niemand auch nur den Schatten eines Grundes anzuführen vermochte, fand Anhänger, wuchs heran zu einer Macht, gewaltig – vielleicht nicht mehr zu besiegen!

Dies alles war so wunderlich, so toll, daß es aufhörte, ein Unglück zu sein, daß man nur noch Sinn haben konnte für den Humor des tödlichen Spaßes, der ihn, Andreas, Andreas den armen Teufel, in einem Atem nannte mit der glänzenden Schönheit, die, überschüttet mit den reichsten Gütern des Lebens, ihr heiteres Dasein in einer Sphäre genoß, der seinen so fern wie Sterne der Erde.

Dem Finanzrat wahrhaftig zum Schrecken, brach Andreas plötzlich in ein krampfhaftes Lachen aus und rief: »Ich schwöre, daß ich die Sonne nicht gestohlen, sie nicht in meine Tasche gesteckt habe. Sie steht noch am Himmel. Nur Geduld! warten Sie bis morgen, da geht sie wieder auf.«

Und er lachte von neuem, aber mit einem Lachen, das der schneidendste Schmerz erpreßte, mit einem Lachen, herzzerreißender als das Schluchzen der Qual.

Dem Rat wurde angst und bange.

»Nehmen Sie sich zusammen, Herr Muth! Ich ersuche, ich bitte Sie, ernsthaft zu sein. Einmal in Ihrem Leben«, fügte er mit unüberlegter Härte hinzu – »einmal in Ihrem Leben beherrschen Sie sich!«

»Einmal in Ihrem Leben …« Mechanisch sprach Andreas die Worte nach.

Du ewige Gerechtigkeit!

Seine Vergangenheit rollte sich auf vor seinem geistigen Auge wie ein Bild, er übersah mit einem Blicke sein ganzes Dasein. –

Es war nur eine lange Kette von niedergehaltenen Empfindungen, nur ein unterdrückter Schrei. Ein stillschweigendes Verzichten, so lange geübt, bis sich im fortwährenden Selbstbesiegen sogar die Kraft des Wunsches abgestumpft. Eine Reihe fehlgeschlagener Hoffnungen, über die niemals eine Klage sich seinen Lippen entrang. Um ihn, wohin er blickte, der Sieg der Mittelmäßigkeit, der Parteilichkeit, und all sein Schmerz, alle seine Entrüstung erdrückt in seinem Innern. Unterdrückt mit Macht selbst der Schatten einer unreinen Regung: Erbitterung, Neid, Mißgunst. Nichts lebendig in ihm als das Bewußtsein, entsagt zu haben und in aller Zukunft entsagen zu können, demütig, starkmütig und ohne Groll.

Und nun: »Beherrschen Sie sich einmal in Ihrem Leben!«

Er erwiderte nichts, er lachte lauter als zuvor und erschien dem Finanzrat nachgerade unheimlich. Es geschah, was sich in seiner langen Dienstzeit nicht ereignet hatte, der hohe Beamte vergaß seiner offiziellen Würde und sprach mit dem Untergebenen, wie ein gewöhnlicher Mensch zu einem andern spricht.

Dennoch war jedes Wort ein Dolchstoß für den armen Andreas.

»Beruhigen Sie sich«, sagte Seydelmann, »Sie sind empfindlich wie ein bloßgelegter Nerv. – Das Unglück ist einmal geschehen, Sie können nur noch seine Konsequenzen verringern oder erhöhen. Je weniger Bedeutung Sie ihm geben, desto weniger Bedeutung wird es haben. – Kommen Sie morgen in das Büro, so ruhig, als wäre nichts vorgefallen. Man ist gewöhnt, jede Ihrer Empfindungen auf Ihrem Gesicht zu lesen; gelingt es Ihnen, gleichgültig zu scheinen, so wird man glauben, daß Sie es seien. Wenn Ihre Kollegen über den Zeitungsartikel von Herrn Salmeyer scherzen, so scherzen Sie mit. Diesen Rat Ihnen zu geben, bin ich gekommen. Und noch eines!… Nehmen Sie das Bild dort von der Wand. Die Neugier könnte leicht einen oder den andern Ihrer Bekannten zu Ihnen führen. Es wäre nicht gut, wenn sie das Porträt da hängen sähen.«

Seydelmann war am Schlusse dieser Rede wieder zum Bewußtsein seiner Stellung gekommen und verabschiedete sich mit gewohnter Gemessenheit.

 

Andreas blieb vernichtet zurück.

Ja, der Rat hatte recht: das Unglück war geschehen! Wer vermöchte der Skandalsucht ihren Wahn zu benehmen? Ohnmächtig steht die Wahrheit der Lüge gegenüber und die reinste Tugend dem blödesten Verdacht.

Ruhe denn. – Gleichmut – Standhaftigkeit! und dann: »Entfernen Sie das Bild.«

Andreas nahm es von der Wand und betrachtete noch einmal diese edlen und anmutigen Züge. Wie so oft versenkte er sich wieder in den geliebten Anblick … Da schrak er plötzlich zusammen. O Gott! Schritte … Schritte, die sich seiner Türe nähern … Wenn jemand käme und fände ihn – das Bild in den Händen … Mit dem Unverstand des Schreckens stürzt er auf die Türe zu und schiebt den Riegel vor. Gleich darauf besinnt er sich: er hätte nichts Ungeschickteres tun können. Draußen steckt der Schlüssel und verrät dem Nahenden seine Anwesenheit.

Nie, niemals war es einem seiner Kollegen eingefallen, ihn zu besuchen, jetzt kommen sie, von Neugier getrieben …

Er stand und lauschte. Draußen war wieder alles still geworden; die Schritte verhallten auf der Dachstiege. Gerettet – für dieses Mal!

Aber die Furcht vor einem Überfall wird sich wiederholen, Andreas ist nicht mehr sicher in seinen vier Wänden, nicht mehr zu Hause in seinem Daheim, seitdem die Bosheit und der Vorwitz dieses arme Stübchen belauern und, was darin vorgeht, roh entstellt hinausschreien in die Welt.

Nein, seine entweihte Behausung ist kein Aufenthalt mehr für das Bild der von ihm verehrten Frau. Der Entschluß ist gefaßt – kein Zögern also!

Fest, mit beiden Händen, ergriff er den Rahmen und brach ihn entzwei. Das Glas zertrümmerte in tausend Stücke, zerschnitt ihm die Hände; er achtete dessen nicht, schürte das Feuer im Ofen und warf die Reste des Bildes hinein.

Die Nacht hindurch wandelte er auf und ab in seinem Zimmer. Er wartete auf Müdigkeit, er sehnte sich nach Erschöpfung. Wenn er keine Kraft mehr zur Aufregung besitzt, dann kommt die Ruhe von selbst, dann wird es leicht sein, gleichgültig zu scheinen, dann mögen sie im Büro spötteln, soviel sie wollen.

All sein Blut hat sich zum Herzen gedrängt, dort liegt und lastet es, unbeweglich, schwer … O das regt sich nicht, das steigt nicht in die Wangen!

Es schlägt Mitternacht, schlägt ein Uhr.

Die Nacht vergeht zu schnell, die Müdigkeit hat nicht Zeit, zu kommen. Andreas fühlt sich so wach wie am hellen Mittag.

Zwei Uhr!

Die Lampe flackert auf und erlischt. Dem unsteten Wanderer in der Dachstube fährt es durch den Sinn, daß er sie nie mehr entzünden, daß sie nie mehr seiner stillen Arbeit am Schreibtische leuchten wird. – Der Dichter ist tot, seine Zelle steht leer. –

Drei Uhr!… Wie die Tage wachsen! Ein fahler Lichtschein dämmert schon am Himmel …

Könnte Andreas nur müde werden! Aber er ist rüstig, sein Schritt wird immer rascher, immer leichter, er meint zu schweben. Und was er alles sieht! Der kleine Ziegler schreitet an seiner Seite, schmiegt sich an ihn und sagt: »Wir wollen ja zusammen in die Berge – wann denn – wann gehen wir?«

»Bald, mein Junge, bald, mein lieber Junge!«

Andreas legt die Hand auf die blonden Locken des Knaben, der ihn anlächelt mit freudestrahlendem Gesicht. Jetzt wendet er sich – geht – geht fort –

»O bleibe, Kind« – Torheit das!… Er liegt ja draußen auf dem Friedhof, Andreas war selbst dabei, als man ihn begrub, und hat sich nur eingebildet … Aber dort – das kann nicht Täuschung sein! dort wo das Bild Mathildens gehangen, dort bewegt sich etwas – die Mauer ist geöffnet – eine Lichtgestalt tritt hervor …

»Um Gottes willen, Sie, Frau Gräfin – -? Was denken Sie? Hinweg! Wenn man Sie hier träfe …«

Nein – wahrhaftig, Andreas muß über seine eigenen Phantasien lachen. Wen hat er für die Gräfin gehalten? – Es ist zu toll – den jungen Fanghund des Zollrevisors, den dieser vorgestern so unbarmherzig züchtigte, weil er sich erdreistete, den Herrn Finanzrat anzuknurren, was sich denn doch nicht schickt, nicht schickt – nicht schickt!

Andreas wiederholte die zwei Worte unzähligemal in allen Arten, tröstend, belehrend, verweisend, indem er den Hund streichelte, bis sich dieser – sonderbar genug – in eine Katze verwandelte, die ihn anglotzte mit Augen aus grünem Feuer. Dann sprach er sie vor sich hin, stiller, lauter, singend, klagend: »Nicht schickt! nicht schickt!«

Dabei erfaßte ihn ein Wirbelsturm und drehte ihn im Kreise, bis ihn schwindelte und er niederzusinken meinte – aber nicht sank. Seine Muskeln schienen Stahl geworden, er fühlte sich stark, fühlte alles Leben in sich erhöht, fühlte sich von einer Kraft beseelt, nicht zu bewältigen, nicht zu verbrauchen …

Fünf Uhr!

In einer Stunde geht die Sonne auf. Andreas tritt an das Fenster. Eine Spatzenfamilie macht sich lustig auf dem Dach gegenüber; der Vater ist voll Mutwillen, die respektable Mutter muß ihre Jungen gegen seine Neckereien in Schutz nehmen. – Aus dem Schornstein wirbelt Rauch empor, Andreas vertieft sich in die Betrachtung seines braungrauen Qualms, der langsam hingleitet über die Firste, sich immer mehr ausbreitet, immer durchsichtiger wird und endlich wie ein zerrissenes Gewebe davonflattert in die Lüfte.

Jetzt pocht es mit derber Faust an die Türe, und draußen ruft eine rauhe Stimme: »O je, was wär denn das? Herr Muth, Sie haben vergessen, Ihre Stiefel herauszustellen. Und das Wasserweib ist auch da.«

 

Die beiden dienenden Geister haben ihres Amtes gewaltet. Andreas ist wieder allein.

Er badet den Kopf und die blutigen Hände in frischem Wasser, er kleidet sich mit äußerster Sorgfalt an. Kein Stäubchen duldet er auf seinem Rocke, knüpft seine Krawatte wie ein eitler Pedant, wählt seine besten Handschuhe. Alles an ihm soll beweisen, daß er unbefangen ist, daß ihn nichts abzieht von den kleinen Alltagssorgen, daß er Zeit hat und Stimmung, sich um Nebensächliches zu bekümmern.

Dann tritt er seine Wanderung an … Nur noch umwenden muß er sich auf der Schwelle und einen fast zärtlichen Blick auf den Raum werfen, in dem der größte Teil seines Lebens verfloß – der beste. Andreas gedenkt der Stunden seines beglückenden Schaffens. O hätte er sich begnügt! hätte er, was hier geboren ward, auch hier sterben lassen, in dem Schutze und Frieden seines Daheim!

Er eilt die Treppe hinab.

Eine Stunde später kommt zufällig die Hausfrau an seine Türe und schreit auf: »O Wunder! Herr Muth hat vergessen, den Zimmerschlüssel abzuziehen. Das ist nicht geschehen, seit er sich hier eingemietet hat.«

Mit fieberhafter Hast legt indessen Andreas den Weg nach seinem Büro zurück. Seine Aufregung hat sich nicht beschwichtigt, doch traut er sich zu, ihrer Herr zu bleiben.

Siehe da! er kommt doch nicht so früh, als er meinte. Dort, zwanzig Schritte vor ihm, biegt schon der Sekretär um die Ecke der Seitengasse, in der er wohnt. Eine Minute früher, und Andreas hätte ihn eingeholt, hätte mit ihm eintreten können. Das ist nun leider versäumt. Schade!… Wie gut hätte es sich gemacht, wenn er früher ausgegangen wäre, wenn er jetzt nicht allein eintreten und Spießruten laufen müßte an den anderen vorbei.

Er steht am Tor und wünscht dem Portier einen guten Morgen; der dankt und wendet sich ab. Andreas sieht aus seiner großen, pelzverbrämten Rocktasche das magistrale »St« der Staatszeitung ragen.

Im Hofe herrscht schon geschäftiges Treiben. Mein Gott, wie spät ist es denn?… Alle schon da und er der letzte! – Er tritt in das Büro, grüßt auf gut Glück nach rechts und links, ohne jemanden anzusehen, und setzt sich an sein Pult und schreibt und rechnet.

Zwei Beamte in seiner Nähe flüstern miteinander, es ist gewiß nur seine Einbildung, daß sie dabei nach ihm hinschielen. Er tut jedenfalls, als bemerke er’s nicht. Eine Weile geht das so fort, jetzt aber bleibt ihm doch nichts übrig, als herauszutreten aus seinem Schweigen. Da ist eine Verordnung erschienen, die neue Bestimmungen enthält über den Zolltarif von Warenproben nach den amerikanischen Ländern. Die muß er einsehen oder zu arbeiten aufhören oder Irrtum auf Irrtum häufen. Er nimmt alle seine Kaltblütigkeit zusammen, erhebt den Kopf und eine heisere Stimme, deren Klang ihn selbst befremdet, so mühsam ringt sie sich aus seiner Kehle – und zu seinem Nachbarn gewendet, stößt er die Worte hervor: »Den letzten Zolltarif, Herr Pfeiffer – darf ich Sie bitten?«

Herr Pfeiffer steht eben im Begriffe, eine große Prise konfiszierten Schnupftabaks in seine kleine Nase zu befördern, und liebt es nicht, bei der Operation beobachtet oder gestört zu werden. Er tut, als hätte er Muths Anfrage überhört, und dieser ist gezwungen, sie zu wiederholen. Herr Pfeiffer hält das Taschentuch mit beiden Händen wie einen Vorhang vor sein Gesicht bis an die Augen und zwinkert so den Fragenden an. »Zolltarif?« erwidert er endlich – »dort, Herr Munk hat ihn.«

Herr Munk sitzt an seinem Pulte, mitten im Büro. Bis dahin also heißt es schreiten, von dem Platz am Fenster aus, an dem Andreas arbeitet. Er steht auf, macht einige Schritte, ein leises Gewisper geht von Pult zu Pult. Kanzlist Schmidel, ein junger Mann mit strotzendem Lockengebäude und rosenrotem Antlitz, auf dem beständig, wie angeleimt, der Ausdruck dummer Freude liegt, vertritt Andreas den Weg. Er hält einen Bleistift in der Hand, legt die Spitze desselben an die Lippen und spricht:

»Herr Muth.«

»Was wünschen Sie?«

Schmidel verneigt sich: »Dürft ich wohl fragen – wie befindet sich heut die Gräfin Auwald?«

Andreas erbebt, aber er hält sich gut, zuckt die Achseln und geht weiter; ruhig weiter, obwohl die allgemeine Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet ist. Er fühlt es, er sieht es durch die zu Boden gesenkten Lider. Alle starren ihn an. Da ist keiner, der die Barmherzigkeit hat, den Blick abzuwenden.

Je näher Andreas Herrn Munk kommt, desto tiefer versenkt der sich in das Studium der neuen Verordnung. Jetzt ist Andreas am Ziele, jetzt bittet er: »Wollen Sie die Güte haben, mir dieses Blatt einen Augenblick …«

Er hält inne. Der junge Kollege drückt, statt zu antworten, die Stirne in seine Hände und diese auf den Tisch. Seine ganze Gestalt wird von konvulsivischen Bewegungen erschüttert, deren er vergeblich Herr zu werden strebt.

»Was haben Sie? Was ist Ihnen?« fragt Andreas und vergißt seiner eigenen Qual über dem Anblick des Jünglings, der sich auf seinem Stuhle wie in Schmerzen windet.

»Was ist ihm?« fragt Andreas und blickt angstvoll um sich.

»Nichts!« platzt Munks Nachbar heraus, und alle lachen; der mit leisem Gekicher, jener gellend, unbezwinglich hallt es durch den weiten Raum, prallt zurück von den Wänden, von der Decke und schlägt wie Hagel um das Haupt des unglücklichen Andreas.

»Ach, die Gräfin von Auwald!«

»Sie Glückspilz!«

»Wenn man sich das vorstellt – Herr Muth und die Frau Gräfin!«

»Es ist eine Ehre für das ganze Büro!« rufen sie einer um den andern, und bei jeder neuen Bemerkung erschallt neues Gelächter.

Andreas blickt sprachlos vor Zorn im Kreise umher, stürzt plötzlich auf den Kollegen zu, der durch seine Frage das Signal zu dem tollen Lustigkeitsausbruch gegeben hatte, und packt ihn bei den Schultern: »Bube!« schreit er ganz außer sich. Der kleine Mann schüttelt den kräftigen Jüngling, daß dem die Zähne klappern. »Bube! Bube!« wiederholt Andreas und ist im Begriffe, den blondgelockten Schmidel unter das Pult zu schleudern.

Einige Beamte befreien diesen zwar aus den Händen Muths, aber er bebt vor Furcht, und dabei hört er nicht auf zu schwören, das lasse er sich nicht gefallen, und das stecke er nicht ein!

»Sie werden Abbitte tun!« dekretiert Munk.

»Unter keiner Bedingung!« erklärt Andreas. Da wird die Tür aufgerissen, und der Sekretär tritt ein. Er übersieht die Situation mit einem Blicke, spricht rasch und leise einige Worte zu den älteren Beamten, die ihm halb lachend, halb grollend Platz machen.

»Herr Muth!« ruft er von weitem. »Der Herr Finanzrat will Sie sprechen.« Er tritt an Andreas’ Seite, nimmt seinen Arm und führt ihn fort. Auf der Treppe sagt er zu ihm: »Wir hofften, Sie würden sich würdiger benehmen.«

»Die Kerle haben es zu arg getrieben!« erwidert Andreas ohne eine Spur von Beschämung oder Reue.

Der Sekretär blickt ihn von der Seite an und denkt: Ist dies Andreas Muth? Man könnt es fast bezweifeln. Seine weichen Züge sind über Nacht steinern geworden. Ein schlimmes Zeichen, wenn das Gesicht eines Menschen sich so plötzlich verändert.

Jetzt waren die beiden an der Schwelle des Empfangszimmers Seydelmanns angelangt.

»Fassung«, sprach der Sekretär, »Ihnen steht eine große Überraschung bevor.«

Sie traten ein.

Seydelmann war nicht allein. Neben ihm saß ein Mann in mittleren Jahren, von feinem und einnehmendem Wesen.

»Hier, Euer Exzellenz«, sagte der Finanzrat, »ist Herr Muth.«

»Seine Exzellenz, Herr Graf von Auwald«, flüsterte der Sekretär Andreas zu. Dieser hatte bisher finster zu Boden geblickt und fuhr nun wie vom Blitze getroffen zusammen. Zuviel, zuviel stürmte heute auf ihn ein, allen diesen Gemütsbewegungen war er nicht gewachsen.

Auwald erhob sich. Ein mitleidiges Lächeln umspielte seinen Mund, verwandelte sich aber, je länger sein Auge auf der gramgebeugten Gestalt vor ihm ruhte, in den Ausdruck wehmütiger Teilnahme.

»Ich höre soeben«, sagte er, »welch ein übergroßes Gewicht Sie, Herr Muth, auf die Scherze legen, in denen sich gestern einer unserer Feuilletonisten ergangen hat. Sind solche Kindereien es denn wert, einem tüchtigen Manne wie Sie auch nur eine Stunde zu vergällen?«

Bei dem milden Klang der Stimme Auwalds erbebte der Poet wie der frosterstarrte Baum beim ersten Hauch der Frühlingsluft. Er wagte es, den Blick zu dem Sprechenden zu erheben, und verwandte ihn dann nicht mehr von seinem männlich-schönen, ruhigen Angesichte.

»Die Vernünftigen und Gerechten«, fuhr Auwald fort, »werden uns deshalb nicht geringer achten, weil wir von der Mißgunst angegriffen wurden, und was die anderen betrifft, die müssen uns dankbar sein, denn wir haben ihnen die Freude verschafft, die sie am besten zu empfinden verstehen – freilich die ärmste und kläglichste von allen: die Schadenfreude.«

»Sehr gut, vortrefflich!« rief der Rat aus, und der Sekretär murmelte etwas von »besonderen und allgemeinen Standpunkten«, das zwar nicht verständlich, aber zustimmend klang.

»Die einzige Person«, begann Auwald von neuem, »die sich durch jene versuchte Beleidigung verletzt fühlen könnte, hat ihr keine Bedeutung beigelegt. Sie glaubt eben nicht, daß der wohlerworbene Ruf einer braven Frau, ehe man sich’s versieht, durch einen literarischen Taschenspieler eskamotiert werden kann.«

Die Blicke des Poeten hingen an Auwalds Lippen, als ob jedes Wort, das sie sagten, ihm Heil und Erlösung bedeute. Gerührt von der auflebenden Hoffnung, die sich in seinen verstörten Zügen aussprach, streckte ihm der Graf die Hand entgegen.

»Empor!« rief er treuherzig, »empor das Haupt! Was an uns spurlos vorüberging, soll Ihnen das Herz nicht schwer machen. Lassen Sie sich aufrichten! Sie haben um meinetwillen gelitten. Ihr Schauspiel wäre nie so herb beurteilt worden, wenn ich nicht für den Autor gegolten hätte. Erlauben Sie mir, das Mißgeschick, das ich über Sie heraufbeschworen habe, gutzumachen, soweit es in meinen Kräften steht. Der Herr Finanzrat wird Ihnen mitteilen, in welcher Weise ich es zu versuchen wünsche. Nehmen Sie meinen Antrag an, den zu vermitteln er so gütig sein will. – Ich verehre«, setzte Auwald mit Wärme hinzu, »den edlen Geist, die reine Seele, die aus Ihrem Werke zu mir gesprochen haben. Wir müssen Freunde werden … Nun, so lassen Sie mich doch ein Wort der Einwilligung hören – ich kenne noch nicht den Klang Ihrer Stimme.«

So gedrängt, versuchte Andreas zu reden. Während Auwald sprach, während seine frische Weise befreiend und wohltuend auf ihn wirkte, dachte er: – Jawohl! Du bist ein Mann! Aufgewachsen in der bewegten Welt, danach angetan, dein Haupt hoch zu tragen im Gedränge. Du hast gelebt, gekämpft, Stürme erfahren und bestanden, bist verwundet und bist geheilt worden … Ich bin nicht stark wie du. Die Streiche, die dir kaum die Haut geritzt haben, haben mich das Blut meines Herzens gekostet. Ich bin gebrochen und nicht mehr aufzurichten, doch habe Dank, daß du’s versuchtest – –

»Haben Sie Dank!« sagte er laut. Tränen zitterten in seinen Augen.

»Halt!« rief Auwald, »danken dürfen Sie mir nicht. Nebst der Freude, Sie zu gewinnen, empfinde ich ja bei dieser Gelegenheit die ganz besondere Befriedigung, beweisen zu können, daß manchmal sogar die böse Absicht einen guten Zweck fördern kann!«

Damit empfahl sich der Graf, von Seydelmann bis zur Tür begleitet.

Wie im Traume vernahm nun Andreas die Mitteilung des Finanzrates, daß Auwald gekommen war, um bei ihm Erkundigungen über den Beamten einzuziehen, den ein Journalartikel in so seltsame Verbindung mit seiner Gattin brachte. Er freute sich, Andreas eröffnen zu können, daß der Graf, sobald er erfuhr, daß Muth und der Verfasser des »Marc Aurel« ein und dieselbe Person sei, sich sofort auf das schmeichelhafteste über ihn geäußert und erklärt habe, es sei sein innigster Wunsch, ihm die Möglichkeit zu verschaffen, den Dienst aufzugeben, der ihm nicht zusagen könne, und sich einer für ihn passenderen Beschäftigung zu widmen. Zu dem Ende biete er ihm die Stelle eines Bibliothekars auf einem seiner Schlösser in Steiermark an. Dort, in herrlicher Gegend, in milder Luft, könne er ausschließlich seinen Lieblingsstudien leben, einsam, wenn er wolle, gesellig, wenn es ihm beliebe.

»Sie nehmen natürlich an«, schloß der Rat, »sind jetzt ein unabhängiger, gutsituierter Mann, brauchen übrigens deshalb dem Staate nichts zu schenken. Ich will auf Ihre Pensionierung antragen. Gehen Sie nach Hause, setzen Sie Ihr Gesuch um Versetzung in den Ruhestand auf und legen Sie es mir morgen zur Einbegleitung vor.«

Andreas hörte dies alles schweigend und mit unbegreiflicher Gleichgültigkeit an. Gläsern und ausdruckslos ruhte sein Blick auf der Stelle, die Auwald eben verlassen hatte. Mehrmals hielt der Rat während seiner Rede inne und fragte: »Hören Sie? verstehen Sie?« und jedesmal antwortete Andreas mit einem leisen Ja, das ebensogut für ein Nein gelten konnte.

Einige Minuten später sah ihn der Portier, den Hut tief in die Stirn gedrückt, totenblaß, aus dem Hause stürzen und eine seiner Wohnung entgegengesetzte Richtung einschlagen.

Kapitel 1

Nicht was wir erleben,

sondern wie wir empfinden,

was wir erleben,

macht unser Schicksal aus.

 

Kapitel 1

Er hieß Andreas Muth und war Beamter der Finanzlandesdirektion. Seit fünfundzwanzig Jahren verwaltete er seinen Dienst mit gewissenhafter Pünktlichkeit; allein daß er jemals befördert werden könnte, daran dachte niemand, er selbst nicht. Zu einer glänzenden Beamtenlaufbahn war er durch seine Erziehung nicht ausgerüstet worden. Was sein armer Vater – der kränklichkeitshalber quieszierte Professor der schönen Literatur Karl Muth – sich vor allem bestrebt hatte ihm beizubringen, das war die Kenntnis des klassischen Altertums. In seinem achten Jahre las Andreas den Cornelius Nepos und den Herodot, wie andere Kinder Campes Robinson lesen, und im fünfzehnten übersetzte er die Braut von Messina in die Sprache des Äschylus. Aber wie es in der Welt aussieht und wie man in ihr vorwärts kommen kann, das versäumte der Gelehrte seinem Sprößling beizubringen, und zwar deshalb, weil er selbst es nicht wußte.

Und als der alte Mann einmal über seinen Kommentaren zu der Abhandlung De carmine bucolico, von Hofrat Heyne, einschlief und nicht mehr erwachte, blieb Andreas so hilflos zurück wie ein verlaufenes Lamm.

Ein ehemaliger Schüler seines Vaters, mit dem sein guter Stern ihn zusammenführte, erbarmte sich seiner. Er war einflußreich, hatte viele Verbindungen, und so gelang es ihm, dem Sohne seines ehemaligen Professors einen kleinen, karg besoldeten Posten im großen Staatshaushalte zu verschaffen.

Seitdem fühlte Andreas sich geborgen. Die Vorteile, die seine Stelle ihm gewährte, schienen ihm in vollkommenem Einklange mit den Pflichten zu stehen, die sie ihm auferlegte. Voll stiller Zufriedenheit legte er täglich den Weg von seiner Wohnung in der entlegensten Vorstadt bis zum Büro zurück und freute sich bei jedem Schritte, daß er abends denselben Schritt heimwärts machen würde. Die Erwartung des Augenblicks, in dem er sein Stübchen unter dem Dache wieder betreten sollte, vergoldete ihm alle anderen Augenblicke des Tages.

Bevor er seine Kammer verließ, hatte er darin alles zum traulichen Empfange bei der Rückkehr vorbereitet. Die Lampe stand mit Öl gefüllt auf dem Tische, die Kaffeekanne auf dem Ofen, einem eisernen Zwerge, der sich bedenklich nach der rechten Seite neigte und eines seiner dünnen Beine mit einer Unternehmungslust vorstreckte, in der sich mehr Flunkerei aussprach als wahre Solidität. Der Kleiderstock in der Ecke reichte mit lächerlich langen Armen einen grauen Hausrock einladend dar, und der altersschwache Lehnsessel mit dem farblos gewordenen Lederüberzuge war vor dem Tische zurecht gerückt. Alles so vielgebraucht, so ärmlich und doch so nett, durch seine tadellose Reinlichkeit nicht nur das Auge, auch die Hand des Herrn verratend.

An der Wand, dem Bette gegenüber, hing in geschmackvollem Rahmen die Photographie einer schönen Dame in Balltoilette. Diesem Bilde, das seltsam abstach von der ehrwürdigen Gesellschaft der übrigen Einrichtungsstücke, galt der letzte Blick, den Andreas, schon auf der Schwelle stehend, zurückwarf in die Stube. Es lächelte holdselig und schien zu sagen: Auf Wiedersehen!

Der kleine Beamte schloß hinter sich ab und ging, einen kleinen Himmel in seiner Brust. Er gedachte der Zeiten, in denen das verehrte Original des Bildes ihm in lebendiger Gestalt erschienen war Tag um Tag … Die jetzt so hochgestellte Frau war damals ein armes Fräulein und wohnte mit ihrer Großmutter im dritten Stockwerke des altersgrauen Hauses, das die Ecke in die nächste Gasse bildete, Andreas gegenüber.

Am frühen Morgen schon saß sie am Fenster, neben dem Bauer, in dem ihr Hänfling, der dicke Egoist, einsam und zufrieden hauste, und begann ihr Tagewerk. – – Wie unverdrossen war sie in ihrem Fleiße! Man sah es wohl, die prächtigen Stickereien, die unter ihrer kunstfertigen Hand entstanden, waren nicht zu eigenem Gebrauche, waren den Lebensunterhalt zu schaffen bestimmt, für sie und ihre Großmutter. Die alte Dame, in ihrem blütenweißen Häubchen und ihrem schwarzen, enganschließenden Kleide, trat manchmal an den Arbeitstisch, strich mit ihren zarten Fingern über die blonden Haare der Enkelin, küßte sie auf die Stirn und verschwand wieder wie ein Schatten im Dunkel des Zimmers.

Noch emsiger flog dann die Nadel, wurde Faden an Faden gereiht. Und auf kostbarem Grunde sprossen farbenprächtige Blumen, feinschattierte Blätter, schwungvolle Arabesken.

An einem schönen Sommermorgen, Andreas wollte eben, bevor er die Stube verließ, sein Fenster schließen, da sah er die junge Nachbarin an dem ihren stehen. Sie hatte es eben geöffnet, bog sich hinaus, wendete den Kopf nach rechts und nach links wie ein Vögelchen und atmete die kühle Morgenluft mit innigem Entzücken ein. Der Hänfling putzte seinen zimtbraunen Mantel, zwitscherte und sang, hüpfte auf das oberste Stäblein im Bauer und schien, die Augen auf seine Herrin gerichtet, ihre Bewegungen nachahmen zu wollen. Sie nahm ihn auf den Finger, und nun begann ein angelegentliches Gespräch. Dem Hänfling war es hoher Ernst, dem Mädchen Spaß. Er teilte ihr eindringlich wichtige Dinge mit und erwartete voll Spannung, den kurzen Schnabel so weit als möglich aufgerissen, ihre Antwort. Sie lachte ihn aus, und von neuem begann er seinen Vortrag.

Plötzlich erhob sich von der Straße herauf das wütende Gebell einiger streitender Hunde. Voll Schrecken sträubte der Vogel sein Gefieder, breitete die Schwingen aus, und ehe das Mädchen sich’s versah, war er davongeflogen. Sie rief und lockte vergeblich, die Angst machte ihn taub. Er flatterte wie gescheucht umher, hinauf, hinab, prallte an geschlossene Fenster, schlug sich das Köpfchen an den Scheiben wund. Endlich nach einem letzten, vergeblichen Versuche, das Freie zu gewinnen, ließ er sich ganz erschöpft und atemlos auf dem Dachgesimse neben Andreas’ Fenster nieder. Der haschte ihn geschickt und rannte mit dem Flüchtling, dessen kleines Herz nicht rascher pochte als das seine, geradenweges zu der schönen Nachbarin hinüber.

Sie hatte ihn heute, da er sich als Vogelfänger bemerkbar machte, zum erstenmal erblickt. Andreas war nicht der Mann, seinen günstigen Observationsposten zu benützen, um ein junges Mädchen ohne weiteres anzustarren. Wenn er die Beobachtungen anstellte, die der Ruhe seines Herzens so gefährlich geworden waren, geschah’s bescheidentlich verborgen hinter seinem Musselinvorhange. Jetzt riß ihn die Gewalt der Ereignisse aus seiner Zurückgezogenheit.

Das Mädchen sah ihn mit seiner Beute über die Gasse in ihr Haus eilen, lief ihm bis zur Treppe entgegen und begrüßte ihn mit einem Freudenschrei.

Wenn der Gesang aller Engel zusammenklänge, gäbe das wohl einen so süßen Ton?…

Sie standen im Flure, er und sie. Das Mädchen bedauerte und herzte ihren wunden Vogel und rief dabei: »Ich danke! O wie danke ich Ihnen!« Und Andreas war bei seiner zehnten Verbeugung angelangt und wiederholte: »Überreiche hiemit – übermittle – überreiche – hiemit – hiemit –« als er schon längst überreicht und übermittelt hatte. Die Großmutter war der Enkelin gefolgt und wurde im Rahmen der Türe sichtbar, in aller Gottesfrühe schon wie eingenäht in ihr ehrwürdiges Fähnchen, so zart, so schmal! Mit einem altmodischen Knickse forderte sie den Retter des kleinen Hausfreundes auf, doch einzutreten. Dies lehnte Andreas mit bestürzter Entschiedenheit ab und empfahl sich hastig. Dabei drückte jede seiner Mienen die Bereitwilligkeit aus, nicht nur ihren Vogel vom Dache, sondern gelegentlich die beiden Damen selbst aus dem Schlunde des Ätna zu holen.

Im Nachgenusse der Erinnerung wurde ihm dieser Augenblick erst völlig schön und zum Quell beständiger Freude. Der stille Minnedienst, den er seiner Nachbarin weihte, nahm einen fast leidenschaftlichen Charakter an. Es kam so weit, daß Andreas sich mit dem Gedanken trug, den Damen drüben einen Besuch abzustatten. Allein er gab den Plan als gar zu abenteuerlich auf.

War er denn unersättlich? Was wollte er noch? – Nickte ihm nicht jetzt das liebe Mädchen freundlich zu, wenn er heimkehrend an ihrem Hause vorüberging? Sah er sie nicht täglich? Hatte er nicht die beseligende Empfindung ihrer Nähe?

So verflossen Wochen und Monate. Dann folgte eine sonderbar bange Zeit.

Neben der Nachbarin stand nun sehr oft ein Mann im Fenster, zu dem sie mit andächtiger Liebe emporschaute. Andreas kannte ihn. Er war neulich, einer Auskunft wegen, in das Amt gekommen. Muth, dem er durch seine imponierende Erscheinung auffiel, fragte, wer das sei, und erhielt zur Antwort: »Das ist Graf Auwald.«

Der Mann, der diesen Namen trug, hatte zu einer Zeit, in der der Liberalismus nicht Nutzen brachte, sondern Gefahr, seine Überzeugungen laut hinausgerufen in die Welt und viele bedrückte Seelen aufgerichtet, viele junge Herzen entflammt. Als die neue Zeit, die vorzubereiten er mitgeholfen hatte, eintrat, fiel ihm eine maßgebende Rolle im wiedergeborenen Staate zu. Er stand auf den Höhen des Lebens, im berechtigten Besitze seiner besten Güter, denn sein Glück hieß: Talent, und die Anerkennung, die ihm gezollt wurde: Gerechtigkeit.

Der also! der also! dachte Andreas, das ist recht, das ist seiner würdig, daß er sie erwählt.

Es gibt nichts Schöneres, als wenn edle Menschen sich auf dieser Welt zusammenfinden. Verachten müßte man den, der daran keine Freude hätte! – Und trotzdem – als Andreas die Wohnung drüben leer sah und die Fenster ihn öde angähnten, wollte ein selbstsüchtiger Schmerz sich seiner bemächtigen. Wie anspruchsvoll ist doch der scheinbar bescheidenste Mensch! Doch wurde er Herr seines Leides, er schämte sich dessen zu sehr.

Ein Jahr nach ihrer Verheiratung begegnete Andreas der Gräfin. Sie war am Arme ihres Mannes. Rasch und in eifrigem Gespräche schritten die beiden dahin. Dennoch erkannte sie den ehemaligen Nachbarn, blieb stehen, wendete sich, grüßte mit freudigem Lächeln und schien ihn anreden zu wollen. Allein Andreas, den Hut bis zur Erde senkend wie ein Ritter seine Lanze, eilte davon, sehr verlegen und sehr beglückt.

Bald darauf erstand er die Photographie Mathildens von Auwald, die er mit denen anderer Damen aus der Gesellschaft in der Auslage eines Kunsthändlers hatte prangen sehen, und hängte das Bild als ersten und einzigen Schmuck über der Bücherstelle an die Wand. – Eine Gelegenheit, die verehrte Frau zu sprechen, bot sich nie mehr, doch begegnete er ihr, er sah sie vorübergehen, vorüberfahren im Gewühle der großen Stadt. – Ein Moment nur, und die liebliche Erscheinung war verschwunden. Und doch nicht verschwunden. Sie schwebte in den Lüften, sie begleitete den Wanderer auf seinem Wege. An solchen Tagen beflügelte sich sein Schritt, und seine Brust hob sich freier. Die ganze Welt erschien ihm lichtvoll verklärt, das Leben schön und unermeßlich reich.

Eine minder platonische Liebe als für die anmutige Gräfin hegte Andreas für die Poesie, und zwar für die dramatische. Er dichtete und träumte in seinem einsamen Daheim. Das war das Geheimnis der Seligkeit, die ihm seine Zelle bot. Ihre kahlen grauen Wände waren die Zeugen seiner innigsten Entzückungen. Auf dem Sprunge in der Fensterscheibe, dem Tische zunächst, hatte sein Auge geruht, als er die, wie er meinte, treffliche Lösung des Knotens seines ersten Lustspieles fand. Dort in der Ecke hatte er gestanden, seinen Rock ausbürstend, als er tiefbewegt und begeisterungstrunken beschloß, daß sein letztes Trauerspiel ein Schauspiel und sein Held glücklich werden sollte. Jedes Plätzchen in dem engen Raume verkörperte eine Erinnerung an selbständiges Schaffen, aus jedem wehten ihn die Geister seiner stillen Leiden und Freuden an.

Ob der Zauber, den seine Gestalten auf ihn übten, auch von anderen gefühlt werden müsse, die Frage beschäftigte ihn wohl, aber sooft sie verneinend beantwortet wurde, beschied er sich ohne Bitterkeit und ohne Groll.

Freilich ward er seit vielen Jahren nicht müde, sie zu stellen. Sobald er ein neues Werk beendet hatte, begab er sich zu seinem Freunde und einzigen Vertrauten, dem Volkslehrer Benedikt Ziegler, und forderte ihn nicht ohne Erröten und viele Entschuldigungen und mit der dringenden Bitte um Verschwiegenheit auf, einen Abend zu bestimmen, an dem er ihm ein Drama, das er gedichtet hatte, vorlesen dürfe.

Und jedesmal ließ Benedikt Ziegler seinen Freund bis zu Ende sprechen, zog wie ein außerordentlich überraschter Mann die Augenbrauen in die Höhe und sprach: »Ei, ei, ein Drama! – Ei der Tausend, ein Drama!« Dann sagte er regelmäßig sein Erscheinen für denselben Abend zu, unter dem Vorbehalte, sein Urteil unumwunden und mit rücksichtsloser Aufrichtigkeit fällen zu dürfen.

Das wurde ihm nicht nur erlaubt, sondern geradezu von ihm gefordert.

Einige Stunden später saßen die Freunde einander gegenüber in dem Kämmerlein unter dem Dache. Andreas las mit beklommener Stimme, die immer leiser wurde, je höher seine Erregung stieg. Ziegler verwandte keinen Blick von ihm und horchte eifrig und andächtig, die Ellbogen auf die hageren Knie gestützt und das Kinn auf die verschränkten Hände. Im fünften Akte – alle Stücke Muths hatten fünf Akte – war im Zimmer nur noch ein schwaches Geflüster zu vernehmen, aber die Wangen des Lesers glühten, und große Schweißtropfen standen auf seiner Stirn. Und auf dem Angesichte des Hörers, in das die Sorge ihre herben Spuren geprägt, spiegelte sich eine tiefe Ergriffenheit. Seine scharfen Züge erschienen runder und weicher, und seine Augen glänzten feucht.

Nach der letzten Szene erhob sich Benedikt lautlos, trat an das Fenster und blieb einige Minuten stumm, indes der Poet Folterqualen litt. Endlich wandte Ziegler sich um und sagte:

»Du hast da ein vortreffliches Stück Arbeit geliefert.«

»Meinst du?« fragte Andreas tief aufatmend und fuhr in die Höhe. »In diesem Falle wäre also dein Rat?…«

»Hoftheaterintendanz!« rief der Freund im Tone eines Erleuchteten. »Einreichen, das versteht sich. Und – im voraus: Ich gratuliere!«

Darauf ging Andreas mehrere Tage mit stiller Verklärung im Gesichte umher; es waren die seligsten des Jahres, die, an welchen er sein Stück mit der schönsten Schrift ins reine schrieb, auf Papier, glatt wie Atlas und steif wie ein Brettchen.

Und so gewiß es in dem Zeitraume, den die Erde braucht, um die Sonne zu umkreisen, einen ersten Oktober gibt, so gewiß erschien an diesem ein kleines schüchternes Männchen im Büro der Hoftheaterintendanz und brachte ein tadellos ausgestattetes Manuskript und einen Brief. In diesem Briefe benachrichtigte der Verfasser die hohe Behörde, daß seine Verhältnisse ihn zwängen, die strengste Anonymität zu bewahren, und daß er den geneigten Bescheid über Annahme oder Nichtannahme seines Stückes in drei Monaten abholen lassen werde.

Nach dem Verlaufe dieser Zeit fand sich auch richtig sein Manuskript, und die Ablehnung der Intendanz, immer bereit.

Und in die schmerzliche Enttäuschung des Dichters mischte sich das versöhnende Gefühl, seiner Pflicht gegen die Mit- und Nachwelt nunmehr genügt zu haben und wieder in den Besitz seines geliebten Eigentums zu treten. Das letzte Manuskript erhielt seinen Platz neben seinen Vorgängern auf dem Bücherbrett, zu den Füßen der schönen Gräfin, zu der die Geister dieser Dichtungen aufstiegen wie unsichtbarer Weihrauch. –

So war denn einmal wieder der Tag herangekommen, an dem Andreas sich in die Hoftheaterkanzlei zu verfügen pflegte, um sein zuletzt eingereichtes Drama abzuholen.

Als er sich der Schwelle näherte, die er immer nur mit einem fröstelnden Gefühle der Bangigkeit und leiser, nicht eingestandener Erwartung überschritt, wurde die Türe von innen heftig aufgerissen. Ein Mann mit grauen, zerwühlten Haaren stürzte, Flüche murmelnd, heraus und ließ sie weit geöffnet stehen.

Andreas blickte erschrocken in das so plötzlich vor ihm erschlossene Heiligtum. Er erkannte die alten Räume nicht wieder. Die räucherigen Wände waren mit einer hellen Tapete überzogen, die Repositorien aus weichem Holze durch geschnitzte Schränke ersetzt, ein türkischer Teppich bedeckte den Fußboden, bequeme Sofas standen in den Fenstervertiefungen. In der Mitte des Zimmers erhob sich ein riesiger Schreibtisch, auf dem geöffnete und geschlossene Pakete, erbrochene und versiegelte Briefe hochaufgestapelt lagen. An dem Schreibtische saß ein noch junger Mann mit bleichem fettem Gesichte und schwarzem Vollbarte.

Der neue Sekretär, dachte Andreas und besann sich jetzt, vor einiger Zeit gehört zu haben, daß ein Direktionswechsel im Hoftheater bevorstehe, der auch den Wechsel eines Teils des Personals zur Folge haben würde. – Ein neuer Sekretär also. Nicht mehr der alte, der so grob war und es doch so gut mit Andreas meinte, der ihm so gewissenhaft alle seine Manuskripte unversehrt zurückgestellt und niemals versäumt hatte, zu dem barschen: »Nicht angenommen!« mit achtungswürdiger Aufrichtigkeit hinzuzufügen: »Der Autor mag Gott danken.«

Andreas fühlte sich ihm verpflichtet und liebte ihn, und nun war er fort, und sein schüchterner Verehrer sollte ihn nicht mehr sehen.

Während er diese traurigen Betrachtungen anstellte, war der bleiche Mann am Schreibtische seiner ansichtig geworden und rief ihm zu: »Treten Sie ein, was wünschen Sie?«

»Ich bin geschickt worden …« erwiderte Andreas und näherte sich mit vielen Verbeugungen.

»Geschickt – von wem?«

»Der Verfasser des vor drei Monaten eingereichten Schauspiels,Marc Aurel’ schickt mich – Herr Karl Stein schickt mich …«

»Karl Stein? Ganz recht, für den ist etwas da«, sprach der Sekretär und zog mit sicherem Griffe aus einem der vielen Fächer vor ihm einen Brief hervor, den er Andreas einhändigte.

»Überbringen Sie dieses Schreiben Seiner Exzellenz … Ich will sagen, Herrn Karl Stein«, verbesserte er sich mit schlauem Lächeln. »Überbringen Sie es ihm. Und: unsere ehrfurchtsvolle Empfehlung. – Was steht noch zu Ihren Diensten?« fragte er etwas ungeduldig nach einer Pause, in der Andreas ihn erwartungsvoll anblickte.

»Ich soll doch wohl ein Manuskript …«

»Doch wohl, mein guter Mann? Sie wissen wohl nicht, um was es sich handelt. Das Manuskript behalten wir. Das Stück ist angenommen. Adieu.«