Sechzehntes Kapitel


Die Hannoveranerinnen.

Auf der Schwelle trafen wir die beiden älteren, die mit traurigem Gesicht nach Hause kamen. Ich war überrascht von ihrer Schönheit und noch mehr, als eine von ihnen mich mit den Worten begrüßte: »Ah! Der Herr Chevalier de Seingalt.«

»Er selber, mein Fräulein, und sehr betrübt über ihr Unglück.«

»Würden Sie, mein Herr, mir die Ehre erweisen, mit mir einen Augenblick wieder hineinzugehen?«

»Ein dringendes Geschäft verhindert mich daran.«

»Ich bitte Sie nur um eine Viertelstunde.«

Ich konnte ihr diese Bitte nicht abschlagen, und sie verwandte die Viertelstunde darauf, mir zu erzählen, wie ihre Familie im Hannoverschen vom Unglück getroffen worden sei. Sie seien nach London gereist, um eine Entschädigung zu erlangen. Alle ihre Schritte seien erfolglos gewesen; ihre Mutter habe Schulden machen müssen, um nur leben zu können; ihrer Krankheit wegen könne sie selber nichts unternehmen. Der barbarische Hauswirt drohe ihrer Mutter mit dem Gefängnis und werde sie selber auf die Straße setzen; alle ihre Bekannten seien so hartherzig gewesen, ihr jede Unterstützung zu verweigern. »Wir haben nichts zu verkaufen, mein Herr, und unsere ganzen Mittel bestehen in zwei Schillingen, um uns Brot zu kaufen, die einzige Nahrung, die wir uns erlauben können.«

»Was sind denn das für Bekannte von Ihnen, mein Fräulein, die den traurigen Mut haben können, Sie in einem solchen Elend in Stich zu lassen?«

Sie nannte mir mehrere Personen, darunter auch Lord Baltimore, den neapolitanischen Gesandten Marchese Caraccioli und Lord Pembroke.

»Das ist unglaublich,« sagte ich, »denn diese drei letztgenannten Herren kenne ich als edel, reich und freigebig. Da muß eine gerechte Ursache vorhanden sein; denn Sie sind alle schön, und Schönheit ist für diese Herren ein Wechsel auf Sicht.«

»Ja, mein Herr, es ist ein Grund vorhanden. Diese edlen und reichen Herren lassen uns in Stich und verachten uns. Unsere Lage erregt nicht ihr Mitleid, weil wir nicht bereit sind, Wünsche zu befriedigen, die gegen unsere Pflicht verstoßen.«

»Das heißt also: sie finden Sie liebenswürdig und wünschen, daß Sie die Begierden befriedigen, die Sie ihnen einflößen; wenn nun Sie kein Mitleid mit ihnen haben, so wollen sie auch kein Mitleid mit Ihnen haben. Ist es so?«

»Ganz genau so.«

»Ich finde, sie haben recht.«

»Recht?«

»Ganz gewiß, und ich denke ganz genau wie sie. Wir lassen Sie bei ihrer Pflicht und behalten unser Geld, um uns Genüsse zu verschaffen, die Sie uns verweigern. Ihr Unglück ist in diesem Augenblick, daß Sie hübsch sind; denn wenn Sie häßlich wären, würden Sie leicht zwanzig Guineen finden. Ich selber würde sie Ihnen geben; denn dann würde man dies Geschenk meiner Wohltätigkeit zuschreiben; da Sie aber schön und dazu geschaffen sind, glühende Begierden zu erregen, so würde man meine Handlung nur der Hoffnung zuschreiben, eine Belohnung dafür zu erhalten, und würde sich mit Recht über mich lustig machen; denn man würde wissen, daß ich gefoppt würde.«

So mußte ich mit diesem Mädchen sprechen, das von einer wahrhaft hinreißenden Beredsamkeit war. Als ich sah, daß sie nichts zu antworten wußte, fragte ich sie, woher sie mich kenne.

»Ich habe Sie in Richmond mit der Charpillon gesehen.«

»Sie hat mir zweitausend Guineen gekostet, ohne daß ich etwas von ihr erlangt habe, aber diese Lehre ist nicht umsonst gewesen: denn ich habe mir vorgenommen, Liebesgunst niemals zu bezahlen, bevor ich mich ihrer versichert habe.«

In diesem Augenblick wurde sie von ihrer Mutter gerufen. Sie bat mich, einen Augenblick zu warten, kam gleich darauf wieder herein und sagte mir, die Kranke bitte mich, einen Augenblick zu ihr zu kommen.

Ich fand in ihrem Bette aufrecht sitzend eine Frau von etwa fünfundvierzig Jahren, deren Züge noch verrieten, daß sie einstmals schön gewesen sei; sie sah traurig, aber durchaus nicht krank aus. Lebhafte, ausdrucksvolle Augen, ein geistreiches, kluges Gesicht mußten mir den Rat geben, auf meiner Hut zu sein: sie hatte, trotz ihren vornehmen Manieren, einen falschen Gesichtsausdruck, wie die Mutter der Charpillon. Das war für mich ein Grund mehr, mich gegen alle Empfindsamkeit abzustumpfen.

»Madame,« begann ich, »was wünschen Sie von mir?«

»Mein Herr, ich habe alles gehört, was Sie zu meinen Töchtern gesagt haben. Geben Sie zu, daß Sie nicht eben wie ein Vater mit ihnen gesprochen haben.«

»Ich gebe es zu, Madame, aber eine väterliche Sprache hätte durchaus nicht zu der Rolle eines Liebhabers gepaßt, der einzigen, die ich bei ihnen spielen will. Wenn ich Töchter hätte, meine Gnädige, so glaube ich, daß ein Prediger zwecklos für sie sein würde; ich habe Ihren jungen Damen gesagt, was ich fühle und was ich ihnen sagen mußte, um die Zwecke zu erreichen, die ich im Auge habe. Ich mache keine Ansprüche auf Tugend und bin Verehrer des schönen Geschlechts. Wenn sie meiner bedürfen, so wissen, nach dieser offenen Erklärung, sie und auch Sie, welcher Weg zu meiner Börse führt. Wenn sie nach ihrer Art tugendhaft sein wollen, so werde ich sie nicht mehr quälen; sie müssen aber auch nicht die Männer quälen. Leben Sie wohl, Madame; Sie können sich darauf verlassen, ich werde nicht mehr mit Ihren Töchtern sprechen.«

»Noch eine Minute, mein Herr. Mein Mann war der Graf von ***; Sie sehen also, meine Töchter haben durch ihre Geburt Anspruch auf Achtung.«

»Ich kann ihnen meine Achtung nicht besser beweisen, als indem ich sie nicht mehr sehe.«

»Erregt denn unsere Lage nicht Ihr Mitleid?«

»Sehr. Ich würde sofort ohne jeden Anspruch auf Vergütung eingreifen, wenn sie mir nichts zu geben hätten, wenn Ihre Mädchen häßlich wären; aber, meine Gnädige, sie sind hübsch, und das ändert die Sachlage.«

»Was für eine Folgerung!«

»In meinen Augen eine sehr triftige, und über ihre Bedeutung kann ich, soweit ich selber in Betracht komme, nur allein urteilen. Sie brauchen zwanzig Guineen, um nicht ins Gefängnis zu gehen; sie stehen zu Ihrer Verfügung, sobald eine von Ihren fünf jungen Gräfinnen eine fröhliche Nacht mit mir verbracht hat.«

»Was für eine Sprache gegenüber einer Frau von meinem Range! Niemals hat man mir etwas Derartiges gesagt.«

»Entschuldigen Sie meine Aufrichtigkeit; aber was heißt Rang, wenn man bettelarm ist? Gestatten Sie mir, mich zu entfernen.«

»Wir befinden uns in der traurigen Lage, heute nur Brot essen zu können.«

»Das ist für Gräfinnen gewiß hart.«

»Sie scheinen sich über diesen Titel lustig zu machen?«

»Ich gebe es zu; aber ich will Sie nicht beleidigen. Wenn es Ihnen übrigens recht ist, will ich hier bleiben und mit Ihren jungen Damen essen; ich werde für alle bezahlen, auch für Sie.«

»Sie sind ein seltsamer Mensch. Meine Töchter werden traurig sein, denn man wird mich ins Gefängnis bringen; Sie werden sich langweilen.«

»Das ist meine Sache.«

»Geben Sie ihnen lieber das Geld, das Sie dafür ausgeben würden.«

»Nein, Madame: ich will für mein Geld wenigstens mit Augen und Ohren genießen. Ich werde Ihre Verhaftung bis morgen aufschieben lassen, und bis dahin wird die Vorsehung sich vielleicht Ihrer annehmen. Lassen Sie mich nur machen.«

Ich beauftragte Goudar, den Wirt zu fragen, was er dafür verlange, wenn er den Büttel auf vierundzwanzig Stunden fortschicke. Der Chevalier meldete mir, der Wirt verlange eine Guinee und Bürgschaft, daß ihm die zwanzig Guineen bezahlt werden müßten, wenn seine Mieterinnen sich innerhalb der vierundzwanzig Stunden entfernten.

Mein Weinhändler wohnte ganz in der Nähe. Ich sagte Goudar, er möchte auf mich warten, und die Sache war in einem Augenblick in Ordnung; ich kam mit einer Erklärung des Wirtes zurück und gab sie dem Büttel, der sich sofort entfernte; hierauf sagte ich den fünf Nymphen, sie könnten noch vierundzwanzig Stunden so lustig sein, wie sie wollten. Nachdem ich Goudar von den getroffenen Maßnahmen in Kenntnis gesetzt hatte, bat ich ihn, uns ein gutes Mittagessen für acht Personen kommen zu lassen. Er ging. Ich trat hierauf bei der Mutter ein und rief die Mädchen, die ganz fröhlich wurden, als sie hörten, daß wir bis zum anderen Tage prassen wollten. Sie waren sehr überrascht, wie schnell ich das alles in Ordnung gebracht hatte. Zur Mutter sagte ich: »Das, meine Gnädige, war alles, was ich für Sie tun konnte. Ihre Töchter sind reizend, ich empfinde für sie alle eine lebhafte Teilnahme; ich habe Ihnen für vierundzwanzig Stunden Ruhe verschafft, ohne etwas dafür zu verlangen. Ich werde mit ihnen zu Mittag und zu Abend essen und die Nacht mit ihnen verbringen, ohne auch nur einen einzigen Kuß von ihnen zu verlangen. Wenn Sie aber morgen noch nicht Ihr System geändert haben, sind Sie in derselben Lage wie heute, und ich werde Sie nicht mehr belästigen.«

»Was verstehen Sie unter dieser Änderung des Systems?«

»Das brauche ich Ihnen nicht zu sagen; Sie verstehen mich schon!«

»Meine Töchter werden sich niemals mit einem Manne prostituieren.«

»Ich werde sie in ganz London als keusche Susannen preisen und werde meine Guineen anderswo ausgeben.«

»Sie sind recht boshaft.«

»Sehr boshaft, das gebe ich zu; aber nur, wenn man nicht gut ist – was ich so unter gut verstehe.«

Da Goudar zurückgekehrt war, begaben wir uns wieder in das Zimmer, wo die jungen Damen sich aufhielten; denn die Mutter wollte sich vor meinem Freunde nicht sehen lassen. Sie sagte, seitdem sie sich in London aufhalte, sei ich der einzige, den sie in ihrer Lage zu empfangen sich habe entschließen können.

Unser Mittagessen von lauter englischen Gerichten war ziemlich gut; ich sah mit einer wahren Lust, wie die fünf unglücklichen Mädchen alles hinunterschlangen, was ich ihnen auf ihre Teller legte. Man hätte meinen mögen, es seien Wilde, die nach langem Fasten über eine Beute herfallen. Ich hatte einen Korb ausgezeichneten Weines kommen lassen und ließ jede von ihnen eine Flasche trinken; da sie an Wein nicht gewöhnt waren, so wurden sie betrunken. Ihre Mutter hatte alles verschlungen, was ich ihr zugeschickt hatte, und ich hatte ihr die Bissen nicht zugezählt; sie leerte ebenfalls eine Flasche Burgunder, die ihr sehr gut bekam.

Trotz ihrer Trunkenheit waren die jungen Bacchantinnen vor jedem Angriff sicher; ich hielt mein Wort, und Goudar erlaubte sich nicht die geringste Freiheit. Wir speisten fröhlich zu Abend, und nachdem wir noch eine große Bowle Punsch getrunken hatten, entfernte ich mich. Ich war in alle fünf verliebt, und es war mir sehr ungewiß, ob ich am nächsten Tage ebenso standhaft sein würde. Auf dem Heimweg sagte Goudar zu mir: »Sie tun sehr wohl daran, daß Sie zu Bett gehen. Sie behandeln diese zimperlichen Frauenzimmer geradeso, wie sie behandelt werden müssen; aber wenn Sie nicht standhaft bleiben, sind Sie verloren!«

Am nächsten Morgen war ich ungeduldig, das Ergebnis der Beratung zu erfahren, die die Mutter ohne Zweifel mit ihren Töchtern abgehalten hatte. Ich ging daher gegen zehn Uhr zu ihnen. Die beiden ältesten waren schon seit dem frühen Morgen unterwegs, um sich bei den Bekannten zu bemühen, mit denen sie am Tage vorher nicht hatten sprechen können. Die drei jüngsten stürzten auf mich zu wie junge Hunde, die ihren Herrn begrüßen, wenn er nach Hause kommt; aber sie erlaubten mir nicht, sie zu umarmen oder ihnen auch nur die Hand zu küssen. Ich sagte ihnen, das sei nicht recht von ihnen, und klopfte an die Tür der Mutter. Sie bat mich einzutreten und dankte mir für den schönen Tag, den ich ihnen bereitet hätte.

»Soll ich meine Bürgschaft zurückziehen, Frau Gräfin?«

»Das steht in Ihrem Belieben; aber ich glaube nicht, daß Sie dazu imstande sind.«

»Da irren Sie sich. Ich glaube, Sie kennen das menschliche Herz, Frau Gräfin. Aber Sie haben nicht den menschlichen Geist studiert, oder Sie bilden sich ein, mehr Geist zu haben als alle anderen Menschen. Alle Ihre Töchter haben mich gestern entflammt; aber sollte ich an dieser Liebe sterben: ich werde weder für Sie noch für Ihre Mädchen auch nur das Geringste tun, bevor Sie für mich das einzige getan haben, das in Ihrer Macht steht. Und nun überlasse ich Sie Ihren Gedanken und besonders Ihren Tugenden.«

Sie bat mich, zu bleiben; aber ohne auf sie zu hören, ohne die hübschen jungen Hexen auch nur anzusehen, entfernte ich mich und sagte meinem Weinhändler Maisonneuve, er solle seine Bürgschaft zurückziehen. Dann ging ich mit einem Tigerherzen zu Lord Pembroke, den ich seit drei Wochen nicht gesehen hatte. Als ich von den Hannoveranerinnen anfing, lachte er laut auf und sagte, man müsse diese falschen Gotteslämmer zwingen, ihren Beruf aufrichtig zu erfüllen.

»Gestern waren sie hier und sangen mir ihr Klagelied. Aber anstatt ihnen zu helfen, habe ich ihnen ins Gesicht gelacht. Sie hatten nichts zu essen, aber ich habe nicht einmal meiner Hand erlaubt, ihnen eine elende Guinee zu reichen; sie haben mir zu drei oder vier Malen im ganzen etwa ein Dutzend Guineen entlockt, indem sie mir Hoffnungen auf Erkenntlichkeit machten: aber sie haben mich jedesmal angeführt. Es sind Frauenzimmer von der Sorte der Charpillon.«

Ich sagte ihm, was ich am Tage vorher getan hätte, und was ich zu tun gedächte: zwanzig Guineen für die erste und ebensoviel für jede folgende, aber erst nach dem Genuß, – sonst nichts.

»Ich hatte denselben Gedanken, aber ich habe ihn wieder aufgegeben, und ich glaube auch nicht, daß es Ihnen gelingen wird, denn Baltimore hat ihnen zweihundert angeboten, also vierzig für jede, aber das Geschäft ist zu Wasser geworden, weil sie das Geld voraus haben wollten. Sie sind gestern auch bei ihm gewesen, haben ihn aber unerbittlich gefunden; denn sie hatten ihn mehrere Male betrogen.«

»Wir werden sehen, was sie machen werden, wenn die Mutter hinter Schloß und Riegel sitzt; ich wette, wir werden sie billig bekommen.«

Ich ging zum Mittagessen nach Hause. Goudar kam und sagte mir, er komme soeben von ihnen; der Gerichtsvollzieher habe ihnen erklärt, er werde nur bis vier Uhr warten; die beiden ältesten seien mit leeren Händen von ihrem Ausgang zurückgekommen; denn sie hätten lauter verschlossene Herzen gefunden. Da sie kein Stück Brot im Hause gehabt hätten, so hätten sie für ein paar Schillinge eins von ihren Kleidern verkauft. Ich fand das unbegreiflich.

Ich war überzeugt, daß sie sich noch einmal an mich wenden würden, und ich täuschte mich nicht. Als wir beim Nachtisch waren, erschienen sie. Ich ließ sie Platz nehmen, und die älteste bot ihre ganze Beredsamkeit auf, um mich zu bewegen, meine Bürgschaft noch um einen Tag zu verlängern.

»Sie werden mich unbarmherzig finden,« antwortete ich ihr, »es sei denn, Sie gehen auf den Plan ein, den ich Ihnen mitteilen werde, wenn Sie mit mir in ein anderes Zimmer kommen wollen.«

Sie ließ ihre Schwester bei Goudar und folgte mir. Ich ließ sie an meiner Seite auf einem Diwan Platz nehmen, legte zwanzig Guineen vor sie hin und sagte: »Diese gehören Ihnen, aber Sie wissen, um welchen Preis.«

Mein Anerbieten wurde verächtlich zurückgewiesen. Ich dachte, sie wollte vielleicht nur die Entschuldigung eines ernstlichen Angriffs haben und werde sich nur der Form wegen zur Wehr setzen. Ich wurde kühn, aber sie leistete ernstlichen Widerstand und drohte mir, sie werde schreien, wenn ich sie nicht in Ruhe lasse.

Da meine Glut nur berechnet war, machte es mir keine Mühe, mich zu bezähmen. Ich bat sie, mein Haus augenblicklich zu verlassen. Sie tat das und nahm ihre Schwester mit.

Als ich am Abend ins Theater ging, sprach ich bei Maisonneuve vor, um zu hören, was es Neues gäbe. Er sagte mir, der Büttel habe die Mutter ins Gefängnis schaffen lassen, und die jüngste sei mit ihr gegangen; was aus den anderen vier geworden sei, wisse er nicht.

Ich ging sehr traurig nach Hause, denn ich machte mir beinahe einen Vorwurf, kein Mitleid mit ihnen gehabt zu haben; aber im Augenblick, wo ich mich zum Abendessen niedersetzen wollte, standen sie auf einmal vor mir wie vier Magdalenen. Die älteste, die ihre Wortführerin war, sagte mir, ihre Mutter sei im Gefängnis, und sie müßten die Nacht auf der Straße verbringen, wenn ich nicht so menschlich wäre, ihnen ein Zimmer zu gönnen, wäre es auch eins ohne Bett.

»Sie sollen Zimmer, Bett und ein gutes Feuer haben! Aber ich will Sie essen sehen. Nur schnell, setzen Sie sich!«

Da leuchteten ihre Augen freudig auf. Ich ließ alles heraufbringen, was in der Küche fertig war; sie aßen viel, aber sie waren traurig und tranken nur Wasser.

»Ihre Traurigkeit und Ihre Enthaltsamkeit langweilen mich,« sagte ich zu der ältesten; »Sie können mit Ihren Schwestern nach dem zweiten Stock hinaufgehen; Sie werden dort alles finden, um die Nacht bequem zu verbringen; aber morgen früh um sieben Uhr müssen Sie gehen. Lassen Sie sich niemals wieder hier sehen!«

Sie gingen hinauf, ohne ein Wort zu sagen.

Als ich eine Stunde später zu Bett gehen wollte, trat die älteste in mein Zimmer und sagte zu mir, sie habe mit mir unter vier Augen zu sprechen. Ich schickte meinen Neger hinaus und forderte sie auf, sich zu erklären.

»Was werden Sie für uns tun, wenn ich Ihr Lager teile?«

»Ich werde Ihnen zwanzig Guineen geben und werde Sie alle bei mir wohnen und essen lassen, solange Sie gut sind.«

Ohne ein Wort zu sagen, begann sie sich auszuziehen. Sie stellte sich zu meiner Verfügung; aber ich fand nur Unterwürfigkeit, und sie beehrte mich nicht einmal mit einem einzigen Kuß. Angeekelt von einer Gefühllosigkeit, die beleidigend war, weil sie nur berechnet sein konnte, stand ich nach einer Viertelstunde auf, gab ihr eine Banknote von zwanzig Guineen und befahl ihr in schroffem Ton, sich wieder anzukleiden und auf ihr Zimmer zu gehen.

»Morgen früh werden Sie alle mein Haus verlassen, denn ich bin unzufrieden mit Ihnen. Sie haben sich erniedrigt, indem Sie sich prostituierten, anstatt sich der Liebe hinzugeben. Ich schäme mich für Sie!«

Sie gehorchte, ohne ein Wort zu sagen, und ich schlief sehr unzufrieden ein.

Am anderen Morgen um sieben Uhr fühlte ich eine leichte Hand, die mich leise rüttelte; ich schlug die Augen auf und sah zu meiner Überraschung, daß es die zweite war.

»Was wollen Sie?« fragte ich sie kalt und abwehrend.

»Ich wünsche Ihr Mitleid zu erregen und Sie zu veranlassen, daß Sie uns noch einige Tage behalten. Sie können auf meine Dankbarkeit rechnen. Meine Schwester hat mir alles gesagt. Sie sind unzufrieden mit ihr, aber verzeihen Sie ihr; sie hat nicht anders handeln können, denn ihr Herz ist schon gebunden. Sie liebt einen Italiener, der im Schuldgefängnis sitzt.«

»Ich denke mir, Sie sind ebenfalls in irgendeinen verliebt?«

»Nein, ich liebe noch keinen.«

»Und Sie würden mich lieben können?«

Sie schlug ihre Augen nieder und drückte leise meine Hand. Ich zog sie sanft an mich und umarmte sie. Als ich ihre Lippen meine Küsse erwidern fühlte, rief ich: »Sie haben gesiegt!«

»Ich heiße ja auch Victoria.«

»Der Name gefällt mir, und es wird mir Vergnügen machen, ihn zu bestätigen.«

Victoria war zärtlich und gefühlvoll, und ich verbrachte mit ihr zwei köstliche Stunden, die mich reichlich für die unangenehme Viertelstunde entschädigten, die ihre Schwester mir gewidmet hatte.

Nach unserer ersten Liebestat sagte ich zu ihr: »Meine liebe Victoria, ich bin ganz dein; laß deine Mutter hierher bringen, sobald sie frei ist. Hier sind zwanzig Guineen für dich.«

Sie hatte dies nicht erwartet. In ihrer angenehmen Überraschung schlug ihr freudig das Herz; ihre Augen waren feucht von Liebe und Dankbarkeit. Sie konnte nicht sprechen, aber ihr Gesicht strahlte vor Freude.

Ich war glücklich, und ich glaube, an meinem Glück hatte das Gefühl, eine gute Tat vollbracht zu haben, ebensoviel Anteil wie der gehabte Liebesgenuß. Der tugendhafteste Mensch wie der verderbteste ist ein Gemisch seltsamster Bestandteile!

Ich befahl sofort, in Zukunft regelmäßig für acht Personen zu kochen, und schloß meine Tür vor jedermann mit Ausnahme Goudars. Ich trieb eine tolle Verschwendung, und ich fühlte, daß meine Mittel sich ihrem Ende nahten; aber ich genoß und ich dachte, ich würde in Lissabon neue Mittel finden. Gegen Mittag kam die Mutter in einer Sänfte an; sie legte sich sofort zu Bett; ich machte ihr meinen Besuch und hörte, ohne mich zu wundern, die Lobsprüche an, die sie meinen Tugenden zollte. Ich sollte glauben, sie sei überzeugt, daß ich die vierzig Guineen ihrer Tochter nur aus Großmut gegeben habe, und daß diese nicht etwa der Preis für die Huld ihrer Mädchen seien. Ich ließ sie gern in ihrer heuchlerischen Selbstgefälligkeit.

Am Abend führte ich sie nach Covent-Garden, wo der Kastrat Tenducci mir zu meiner großen Überraschung seine Ehefrau vorstellte, von der er zwei Kinder hatte. Er lachte über die Leute, die behaupteten, er könne als Kastrat keine Nachkommenschaft haben. Die Natur hatte ihn als Mißgeburt geschaffen, damit er Mann bleiben könnte; er war triorchis, und da ihm bei der Operation nur zwei Hoden fortgenommen waren, so genügte ihm der verbleibende, um seine Manneskraft zu bestätigen.

In meinen kleinen Harem zurückgekehrt, hatte ich ein köstliches Abendessen mit den fünf Nymphen, die von einer reizenden Fröhlichkeit waren; hierauf verbrachte ich eine Nacht voller Liebe mit Victoria, die sich Glück wünschte, meine Eroberung gemacht zu haben. Sie erzählte mir, der Liebhaber ihrer Schwester sei ein neapolitanischer Marchese Petina; er werde sie heiraten, sobald er aus dem Gefängnis herauskomme; er erwarte Geld, und ihre Mutter sei entzückt über die Aussicht ihrer Tochter, eine Marchesa zu werden.

»Wieviel ist denn dieser Marchese schuldig?«

»Zwanzig Guineen.«

»Und wegen eines solchen Bettels läßt der neapolitanische Gesandte ihn im Gefängnis? Das ist sehr merkwürdig!«

»Er will ihn nicht empfangen, weil der Marchese Neapel ohne Erlaubnis seines Königs verlassen hat.«

»Sage deiner Schwester: wenn der neapolitanische Gesandte mir die Versicherung gäbe, daß Petinas Angabe in betreff seines Namens richtig sei, so würde ich ihn sofort aus dem Gefängnis erlösen.«

Ich ging aus, um meine Tochter und eine andere Pensionärin, die ich sehr gern hatte, zum Essen einzuladen. Unterwegs sprach ich bei dem sehr liebenswürdigen Marchese Caraccioli vor, dessen Bekanntschaft ich in Turin gemacht hatte. Ich fand bei ihm den berühmten Chevalier d’Eon und brauchte ihn nicht beiseite zu nehmen, um meine Erkundigungen über Petina einzuziehen.

»Der junge Mensch,« antwortete mir der Gesandte, »ist wirklich das, wofür er sich ausgibt. Aber ich werde ihn nicht empfangen und ihm kein Geld geben, bevor er mir nicht durch den Marchese Tanucci schreiben läßt, daß er Erlaubnis hat, auf Reisen zu gehen.«

Mehr wollte ich nicht von ihm wissen; aber ich blieb noch eine Stunde bei ihm und hörte mit großem Vergnügen den Chevalier d’Eon seinen Handel erzählen:

Er hatte die französische Botschaft verlassen, weil das Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten in Versailles ihm zehntausend Livres, auf die er Anspruch hatte, nicht auszahlen wollte. Er hatte sich unter den Schutz der englischen Gesetze gestellt und, nachdem er zweitausend Subskribenten zu einer Guinee gefunden hatte, einen großen Quartband in Druck gegeben, worin er alle Briefe, die er seit fünf oder sechs Jahren vom französischen Ministerium empfangen hatte, der Öffentlichkeit übergab.

Zu jener Zeit hatte ein Londoner Bankier zwanzigtausend Pfund in der Englischen Bank hinterlegt und diesen Betrag öffentlich zur Wette ausgeboten, daß der Chevalier d’Eon ein Weib sei. Eine Gesellschaft nahm die Wette an; aber man konnte sie nur zum Austrag bringen, wenn d’Eon sich in Gegenwart von Zeugen untersuchen lassen wollte. Man hatte ihm die Hälfte des Einsatzes angeboten, aber der Chevalier hatte die Wetter ausgelacht. Er sagte, eine solche Untersuchung würde ihn entehren, einerlei, ob er Mann oder Weib wäre. Caraccioli sagte ihm, die Untersuchung könne ihn nur entehren, falls er ein Weib sein sollte. Ich war gerade der entgegengesetzten Ansicht. Nach einem Jahre wurde die Wette für ungültig erklärt; aber drei Jahre darauf wurde er vom König von Frankreich begnadigt und erschien in weiblicher Kleidung und mit dem Ludwigskreuz geschmückt bei Hof.

Ludwig der Fünfzehnte hatte das Geheimnis seines Geschlechts von Anfang an gewußt; aber Kardinal Fleury hatte ihn gelehrt, daß Herrscher undurchdringlich sein müssen, und Ludwig war das sein ganzes Leben lang.

Ich ging nach Hause und gab der Hannoveranerin zwanzig Guineen indem ich ihr sagte, sie solle ihren Marchese holen und ihn zum Essen mitbringen, denn ich wolle ihn gern kennen lernen. Ich glaubte, sie würde vor Freude toll werden.

Im Einverständnis mit Victoria und ohne Zweifel auch mit ihrer Mutter entschloß die dritte sich ebenfalls, die zwanzig Guineen zu verdienen, und dies wurde ihr nicht schwer. Um sie hatte Lord Pembroke sich mit besonderer Vorliebe beworben.

Die fünf Mädchen waren gleichsam fünf leckere Gerichte, die ein Feinschmecker sich nach und nach leistet; meiner guten Natur verdankte ich es, daß das letzte Gericht mir immer am besten mundete. Diese dritte hieß Auguste.

Am nächsten Sonntag sah ich mich in zahlreicher Gesellschaft. Ich hatte meine Tochter und ihre reizende Freundin, die Cornelis mit ihrem Sohn zu Tisch. Sophie wurde von den Hannoveranerinnen mit Küssen überdeckt, und ich selber gab ihrer Freundin, Miß Nancy Stein, hundert Küsse. Sie war erst dreizehn Jahre alt; aber ihre frühen Reize und ihre vollkommene Schönheit regten alle meine Sinne auf. Man schrieb meine Zärtlichkeit einem verwandtschaftlichen Gefühl zu, einer väterlichen Liebe; aber, ach, sie war von sehr fleischlicher Natur. Diese Miß Nancy, die in meinen Augen etwas Göttliches hatte, war die Tochter eines reichen Kaufmanns. Ich sagte ihr, es sei mein sehnlicher Wunsch, ihren Vater kennen zu lernen, und sie antwortete mir, ihr Vater habe bereits das gleiche Bedürfnis empfunden und sich vorgenommen, mich gerade an diesem Sonntag aufzusuchen. Hocherfreut über dieses Zusammentreffen unserer Wünsche befahl ich, ihn einzulassen, sobald er kommen würde.

Der arme Marchese Petina war der einzige von uns, der eine traurige Rolle spielte. Er war ein ziemlich gut gewachsener junger Mann, aber mager, abstoßend häßlich und haarsträubend dumm. Er dankte mir mit den Worten, es sei sehr vernünftig von mir gewesen, daß ich die Gelegenheit benutzt habe, ihm gefällig zu sein; denn er sei überzeugt, es werde der Fall eintreten, daß er mir meine Güte hundertfach vergelten könnte.

Ich hatte meiner Tochter sechs Guineen gegeben, um sich einen Pelz zu kaufen. Sie führte mich in ein Zimmer, um ihn mir zu zeigen, und ihre Mutter folgte ihr und wünschte mir Glück zu dem schönen Harem, den ich mir zugelegt hätte.

Bei Tisch herrschte eine reizende Fröhlichkeit. Ich saß zwischen meiner Tochter und Miß Nancy Stein. Ich fühlte mich glücklich; als wir bei den Austern waren, kam Mister Stein. Er umarmte seine Tochter mit jener ausgesuchten Zärtlichkeit, die, wie ich glaube, gerade den englischen Eltern ganz besonders eigentümlich ist.

Mister Stein hatte bereits gespeist; trotzdem aß er vier Schüsseln mit etwa hundert Austern. In der Zubereitung dieses Gerichtes war mein Koch einzig in seiner Art. Auch meinem Champagner tat mein Gast alle Ehre an.

Wir verbrachten drei Stunden bei Tisch; hierauf gingen wir in den dritten Stock, wo Sophie entzückend Klavier spielte und die Lieder begleitete, die ihre Mutter sang. Der kleine Cornelis glänzte durch sein Flötenspiel. Mister Stein beteuerte mir, er habe sich in seinem Leben noch nicht so gut unterhalten; vielleicht komme das allerdings auch ein bißchen daher, daß in England an Sonn- und Festtagen das Vergnügen eine verbotene Frucht sei. Dieser kleine Hieb bewies mir, daß Stein Geist hatte, obwohl er sehr schlecht französisch sprach. Er entfernte sich um sieben Uhr, nachdem er meiner Tochter, die er nebst ihrer reizenden Nancy nach ihrer Pension zurückbrachte, einen sehr schönen Ring geschenkt hatte.

Marchese Petina sagte mir in tölpelhafter Weise, er wisse nicht, wo er ein Zimmer finden solle. Ich konnte mir natürlich leicht denken, was er wollte. Aber ich sagte ihm, für Geld würde er überall eines finden. Hierauf nahm ich seine Geliebte beiseite und gab ihr eine Guinee für ihn, bat sie aber zugleich, ihm zu sagen, er möchte nur wiederkommen, wenn ich ihn einlüde.

Als alle Fremden fort waren, ging ich mit den fünf Schwestern in das Zimmer ihrer Mutter; diese befand sich vortrefflich: sie aß, trank, schlief gut und viel und tat den ganzen Tag nichts, denn sie las und schrieb nicht einmal. Sie genoß in der vollen Bedeutung des Wortes den Genuß des dolce far niente. Indessen sagte sie mir, sie denke fortwährend an ihre Familie, die nur glücklich sei, wenn sie ihre Gebote befolge.

Ich konnte mich kaum des Lachens erwehren, begnügte mich jedoch damit, ihr zu sagen: »Wenn diese Gebote diejenigen sind, die Ihre reizenden Mädchen befolgen, so finde ich sie weiser als die des Solon.« Zugleich zog ich Auguste auf meinen Schoß und sagte zu ihr: »Frau Gräfin, gestatten Sie mir, Ihre reizende Tochter zu umarmen!«

Statt mir geradezu zu antworten, hielt die Heuchlerin mir eine lange Predigt, um die Berechtigung eines väterlichen Kusses zu beweisen. Unterdessen beglückte Auguste mich insgeheim mit den zärtlichsten Liebkosungen. H6H O Zeiten, o Sitten!

Als ich am andern Morgen an meinem Fenster stand, kam der Marchese Caraccioli vorbei und fragte mich, ob er eintreten dürfe. Selbstverständlich begrüßte ich ihn mit der größten Freude. Nach einigen Augenblicken ließ ich die älteste herunterkommen und sagte dem Gesandten, sie werde den Marchese Petina heiraten, sobald er das erwartete Geld erhalten habe.

Hierauf sagte Caraccioli zu ihr: »Mein Fräulein, Ihr Geliebter ist allerdings der Marchese Petina; aber er ist arm und wird niemals einen Heller erhalten. Wenn er nach Neapel zurückkehrt, wird der König ihn einsperren lassen, und wenn er wieder in Freiheit gesetzt wird, werden seine Gläubiger ihn sofort in das Schuldgefängnis der Vicaria bringen lassen.«

Dieser gutgemeinte Rat blieb ohne Wirkung.

Als der Minister fort war, zog ich Reitkleider an, da ich einen Spazierritt machen wollte. Auguste sagte mir: wenn ich wolle, werde ihre Schwester Hippolyta mich begleiten; denn sie reite wie ein Stallmeister.

»Das ist ja scherzhaft; laß sie doch mal herunterkommen.«

Hippolyta kam und bat mich, ich möge ihr doch dieses Vergnügen bereiten, denn ich werde Ehre mit ihr einlegen.

»Recht gern, aber haben Sie einen Männeranzug oder ein Reitkleid?«

»Nein.«

»Dann müssen wir also die Partie bis morgen verschieben.«

Noch an demselben Tag ließ ich ihr die Herrenkleider anfertigen, deren sie bedurfte, und ich verliebte mich in sie, als Pégu ihr das Maß zu den Hosen nahm. Am nächsten Tage war alles fertig, und unser Spazierritt war wirklich reizend, denn das Mädchen wußte ihr Pferd mit einer überraschenden Anmut und Geschicklichkeit zu lenken.

Nach einem ausgezeichneten Abendessen, wobei es an Wein so wenig fehlte wie an Heiterkeit, begleitete Hippolyta glückstrahlend Auguste in mein Zimmer und half ihr beim Auskleiden. Als sie ihr den Gutnacht- Kuß gab, bat ich sie, mir auch einen zu geben. Sie tat es sofort. Nachdem wir ein wenig gescherzt hatten, machte Auguste aus dem Scherz Ernst, indem sie zu ihr sagte, sie solle sich neben mich legen. Ohne mich zu fragen, ob es mir recht sei, tat sie es sofort; so sicher war sie, meinen eigenen Wünschen zu entsprechen. Die Nacht wurde aufs beste angewandt, und ich hatte mich über Mangel an Anregung nicht zu beklagen. Indessen war Auguste vernünftig und überließ den besten Teil unserer Neuen.

Am nächsten Nachmittag ritten wir wieder aus, immer von Jarbe begleitet, der ebenfalls sehr gut ritt. Hippolyta setzte mich im Richmond- Park durch ihre Geschicklichkeit in die größte Verwunderung; sie lenkte alle Blicke auf sich. Sehr zufrieden kamen wir von unserem Spazierritt nach Hause und setzten uns sofort zum Abendessen nieder; beim Essen bemerkte ich, daß Gabriele, die jüngste, traurig aussah und mit mir schmollte. Ich fragte sie nach dem Grunde, und sie sagte mir mit jenem etwas trotzigen Ausdruck, der einem Kinde so gut steht: »Ich reite doch ebensogut wie meine Schwester.«

»Gut! Übermorgen sollen Sie das Vergnügen haben.«

Sofort wurde sie wieder guter Laune. Ich lobte nun Hippolytas Geschicklichkeit und fragte sie, wo sie denn reiten gelernt habe. Sie lachte laut auf und sagte mir, als ich sie überrascht nach der Ursache ihres Lachens fragte: »Ich lache, weil ich niemals Unterricht gehabt habe; ich habe nur viel Mut und einige natürliche Geschicklichkeit.«

»Und hat deine Schwester reiten gelernt?«

»Nein,« sagte Gabriele, »aber ich werde es ebensogut machen wie sie.«

Dies erschien mir nicht glaublich; denn Hippolyta schwebte sozusagen auf ihrem Pferde und ritt wie ein Stallmeister. In der Hoffnung, daß ihre Schwester ihrem Beispiel folgen würde, sagte ich zu ihnen, ich würde sie alle beide mitnehmen, und als sie das Versprechen hörten, jauchzten sie vor Freude laut auf.

Gabriele war erst fünfzehn Jahre alt; ihre Formen waren üppig, aber noch nicht vollkommen entwickelt; sie versprachen jedoch eine vollkommene Schönheit, sobald sie reif sein würde. Mit einer anmutigen Naivität sagte sie zu ihrer Schwester, sie wolle mit mir in mein Zimmer gehen. Ich nahm dies gerne an, ohne mich darum zu bekümmern, ob vielleicht das ganze Komplott hinter meinem Rücken von ihnen verabredet wäre. Als wir allein waren, sagte sie mir sofort, sie habe noch nie einen Liebhaber gehabt. Sie erlaubte mir mit einer naiven Sanftmut, mich davon zu überzeugen. Gabriele war so schön, daß sie von den fünf Nymphen am leichtesten mich hätte dauernd fesseln können, wenn dies überhaupt möglich gewesen wäre. Ihretwegen bedauerte ich es, daß die Mutter sich wenige Tage später zur Abreise entschloß, die ich etwas überstürzt fand. Am Morgen gab ich ihr die ihr zukommenden zwanzig Guineen und außerdem einen schönen Ring zum Zeichen meiner ganz besonderen Liebe; hierauf verbrachten wir den Tag damit, ihren Anzug für den Spazierritt, den wir am nächsten Tage machen wollten, in Ordnung bringen zu lassen.

Gelehrig den Weisungen ihrer Schwester folgend, ritt Gabriele, wie wenn sie zwei Jahre Unterricht gehabt hätte. Wir ritten im Schritt zur Stadt hinaus; sobald wir aber draußen waren, sprengten wir in sausendem Galopp bis Bame (?), wo wir Halt machten, um zu frühstücken. Wir hatten diesen Ritt in fünfundzwanzig Minuten gemacht, obwohl die Entfernung zehn englische Meilen beträgt. Das wird denen, die die Schnelligkeit der englischen Renner nicht kennen, unglaublich erscheinen; wir waren aber ganz hervorragend gut beritten. Meine beiden Amazonen waren entzückend in ihrem Glückstaumel. Ich betete sie an und war selig, daß ich sie so glücklich machte.

Gerade als wir wieder zu Pferd steigen wollten, kam Pembroke, der nach St. Albans ritt. Er hielt an und bewunderte meine beiden Begleiterinnen, die mit großer Anmut ihre Pferde tanzen ließen. Da er sie nicht sofort erkannte, bat er mich um Erlaubnis, ihnen den Hof machen zu dürfen. Ich lachte bei mir selber. Endlich erkannte er sie und sprach mir seinen Glückwunsch aus, indem er mich zugleich fragte, ob ich Hippolyta liebte. Seine Absicht erratend, antwortete ich ihm, ich liebte nur Gabriele.

»Schön! Erlauben Sie mir, Sie zu besuchen?«

»Daran dürfen Sie doch nicht zweifeln!«

Nach einem freundschaftlichen shake-hands ließen wir unseren Pferden die Zügel schießen, und bald waren wir in London. Gabriele war so müde, daß sie sich sofort zu Bett legte. Sie schlief in einem Zuge bis zum nächsten Morgen, ohne daß ich ihren süßen Schlummer störte. Als sie sich beim Erwachen in meinen Armen fand, begann sie zu philosophieren:

»Wie leicht ist es doch, sich auf dieser Welt glücklich zu machen, wenn man reich ist! Aber wie schmerzlich ist es, das aus Mangel an Geld nicht zu können, wenn man schon das Glück vor sich sieht! Gestern war ich das glücklichste Geschöpf, und warum kann ich es nicht alle Tage meines Lebens sein? Ich wäre gern einverstanden, daß mein Leben nur noch ein paar Jahre dauern sollte, wenn ich das Recht hätte, es nach meinem Belieben auszufüllen.«

Ich stellte ebenfalls Betrachtungen an, aber diese waren recht trauriger Natur. Ich sah meine Mittel auf die Neige gehen und dachte an Lissabon. Wäre mein Vermögen unerschöpflich gewesen, so hätten diese jungen Hannoveranerinnen mich mit Leichtigkeit bis an das Ende meines Lebens in ihren zarten Banden halten können. Es war mir, wie wenn ich sie nicht wie ein Liebhaber, sondern wie ein Vater liebte, und daß ich mit ihnen schlief, erhöhte nur mein zärtliches Gefühl. Gabriele sprach mit ihren Augen zu mir, und ich las in diesen nur Liebe. War es möglich, daß ihre Liebe, losgelöst von allen jenen Vorurteilen, die unsere Erziehung tief in unsere Herzen prägt, keine Tugend war? Ich habe mir dieses nie vorstellen können.

Am nächsten Tage besuchte Pembroke uns und lud sich bei mir zum Essen ein. Auguste bezauberte ihn. Er machte ihr Vorschläge, über die sie nur lachte; denn er stellte immer die Bedingung, erst nachher bezahlen zu wollen, und von solcher Einschränkung wollte sie nichts wissen. Trotzdem gab er ihr beim Fortgehen eine Zehnpfundnote, die sie mit vieler Anmut entgegennahm. Am nächsten Tage schrieb er ihr einen Brief, auf den ich sofort zurückkommen werde.

Gleich nachdem der Lord gegangen war, ließ die Mutter mich bitten, zu ihr zu kommen. Nach einer sentimentalen Vorrede über meine Großmut, meine Tugenden und die Wohltaten, die ich unaufhörlich ihrer ganzen Familie angedeihen lasse, sagte sie mir folgendes: »Ich bin überzeugt, daß Sie für meine Töchter die Liebe eines zärtlichen Vaters hegen, und wünsche daher, daß sie wirklich Ihre Töchter werden, wie sie die meinigen sind. Ich biete Ihnen Herz und Hand an: werden Sie mein Gemahl: Sie werden ihr Vater, ihr Herr und der meinige sein. Was antworten Sie mir?«

Ich mußte mir heftig auf die Lippen beißen, um nicht mit einem Gelächter zu antworten, das trotz aller meiner Anstrengung loszubrechen drohte. Doch gaben mir Erstaunen, Verachtung und Entrüstung über ihre unbegreifliche Frechheit bald meine Kaltblütigkeit wieder. Ich sah klar und deutlich, daß die abgefeimte Heuchlerin sicherlich auf eine schroffe Abweisung gerechnet und daß sie mir diesen lächerlichen Vorschlag nur gemacht hatte, um mir vorzureden, sie glaube wirklich, daß ihre Töchter in meinen Händen Jungfrauen geblieben seien, und daß ich das viele Geld nur aus zärtlicher Liebe zu ihrer Unschuld ausgegeben haben. Ohne jeden Zweifel wußte sie das Gegenteil; aber sie wollte den äußeren Anschein erwecken, wie wenn sie sich durch diesen Schritt rechtfertigte. Sie wußte, daß ich in ihrem Antrag eine Beleidigung erblicken mußte, aber daraus machte sie sich sehr wenig. Um es nicht zu einem offenen Streit kommen zu lassen, sagte ich ihr: ihr Antrag sei natürlich eine große Ehre für mich; da er jedoch von so hoher Wichtigkeit sei, so bitte ich sie, mir gütigst einige Zeit zu lassen, um darüber nachzudenken.

Ich ging in mein Zimmer zurück und fand dort die Geliebte des elenden Marchese Petina. Sie sagte mir, ihr Glück hänge davon ab, daß der neapolitanische Gesandte durch ein Zeugnis bescheinige, daß ihr Liebhaber wirklich der Marchese Petina sei. Diese Bescheinigung brauche er, um sofort zweihundert Guineen zu erhalten; dieses Geld sei dazu bestimmt, um die Reisekosten nach Neapel für ihn und sie zu decken. Sie sei sicher, daß er sie sofort nach seiner Ankunft heiraten werde. »Dort wird er sehr leicht die Verzeihung des Königs erlangen. Nur Sie können mir unter diesen Umständen behilflich sein; ich empfehle mich daher Ihrer Güte.«

Ich versprach ihr, alles aufzubieten, was in meinen Kräften stehe. Wirklich begab ich mich sofort zum Gesandten, der durchaus keine Schwierigkeit machte, die Identität des Marchese zu bestätigen. Damit sah die sonst so kalte Schönheit ihre sehnlichsten Wünsche erfüllt, und sie war vor Dankbarkeit ganz gerührt; ich bekam jedoch keine Lust, eine Betätigung derselben von ihr zu verlangen.

Siebzehntes Kapitel


Auguste wird durch einen förmlichen Vertrag Geliebte des Lord Pembroke. – Der Sohn des Königs von Korsika. – Herr du Claude oder der Jesuit Lavalette. – Abreise der Hannoveranerinnen. – Meine Bilanz. – Der Baron von Stenau. – Die Engländerin und das Denkzeichen, das sie mir läßt. – Daturi. – Meine Flucht aus London. – Der Graf von Saint-Germain. – Wesel.

Lord Pembroke war in Auguste so verliebt, daß er ihr schriftlich folgendes Anerbieten machte: monatlich fünfzig Guineen auf drei Jahre, dazu Wohnung, Unterhalt, Dienerschaft, Wagen und Pferde in St. Albans, ohne die Geschenke zu rechnen, die sie von seiner zärtlichen Dankbarkeit erwarten dürfte, wenn sie die Liebe teilte, die sie ihm eingeflößt hätte.

Auguste übersetzte mir Mylords Brief und fragte mich um Rat. Ich antwortete ihr: »Ich kann Ihnen keinen Rat geben; Sie dürfen nur Ihrem Herzen und Ihrem eigenen Vorteil folgen.« Sie ging zu ihrer Mutter, die aber keinen Entschluß fassen wollte, ohne meinen Rat zu hören, da ich, wie sie sagte, der weiseste und tugendhafteste aller Menschen sei. Ich bezweifle sehr, daß mein Leser die Ansicht dieser Mutter teilt; aber ich bin ihm darum nicht böse, denn ich dachte und denke genau so wie mein Leser. Endlich wurde beschlossen, daß Auguste den Antrag annehmen sollte, sobald ein ehrbarer Kaufmann von der Londoner Börse die Bürgschaft für Lord Pembroke übernommen hätte; denn mit ihrer Schönheit, ihrem guten Charakter, ihrem ausgezeichneten Benehmen wäre es unmöglich, daß sie nicht bald Lady Pembroke würde. Nach der Meinung der Mutter konnte es nicht anders sein, denn wenn sie daran hätte zweifeln können, würde sie niemals ihre Einwilligung gegeben haben, da ihre Tochter als Gräfin nicht die Geliebte irgendeines Menschen werden könnte, und wäre er noch so vornehm.

Diesem Entschluß entsprechend schrieb Auguste an Mylord, der binnen drei Tagen die Angelegenheit in Ordnung brachte. Der Kaufmann unterzeichnete den Vertrag als Bürge, und ich selber hatte die ungeheure Ehre, das Schriftstück als Zeuge und Freund der Mutter zu unterschreiben; ich führte den Kaufmann zu ihr, und sie unterschrieb vor seinen Augen die Abredung ihrer Tochter, die er als Zeuge beglaubigte. Den Lord Pembroke wollte sie nicht sehen, aber sie umarmte ihre Tochter, mit der sie noch ein Gespräch hatte, das ich nicht hörte.

An demselben Tage, als Auguste mein Haus verließ, hatte ich ein eigentümliches Erlebnis, das ich berichten will:

Am Tage, nachdem ich der Braut des Marchese Petina die Bescheinigung des neapolitanischen Gesandten gegeben hatte, war ich mit meiner lieben Gabriele und mit ihrer Schwester Hippolyta spazieren geritten. Als ich nach Hause kam, hatte ich vor meiner Tür einen Herrn gefunden, der sich Sir Frederick nennen ließ; er war angeblich der Sohn des Königs von Korsika, Theodor Freiherrn von Neuhof, der, wie alle Welt weiß, in London gestorben war. Herr Frederick bat mich um eine geheime Unterredung; als wir allein waren, sagte er mir, er wisse, daß ich den Marchese Petina kenne, und da er im Begriff stehe, ihm einen Wechsel von zweihundert Guineen diskontieren zu lassen, so brauche er eine Auskunft, ob der Marchese in seiner Heimat in den Verhältnissen sei, um den Wechsel bei Verfall einzulösen. »Es ist für mich wichtig, dies zu wissen; denn die Geldgeber verlangen, daß ich den Wechsel giriere.«

»Mein Herr, ich kenne den Marchese seit einiger Zeit, weiß aber nicht, ob er Vermögen hat; ich weiß nur vom neapolitanischen Gesandten, daß er ohne jeden Zweifel wirklich der Marchese Petina ist.«

»Würden Sie, falls die Personen, mit denen ich in Unterhandlung stehe, von dem Geschäft zurücktreten sollten, selber geneigt sein, den Wechsel zu diskontieren? Sie würden ihn billig bekommen.«

»Ich mache keine Geschäfte, und es liegt mir durchaus nichts an Gewinnen dieser Art. Leben Sie wohl, Sir Frederick!«

Am nächsten Tage sagte Goudar mir, ein Herr du Claude wünsche mich zu sprechen.

»Was ist das für ein Herr du Claude?«

»Es ist der berühmte Jesuit Lavalette, der den berühmten Bankerott machte, durch den die Gesellschaft Jesu in Frankreich zugrunde gerichtet wurde. Er hat sich unter einem angenommenen Namen nach London zurückgezogen; er muß viel Geld besitzen, und ich würde Ihnen raten, ihn anzuhören.«

»Ein Jesuit und Bankerotteur, – das sind schlechte Empfehlungen!«

»Das macht nichts, ich habe ihn in einem guten Hause kennen gelernt, und er hat sich an mich gewandt, da er weiß, daß ich Sie kenne. Was sagen Sie dabei, wenn Sie ihn anhören?«

»Eigentlich nichts, aber …; nun gut, Sie können mich zu ihm führen; auf diese Weise wird es für mich leichter sein, einer engeren Verbindung auszuweichen, als wenn er zu mir käme.«

Goudar ging zu Lavalette, um sich mit ihm zu besprechen, und führte mich am Nachmittag zu ihm. Übrigens war es mir ganz angenehm, einmal das Gesicht dieses Mannes zu sehen, dessen Gaunerei ein so kunstreich ersonnenes Werk der Hölle vernichtet hatte. Er empfing mich sehr herzlich. Nachdem Goudar uns allein gelassen hatte, zeigte er mir einen Wechsel von Petina und sagte: »Der junge Mann wünscht, daß ich ihm das Papier diskontiere; er hat mir gesagt, ich könne von Ihnen Auskunft über seine Mittel erhalten.«

Ich antwortete dem hochwürdigen Vater Lavalette du Claude dasselbe, was ich dem Sohn des Königs von Korsika gesagt hatte, und entfernte mich, sehr ärgerlich auf diesen traurigen Bettel-Marchese, der mir solche dummen Belästigungen verursachte. Da ich sah, daß er ein Intrigant war, beschloß ich, der Sache ein Ende zu machen und ihm durch seine Hannoveranerin sagen zu lassen, daß er so etwas unterlassen solle; ich fand jedoch an diesem Tage keine Gelegenheit dazu.

Nachdem ich am nächsten Tage einen Spazierritt mit meinen beiden Nymphen gemacht hatte, speiste ich mit ihnen und Lord Pembroke, der sich bei mir einlud; vergeblich erwartete ich Petinas Geliebte, die gegen ihre sonstige Gewohnheit nicht nach Hause kam. Um neun Uhr erhielt ich von ihr einen Brief, dem ein deutsch geschriebener Brief für ihre Mutter beilag. Sie schrieb mir: sie sei überzeugt, daß sie niemals die Einwilligung ihrer Mutter erhalten werde, und sei daher mit ihrem Liebhaber abgereist, der eine genügende Summe Geldes aufgetrieben habe, um die Reisekosten bis Neapel zu bestreiten; dort werde er sie sofort nach seiner Ankunft heiraten. Sie bat mich, ihre Mutter zu trösten und mit der Versicherung zu beschwichtigen, daß sie nicht mit einem Abenteurer abgereist sei, sondern mit einem adligen Kavalier ihresgleichen. Ein mitleidiges und verächtliches Lächeln kräuselte meine Lippen und machte die drei jungen Schwestern neugierig. Ich zeigte ihnen den Brief der älteren und forderte sie auf, mich zu ihrer Mutter zu begleiten.

»Wir wollen lieber bis morgen warten,« sagte Victoria, »denn dieser schreckliche Brief würde ihr den Schlaf rauben.«

Ich gab ihr recht, und wir aßen ziemlich traurig zu Abend. Ich hielt das unglückliche Mädchen für verloren und machte mir den Vorwurf, die unfreiwillige Ursache zu sein: denn wenn ich den Marchese nicht aus dem Gefängnis ausgelöst hätte, wäre das Unglück nicht geschehen. Marchese Caraccioli hatte recht gehabt, als er mir sagte, ich hätte ein dummes gutes Werk getan. Ich tröstete mich in den Armen meiner lieben Gabriele.

Am Morgen hatte ich viel zu leiden, als ich die Verzweiflung der Mutter beschwichtigen mußte. Sie verfluchte die Tochter und den Verführer und machte mir Vorwürfe, daß ich ihn aus dem Gefängnis befreit hätte. Sie erging sich in den rührendsten und zugleich sonderbarsten Reden.

Man muß niemals einem trauernden Menschen beweisen wollen, daß er unrecht hat; denn er kann dadurch ärgerlich werden und großen Schaden davon haben; läßt man ihn dagegen sich von selber beruhigen, so sieht er sein Unrecht ein und fühlt sich dem Freunde verpflichtet, der ihn ohne Widerspruch hat ausreden und sich dadurch erleichtern lassen.

Nach diesem traurigen Ereignis verbrachte ich noch zwei sehr glückliche Wochen mit meiner Gabriele, die von Victoria und Hippolyta als meine Frau angesehen wurde. Wir machten uns gegenseitig auf jede mögliche Weise glücklich. Ich beglückte sie besonders durch meine Treue, denn ich behandelte ihre Schwestern, wie wenn sie meine eigenen gewesen wären und wie wenn ich die Gunst, die ich von ihnen erhalten hatte, völlig vergessen hätte. Niemals nahm ich mir Freiheiten mit ihnen heraus, die meiner Geliebten hätten mißfallen können; denn ich wußte, daß Freundschaft zwischen Frauen selten so weit geht, einander eine Nebenbuhlerschaft in der Liebe zu verzeihen. Übrigens hatte ich sie reichlich mit Kleidern und Wäsche ausgestattet; sie wohnten und aßen gut, ich ließ sie ins Theater gehen und machte Landpartien mit ihnen. Sie beteten mich an, wie wenn ich ein Gott gewesen wäre, und schienen zu glauben, dieses Glück müsse ewig dauern. Leider ging ich aber mit großen Schritten meiner völligen körperlichen und pekuniären Erschöpfung entgegen.

Ich hatte kein Geld mehr und hatte alle meine Diamanten und anderen Edelsteine verkauft. Mir blieben nur noch Tabaksdosen, Uhren, Bonbonnieren – Kleinigkeiten, die ich liebte, und die ich nicht den Mut hatte zu verkaufen, denn ich hätte dafür nicht den fünften Teil von dem gelöst, was sie mir gekostet hatten. Seit einem Monat bezahlte ich weder die Rechnungen meines Kochs noch die meines Weinhändlers, und ich gefiel mir darin, ihre Sicherheit zu teilen. Ganz in meine Liebe zu Gabriele versunken, fand ich mein Glück darin, ihre Zärtlichkeit durch tausend Gefälligkeiten zu belohnen.

In diesem glücklichen Zustande von Gleichgültigkeit befand ich mich, als eines Tages Victoria mir sehr traurig sagte, ihre Mutter habe sich entschlossen, nach Hannover zurückzukehren, da sie jede Hoffnung verloren habe, bei Hofe etwas zu erreichen.

»Und wann gedenkt sie abzureisen?«

»In drei oder vier Tagen.«

»Ohne mir ein Wort zu sagen, wie wenn sie einen Gasthof verließe, nachdem sie mit dem Wirt abgerechnet hat?«

»Oh nein, sie wünscht im Gegenteil mit Ihnen unter vier Augen zu sprechen.«

Ich ging zu ihr. Sie beklagte sich in liebenswürdigstem Tone, daß ich sie niemals besuchte, und sagte dann: »Da Sie meine Hand ausgeschlagen haben, so will ich den Leuten nicht länger Anlaß zu Verleumdung und böser Nachrede geben. Ich danke Ihnen für alles Gute, das Sie meinen Töchtern getan haben, und will mit den dreien, die mir noch bleiben, lieber abreisen; denn sonst fürchte ich sie zu verlieren, wie ich meine beiden ältesten verloren habe. Wenn Sie wollen, können Sie mit uns kommen und, solange Sie Lust haben, ein hübsches Landhaus bewohnen, das ich in der Nähe der Hauptstadt besitze.«

Ich konnte ihr nur antworten und ihr danken, meine Verhältnisse erlaubten mir nicht, ihr Anerbieten anzunehmen.

Drei Tage darauf kam Victoria zu mir, als ich gerade aufstand, und sagte mir, um drei Uhr würden sie abfahren. Hippolyta und Gabriele wollten trotzdem ausreiten, wie wir am Tage vorher verabredet hatten; die guten Mädchen amüsierten sich, während ich mich in untröstlicher Trauer befand, wie immer, wenn ich mich von einer Geliebten trennen mußte.

Als wir nach Hause kamen, legte ich mich sofort zu Bett, ohne Mittag zu essen; ich sah die drei Schwestern erst wieder, nachdem sie alle ihre Reisevorbereitungen getroffen hatten. Einen Augenblick vor ihrer Abfahrt stand ich auf, um nicht die Mutter in meinem Zimmer empfangen zu müssen. Ich betrat das ihrige in dem Augenblick, wo man sie in meinen Wagen tragen wollte, der vor meiner Tür auf sie wartete. Die Unverschämte dachte, ich würde ihr etwas für die Reise geben; als sie jedoch sah, daß ich durchaus nicht geneigt war, diese Hoffnung zu erfüllen, sagte sie mir mit einer Aufrichtigkeit, die ihr ohne Zweifel ganz unwillkürlich entschlüpfte: sie hätte in ihrer Börse hundertundfünfzig Guineen, die ich ihren Töchtern geschenkt hätte. Ihre Töchter standen dabei und zerflossen in Tränen.

Als sie fort waren, ließ ich meine Tür vor jedermann verschließen und verbrachte drei traurige Tage damit, meine Bilanz zu ziehen. In einem Monat hatte ich mit den Hannoveranerinnen alles Geld verschwendet, das ich für meine Edelsteine bekommen hatte; außerdem hatte ich noch mehr als vierhundert Guineen Schulden. Ich beschloß, zur See nach Lissabon zu reisen, und verkaufte mein diamantenbesetztes Ordenskreuz, sechs oder sieben goldene Dosen, nachdem ich die Porträts herausgenommen hatte, alle meine Uhren mit Ausnahme einer einzigen und zwei große Koffer voll von Kleidern. Nachdem ich alle meine Rechnungen bezahlt hatte, fand ich mich im Besitz von achtzig Guineen. Dies war der Rest eines schönen Vermögens, das ich wie ein Narr oder wie ein Weiser verschwendet hatte – oder vielleicht wie ein Narr und ein Weiser.

Ich verließ mein schönes Haus, worin ich so lustig gelebt hatte, und bezog ein Zimmerchen, wofür ich wöchentlich eine Guinee bezahlte. Ich behielt nur meinen Neger, an dessen Treue zu zweifeln ich keinen Anlaß hatte.

Nachdem ich alle meine Maßregeln getroffen hatte, schrieb ich Herrn von Bragadino, er möchte mir sofort nach Empfang meines Briefes zweihundert Zechinen schicken. Ich brauchte nicht zu besorgen, dadurch das Geld, das für mich in Venedig stehen mußte, zu stark in Anspruch zu nehmen; denn ich hatte mir seit fünf Jahren nichts von dort schicken lassen.

Ich beschloß also, von London abzureisen, ohne einen Heller Schulden zu hinterlassen und ohne die Börse irgendeines Menschen in Anspruch zu nehmen. So wartete ich denn ruhig auf die Ankunft des Wechsels aus Venedig, um mich von allen Bekannten zu verabschieden und mich nach Lissabon einzuschiffen, wo ich einmal sehen wollte, was das Glück mit mir vorhätte; aber diese Göttin hatte Böses mit mir im Sinne, und zwar fern von Lusitanien.

Vierzehn Tage nach der Abreise der Hannoveranerinnen, gegen Ende Februar 1764, führte mich mein böser Stern in die Schenke zur Kanone, um dort nach meiner Gewohnheit in einem Zimmer für mich zu speisen. Man hatte den Tisch für mich gedeckt, und ich wollte mich eben niedersetzen, als der Baron Stenau mit der Serviette in der Hand eintrat und mich aufforderte, mein Essen in das Nebenzimmer bringen zu lassen, wo er mit seiner Geliebten allein sitze.

»Ich bin Ihnen dankbar,« antwortete ich ihm; »denn wenn man allein ist, langweilt man sich.«

Ich sah eine Engländerin, die ich schon einmal bei Sartori getroffen hatte, als der Baron so freigebig gegen sie gewesen war. Sie sprach italienisch und war talentvoll und schön; ihre Gegenwart entzückte mich, und wir speisten sehr fröhlich.

Es war nach einer vierzehntägigen Enthaltsamkeit nicht zu verwundern, daß die hübsche Engländerin mir Begierden einflößte. Ich verbarg dies jedoch, denn ihr Geliebter gab den Ton an und schien sie mit Achtung zu behandeln. Ich nahm mir also keine weitere Freiheit heraus, als daß ich ihr sagte, der Baron scheine mir der glücklichste aller Menschen zu sein.

Gegen Ende der Mahlzeit sah sie Würfel auf dem Kaminsims liegen; sie holte diese und sagte: »Wir wollen eine Guinee für Austern und Champagner ausspielen.«

Natürlich konnte man das nicht ausschlagen, der Baron verlor und rief den Kellner, um ihm seine Bestellung zu machen.

Als wir die Austern aßen, sagte sie: »Jetzt wollen wir das Mittagessen ausspielen.«

Wir spielen; sie verliert.

Es ärgerte mich, daß das Glück mich so bevorzugte. Ich wünschte zwei Guineen zu verlieren und schlug dem Baron vor, darum zu würfeln. Er war einverstanden, aber zu meinem großen Bedauern gewann ich. Er verlangt Revanche und verliert abermals.

»Es tut mir leid, daß ich Ihnen Ihr Geld abnehme, und ich werde Ihnen Revanche bis hundert geben.«

Er dankte mir, bestimmte die Einsätze und war mir in weniger als einer halben Stunde hundert Guineen schuldig.

»Weiter!« rief er.

»Mein lieber Baron, Sie sind im Unglück; Sie könnten zuviel verlieren, es ist besser, wir hören für diesmal auf.«

Ohne mir für meine Höflichkeit Dank zu wissen, fluchte er gegen das Glück; dann stand er auf, nahm seinen Stock und Hut und sagte im Hinausgehen: »Wenn ich wiederkomme, werde ich Sie bezahlen.«

Kaum war er hinaus, so sagte die schöne Engländerin zu mir: »Ich bin überzeugt, Sie haben Halbpart mit mir gespielt.«

»Wenn Sie das erraten haben, werden Sie auch erraten haben, daß ich Sie reizend finde?«

»Ich habe es bemerkt.«

»Und ist es Ihnen unangenehm?«

»Im Gegenteil – vorausgesetzt, daß ich das erste richtig erraten habe.«

»Ich verspreche Ihnen fünfzig Guineen, sobald er mir die hundert bezahlt hat.«

»Gut; aber der Baron darf nichts davon erfahren.«

»Das versteht sich von selbst.«

Kaum war die Vereinbarung geschlossen, so bewies ich ihr die Aufrichtigkeit meiner Neigung. Ich war sehr zufrieden mit ihrer Gefügigkeit und mit diesem Glücksschimmer in einem Augenblick, wo alles für mich so traurig aussah. Wie man sich denken kann, wurde die Sache sehr schnell abgemacht, denn die Tür war nur angelehnt. Ich hatte kaum soviel Zeit, sie zu fragen, wo sie wohne und welche Stunde ihr passe und besonders, ob ich große Rücksicht auf ihren Liebhaber nehmen müsse. Sie antwortete mir, er gebe ihr nicht genug, um beanspruchen zu können, daß sie ihm allein angehöre. Ich steckte ihre Adresse in meine Tasche und versprach ihr, die nächste Nacht mit ihr zu verbringen.

Kurz darauf kam der Baron wieder und sagte zu mir: »Ich war bei einem Kaufmann, um mir diesen Wechsel diskontieren zu lassen; er wollte es aber nicht tun, obwohl der Wechsel von einem guten Lissaboner Hause an meine Ordre auf eins der ersten Häuser von Cadix auf Sicht gezogen ist.«

Er zeigte mir die Unterschriften des Wechsels, und ich sah mit Verwunderung, daß der Betrag auf Millionen lautete. Der Baron sagte mir jedoch lachend, diese Millionen seien portugiesische Reis und der ganze Wechsel mache ungefähr fünfhundert Pfund Sterling aus.

»Wenn die Unterschriften bekannt sind,« sagte ich zu ihm, »so wundere ich mich, daß man Ihnen die Diskontierung verweigert. Warum gehen Sie nicht zu ihrem Bankier?«

»Ich kenne keinen. Ich kam mit tausend Lisbonninen in der Tasche hier an und habe diese ausgegeben. Da ich keinen Kreditbrief habe, so kann ich Ihnen die hundert Guineen nicht zahlen, wenn man mir nicht den Wechsel diskontiert. Falls Sie Bekannte an der Börse haben, könnten Sie mir wohl den Gefallen tun.«

»Wenn die Unterschrift bekannt ist, werde ich es morgen früh machen können.«

»Ich werde also den Wechsel girieren.«

Er schrieb seinen Namen darauf, und ich versprach ihm, bis zum nächsten Mittag ihm entweder das Geld zu bringen oder ihm den Wechsel zurückzugeben. Er gab mir seine Adresse, lud mich zum Mittagessen ein, und wir trennten uns.

Am nächsten Morgen ging ich zu Bosanquet, der mir sagte, Mister Leigh brauche Wechsel auf Cadix. Ich ging zu diesem Herrn, der bei dem Anblick des Wechsels ausrief, das Papier sei besser als Gold. Er berechnete den Diskont und gab mir fünfhundertundzwanzig Guineen, nachdem ich natürlich den Wechsel indossiert hatte.

Ich ging zum Baron, zeigte ihm die Abrechnung und gab ihm das Geld, das ich erhalten hatte.

Er dankte mir und gab mir meine hundert Guineen; hierauf speisten wir und sprachen von seiner Schönen.

»Sind Sie sehr verliebt in sie?« fragte ich ihn.

»Nein, denn ich habe noch andere, und wenn Sie ihnen gefällt, können Sie sich für zehn Guineen mit ihr belustigen.«

Ich fand diese Erklärung anständig; doch dachte ich nicht daran, die Schöne um die ihr versprochene Summe zu betrügen. Ich begab mich vom Baron unmittelbar zu ihr, und sobald sie hörte, daß ihr Liebhaber bezahlt habe, bestellte sie ein köstliches Abendessen und bereitete mir eine so wollüstige Nacht, daß ich meine ganze Traurigkeit vergaß. Als ich ihr am Morgen die fünfzig Guineen gab, sagte sie mir, meine Ehrlichkeit solle mir zunutze kommen; sie werde mir daher, sooft ich wolle, für sechs Guineen ein Abendessen geben. Ich versprach ihr, sie oft zu besuchen.

Am anderen Morgen erhielt ich mit der Stadtpost einen in schlechtem Italienisch geschriebenen Brief mit der Unterschrift: »Ihr gehorsamer Pate Daturi.«

Dieser Pate war wegen Schulden im Gefängnis und bat mich, ihm ein paar Schillinge zu schenken, damit er sich etwas zu essen kaufen könnte. Ich hatte nichts zu tun; die Unterschrift meines Paten machte mich neugierig, und ich ging ins Gefängnis, um diesen Daturi zu sehen, von dessen Vorhandensein ich keine Ahnung hatte. Man zeigte mir einen schönen jungen Menschen von zwanzig Jahren, der mich gar nicht kannte und den ich ebenfalls zum ersten Male zu sehen glaubte. Ich zeigte ihm den Brief; er bat mich wegen der Belästigung um Verzeihung, zog ein Papier aus seiner Tasche und zeigte mir einen Taufschein. Ich sah darauf seinen und meinen Namen, die seiner Eltern, die Gemeinde in Venedig, worin er geboren war, und den Namen der Kirche, worin man ihn getauft hatte. Vergebens suchte ich mich zu besinnen; die Namen waren mir völlig unbekannt.

»Wenn Sie mich gütigst anhören wollen, werde ich Sie auf den richtigen Weg bringen, indem ich Ihnen erzähle, was meine Mutter mir hundertmal gesagt hat.«

»Nur zu; ich höre.«

Seine Erzählung erweckte wirklich mein Gedächtnis. Der junge Mann, den ich als Sohn des Schauspielers Daturi über das Taufbecken gehalten hatte, war vielleicht mein eigener Sohn. Er war mit einer Seiltänzergruppe nach London gekommen, um die edle Rolle des Strohmanns oder Pagliazzo zu spielen. Er hatte sich mit seinen Leuten überworfen; man hatte ihn fortgeschickt, und er war zehn Pfund Sterling schuldig geworden. Wegen dieser Schuld saß er im Gefängnis. Ohne ihm etwas über das Geheimnis seiner Geburt oder vielmehr über meine Beziehungen zu seiner Mutter zu sagen, löste ich ihn sofort aus und sagte ihm, er solle jeden Morgen zu mir kommen; er werde täglich zwei Schillinge zu seinem Lebensunterhalt bekommen.

Acht Tage nach dieser guten Handlung fühlte ich mich von einer abscheulichen Krankheit befallen, von welcher der Gott Merkur mich schon dreimal auf meine eigene Rechnung und Gefahr befreit hatte. Ich hatte drei Nächte bei der fatalen Engländerin zugebracht. Dieser Unfall kam mir besonders ungelegen, weil ich mich in einer so traurigen Lage befand. Mir stand eine lange Seereise bevor, und obwohl Venus den Fluten entstiegen ist, ist doch die Luft ihres Elements nicht eben günstig für die, die unter ihrer Ungnade leiden, wie es in diesem Augenblicke mit mir der Fall war. Ich wußte jedoch, was ich zu tun hatte, und dachte nur daran, mich ohne Zeitverlust in eine energische Behandlung zu geben. Ich wußte, daß ich in sechs Wochen wieder gesund sein könnte, und daß ich bei meiner Ankunft in Lissabon imstande sein würde, mit meiner Person einzustehen.

Ich ging aus, nicht um, wie ich es früher selber getan hatte und wie es noch jetzt alle Dummköpfe tun, der Engländerin Vorwürfe wegen ihrer Hinterlist zu machen, sondern um einen guten Chirurgen aufzusuchen, mit ihm den Preis zu vereinbaren und mich in seine Wohnung einzuschließen.

Zu diesem Zweck packte ich meinen Koffer, wie wenn ich London verlassen wollte. Nur meine getragene Wäsche schickte ich zu meiner Wäscherin, die sechs englische Meilen von London wohnte und die vornehmste Kundschaft der Stadt hatte.

An dem Morgen, wo ich meinen Umzug bewerkstelligen und mich in die Heilanstalt begeben wollte, brachte man mir einen Brief, der mit der Stadtpost gekommen war. Ich öffnete ihn; er war von Leigh und lautete folgendermaßen:

»Der Wechsel, den Sie mir gegeben haben, ist falsch. Zahlen Sie mir sofort die fünfhundertzwanzig Guineen zurück, die ich Ihnen gegeben habe, und wenn derjenige, der Sie betrogen hat, Ihnen den Betrag nicht wiedererstattet, so lassen Sie ihn verhaften. Ich bitte Sie recht sehr, nötigen Sie mich nicht, Sie morgen verhaften zu lassen, und verlieren Sie keine Zeit; denn es geht um Ihr Leben.«

Ich war allein, und das war ein großes Glück für mich. Ich warf mich auf mein Bett und war in einem Augenblicke von einem sehr reichlichen kalten Schweiß überströmt. Ich zitterte wie Espenlaub. Vor meinen Augen erhob sich der Galgen; denn kein Bankier hätte mir in diesem Augenblick fünfhundert Guineen anvertraut, und man würde nicht einen Monat gewartet haben, um mir den hochnotpeinlichen Prozeß zu machen, der mich an den Galgen gebracht haben würde. Hätte ich einen Monat Aufschub bekommen können, so würde ich ganz bestimmt diese Summe aus Venedig erhalten haben; aber in England ist man zu derartigen Geschäften nicht geneigt.

Ein glühendes Fieber war dem Zittern gefolgt. Ich nahm zwei gut geladene Pistolen, untersuchte das Zündkorn und steckte sie in meine Tasche. Nachdem ich meinem Neger befohlen hatte, auf mich zu warten, ging ich zum Baron von Stenau. Ich war entschlossen, ihm eine Kugel durch den Kopf zu schießen, wenn er mir nicht die fünfhundertzwanzig Guineen zurückgäbe, oder ihn zu bewachen, bis ich ihn hätte verhaften lassen können. Ich kam in seine Wohnung und erfuhr, daß er vor vier Tagen nach Lissabon abgereist sei. Dieser Baron von Stenau war Livländer; er wurde vier Monate später in Lissabon gehängt. Ich erfuhr diesen Umstand zwei Monate, nachdem er vorgefallen war, als ich anfangs Oktober desselben Jahres mich in Riga befand. Ich teile es aber schon jetzt hier mit, weil ich es später vielleicht vergessen könnte.

Sobald ich seine Abreise vernahm, sah ich, daß nichts mehr zu machen war, und faßte auf der Stelle meinen Entschluß. Ich besaß nur zehn oder zwölf Guineen, und mit dieser Summe konnte ich nichts anfangen. Ich eilte zu dem venetianischen Juden Treves, an den ich von dem Bankier Grafen Algarotti von Venedig empfohlen war, dessen ich mich aber bis dahin niemals bedient hatte. Ich wandte mich weder an den ehrenwerten Bosanquet noch an Vanhel noch an Salvador, denn diese konnten von meiner Angelegenheit Kenntnis erhalten haben, aber Treves machte mit diesen großen Bankiers keine Geschäfte. Ich begnügte mich mit der Diskontierung eines kleinen Wechsels von hundert venetianischen Zechinen, den ich auf Algarotti zog. Ich schrieb ihm, er möchte sich den Betrag von seinem Verwandten Dandolo bezahlen lassen, der mir seine Empfehlung verschafft hatte.

Sobald ich den Betrag meines Wechsels in der Tasche hatte, ging ich, von einem tödlichen Fieber verzehrt, nach Hause. Leigh hatte mir vierundzwanzig Stunden Frist gegeben, und der ehrliche Engländer war nicht imstande, mir sein Wort zu brechen. Aber meine Natur erlaubte mir nicht, mich darauf zu verlassen. Ich wollte nicht gerne meine Wäsche verlieren und ebensowenig die schönen Anzüge, die ich bei meinem Schneider hatte. Zugleich aber war die höchste Eile nötig, um mich in Sicherheit zu bringen. Ich rief Jarbe in mein Zimmer und fragte ihn, ob er lieber ein Geschenk von zwanzig Guineen und seine sofortige Entlassung haben oder ob er in meinem Dienste bleiben und mir versprechen wolle, in acht Tagen von London abzureisen und mir meine Sachen nach dem Ort zu bringen, von wo ich ihm schreiben würde.

Er antwortete mir: »Ich will in Ihrem Dienste bleiben, Herr, und komme gern überall hin, wo Sie sind. Wann reisen Sie?«

»In einer Stunde; aber es kostet mir das Leben, wenn du ein Wort sagst.«

»Warum nehmen Sie mich nicht mit?«

»Weil ich wünsche, daß du mir die Wäsche und die Anzüge bringst, die noch bei der Wäscherin und bei meinem Schneider sind. Ich werde dir soviel Geld geben, wie du ungefährzu deiner Reise brauchst.«

»Ich will nichts. Sie können mir meine Auslagen bezahlen, sobald ich wieder bei Ihnen bin. Warten Sie!«

Er ging hinaus, kam aber sofort wieder und zeigte mir sechzig Guineen.

»Bitte, nehmen Sie diese, Herr; für den Notfall habe ich soviel Kredit, um noch eine gleiche Summe aufzutreiben.«

»Nein, lieber Freund, ich danke dir; ich habe das Geld nicht nötig. Ich werde deine Treue nicht vergessen.«

Da mein Schneider in unmittelbarer Nähe wohnte, ging ich zu ihm, und als ich sah, daß meine Anzüge noch nicht zugeschnitten waren, sprach ich den Wunsch aus, die Stoffe und goldenen Tressen an ihn zu verkaufen. Er zahlte mir sofort dreißig Guineen, denn er verdiente dabei zehn. Nachdem ich hierauf meine Wohnung für eine Woche gezahlt hatte, sagte ich meinem Neger Lebewohl und reiste mit Daturi ab.

Wir übernachteten in Rochester, da ich nicht soviel Kraft besaß, weiter zu reisen. Ich hatte Zuckungen und war in einer Art von Fieberdelirium. Daturi rettete mir das Leben.

Ich hatte Postpferde bestellt, um weiterzufahren; er aber schickte auf seine eigene Verantwortung die Pferde fort und holte einen Arzt, der mich in Gefahr fand, an einem Schlagfluß zu sterben; er machte mir einen reichlichen Aderlaß, der mich beruhigte. Sechs Stunden darauf fand er, daß ich weiterreisen könnte. Ich kam in aller Frühe in Dover an und konnte mich dort nur eine halbe Stunde aufhalten, weil der Kapitän des Paketbootes, wie er mir sagte, wegen der Ebbe seine Abfahrt nicht länger hinausschieben konnte. Der gute Seebär wußte nicht, daß diese Abreise gerade mein höchster Wunsch war. Ich benützte diese halbe Stunde dazu, an Jarbe zu schreiben, er solle zu mir nach Calais kommen, wo ich auf ihn warten werde. Meine Wirtin, Mistres Mercier, an die ich einen Brief adressiert hatte, schrieb mir, daß sie ihn meinem Diener persönlich übergeben habe. Aber Jarbe kam nicht. In zwei Jahren werden wir den Neger wiederfinden.

Ich kam in Calais erst in sechs Stunden an, da der Wind schwach und beinahe entgegen war. Im goldenen Arm, wo ich meine Postkutsche gelassen hatte, stieg ich ab. Sofort nach meiner Ankunft legte ich mich zu Bett und ließ den besten Arzt rufen.

Die Glut des Fiebers und das Gift, das durch meine Adern strömte, brachte mein Leben in große Gefahr. Am dritten Tage lag ich im Sterben. Ein vierter Aderlaß erschöpfte meine Kräfte und versenkte mich in eine Betäubung, die vierundzwanzig Stunden dauerte. Dieser folgte eine heilsame Krisis, die mir das Leben wieder schenkte; aber erst eine strenge Diät setzte mich vierzehn Tage nach meiner Ankunft auf dem Boden der Rettung in den Stand, weiterreisen zu können.

Ich war schwach; es bereitete mir tiefe Trauer, dem ehrlichen Meister Leigh, wenn auch ohne meine Absicht, einen bedeutenden Verlust verursacht zu haben; ich fühlte mich gedemütigt, daß ich aus London hatte fliehen müssen; Jarbes Untreue empörte mich, und es war mir höchst ärgerlich, die geplante Reise nach Portugal aufgeben zu müssen. Ohne zu wissen, wohin ich fahren wollte, und in einem so jämmerlichen Gesundheitszustand, daß meine Heilung fraglich war, setzte ich mich endlich in eine Postkutsche. Daturi, der mich zu meiner Zufriedenheit bediente, fuhr mit mir.

Da ich nicht nach England zu schreiben wagte, hatte ich Herrn von Bragadino gebeten, mir die Summe, die ich in London empfangen sollte, nach Brüssel zu schicken.

Am Tage nach meiner Abreise von Calais kam ich in Dünkirchen an. Der erste Mensch, den ich beim Aussteigen aus meinem Wagen sah, war der Kaufmann S., der Gemahl jener Therese, deren meine Leser sich vielleicht noch erinnern: sie war die Nichte von der alten Geliebten Tirettas, und ich hatte sie vor sieben Jahren geliebt. Der wackere Herr S. erkannte mich sofort, wunderte sich aber, daß ich so verändert wäre. Ich sagte ihm, ich hätte soeben eine lange Krankheit durchgemacht, und erkundigte mich dann nach seiner Frau.

»Es geht ihr ausgezeichnet,« antwortete er mir, »und ich hoffe, wir werden doch morgen das Vergnügen haben, Sie bei uns zu Tisch zu haben.«

Ich wandte ein, daß ich bei Tagesanbruch weiter reisen müßte; davon wollte er aber nichts wissen, sondern sagte, er wäre in Verzweiflung, wenn ich nicht seine Frau und seine drei Püppchen sähe. Als ich dabei blieb, ich müßte unbedingt mit Tagesanbruch abreisen, sagte er mir, er würde wiederkommen und seine ganze Familie mitbringen. Ich sah, daß nichts dabei zu machen war, und sagte ihm, wir würden alle zusammen zu Abend speisen.

Wie meine Leser sich vielleicht erinnern werden, hatte ich diese Therese so sehr geliebt, daß ich sie heiraten wollte. Diese Erinnerung bereitete mir einen tiefen Kummer, indem ich daran dachte, in welch einer traurigen Gestalt ich vor sie treten mußte.

Eine Viertelstunde später kam der Mann mit seiner Frau und drei kleinen Knaben, von denen der älteste etwa sechs Jahre alt sein mochte. Nachdem die unvermeidlichen Komplimente ausgetauscht waren und Therese mir ermüdende Beileidsbezeigungen wegen meiner schlechten Gesundheit gemacht hatte, schickte sie die beiden jüngeren Knaben fort und behielt nur den ältesten zurück, den einzigen, der mich interessieren konnte. Das Kind war reizend, und da es der Mutter vollkommen ähnlich sah, zweifelte der Mann nicht im geringsten daran, daß er der Vater sei.

Ich lachte innerlich darüber, daß ich so Kinder von mir über ganz Europa zerstreut fand. Therese erzählte mir bei Tisch Neues von Tiretta. Er war in den Dienst der holländisch-ostindischen Kompagnie getreten, hatte sich aber in Batavia in eine Verschwörung eingelassen und war nur dadurch dem Strick entgangen, daß er die Flucht ergriffen hatte. Ich dachte an die Ähnlichkeit zwischen seinem Schicksal und dem meinigen, sprach aber nicht davon. Übrigens kann es einem, wenn man ein Abenteurerleben führt, leicht zustoßen, wegen einer Kleinigkeit gehängt zu werden, wenn man ein wenig unbesonnen ist und sich nicht überlegt, was man tut.

Am nächsten Tage kam ich in Tournay an. Einige schöne Pferde, die von Reitknechten geritten wurden, erregten meine Neugier, und ich fragte die Leute, wem die Tiere gehörten.

»Dem Herrn Grafen von Saint-Germain, dem Adepten, der seit einem Monat hier ist und niemals ausgeht. Alle Durchreisenden wünschen ihn zu sehen, aber er ist unzugänglich.«

Durch diese Antwort bekam ich Lust, ihn zu besuchen. Kaum in dem Gasthof angekommen, schrieb ich ihm, indem ich meinen Wunsch ausdrückte und ihn bat, mir seine Stunde anzugeben. Ich teile hier seine Antwort wörtlich mit; denn ich habe sein Briefchen aufgehoben:

»Meine Beschäftigungen nötigen mich, keinen Menschen zu empfangen. Sie machen jedoch eine Ausnahme. Kommen Sie, wann es Ihnen am besten paßt; man wird Sie in mein Zimmer führen. Sie brauchen weder meinen Namen noch den Ihrigen zu nennen. Ich biete Ihnen nicht die Hälfte meines Mittagsmahles an; denn meine Nahrung ist für keinen Menschen geeignet und für Sie noch weniger als für jeden anderen, wenn Sie noch Ihren früheren Appetit haben.«

Ich ging um neun Uhr zu ihm, und er empfing mich mit einem zwei Zoll langen Bart. Er hatte etwa zwanzig Retorten voller Flüssigkeiten um sich herum. Einige von diesen lagen auf Sandhaufen von natürlicher Wärme. Er sagte mir, er arbeite zu seiner Belustigung an Farben und richte, um dem Grafen von Cobenzl, dem Gesandten der Kaiserin Maria Theresia in Brüssel, einen Gefallen zu tun, eine Hutfabrik ein. Der Graf habe ihm dazu nur 105000 Gulden gegeben und diese Summe genüge nicht, er lege aber das Fehlende aus seiner eigenen Tasche zu.

Dann sprachen wir von Frau von Urfé. »Sie hat sich vergiftet,« sagte er, »indem sie eine zu starke Dosis Universalmedizin nahm, und ihr Testament beweist, daß sie sich für schwanger hielt. Sie hätte es sein können, wenn sie mich zu Rate gezogen hätte. Es ist eine höchst schwierige, aber doch vollkommen sichere Operation, obgleich es der Wissenschaft noch nicht gelungen ist, das Geschlecht des Kindes vorher bestimmen zu können.«

Als er erfuhr, an welcher Krankheit ich litt, bat er mich, drei Tage in Tournay zu bleiben; während dieser Zeit werde er alle Drüsenschwellungen beseitigen; hierauf werde er mir fünfzehn Pillen geben, die ich in fünfzehn Tagen einzunehmen hätte; diese würden mir völlige Genesung bringen und mir alle meine Kräfte wiedergeben. Er zeigte mir seine Urkraft, die er Atoäter nannte. Es war eine weiße Flüssigkeit, die sich in einem sorgfältig verschlossenen Fläschchen befand. Er sagte mir, diese Flüssigkeit sei der Universalgeist der Natur; dies werde dadurch bewiesen, daß dieser Geist sofort aus dem Fläschchen entweiche, wenn man das Wachs nur ganz leicht mit einer Nadel durchsteche. Ich bat ihn, mir das Experiment zu zeigen. Er gab mir ein Fläschchen und eine Nadel. Ich stach ganz leise in das Wachs hinein und das Fläschchen war wirklich im Augenblick vollständig leer.

»Das ist ja herrlich,« sagte ich; »aber wozu ist das gut?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen, das ist mein Geheimnis.«

In seinem Ehrgeiz, mich in Verwunderung zu setzen, fragte er mich, ob ich etwas Kleingeld bei mir habe. Ich zog einige Münzen aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. Ohne mir zu sagen, was er machen wollte, stand er auf und nahm eine glühende Kohle, die er auf eine Metallplatte legte. Hierauf bat er mich um ein Zwölf-Sousstück, das sich unter den Münzen befand. Er legte ein schwarzes Körnchen auf die Münze und diese auf die Kohle, die er mit einem Blasrohr anblies; in kaum zwei Minuten war das Geldstück glühend.

»Warten Sie bis es sich abgekühlt hat«, sagte der Alchimist. In einer Minute war die Münze kalt, und er sagte: »Nehmen Sie sie mit, denn sie gehört Ihnen.«

Ich nahm das Geldstück; es war von Gold. Ich zweifelte nicht einen Augenblick, daß er meine Münze hatte verschwinden lassen und dafür die andere untergeschoben hatte, die er ohne Zweifel vorher weiß gemacht hatte. Ich mochte ihm keine Vorwürfe machen; damit er aber andererseits überzeugt wäre, daß ich nicht an seinen Schwindel glaubte, sagte ich: »Das ist wundervoll, Graf! Aber um ganz sicher zu sein, daß Sie auch einen sehr Hellsehenden in Erstaunen setzen, müssen Sie ihn ein anderes Mal darauf aufmerksam machen, daß Sie eine solche Umwandlung vornehmen wollen; alsdann kann er aufmerksam die Operation verfolgen und sich das Silberstück genau ansehen, bevor Sie es auf die glühende Kohle legen.«

Hierauf antwortete der Schwindler mir: »Wer an meiner Wissenschaft zweifeln kann, ist nicht würdig, mit mir zu sprechen.«

Dies anmaßende Benehmen war kennzeichnend für ihn; es war mir übrigens nicht neu.

Dies war das letztemal, daß ich den berühmten und gelehrten Betrüger sah; vor sechs oder sieben Jahren ist er in Schleswig gestorben. Sein Geldstück war von reinem Golde. Zwei Monate später trat ich es während meines Berliner Aufenthaltes dem Feldmarschall Keith ab, der sich neugierig danach zeigte.

Am nächsten Morgen reiste ich von Tournay ab. In Brüssel machte ich Halt, um die Antwort auf meinen an Herrn von Bragadino geschriebenen Brief abzuwarten. Ich empfing diese fünf Tage nach meiner Ankunft mit einem Wechsel von zweihundert Dukaten.

Ich gedachte mich in Brüssel längere Zeit aufzuhalten, um mich dort zu kurieren. Daturi sagte mir jedoch, er habe von einem Seiltänzer gehört, sein Vater und seine Mutter seien mit der ganzen Familie in Braunschweig. Er lud mich ein, dorthin zu fahren, indem er mir versicherte, ich werde mit der größten Sorgfalt gepflegt werden.

Es kostete ihm keine große Mühe, mich zu überreden, denn ich war neugierig, die Mutter meines Paten wiederzusehen. Ich reiste am selben Tage ab, aber in Roermond befand ich mich so schlecht, daß ich sechsunddreißig Stunden lang dort bleiben mußte, bis ich nach Wesel weiterfahren konnte. Dort beschloß ich meine Postkutsche zu verkaufen, weil in Norddeutschland die Pferde nicht an die Deichsel gewöhnt sind. Zu meiner großen Überraschung sah ich den General Bekw…. erscheinen.

Nachdem wir die üblichen Komplimente getauscht und der General mir sein Bedauern wegen meiner Krankheit ausgesprochen hatte, sagte er mir, er wünsche meine Kutsche zu kaufen und mir in Tausch dafür einen Wagen zu geben, der zum Reisen in ganz Deutschland sehr bequem sei. Der Handel war im Nu abgeschlossen. Als hierauf der wackere Engländer Näheres über meinen Krankheitszustand erfuhr, redete er mir zu, in Wesel zu bleiben, wo ein sehr geschickter und vorsichtiger junger Arzt von der Leydener Schule mich besser behandeln werde als die Braunschweiger Doktoren.

Niemand ist in seinem Entschlusse leichter zu beeinflussen, als ein Mensch, der krank und unglücklich ist und keinen bestimmten Plan hat, – besonders wenn der Kranke dem Glück nachjagt und mit seinem Grundsatz sequere deum nicht weiß, wo die launenhafte Göttin ihn erwartet. Bekw …., der in Wesel in Garnison stand, ließ sofort den Doktor Pipers holen und blieb bei meinem Krankheitsbericht und sogar bei der Untersuchung zugegen.

Ich will nicht die Empörung meiner Leser erregen, indem ich ihnen den ekelhaften Zustand schildere, worin ich mich befand; es genüge ihnen, zu erfahren, daß noch nach so vielen Jahren der bloße Gedanke daran mich schaudern macht.

Der junge Arzt, der die verkörperte Sanftmut war, lud mich ein, bei ihm zu wohnen. Er versprach mir, seine Mutter und seine Schwestern würden mich so sorgfältig pflegen, wie ich es nur wünschen könnte. Er gab mir die Zusicherung, er würde mich in sechs Wochen gründlich heilen, wenn ich ihm versprechen wollte, seine Vorschriften pünktlich zu befolgen. Der General redete mir zu, den Rat des jungen Äskulap anzunehmen. Ich entschloß mich dazu um so lieber, da ich mich in Braunschweig zu amüsieren wünschte und durchaus keine Lust hätte, mit gelähmten Gliedern dort anzukommen. So fügte ich mich den Wünschen des Generals. Von einer Preisvereinbarung wollte der Doktor nichts wissen. Er sagte mir, ich könnte ihm bei meiner Abreise geben, soviel ich wollte, und er würde damit sehr zufrieden sein. Er entfernte sich, um das für mich bestimmte Zimmer instand setzen zu lassen, und bat mich, eine Stunde später zu kommen. Ich ließ mein Gepäck hinschaffen und begab mich in einer Sänfte zu ihm. Ich schämte mich so sehr, daß ich mein Taschentuch vors Gesicht hielt, um dieses nicht der Mutter und den Schwestern des jungen Doktors zu zeigen. Sie empfingen mich in Gesellschaft einiger anderer junger Mädchen, die ich nicht einmal anzusehen wagte.

Sobald ich in meinem Zimmer war, entkleidete Daturi mich, und ich legte mich zu Bett.

Achtzehntes Kapitel


Mein Heilung. – Daturi wird von Soldaten geprügelt. – Abreise nach Braunschweig. – Redegonda. – Der Erbprinz. – Der Jude. – Mein Aufenthalt in Wolfenbüttel. – Die Bibliothek. – Berlin. – Casalbigi und die Lotterie in Berlin. – Fräulein Bélanger.

Als es Zeit zum Abendessen war, kam der Doktor mit seiner Mutter und einer seiner Schwestern in mein Zimmer. Den wackeren Leuten stand die Menschenliebe auf den Gesichtern geschrieben; alle versicherten mir, sie würden mich auf das beste pflegen.

Nachdem die Damen sich wieder entfernt hatten, teilte der Doktor mir mit, nach welcher Methode er mich zu behandeln gedächte: Ein schweißtreibender Trank und Quecksilberpillen sollten mich von dem Gift befreien, das mich dem Grabe zutrieb; ich müßte jedoch eine strenge Diät innehalten und dürfte gar nicht geistig arbeiten. Ich versprach ihm pünktlichen Gehorsam gegen seine Gesetze, und er sagte mir, zu meiner Zerstreuung werde er selber mir zweimal wöchentlich die Zeitung vorlesen. Zugleich teilte er mir die Neuigkeit mit, daß die berüchtigte Pompadour gestorben sei.

So sah ich mich also zu einer Ruhe verdammt, die nach der Meinung meines Doktors unerläßlich war, wenn die Behandlung gelingen und ich meine Gesundheit wiedererlangen sollte. Es war eine harte Notwendigkeit; aber was ich am meisten fürchtete, waren nicht die Heilmittel und die Enthaltsamkeit, sondern die Langeweile; denn ich glaubte, daß diese mich töten würde. Ohne Zweifel teilte der Doktor meine Befürchtung; denn er bat mich, zu erlauben, daß seine Schwester mit zwei oder drei Freundinnen in meinem Zimmer arbeiten dürfe. Ich antwortete ihm, daß ich seinen Vorschlag mit Freuden annähme, obgleich ich mich schäme, mich so liebenswürdigen Mädchen in meinem kranken Zustande zu zeigen. Die Schwester war mir sehr dankbar für meine Gefälligkeit, wie sie es nannte; denn das von mir bewohnte Zimmer war das einzige, dessen Fenster nach der Straße hinausgingen, und wie ein jeder weiß, sehen junge Mädchen gern nach den Vorübergehenden aus. Unglücklicherweise wurde meine Gefälligkeit verhängnisvoll für Daturi. Der arme junge Mann, der keine weitere Erziehung genossen hatte, als eben ein Seiltänzer sie braucht, mußte sich natürlich langweilen, wenn er den ganzen Tag nur immer mit mir zusammen war. Sobald er daher sah, daß ich gute Gesellschaft hatte, glaubte er, ich könnte wohl die seinige entbehren, und ging nur noch darauf aus, sich zu amüsieren. Am dritten Tage brachte man ihn gegen Abend jämmerlich verprügelt nach Hause. Er war in eine Wachstube gegangen, um mit den Soldaten zu zechen; dabei hatte es Streit gegeben, und er war tüchtig durchgehauen worden. Er sah mitleiderregend aus: er war ganz von Blut überströmt, und ihm fehlten drei Zähne. Weinend erzählte er mir sein Abenteuer und bat mich, ihn zu rächen.

Ich schickte meinen Doktor zu General Bekw …., der sofort zu mir kam und mir sagte, er wisse nicht, was er dabei tun solle; er könne mir weiter keinen Dienst erweisen, als daß er den Kranken ins Lazarett schicke. Da Daturi keine Glieder gebrochen hatte, so war er in ein paar Tagen geheilt; ich schickte ihn mit einem Paß des Generals Salenmon nach Braunschweig. Die verlorenen Zähne schützten ihn vor der Gefahr, unter die Soldaten gesteckt zu werden. Das war immerhin ein Trost.

Die Kur meines jungen Doktors wirkte besser oder jedenfalls schneller, als er selber gedacht hatte; denn nach einem Monat war ich vollkommen wiederhergestellt, aber ich war dabei so mager, daß mein Anblick Schrecken erregte. Der Begriff, den ich den guten Leuten von mir hinterließ, entsprach durchaus nicht der Wirklichkeit. Man hielt mich für den geduldigsten Menschen, und die Schwester und ihre jungen Freundinnen sahen in mir die verkörperte Bescheidenheit; aber diese scheinbaren Tugenden rührten nur von meiner Krankheit her und von meiner niedergeschlagenen Stimmung. Um einen Menschen zu beurteilen, muß man sein Benehmen prüfen, wenn er gesund und frei ist; in Krankheit und Gefangenschaft ist er nicht mehr der gleiche.

Ich schenkte der Schwester ein schönes Kleid und gab dem Doktor zwanzig Louis. Alle beide schienen mir sehr zufrieden zu sein.

Am Tage vor meiner Abreise erhielt ich einen Brief von Frau du Rumain, die von meinem Freunde Baletti erfahren hatte, daß ich Geld brauchte, und mir einen Wechsel von sechshundert Gulden auf Amsterdam schickte. Sie sagte mir, ich möchte ihr den Betrag nach meiner Bequemlichkeit zurückgeben; sie ist jedoch gestorben, bevor ich die Schuld habe begleichen können.

Da ich nach Braunschweig fahren wollte, konnte ich dem Wunsch nicht widerstehen, über Hannover zu reisen, denn wenn ich an Gabriele dachte, liebte ich sie noch. Ich wollte mich nicht aufhalten, denn ich war nicht mehr reich; außerdem zwang meine Gesundheit mich noch, mich zu schonen. Ich wollte nur das reizende Mädchen überraschen, indem ich auf der Durchreise einen Besuch auf dem Gute machte, das ihre Mutter, wie sie mir gesagt hatte, in der Nähe von Stöcken besaß. Ich will nicht leugnen, daß auch die Neugier einen guten Anteil an diesem Plan hatte.

Ich hatte beschlossen, bei Tagesanbruch allein in meiner neuen Kalesche abzureisen: aber es stand in den Sternen geschrieben, daß es anders kommen sollte.

Der englische General lud mich schriftlich zum Abendessen ein, indem er hinzufügte, es würden Landsleute von mir dabei sein. Infolgedessen beschloß ich noch einen Tag zu bleiben; zugleich versprach ich dem Doktor, sehr nüchtern zu sein.

Man wird sich meine Überraschung denken können, als ich beim Eintritt in den Salon des Generals die Parmesanerin Redegonda und ihre abscheuliche Mutter sah. Diese erkannte mich nicht gleich; Redegonda aber nannte sofort meinen Namen und rief: »Mein Gott! Wie sind Sie mager geworden!«

Ich machte ihr ein Kompliment über ihre Schönheit, und sie verdiente es; denn die letzten achtzehn Monate hatten ihre Reize in eigentümlicher Weise entfaltet.

»Ich bin soeben erst einer schweren Krankheit entronnen,« sagte ich zu ihr, »und ich reise mit Tagesanbruch nach Braunschweig ab.«

»Wir auch!« rief sie, indem sie ihre Mutter ansah.

Der General freute sich, daß wir alte Bekannte waren, und machte die Bemerkung, daß wir ja zusammen reisen könnten.

»Das würde wohl schwerlich gehen,« versetzte ich lächelnd, »es müßte denn sein, daß die Frau Mutter ganz andere Grundsätze angenommen hätte, als ich früher an ihr kannte.«

»Ich bin immer noch die gleiche«, sagte die häßliche Mutter ziemlich grob.

Ich antwortete ihr nur durch einen verächtlichen Blick.

Der General hielt an einem kleinen Pharaotisch die Bank. Es waren zwei oder drei andere Damen und mehrere Offiziere anwesend, und man spielte mit kleinen Einsätzen. Er bot mir ein Buch an, das ich unter dem Vorwand ablehnte, ich spielte auf Reisen niemals.

Der General hielt sich jedoch noch nicht für geschlagen und sagte am Ende der Taille zu mir: »Aber, Chevalier, Ihr Grundsatz ist ungesellig! Sie müssen spielen!«

Mit diesen Worten zog der General aus seiner Brieftasche mehrere englische Banknoten und sagte: »Es sind dieselben, die Sie mir vor sechs Monaten in London gegeben haben. Nehmen Sie Revanche; es sind vierhundert Pfund Sterling!«

»Ich habe keine Lust, so viel zu verlieren,« antwortete ich ihm; »aber ich will fünfzig Pfund wagen, um Ihnen einen Gefallen zu tun.«

Zugleich zog ich meine Börse; es befanden sich dann zweihundert holländische Dukaten und der Wechsel, den die Gräfin du Rumain mir geschickt hatte.

Der General zog ab, und nach der dritten Taille hatte ich fünfzig Pfund gewonnen. Ich hörte auf, indem ich mich mit einem bescheidenen Gewinne begnügte, zumal da ich kalte Füße bekommen konnte, ohne gegen die Höflichkeit zu verstoßen.

In demselben Augenblick wurde gemeldet, daß das Essen angerichtet sei, und wir gingen in den Speisesaal.

Redegonda, die sehr gut französisch gelernt hatte, erheiterte alle Anwesenden. Sie war vom Herzog von Braunschweig als zweite Virtuosa engagiert worden und kam von Brüssel. Sie klagte darüber, daß sie die Reise in dem unglückseligen Postkarren machen müsse, in dem man so gräßlich unbequem säße, und sprach die Befürchtung aus, sie würde krank an ihrem Bestimmungsort ankommen.

Hierauf bemerkte der General: »Da ist ja der Chevalier Seingalt, der ganz allein in einem ausgezeichneten Wagen fährt.«

Redegonda lächelte.

»Wieviel Plätze hat Ihr Wagen?« fragte die Mutter mich. Der General nahm für mich das Wort und antwortete: »Nur zwei.«

»Dann ist es also nicht möglich; denn ich werde niemals meine Tochter ohne mich reisen lassen, ganz einerlei mit wem es ist.«

Ein allgemeines Gelächter, in das Redegonda einstimmte, machte die Mutter ein wenig verlegen; aber als gute Tochter sagte Redegonda: »Mama hat immer Angst, daß man mich ermordet!«

Unter tausend leichtfertigen Bemerkungen verging der Abend uns sehr angenehm; die junge Sängerin ließ sich nicht lange bitten, sondern setzte sich ans Klavier und sang uns einige reizende Lieder, für die sie wohlverdienten Beifall erntete.

Als ich gehen wollte, bat der General mich, bei ihm zu frühstücken; der Postkarren fahre erst mittags ab und ich sei diese Höflichkeit meiner schönen Landsmännin schuldig. Redegonda bat mich ebenfalls, indem sie mich an einige Vorfälle in Florenz und Turin erinnerte, obgleich sie mir keine Vorwürfe zu machen hatte. Ich gab nach; da ich aber der Ruhe bedurfte, so ging ich zu Bett.

Am anderen Morgen um neun Uhr verabschiedete ich mich vom Doktor und seiner braven Familie. Dann ging ich zu Fuß zum General, um bei ihm zu frühstücken, nachdem ich Befehl gegeben hatte, daß mein Wagen mich abholen solle, sobald er angespannt sei.

Eine halbe Stunde später kam Redegonda mit ihrer Mutter. Zu meiner großen Überraschung sah ich in ihrer Begleitung den Bruder, den ich in Florenz als Lohndiener gehabt hatte.

Als das Frühstück vorbei war, hielt mein Wagen vor der Tür. Ich machte dem General und der ganzen Gesellschaft, die den Saal verlassen hatte, um mich abfahren zu sehen, meine Reverenz. Redegonda ging mit mir hinunter; sie fragte mich, ob mein Wagen bequem sei, und stieg ein, wie wenn sie ihn versuchen wollte. Sofort nach ihr stieg auch ich ein, ohne mir jedoch das mindeste dabei zu denken. Der Postillon sieht, daß der Wagen besetzt ist, knallt mit der Peitsche und fährt im Galopp ab.

Redegonda lachte aus vollem Halse. Ich wollte dem Postillon zurufen, daß er halten solle; als ich aber das ausgelassene Mädchen in so reizender Heiterkeit sah, ließ ich ihn ruhig weiterfahren. Immerhin war ich entschlossen, ihn sofort umkehren zu lassen, wenn die Schöne mir sagen würde: »Jetzt ist’s genug.«

Diese Worte erwartete ich jedoch vergeblich, und wir waren bereits eine halbe Meile gefahren, als sie zu sprechen begann.

»Ich habe so gelacht! Und ich lache noch, wenn ich daran denke, wie meine Mutter diese Laune auslegen wird; denn ich hatte es mir vorher nicht überlegt, als ich in den Wagen stieg. Außerdem habe ich über den Postillon gelacht, der doch gewiß nicht auf Ihren Befehl mit mir losgefahren ist.«

»Dessen können Sie sicher sein.«

»Meine Mutter wird aber das Gegenteil glauben, und gerade darum finde ich es so komisch.«

»Es ist auch komisch, und ich bin sehr damit zufrieden, übrigens, meine liebe Redegonda, werde ich Sie nun mit mir nach Braunschweig nehmen, denn Sie werden in meinem Wagen viel besser aufgehoben sein als in solch einem scheußlichen Postkarren.«

»Es würde mich ja sehr freuen; aber das hieße doch den Spaß ein bißchen zu weit treiben. Wir werden beim ersten Pferdewechsel Halt machen und auf der Post warten.«

»Das steht in Ihrem Belieben; aber Sie werden mich entschuldigen, wenn ich mich darauf nicht einlasse.«

»Wie? Sie würden den Mut haben, mich ganz allein sitzen zu lassen?«

»Sie wissen, reizende Redegonda, daß ich Sie immer geliebt habe; daher bin ich denn auch bereit, Sie nach Braunschweig zu bringen – das wiederhole ich Ihnen!«

»Wenn Sie mich lieben, werden Sie warten und mich in die Arme meiner Mutter führen, die schon in Verzweiflung sein muß.«

Anstatt traurig zu werden, fing der junge Tollkopf zu lachen an. Als ich sie so lustig sah, beschloß ich, sie mit mir nach Braunschweig zu nehmen.

Auf der Station waren keine Pferde. Ich setzte mich mit dem Postillon ins Einvernehmen, und nachdem wir die Pferde sich hatten ausruhen lassen, fuhren wir wieder ab. Da die Wege entsetzlich waren, kamen wir erst mit Einbruch der Nacht bei der zweiten Station an.

Wir hätten dort übernachten können; ich wollte aber nicht angeführt werden, und da ich wußte, daß der Postkarren vor Mitternacht ankommen und daß dann die Mutter sich ihrer Tochter bemächtigen würde, so befahl ich frische Pferde und ließ Redegonda jammern und bitten, soviel sie wollte. Wir fuhren die ganze Nacht hindurch und kamen in aller Frühe in Lippstadt an, wo ich trotz der unpassenden Stunde eine Mahlzeit auftragen ließ. Redegonda hatte ebenso, wie ich, Schlaf nötig, aber sie mußte sich fügen, als ich ihr schmeichelnd sagte, wir würden in Minden schlafen. Sie schalt nicht mehr, sondern lächelte; ich sah, daß sie wußte, was ihrer dort wartete. Sobald wir angekommen waren, aßen wir zu Abend und gingen dann wie Mann und Frau zu Bett. Wir waren fünf Stunden zusammen. Sie war vollkommen gut und ließ sich nur der Form wegen ein bißchen bitten.

Nach einer zu kurzen Nacht fuhren wir von Minden weiter bis Hannover, wo wir in einem ausgezeichneten Gasthof ganz vorzüglich aßen. Ich traf dort den Kellner, der in Zürich gewesen war, als ich die Solothurner Damen bei Tisch bedient hatte. Miß Chudleigh hatte in dem hannoverschen Gasthof mit dem Herzog von Kingston gespeist und war dann nach Berlin weitergefahren.

Wir bekamen für die Nacht ein herrliches französisches Bett und erwachten am anderen Morgen erst von dem Rasseln des Postkarrens. Redegonda wollte nicht in meinen Armen überrascht werden; sie klingelte schnell dem Kellner und befahl ihm, er solle die Frau, die mit dem Postkarten angekommen sei und ohne Zweifel zu ihr geführt werden wolle, nicht einlassen. Vergebliche Vorsicht – denn in dem Augenblick, wo der Kellner hinausging, traten Mutter und Sohn ein und ertappten uns in flagrante delitto.

Ich befahl dem Sohn, draußen zu warten, stand im Hemde auf und verschloß meine Tür. Die Mutter erging sich in bitteren Klagen gegen mich und ihre Tochter und drohte mir mit strafrechtlichen Verfolgungen, wenn ich sie ihr nicht herausgäbe.

Schließlich gelang es Redegonda, sie zu beruhigen, indem sie ihr die Geschichte erzählte. Die Mutter glaubte oder tat wenigstens so, als wenn sie glaubte, daß das Ganze ein Zufall sei; aber sie sagte zu ihr: »Ich will gern glauben, daß es sich so verhält; aber du kannst nicht leugnen, Spitzbübin, daß du bei ihm geschlafen hast.«

»Das ist allerdings etwas anderes, aber Sie wissen wohl, liebe Mama, daß man im Schlaf nichts Böses tut.«

Ohne ihr Zeit zur Antwort zu lassen, fiel sie ihr um den Hals, herzte und küßte sie und versprach ihr, im Postwagen mit ihr nach Braunschweig zu fahren.

Nachdem diese Vereinbarung getroffen war, zog ich mich an. Ich gab ihnen ein gutes Frühstück und reiste dann nach Braunschweig ab, wo ich einige Stunden vor ihnen ankam.

Redegonda benahm mir die Lust, den Besuch bei Gabriele zu machen, den ich mir vorgenommen hatte; außerdem hätte in dem Zustande, worin ich mich befand, mein Selbstgefühl viel zu leiden gehabt.

Sobald ich mich in einem guten Gasthaus eingerichtet hatte, ließ ich Daturi meine Ankunft melden. Er kam sofort, elegant gekleidet, und zeigte großen Eifer, mich dem prachtliebenden Signor Nicolini vorzustellen, dem Direktor des Stadt- und Hoftheaters. Dieser Nicolini war ein ausgezeichneter Theaterdirektor; er erfreute sich der vollsten Huld des freigebigen Fürsten, dessen Geliebte seine Tochter Anna war, und lebte in Braunschweig mit einem gewissen Luxus. Ich wurde mit großer Auszeichnung und Herzlichkeit von ihm empfangen. Er wollte mich durchaus bewegen, eine Wohnung in seinem schönen Hause anzunehmen; es gelang mir jedoch, mich dieser lästigen Einladung zu entziehen, ohne ihn durch meine Ablehnung zu kränken. Dagegen nahm ich seine Einladung zur Tafel an, die wegen seines ausgezeichneten Kochs und noch mehr wegen der liebenswürdigen Gesellschaft, die er jeden Tag bei sich versammelte, meiner Aufmerksamkeit sehr würdig war. Die Gaste zeichneten sich nicht durch Titel und Ordensbänder aus und hatten nicht jene servilen und zugleich hochmütigen Hofmanieren, die mir langweilig sind und jedes Vergnügen töten – sondern es waren talentvolle Herren und Damen, deren Vereinigung ein entzückendes Gemälde bot.

Ich war noch nicht ganz genesen, und ich war nicht reich; sonst hätte ich mich länger in Braunschweig aufgehalten; denn dieser Ort hatte viele Reize für mich.

Am dritten Tage nach meiner Ankunft in Braunschweig kam Redegonda zu Nicolini, da sie wußte, daß ich bei ihm zu Mittag speisen würde. Wie es zuging, weiß ich nicht, aber alle Welt wußte, daß sie mit mir von Wesel nach Hannover gereist war, und jeder zog daraus die Schlüsse, die ihm beliebten.

Zwei Tage später kam der preußische Thronfolger von Potsdam an, um seine künftige Gemahlin zu besuchen; sie war die Tochter des regierenden Herzogs, und er heiratete sie im folgenden Jahre.

Der Hof gab prachtvolle Feste, und der Erbprinz, der jetzige regierende Herzog, erwies mir die Ehre, mich dazu einzuladen. Ich hatte Seine Hoheit am Tage nach seiner Aufnahme in die Londoner Bürgerschaft bei dem großen Picknick in Soho-Square kennen gelernt.

Es war zweiundzwanzig Jahre her, daß ich Daturis Mutter geliebt hatte. Ich war neugierig, welche Verwüstungen die Zeit an ihrer Schönheit angerichtet haben möchte, und suchte sie daher auf. Ich mußte jedoch bedauern, daß ich sie genötigt hatte, meinen Besuch anzunehmen; denn sie war sehr häßlich geworden. Sie wußte dies, und eine gewisse Scham malte sich auf ihren entstellten Zügen. Ich habe die Bemerkung gemacht, daß eine Frau mit ausgeprägten Zügen gewöhnlich sehr schnell häßlich wird und dann schrecklich anzusehen ist.

Der Fürst hatte ein kleines, aber sehr gut ausgebildetes Heer von sechstausend Mann Infanterie. Es fand auf einer Ebene dicht bei der Stadt eine Revue über diese Truppen statt. Ich bekam Lust, mir dies Schauspiel anzusehen, und ging daher hin. Es regnete den ganzen Tag. Trotzdem waren viele vornehme Zuschauer da: viele Damen in schönen Toiletten, der ganze Adel und eine Menge Ausländer. Ich sah die ehrenwerte Miß Chudleigh, die mir die Ehre erwies, das Wort an mich zu richten und mich unter anderem fragte, seit wann ich London verlassen hätte. Miß Chudleigh war nur mit einem einfachen Kleide von indischem Musselin bedeckt und trug darunter nur ein Hemd, das offenbar von Batist war; der Regen hatte diese leichte Kleidung an ihren Körper angeklebt, so daß sie schlimmer als nackt aussah. Dies schien sie jedoch nicht verlegen zu machen. Die anderen Damen fanden unter eleganten Zelten Schutz vor der Sintflut.

Die Truppen, die das schlechte Wetter nichts anging, exerzierten und schossen zur Zufriedenheit der Kenner.

Da ich in Braunschweig nichts zu tun hatte, so gedachte ich mich nach Berlin zu begeben, um dort den Sommer angenehmer zu verbringen als in einer kleinen Stadt. Ich brauchte einen Überzieher und kaufte das Tuch dazu bei einem Juden, der sich erbot, mir Wechsel zu diskontieren, wenn ich welche hätte. Ich hatte den Wechsel bei mir, den die Gräfin du Rumain mir geschickt hatte, und da es mir bequem war, Gold dafür einzutauschen, so zog ich ihn aus meiner Brieftasche und gab ihn dem Israeliten. Er zahlte mir den Betrag aus, indem er den bei Wechseln auf die Bank von Amsterdam üblichen Abzug von zwei vom Hundert machte. Da der Wechsel an die Ordre des Chevalier von Seingalt ausgestellt war, girierte ich ihn mit diesem Namen.

Ich dachte schon nicht mehr an die Sache, als am anderen Morgen zu ziemlich früher Stunde derselbe Jude in mein Zimmer trat und mich aufforderte, ihm sein Geld zurückzugeben oder für den Wert meines Wechsels Sicherheit zu bestellen, bis mit der Post die Nachricht käme, ob mein Wechsel angenommen und bezahlt worden wäre.

Beleidigt über die Frechheit dieses Pilatus und sicher, daß mein Wechsel in Ordnung war, sagte ich ihm: »Sie haben nichts zu befürchten. Ich bitte Sie, mich in Ruhe zu lassen; ich werde durchaus keine Sicherheit stellen.«

»Ich verlange unbedingt mein Geld oder Sicherheit,« antwortete der Unverschämte, »sonst werde ich Sie verhaften lassen, denn Sie sind bekannt.«

Das Blut stieg mir in den Kopf; ich ergriff meinen Stock und gab ihm eine Tracht Prügel, die er sicherlich mehr als einen Tag gefühlt hat. Hierauf kleidete ich mich an und speiste bei Nicolini, ohne ein Wort von meinem Erlebnis zu sagen.

Am nächsten Tag machte ich einen Spaziergang vor der Stadt und begegnete dem Prinzen zu Pferde, nur von einem Reitknecht begleitet. Ich machte ihm meine Verbeugung; er ritt an mich heran und sagte: »Sie stehen also im Begriff abzureisen, Herr Chevalier.«

»Ich gedenke in etwa zwei oder drei Tagen abzureisen, gnädiger Herr.«

»Das habe ich heute früh von einem Juden gehört, der sich bei mir beklagt hat, weil Sie ihm Stockschläge gegeben haben. Er forderte eine Sicherstellung für einen Wechsel, gegen dessen Echtheit man ihm Bedenken erregt hat.«

»Gnädiger Herr, ich kann für meine Entrüstung nicht einstehen, wenn ein solcher Kerl zu mir kommt und mich in meinem eigenen Zimmer zu beleidigen wagt; aber ich weiß, daß meine Ehre mir verbietet, meinen Wechsel wieder zu nehmen oder Sicherheit zu bestellen. Der Unverschämte hat mir gedroht, er werde meine Abreise verhindern; aber ich weiß, daß nur ungerechte Willkür dem Verlangen dieses erbärmlichen Menschen nachkommen könnte.«

»Es wäre allerdings ungerecht; aber er hat eben Angst, seine hundert Dukaten zu verlieren.«

»Er wird sie nicht verlieren, gnädiger Herr, denn der Wechsel ist von einer ehrenwerten Person von hohem Range gezogen.«

»Das freut mich. Der Jude sagt, er würde Ihnen den Wechsel nicht diskontiert haben, wenn Sie nicht meinen Namen genannt hätten.«

»Das ist eine freche Fälschung der Wahrheit, gnädiger Herr: der Name Eurer Hoheit ist nicht aus meinem Munde gekommen.«

»Er sagt, Sie haben den Wechsel mit einem Namen giriert, der nicht der Ihrige ist.«

»Auch das ist falsch, gnädiger Herr; denn ich habe Seingalt unterzeichnet, und dieser Name ist mein eigener.«

»Kurz und gut, es handelt sich um einen geprügelten Juden, der angeführt zu sein glaubt. Der Kerl tut mir leid, und ich will es lieber verhindern, daß er nach Mitteln sucht, Sie zum Hierbleiben zu zwingen, bis er erfährt, daß Ihr Wechsel in Amsterdam eingelöst ist. Ich werde ihn noch heute morgen bei ihm einlösen lassen, denn ich bezweifle nicht, daß der Wechsel vollkommen gut ist. Sie können also abreisen, wann es Ihnen beliebt. Leben Sie wohl, Herr von Seingalt, ich wünsche Ihnen eine glückliche Reise.«

Mit diesem Kompliment sprengte der Prinz davon, bevor ich Zeit gehabt hatte, ihm zu antworten.

Ich hätte ihm sagen können: indem er den Wechsel bei dem Juden einlöste, erweckte er den Glauben, daß er mir dadurch eine Gnade erwiese; zum großen Schaden meiner Ehre würde die ganze Stadt das glauben, wie der Jude; ich müßte ihm also dankbar sein, wenn er es nicht täte.

Aber es genügt nicht, ein Fürst zu sein, ein ausgezeichnetes Herz zu haben, freigebig und großmütig zu sein, wie der jetzige Herzog von Braunschweig es ist; man muß auch Takt und die nötigen Kenntnisse haben, um nicht das Zartgefühl eines Menschen zu verletzen, dem man ein unzweideutiges Zeichen von Achtung und Wohlwollen geben will. Dieser Fehler ist allen Prinzen gemein; er rührt von ihrer Erziehung her, die sie selten auf das Niveau des Lebens ihrer Mitmenschen erhebt oder, wenn man will, erniedrigt.

Hätte der Herzog von Braunschweig mich für einen unredlichen Menschen gehalten, so hätte er mich nicht schlechter behandeln können, als dadurch, daß er mir gewissermaßen andeutete, er verzeihe mir und nehme alle Folgen des von mir begangenen Schwindels auf sich. Dieser Gedanke ging mir im Kopf herum und ich sagte bei mir: »Vielleicht glaubt der Prinz dies wirklich. Warum mischt er sich in die Sache ein? Hat er etwa Mitleid mit dem Juden oder mit mir? Wenn mit mir, so fühle ich die Notwendigkeit, ihm eine Lehre zu geben, jedoch ohne ihn zu beschämen.«

Ich war sehr aufgeregt, denn mein Selbstgefühl war tief verletzt. Während ich langsam nach der Stadt zurückging, dachte ich über meine Lage nach, über das Benehmen des Herzogs und besonders über das Ende unseres Gesprächs. Ich fand seine Worte Gute Reise unter diesen Umständen höchst unangebracht; im Munde eines Prinzen, der bereits selber fast unumschränkter Regent war, erschien das Kompliment als ein Befehl zur Abreise, und darüber war ich entrüstet.

Der Gedanke ließ mich nicht los, und ich faßte endlich den Entschluß, den mir mein Selbstgefühl vorschrieb: weder abzureisen noch zu bleiben.

»Wenn ich bliebe,« sagte ich zu mir selber, »würde man das zugunsten des Juden auslegen; wenn ich abreiste, würde der Herzog denken, ich hätte mir sozusagen das Gnadengeschenk zunutze gemacht, das er mir dadurch erwiesen, daß er dem Juden fünfzig Louis bezahlen müßte, wenn mein Wechsel protestiert würde. Ich werde niemandem eine Genugtuung geben, die ich nicht schuldig bin.«

Nachdem ich diese Betrachtungen angestellt hatte, die mir sehr vernünftig zu sein schienen, obgleich mein Kopf damals noch nicht ganz gesund war, packte ich meinen Koffer, bestellte Pferde, aß gut zu Mittag, bezahlte meine Rechnung und fuhr, ohne mich von einem Menschen zu verabschieden, nach Wolfenbüttel. Ich wollte dort acht Tage zubringen, und war sicher, daß ich mich nicht langweilen würde, denn in Wolfenbüttel war die drittgrößte Bibliothek Europas, und ich hatte schon seit langer Zeit große Lust gehabt, sie näher zu untersuchen.

Der gelehrte Bibliothekar sagte mir bei meinem ersten Besuch mit großer Höflichkeit, die um so angenehmer wirkte, da sie ganz anspruchslos war: ein Mann werde den Auftrag erhalten, mir in der Bibliothek alle gewünschten Bücher zu bringen, außerdem aber werde man mir diese auch in meine Wohnung bringen, sogar die Handschriften, die den besonderen Reichtum dieses schönen Instituts bilden.

Ich verbrachte acht Tage in dieser Bibliothek, die ich nur verließ, um zum Essen und zum Schlafen in meinen Gasthof zu gehen. Ich kann diese acht Tage zu den glücklichsten meines Lebens zählen, denn ich war nicht einen Augenblick mit mir selber beschäftigt: ich dachte weder an die Vergangenheit noch an die Zukunft, und mein Geist, der sich vollständig in die Arbeit versenkt hatte, konnte die Gegenwart nicht bemerken. Ich habe seitdem zuweilen gedacht, daß vielleicht das Leben der Seligen etwas Ähnliches sein könnte; heute sehe ich, daß nur einige ganz unbedeutende Umstände hätten zusammenzuwirken brauchen, damit ich in dieser Welt ein wahrer Weiser statt eines wahren Toren gewesen wäre; denn zur Schande fast meines ganzen Lebens muß ich hier eine Wahrheit kundgeben, die meine Leser kaum glauben werden: die Tugend hat für mich immer viel mehr Reize gehabt als das Laster, und wenn ich einmal schlecht war, so war ich es nur aus Leichtsinn und Übermut; dies werden allerdings viele Leute ohne Zweifel sehr tadelnswert finden. Aber was macht mir das aus! Der Mensch ist über seine innerlichen Gefühle und moralischen Handlungen hienieden nur sich selber und nach seinem Tode nur Gott Rechenschaft schuldig.

Ich brachte von Wolfenbüttel eine große Menge Notizen über die Ilias und die Odyssee mit, die man bei keinem Scholiasten findet und die nicht einmal der große Pope kannte. Man findet einen Teil derselben in meiner Übersetzung der Ilias; der Rest wird hier in Dux bleiben und wahrscheinlich verloren gehen; ich selber werde nichts verbrennen, nicht einmal diese Erinnerungen, obgleich ich oft daran denke. Ich sehe voraus, daß ich niemals den richtigen Augenblick finden werde.

Nach acht Tagen fuhr ich nach Braunschweig zurück, stieg wieder in demselben Gasthof ab und ließ gleich nach meiner Ankunft meinem Paten Daturi Bescheid sagen.

Zu meiner großen Freude vernahm ich, daß niemand auf den Gedanken gekommen war, ich hätte eine Woche fünf Meilen von Braunschweig verbracht. Daturi sagte mir, in der Stadt sei das Gerücht verbreitet, ich hätte vor meiner Abreise den Wechsel von dem Juden wieder zurückgenommen; denn man hätte seitdem nichts wieder davon gehört. Ich war jedoch sicher, daß inzwischen die Antwort von Amsterdam eingetroffen war und daß der Erbprinz ganz genau wußte, daß ich die Zeit meiner Abwesenheit in Wolfenbüttel verbracht hattte.

Daturi sagte mir, man erwarte mich zum Essen bei Nicolini. Darauf hatte ich gerechnet; denn ich hatte von keinem Menschen Abschied genommen. Bei diesem Essen erhielt ich nun eine reiche Genugtuung: wir waren beim Braten, als ein Lakai des Prinzen mit dem von mir geprügelten Juden eintrat. Der arme Mensch kam mit der demütigsten Miene auf mich zu und sagte: »Ich komme auf Befehl, um Sie, mein Herr, sehr um Entschuldigung dafür zu bitten, daß ich die Echtheit Ihres Wechsels auf die Amsterdamer Bank angezweifelt habe. Ich bin dafür bestraft worden, indem ich die Provision verloren habe, die Sie mir bewilligt hatten.«

Ich antwortete ihm: »Ich wünschte, Sie hätten nur diese Strafe erhalten.«

Er machte mir eine tiefe Verbeugung, sagte, ich sei zu gütig, und ging hinaus.

In meinem Gasthof fand ich ein Briefchen von Redegonda, die mir die zärtlichsten Vorwürfe machte, daß ich während meines ganzen Aufenthaltes in Braunschweig sie nicht ein einziges Mal besucht hätte.

»Ich bitte Sie, bei mir in einem kleinen Häuschen zu frühstücken, das ich draußen vor der Stadt bewohne. Meine Mutter wird nicht dabei sein, wohl aber eine junge Dame, die Sie kennen, und die Sie, davon bin ich überzeugt, mit Vergnügen wiedersehen werden.«

Ich liebte Redegonda und hatte sie in Braunschweig nur darum vernachlässigt, weil ich mich nicht in der Laqe befand, ihr ein hübsches Geschenk machen zu können. Ich beschloß daher, ihrer Einladung Folge zu leisten, zumal da ich ein wenig neugierig war, was das für eine junge Dame sein möchte, von der sie sprach.

Pünktlich zur verabredeten Stunde fand ich mich ein. Redegonda war reizend; sie empfing mich in einem hübschen Salon im Erdgeschoß und hatte eine junge Virtuosa bei sich, die ich kurz vor meiner Einkerkerung unter den Bleidächern als Kind gekannt hatte. Ich tat, wie wenn ich sie mit Vergnügen wiedersähe, beschäftigte mich aber hauptsächlich nur mit Redegonda, der ich viele Komplimente über ihre hübsche Wohnung machte. Sie sagte mir, sie habe sie auf sechs Monate gemietet, benutze sie aber nicht zum Übernachten.

Nachdem wir den Kaffee getrunken hatten, wollten wir gerade ausgehen, um einen Spaziergang zu machen, als der Prinz eintrat, der sich mit einem angenehmen Lächeln bei Redegonda entschuldigte, daß er zufällig unsere Unterhaltung gestört habe.

Das Erscheinen des Prinzen klärte mich über die Stellung meiner liebenswürdigen Landsmännin auf, und ich begriff nun, warum sie in ihrem Briefe die Stunde meines Besuches so genau angegeben hatte. Redegonda hatte bereits die Eroberung des liebenswürdigen Fürsten gemacht, der stets galant war, aber im ersten Jahre seiner Ehe mit einer Schwester des Königs von England sich verpflichtet glaubte, auf diesen Abwegen der Liebe sein Inkognito zu wahren.

Wir gingen eine Stunde lang spazieren und unterhielten uns von London und Berlin, aber vom Wechsel und vom Juden wurde kein Wort gesprochen. Er war entzückt von meinem Lobe seiner Wolfenbüttler Bibliothek und lachte herzlich, als ich ihm sagte, ohne die geistige Nahrung würde ich infolge des schlechten Essens in meinem Gasthof um die Hälfte abgemagert sein.

Nachdem er seine Nymphe sehr freundlich gegrüßt hatte, verließ er uns, stieg wieder zu Pferde und sprengte davon.

Ich dachte nicht daran, Redegonda um neue Liebesbezeigungen zu bitten, sondern riet ihr im Gegenteil, dem Prinzen, den ihre Reize gefesselt hatten, treu zu bleiben; sie wollte jedoch nicht zugeben, daß irgendein Verhältnis bestehe, obwohl doch der Augenschein keine Täuschung zuließ. Das gehörte nun einmal zu ihrer Rolle, und ich nahm es ihr daher weiter nicht übel.

Nachdem ich den Rest des Tages in meinem Gasthof verbracht hatte, fuhr ich am anderen Morgen in aller Frühe ab.

In Magdeburg überbrachte ich einem Offizier einen Brief, den General Bekw…. mir für ihn gegeben hatte. Er zeigte mir die ganze Festung und behielt mich drei Tage bei sich. Ich genoß die Freuden der Tafel, der Liebe und des Spiels, aber ich war nüchtern, schonte meine Gesundheit und vermehrte meine Barschaft in bescheidener Weise, da ich mir bescheidene Grenzen gesetzt hatte.

Von Magdeburg fuhr ich geraden Weges nach Berlin, ohne mich in Potsdam aufzuhalten; denn der König war nicht da. Die erbärmlichen Wege auf dem preußischen Sandboden waren schuld, daß ich drei Tage brauchte, um achtzehn deutsche Meilen zurückzulegen. Preußen ist ein Land, wo Gewerbefleiß und Gold Wunder wirken könnten; aber ich bezweifle, daß man jemals ein wohlhabendes Land daraus machen wird.

Ich stieg im Hotel de Paris ab, wo ich alles so fand, wie es für meine Ansprüche und für meine Börse paßte. Die Inhaberin, Madame Rufin, war eine ausgezeichnete Wirtin von echt französischer Liebenswürdigkeit; sie hatte es verstanden, ihren Gasthof in guten Ruf zu bringen. Nachdem ich mich in einem sehr schönen Zimmer eingerichtet hatte, kam sie zu mir und fragte mich, ob ich zufrieden sei. Wir trafen genaue Abmachungen über alles. Sie hielt Table d’hôte, und die Gäste, die auf ihrem Zimmer aßen, zahlten das Doppelte.

»Diese Einrichtung«, sagte ich zu ihr, »mag für Sie bequem sein, mir aber paßt sie augenblicklich nicht. Ich will auf meinem Zimmer essen, aber nicht das Doppelte bezahlen; ich werde bezahlen, wie wenn ich an der Table d’hôte äße, stelle Ihnen jedoch frei, mir nur die Hälfte der Speisen auftragen zu lassen.«

»Ich bin damit einverstanden, aber unter der Bedingung, daß Sie mit mir zu Abend speisen; dies geht obendrein, und Sie werden bei meinem kleinen Souper nur liebenswürdige Freunde finden.«

Ich fand den Vorschlag so eigentümlich, daß ich beinahe laut herausgelacht hätte; da ich ihn aber zugleich sehr vorteilhaft fand, so nahm ich ihn an und dankte ihr so herzlich und freundschaftlich, wie wenn wir uns schon seit langen Jahren gekannt hätten.

Da ich an diesem Tage ruhebedürftig war, aß ich erst am nächsten Abend bei ihr. Frau Rufin hatte einen Mann, der die Küche besorgte, und einen Sohn; beide kamen niemals zum Abendessen. Als ich zum ersten Male daran teilnahm, fand ich einen alten Herrn, der sehr vernünftige Ansichten und ein sehr angenehmes Benehmen hatte; er wohnte in dem Zimmer neben mir und war ein Baron von Treidel. Seine Schwester hatte den Herzog von Kurland, Johann Ernst Birlen oder Biron, geheiratet. Dieser sehr liebenswürdige Baron wurde mein Freund und blieb es während der zwei Monate, die ich in Berlin verbrachte. Ferner fand ich einen Hamburger Kaufmann, Namens Greve, nebst seiner Frau, die er kurz vorher geheiratet hatte. Er war mit ihr nach Berlin gekommen, um ihr die Wunder des kriegerischen Hofstaats zu zeigen. Die junge Frau war ebenso liebenswürdig wie ihr Mann, und ich machte ihr eifrig, aber in allen Ehren, den Hof. Der vierte war ein sehr fröhlicher Herr, namens Noël; er war der einzige Koch Seiner Preußischen Majestät, die sehr große Stücke auf ihn hielt. Dieser Herr Noël kam nur selten zum Abendessen bei seiner Landsmännin und guten Freundin, denn sein Amt fesselte ihn an die Küche des Königs, der nicht wie ein Lukullus lebte: er hatte, wie gesagt, nur diesen einen Koch, und Noël hatte nur einen einzigen Gehilfen oder Küchenjungen.

Herr Noël, der Gesandte der französischen Republik im Haag, ist, wie man mir versichert hat, der Sohn dieses Kochs, der übrigens ein sehr liebenswürdiger Mann war. Beiläufig möchte ich bemerken, daß ich trotz meinem Abscheu vor dem französischen Direktorium es durchaus nicht übel finde, wenn ein verdienstvoller Mann, ohne Rücksicht auf seine Geburt, für die er ja nicht kann, zu Ämtern verwandt wird, die gewöhnlich nur den privilegierten Ständen offen stehen und oft genug von Dummköpfen verwaltet werden.

Ohne den Vater Noël, oder vielmehr ohne die Geschicklichkeit dieses Kochkünstlers, würde der berühmte atheistische Arzt Lamettrie nicht an einer Magenüberladung gestorben sein; denn die Pastete, von der er bei Lord Tyrconel im Übermaß aß, war von Noël zubereitet worden.

Lamettrie speiste oft bei Madame Rufin, und ich bedauerte sehr, daß er so früh gestorben war; denn ich hätte ihn gerne kennen gelernt, da er gelehrt und außerordentlich fröhlich war. Er starb lachend, obgleich man behauptet, daß es keine schmerzhaftere Todesart gebe als die infolge einer Magenüberladung. Voltaire sagte mir, er glaube nicht, daß es einen entschiedeneren Atheisten gegeben habe als Lamettrie, und jedenfalls keinen mit gründlicheren Kenntnissen; ich war davon überzeugt, nachdem ich seine Werke gelesen hatte. Der König von Preußen hielt in eigener Person in der Akademie die Leichenrede auf diesen Arzt und sagte: es sei nicht zu verwundern, daß Lamettrie nur die Materie habe gelten lassen; denn allen Geist, den es gebe, habe er selber besessen. Nur ein König kann sich in einer ernsten Leichenrede einen solchen Witz erlauben. Dies beweist aber zur Genüge, daß der große Mann als Redner kein Wort von dem glaubte, was er sagte. Übrigens war der große Friedrich niemals Atheist – er war Deist; darauf kommt es jedoch weniger an, da der Glaube an einen Gott niemals seine Lebensweise noch seine Handlungen beeinflußt hat. Man behauptet, ein Atheist, der sich mit Gott beschäftige, sei besser als ein Christ, der niemals an ihn denke. Ich möchte diese Frage nicht entscheiden.

Der erste Besuch, den ich in Berlin machte, galt Herrn Casalbigi, dem jüngeren Bruder dessen, mit dem ich mich im Jahre 1757 in Paris zusammengetan hatte, um dort Lotterien einzurichten. Dieser Casalbigi, den ich in Berlin traf, hatte Paris und seine Frau, die sogenannte Generalin La Motte, verlassen, um in Brüssel die Lotterie einzurichten. Dort hatte er zu luxuriös gelebt und im Jahre 1762 Bankerott gemacht, obgleich Graf Cobenzl alles aufgeboten hatte, um ihn zu halten. Er hatte fliehen müssen, war mit einer ziemlich guten Ausstattung nach Berlin gekommen und hatte sich dem König von Preußen vorgestellt. Da er gut zu sprechen wußte, gelang es ihm, den Herrscher zu überreden, die Lotterie in seinem Staate einzuführen, ihm die Leitung anzuvertrauen und ihm den Titel eines Staatsrats zu geben. Er versprach Seiner Majestät einen Jahresgewinn von mindestens zweihundeittausend Talern und verlangte für sich selber nur zehn Prozent von der Einnahme und die Kosten der Verwaltung.

Seit zwei Jahren war die Lotterie eingerichtet. Sie ging gut, denn bis dahin hatte noch keine unglückliche Ziehung stattgefunden. Der König war jedoch immer in Angst, weil er wußte, daß dieser Fall eintreten konnte. Um dieser Angst ein Ende zu machen, sagte er Casalbigi, er wolle die Lotterie nicht mehr auf seine eigene Rechnung führen; er überlasse sie ihm und begnüge sich in Zukunft mit hunderttausend Talern jährlich. Soviel kostete ihm sein italienisches Theater jährlich.

Ich machte bei Casalbigi meinen ersten Besuch gerade an dem Tage, wo der König ihm seinen Entschluß hatte mitteilen lassen. Nachdem wir von unseren früheren Beziehungen und von den Wechselfällen unseres Lebens gesprochen hatten, erzählte er mir von dem Ereignis, das ihm ganz unerwartet kam. Er sagte mir, die nächste Ziehung gehe noch für Rechnung des Königs; er müsse jedoch durch öffentliche Anschläge das Publikum davon in Kenntnis setzen, daß vom nächsten Ziehungstage an der König nichts mehr damit zu tun habe. Er brauche ein Grundkapital von zwei Millionen Talern; denn sonst werde die Lotterie nicht bestehen können, weil natürlich kein Mensch spielen würde, wenn er nicht die sichere Gewißheit hätte, daß er im Falle eines Gewinnes sein Geld erhalten würde. Er versprach mir zehntausend Taler jährlich, wenn es mir gelänge, den König zur Zurücknahme seines Entschlusses zu bewegen. Um mich zu ermutigen, erinnerte er mich daran, daß ich vor sieben Jahren gleich nach meiner Ankunft in Paris das Talent besessen hätte, den ganzen Rat der Militärschule von der Gewißheit des Gewinnes zu überzeugen. »Es ist ein deutliches Zeichen von den Göttern,« rief er, »und es ist kein Aberglaube, wenn ich annehme, daß der Schutzgeist der Lotterie Sie in diesem Augenblick nach Berlin geführt hat.«

Ich lachte über seine Illusionen und bedauerte ihn. Ich bewies ihm die Unmöglichkeit, jemanden zu überzeugen, der auf alle Gründe mit dem Gegengrunde antwortet: »Ich habe Furcht und ich will nicht mehr Furcht haben.«

Er bat mich, zum Essen zu bleiben, und stellte mich seiner Frau vor. Diese Vorstellung bereitete mir eine doppelte Überraschung: die erste, weil ich glaubte, daß die Generalin la Motte noch am Leben sei; die zweite, als ich in der neuen Frau Casalbigi Fräulein Bélanger erkannte. Ich richtete die üblichen Komplimente an sie und erkundigte mich dann nach ihrer Mutter. Sie stieß einen tiefen Seufzer aus und bat mich, nicht von ihrer Familie zu sprechen, denn sie würde mir nur Unglück mitzuteilen haben.

Ich hatte Frau Bélanger in Paris kennen gelernt; sie war die Witwe eines Börsenmaklers, hatte nur eine einzige Tochter und schien wohlhabend zu sein. Als ich nun diese ziemlich hübsche Tochter verheiratet sah und sich über ihr Schicksal beklagen hörte, war ich ein wenig in Verlegenheit; doch war meine Neugier ebenso groß. Nachdem Casalbigi mich instand gesetzt hatte, ein sehr günstiges Urteil über seinen Koch abzugeben, wollte er mir auch die Güte seiner Pferde und die Schönheit seines Wagens zeigen. Er bat mich, seine Gemahlin auf ihrer Spazierfahrt zu begleiten und dann zum Abendessen zu bleiben, denn das Abendessen sei seine beste Mahlzeit.

Als wir im Wagen saßen, fragte ich sie gesprächsweise, welcher glücklichen Fügung sie es verdanke, mit Casalbigi vermählt zu sein.

»Seine Frau lebt noch, ich habe also nicht das Unglück, seine Gattin zu sein, aber in Berlin hält mich jedermann dafür. Vor drei Jahren sah ich mich plötzlich meiner Mutter beraubt und von allen Mitteln entblößt; denn meine Mutter lebte von einer Leibrente. Da ich keine reichen Verwandten hatte, von denen ich Hilfe erwarten konnte, und eine solche Hilfe nicht um den Preis meiner Ehre erkaufen wollte, lebte ich zwei Jahre lang vom Verkauf der Möbel und anderer Sachen, die meiner verstorbenen Mutter gehört hatten. Ich wohnte bei einer guten Frau, die vom Sticken lebte. Ich lernte von ihr sticken und ging nur Sonntags aus, um die Messe zu besuchen. Ich wurde von Traurigkeit verzehrt, doch verlor ich die Hoffnung nicht. Je mehr mein kleines Vermögen zusammenschmolz, desto fester hoffte ich auf die Hilfe der Vorsehung; als ich aber meinen letzten Heller ausgegeben hatte, empfahl ich mich Herrn Brea aus Genua, den ich für unfähig hielt, mich zu täuschen. Ich mußte ihn bitten, mir eine Stellung als gewöhnliches Kammermädchen zu verschaffen, wofür ich die nötigen Fähigkeiten zu besitzen glaubte. Er versprach mir, sich damit zu beschäftigen, und nach fünf oder sechs Tagen machte er mir einen Vorschlag: er zeigte mir einen Brief von Casalbigi, den ich nie gekannt hatte, und der ihn beauftragte, ihm eine anständige junge Dame von guter Geburt und Erziehung und von angenehmem Gesicht nach Berlin zu schicken; er habe die Absicht, sie zu heiraten, sobald seine alte und krante Frau nicht mehr lebe. Da die gewünschte Person wahrscheinlich nicht reich sein werde, bat er Herrn Brea, ihr fünfzig Louis zu geben, um ihre Toilette in Ordnung zu bringen, und weitere fünfzig Louis, um mit einer Zofe nach Berlin zu reisen. Herr Brea hatte ferner Vollmacht, sich im Namen Casalbigis gesetzlich zu verpflichten, daß das Fräulein in Berlin als seine Gemahlin empfangen werden und als solche allen, die in seinem Hause verkehrten, vorgestellt werden sollte; außerdem sollte das Fräulein eine Kammerzofe nach ihrer eigenen Wahl haben, dazu Wagen und Pferde, angemessene Garderobe und monatlich eine gewisse Summe als Nadelgeld, worüber sie nach ihrem Belieben verfügen könnte. Er verpflichtete sich, sie nach einem Jahre freizulassen, wenn seine Gesellschaft ihr nicht gefiele; in diesem Falle würde er ihr hundert Louis geben, und sie könnte alle Ersparnisse und die von ihm geschenkten Sachen behalten. Wenn das Fräulein einverstanden wäre, so lange bei ihm zu bleiben, bis er sie heiraten könnte, würde er ihr zehntausend Taler verschreiben, die als ihr Heiratsgut zu gelten hätten; sollte er aber vorher sterben, so würde sie das Recht haben, sich diese zehntausend Taler von seiner Hinterlassenschaft auszahlen zu lassen.

»Mit allen diesen schönen Versprechungen wußte Brea mich zu überreden, mein Vaterland zu verlassen, um mich hier zu entehren; denn obgleich mir alle Welt die Ehre erweist, die man einer anständigen Frau zugesteht, so weiß man doch wahrscheinlich nur zu gut, was ich tatsächlich bin. Vor sechs Monaten bin ich hier angekommen, und ich war noch nicht einen Augenblick glücklich.«

»Aber hat er denn nicht die Abmachungen gehalten, die zwischen Ihnen und Brea vereinbart wurden?«

»Ich bitte um Verzeihung – eine erschütterte Gesundheit gestattet Casalbigi nicht, darauf zu hoffen, daß er seine Frau überleben werde; wenn er aber vor ihr stirbt, habe ich nichts; denn die zehntausend Taler, die er mir verschrieben hat, sind alsdann kein Heiratsgut. Er ist überschuldet und bei der Verteilung seiner Hinterlassenschaft werden seine anderen Gläubiger mir vorgehen. Außerdem ist er mir unerträglich, gerade weil er mich zu sehr liebt. Sie werden mich wohl verstehen. Er tötet sich bei Kleinem, und gerade das macht mich untröstlich.«

»Auf alle Fälle können Sie in sechs Monaten nach Paris zurückkehren oder sonst tun, was Sie wollen, sobald das Jahr des Vertrages abgelaufen ist. Sie werden hundert Louis erhalten und eine schöne Ausrüstung besitzen.«

»Dann werde ich mich gerade erst recht entehren, einerlei ob ich nach Paris zurückkehre oder ob ich hier bleibe. Ich bin recht unglücklich, soviel ist sicher, und der gute Brea ist schuld daran. Trotzdem kann ich es ihm nicht übel nehmen, denn er wußte ohne Zweifel nicht, daß sein Freund hier nur Schulden hat. Jetzt, da der König seine Garantie zurückziehen will, wird die Lotterie zusammenkrachen, und Casalbigis Bankerott wird die unausbleibliche Folge davon sein.«

In der Erzählung des armen Mädchens war nichts übertrieben, und ich mußte zugeben, daß sie zu beklagen war. Ich riet ihr, sie solle Casalbigis Verschreibung der zehntausend Taler zu verkaufen suchen; denn er könne dagegen nichts einzuwenden haben.

»Ich habe auch daran gedacht,« antwortete sie mir; »aber dafür würde ich einen Freund nötig haben, denn ich sehe voraus, daß ich den Schein nur mit großem Verlust werde verkaufen können.«

Ich versprach ihr, daran zu denken.

Beim Abendessen waren wir zu vieren. Der vierte war ein junger Mann, der bei der Lotterie in Paris, später in Brüssel angestellt gewesen war; er war Casalbigis Glücksstern nach Berlin gefolgt. Er war in die Bélanger verliebt, schien mir jedoch kein glücklicher Liebhaber zu sein.

Beim Nachtisch bat Casalbigi mich um meine Meinung über einen von ihm niedergeschriebenen Plan, den er veröffentlichen wollte, um sich die zwei Millionen zu verschaffen, deren er zur Aufrechterhaltung seines Kredits bedurfte.

Die Dame des Hauses zog sich zurück, damit wir ungestört beraten könnten. Diese Frau, die etwa vierundzwanzig oder fünfundzwanzig Jahre alt sein mochte, hatte alles, was nötig war, zu gefallen; sie glänzte zwar nicht durch ihren Geist, aber sie hatte ein weltgewandtes Benehmen, und das ist bei einer Frau mehr wert als Geist. Sie flößte mir durch ihr Vertrauen, das sie mir entgegenbrachte, nur Gefühle der Achtung und Freundschaft ein, und das war mir lieb.

Casalbigis Plan war kurz, aber klar und deutlich abgefaßt. Er lud alle Kapitalisten von öffentlich bekanntem Vermögen ein, nicht etwa in der Lotteriekasse einen Betrag in barem Gelde einzuzahlen, sondern mit ihren Namen für irgendeine beliebige Summe zu zeichnen, für die sie unzweifelhaft gut sein würden. Sollte der Fall eintreten, daß die Lotterie einen Verlust erlitte, so würde jeder im Verhältnis zur garantierten Summe seinen Anteil beizutragen haben, und in demselben Verhältnis würden die Gewinne unter allen Bürgen verteilt werden.

Ich versprach ihm, meine Bemerkungen zu seinem Plane ihm am nächsten Tage schriftlich mitzuteilen. Der Plan, den ich an die Stelle des seinigen setzte, lautete folgendermaßen:

1. Ein Grundkapital von einer Million müßte genügen.

2. Diese Million müßte in hundert Aktien zu je zehntausend Taler geteilt werden.

3. Jeder Aktionär müßte sich vor einem bestimmten Notar verpflichten, und dieser Notar müßte für die Aktien, das heißt für die Zahlungsfähigkeit des Aktionärs, bürgen.

4. Die Dividende würde stets am dritten Tage nach der Ziehung verteilt werden.

5. Im Falle eines Verlustes müßte der Aktionär den Betrag seiner Aktie ergänzen und zwar wieder vor dem Notar.

6. Ein Kassierer, der von vier Fünfteln der Aktionäre erwählt würde, müßte den Lotteriekassierer kontrollieren, in dessen Händen die baren Geldeinnahmen stets verblieben.

7. Die Gewinne würden am Tage nach der Ziehung ausbezahlt werden.

8. Am Tage vor der Ziehung würde der Kassierer der Lotterie das eingenommene bare Geld dem Kassierer der Aktionäre vorzählen; dieser würde die Kasse mit drei Schlüsseln verschließen. Einen von diesen würde er behalten, den zweiten bekäme der zweite Kassierer und den dritten der Direktor der Lotterie.

9. Einsätze würden nur für Auszug, Ambo und Terno angenommen; Quaterno und Quino würden unterdrückt, weil diese beiden Kombinationen zu große Verluste ermöglichen könnten.

10. Der Einsatz auf die drei Kombinationen: Auszug, Ambo und Terno dürfte nicht weniger als vier Groschen und nicht mehr als einen Taler betragen; die Annahmestelle würde vierundzwanzig Stunden vor der Ziehung geschlossen.

11. Der zehnte Teil der Einnahme würde Casalbigi als Generaldirektor der Lotterie gehören; dafür hätte er aber alle Verwaltungskosten zu übernehmen.

12. Er sollte das Recht haben, zwei Aktien zu besitzen, ohne daß ein Notar für seine Zahlungsfähigkeit bürgte.

Ich sah an Casalbigis Gesicht, daß mein Plan ihm nicht gefiel, und prophezeite ihm, daß er Aktionäre nur zu diesen Bedingungen oder zu noch weniger günstigen finden werde.

Er hatte aus der Lotterie eine Art Biribi gemacht; sein Luxus erregte Anstoß; man wußte, daß er überschuldet war, und der König mußte natürlich befürchten, daß früher oder später irgend eine Gaunerei vorfallen würbe, obwohl er einen Kontrolleur hatte, der rechnen konnte.

Die letzte Ziehung, die unter der Garantie des Königs stattfand, erregte die Heiterkeit der ganzen Stadt: denn die Lotterie verlor zwanzigtausend preußische Taler. Der König schickte den Betrag sofort seinem Geheimrat Casalbigi; er sollte, als er das Resultat der Ziehung vernommen hatte, laut aufgelacht und gesagt haben: »Ich hatte es ja vorausgesehen, und ich danke dem Zufall, daß ich so billig davon gekommen bin.«

Ich glaubte, zum Abendessen zum Direktor gehen zu müssen, um ihn zu trösten. Er war ganz bestürzt; denn er stellte die sehr natürliche, aber auch sehr unangenehme Betrachtung an, daß es infolge dieser unglücklichen Ziehung noch schwieriger sein werde, reiche Leute zu finden, die die Mittel für die Lotterie hergeben könnten. Es war das erste Mal, daß die Lotterie verlor, aber dieser Unfall konnte wirklich nicht ungelegener kommen.

Casalbigi verlor trotzdem nicht den Mut; gleich am nächsten Tage tat er neue Schritte und benachrichtigte das Publikum durch einen gedruckten Anschlag: Die Annahmestellen würden geschlossen bleiben, bis man neue Mittel beschafft habe, um die Spieler sicher zu stellen, die auch in Zukunft ihr Geld riskieren wollten.

Neunzehntes Kapitel


Mylord Keith. – Audienz beim König von Preußen im Park von Sanssouci. – Meine Unterhaltung mit dem Monarchen. – Die Denis. – Die pommerschen Kadetten. – Lambert. – Reise nach Mitau. – Meine ausgezeichnete Aufnahme bei Hofe und meine Reise zum Zwecke von Verwaltungsstudien.

Am fünften Tage nach meiner Ankunft in Berlin stellte ich mich dem Lord Marishal vor, der seit dem Tode seines Bruders Mylord Keith genannt wurde. Ich hatte ihn zum letzten Male in London gesehen, als er von Schottland zurückreiste; man hatte ihm die Familiengüter zurückgegeben, die von der Regierung konfisziert worden waren, als er und sein Bruder dem König James folgten. Er verdankte die Wiedereinsetzung in seinen Besitz dem Einfluß des Großen Friedrich. Mylord Keith lebte damals in Berlin, wo er auf seinen Lorbeeren ausruhte und sich des Friedens erfreute. Er war immer noch ein Liebling des Königs, mischte sich aber wegen seines hohen Alters in keine Hofangelegenheiten mehr ein.

Er sagte mir in der ihm eigenen einfachen Art, er sehe mich mit Vergnügen wieder; hierauf fragte er mich, ob ich die Absicht habe, eine Zeitlang in Berlin zu bleiben. Da er zum Teil die Wechselfälle meines Lebens kannte, so antwortete ich ihm, ich würde mich gern dauernd niederlassen, wenn der König mir eine Anstellung gäbe, die meinen Kenntnissen entspräche. Als ich ihn aber um seine Protektion zur Erlangung einer solchen Stellung bat, antwortete er mir: »Ich würde Ihnen mehr schaden als nützen, wenn ich versuchen wollte, den König vorher zu Ihren Gunsten zu beeinflussen. Seine Majestät tut sich nämlich etwas darauf zugute, ein ganz besonderer Menschenkenner zu sein, und urteilt daher gern nach eigener Überzeugung. So kommt es denn ziemlich oft vor, daß er Verdienste entdeckt, wo kein Mensch solche auch nur vermutet hätte, und umgekehrt. Ich rate Ihnen, dem König zu schreiben, daß Sie nach der Ehre einer Unterredung streben. Wenn Sie mit ihm sprechen, können Sie ihm beiläufig sagen, daß Sie mich kennen, und ich zweifle nicht, daß er mir dann Gelegenheit geben wird, von Ihnen zu sprechen; Sie können sich denken, daß meine Auskunft Ihnen nicht schaden wird.«

»Ich, Mylord, soll an einen König schreiben, zu dem ich nicht die geringsten Beziehungen habe? Ein solcher Schritt ist mir nie in den Sinn gekommen.«

»Das glaube ich wohl, aber wünschen Sie nicht mit ihm zu sprechen?«

»Gewiß.«

»Nun, da haben Sie ja die Beziehungen. Ihr Brief braucht weiter nichts zu enthalten, als daß Sie ihn zu sprechen wünschen.«

»Wird der König mir antworten?«

»Ohne allen Zweifel; denn er antwortet einem jeden. Er wird Ihnen mitteilen, wo und zu welcher Stunde er Sie empfangen will. Folgen Sie meinem Rat! Seine Majestät ist jetzt in Sanssouci. Ich bin neugierig auf das Gespräch, das Sie mit dem Herrscher haben werden, der, wie Sie sehen, keine Furcht hat, daß ihm jemand blauen Dunst vormacht.«

Ich ging nach Hause, setzte mich an meinen Schreibtisch und schrieb dem König einen ganz einfachen und sehr ehrfurchtsvollen Brief, in dem ich fragte, wo und wann ich mich Seiner Majestät vorstellen dürfte.

Am zweiten Tage darauf erhielt ich einen Brief mit der Unterschrift Frédéric; man bestätigte mir den Empfang meines Briefes und teilte mir mit, daß der König sich um vier Uhr im Park von Sanssouci befinden würde.

Wie man sich denken kann, war ich pünktlich zur Stelle. In einen einfachen schwarzen Anzug gekleidet, begab ich mich um drei Uhr nach Sanssouci. Im Schloßhof sah ich keinen Menschen, nicht einmal eine Schildwache; ich ging eine kleine Treppe hinauf, öffnete eine Tür und befand mich in einer Bildergalerie. Der Aufseher kam auf mich zu und erbot sich, mich zu führen. Ich antwortete ihm: »Ich komme nicht, um diese Meisterwerke der Malerei zu bewundern, sondern um den König zu sprechen, der mir geschrieben hat, daß er im Park sein werde.«

»Er ist in diesem Augenblick bei seinem kleinen Konzert, wo er die Flöte spielt. Das tut er jeden Tag nach Tisch. Hat er Ihnen die Stunde bezeichnet?«

»Ja, um vier Uhr; aber er wird es vergessen haben.«

»Der König vergißt niemals etwas; er wird pünktlich sein, und Sie tun gut, wenn Sie ihn im Park erwarten.«

Ich befand mich seit einigen Augenblicken im Park, als ich ihn mit seinem Vorleser und einer hübschen Windhündin erscheinen sah. Sobald er mich bemerkte, ging er auf mich zu, nahm seinen alten Hut ab, nannte meinen Namen und fragte mich in barschem Ton, was ich von ihm wollte. Überrascht von diesem Empfang, konnte ich kein Wort hervorbringen; ich sah ihn nur an, ohne ihm zu antworten.

»Nun, so sprechen Sie doch! Haben Sie mir denn nicht geschrieben?«

»Ja, Sire; aber ich erinnere mich an nichts mehr. Ich konnte wohl glauben, daß die Majestät eines Königs mich nicht blenden würde! Doch in Zukunft soll mir dies nicht wieder begegnen. Mylord Marishal hätte mich warnen sollen.«

»Er kennt Sie also? Wir wollen ein wenig gehen. Worüber wollten Sie mit mir sprechen? Was sagen Sie zu meinem Park?«

Während er mich fragt, worüber ich mit ihm sprechen wolle, befiehlt er mir zugleich, mein Urteil über seinen Park zu sagen! Jedem anderen hätte ich geantwortet, daß ich nichts davon verstände; aber da der König geruhte, mich für einen Kenner zu halten, so hätte es ausgesehen, wie wenn ich ihm unrecht geben wollte, und das verzeiht ein König niemals, selbst wenn er ein Philosoph ist. Auf die Gefahr hin, einen schlechten Geschmack zu zeigen, antwortete ich daher, ich fände den Garten prachtvoll.

»Aber der Park von Versailles ist doch viel schöner.«

»Allerdings Sire, aber hauptsächlich wegen der Wasserkünste.«

»Ganz recht; aber das ist nicht meine Schuld: hier gibt es kein Wasser. Ich habe mehr als dreihunderttausend Taler ausgegeben, um Wasser zu bekommen; aber ohne Erfolg.«

»Dreihunderttausend Taler, Sire! Wenn Eure Majestät die ganze Summe auf einmal ausgegeben hätten, müßte Wasser da sein.«

»Ah, ich sehe, Sie sind Ingenieur, der sich mit Hydraulik befaßt.«

Hätte ich ihm sagen sollen, daß er sich täuscht? Ich fürchtete ihm zu mißfallen und senkte nur den Kopf; das hieß weder ja noch nein. Glücklicherweise dachte der König nicht daran, mit mir über diesen Gegenstand zu sprechen; so blieb mir eine große Verlegenheit erspart, denn ich kannte nicht einmal die ersten Anfangsgründe dieser Wissenschaft.

Während wir gingen, drehte er fortwährend den Kopf nach rechts und nach links; er fragte mich, welche Streitkräfte Venedig im Kriegsfalle zu Wasser und zu Lande habe. Hier befand ich mich, Gott sei Dank, auf sicherem Boden!

»Zwanzig Schlachtschiffe, Sire, und eine große Menge Galeren.«

»Und wieviele Landtruppen?«

»Siebzigtausend Mann, Sire; lauter Untertanen der Republik, auf jedes Dorf nur einen einzigen Mann gerechnet.«

»Das ist nicht wahr. Sie wollen mich wohl zum Lachen bringen, indem Sie mir derartige Fabeln erzählen? Aber Sie sind sicherlich Finanzmann. Sagen Sie nur, was Sie von der Steuer halten?«

Es war die erste Unterredung, die ich mit einem König hatte. Es kam mir vor, wie wenn ich eine Szene in einer italienischen Komödie zu spielen hätte, wo der Schauspieler zu improvisieren hat und, wenn er stecken bleibt, sofort ausgepfiffen wird. Ich legte also mein Gesicht in würdige Falten und antwortete dem stolzen Herrscher, ich könnte über die Theorie der Steuer sprechen.

»Das will ich ja gerade; denn die Praxis geht Sie nichts an.«

»Im Hinblick auf die Wirkungen sind drei Arten von Steuern zu unterscheiden: die eine ist verderblich; die zweite leider notwendig, die dritte stets ausgezeichnet.«

»Gut so. Nur weiter!«

»Die verderbliche Steuer ist die königliche; die notwendige ist die militärische; die ausgezeichnete ist die Steuer, die dem Volk zugute kommt.«

Da ich über das Thema nicht vorher nachgedacht hatte, so warf ich einige Gedanken hin, wie sie mir gerade in den Sinn kamen; dabei mußte ich aber doch vorsichtig sein und mich hüten, Unsinn zu sprechen.

Ich fuhr fort:

»Die königliche Steuer, Sire, ist diejenige, die die Börsen der Untertanen erschöpft, um die Geldkisten des Herrschers zu füllen.«

»Und diese Steuer ist stets verderblich, sagen Sie?«

»Stets, Sire; denn sie schadet dem Geldumlauf, der die Seele des Handels und die Stütze des Staates ist.«

»Aber Sie finden die Steuer notwendig, die zur Unterhaltung der Heere dient?«

»Sie ist leider notwendig. Leider – denn der Krieg ist ein Unglück.«

»Das kann wohl sein; und die Steuer, die dem Volk dient?«

»Diese ist stets ausgezeichnet; denn der König nimmt seinen Untertanen mit der einen Hand und gibt ihnen mit der anderen; dadurch erzieht er sie zu gemeinnützigem Denken. Er begründet die notwendigen gewerblichen Unternehmungen, beschützt Wissenschaften und Künste, die dazu beitragen, das Geld in Umlauf zu bringen; endlich erhöht er das allgemeine Wohlbefinden durch die Verordnungen, die ihm seine Weisheit eingibt, um diese Steuer so zu verwenden, wie sie den Massen am besten nützt.«

»Es liegt etwas Wahres darin. Sie kennen ohne Zweifel Casalbigi?«

»Ich muß ihn wohl kennen, Sire; denn vor sieben Jahren haben wir beide zusammen die Genueser Lotterie in Paris eingeführt.«

»Und zu welcher der drei Arten rechnen Sie diese Steuer? Denn Sie werden mir zugeben, daß die Lotterie eine Steuer ist.«

»Gewiß, und zwar keine von den unbedeutendsten. Es ist eine Steuer von der guten Art, wenn der König die Erträgnisse zu nützlichen Ausgaben verwendet.«

»Aber der König kann daran verlieren.«

»Einmal auf fünfzig.«

»Ist dies das Ergebnis einer sicheren Berechnung?«

»Einer so sicheren, Sire, wie alle nationalökonomischen Berechnungen sind.«

»Diese sind oft fehlerhaft.«

»Niemals, Sire, wenn Gott neutral bleibt.«

»Warum wollen Sie Gott hineinmischen?«

»Nun, dann also das Schicksal oder der Zufall, Sire.«

»Das lasse ich gelten. Übrigens denke ich vielleicht wie Sie über Wahrscheinlichkeitsrechnungen; aber Ihre Genueser Lotterie liebe ich nicht. Sie scheint mir eine richtige Gaunerei zu sein, und ich möchte nichts von ihr wissen, selbst wenn ich die tatsächliche Sicherheit hätte, daß ich niemals verlieren könnte.«

»Eure Majestät denken wie ein Weiser; denn das unwissende Volk kann nur in der Lotterie spielen, wenn es sich von einem blinden und ungerechtfertigten Vertrauen hinreißen läßt.«

Nach diesem etwas zusammenhanglosen Dialog, der dem hohen Geiste des erlauchten Herrschers alle Ehre machte, brachte er das Gespräch noch auf verschiedene Themata, aber er fand mich um die Antworten nicht verlegen. Als wir bei einem Rundtempel mit doppelter Säulenreihe angekommen waren, blieb er vor mir stehen, sah mich vom Kopf bis zu den Füßen an und sagte nach einigen Sekunden:

»Wissen Sie, Sie sind ein sehr schöner Mann.«

»Ist es möglich, Sire, daß Eure Majestät nach einer langen wissenschaftlichen Unterhaltung an mir den geringsten der Vorzüge bemerken können, durch die Ihre Grenadiere sich auszeichnen?«

Der König lächelte fein, aber freundlich und gütig und sagte dann zu mir: »Da Lord Keith Sie kennt, werde ich mit ihm über Sie sprechen.«

Hierauf nahm er seinen Hut ab – mit dieser Höflichkeit geizte er überhaupt gegen keinen Menschen – und grüßte mich. Ich machte ihm eine tiefe Verbeugung und entfernte mich.

Drei oder vier Tage darauf machte Lord Marishal mir die angenehme Mitteilung, daß ich dem König gefallen hätte und daß Seine Majestät daran dächte, mir irgendeine Anstellung zu geben.

Ich war sehr neugierig, für was für eine Stellung der Herrscher mich ausersehen haben könnte, und da ich es durchaus nicht eilig hatte, anderswohin zu gehen, so beschloß ich zu warten. Übrigens gefiel es mir in Berlin nicht schlecht; denn wenn ich nicht bei Casalbigi zu Abend speiste, hatte ich an der Tafel meiner Wirtin die angenehme Gesellschaft des Barons von Treidel; außerdem war der Sommer sehr schön, und ich verbrachte angenehme Stunden im Tiergarten, wo ich mich für gewöhnlich mehr mit meiner Vergangenheit als mit meiner Zukunft beschäftigte, obwohl an der einen nichts mehr zu ändern, die andere aber sehr ungewiß war.

Casalbigi erhielt ohne Mühe die Erlaubnis, die Lotterie für seine eigene Rechnung fortzusetzen oder für Rechnung des ersten besten, der ihm für jede Ziehung sechstausend Taler zahlen wollte. Er erließ die dreiste Ankündigung, daß die Lotterie auf seine eigene Rechnung ginge, machte seine Annahmestellen wieder auf und sah seine Kühnheit vom Glück gekrönt. Obgleich sein Kredit sehr schlecht war, strömten ihm die Spieler in solcher Menge zu, daß er einen Gewinn von fast hunderttausend Talern hatte. Er benutzte diesen, um einen großen Teil seiner Schulden zu bezahlen, und löste die Verschreibung von zehntausend Talern ein, die er seiner Geliebten gegeben hatte. Nach dieser glücklichen Ziehung fand er ohne jede Mühe Bürgen für eine Million Taler, die in tausend Aktien geteilt wurden, und die Lotterie ging zwei oder drei Jahre lang ohne jeden Unfall weiter. Schließlich machte Casalbigi aber doch Bankerott und starb ziemlich arm in Italien. Man konnte ihn mit dem Faß der Danaiden vergleichen: je mehr er verdiente, desto mehr gab er aus. Seine Geliebte wußte die günstigen Umstände zur rechten Zeit zu benützen: sie machte eine vorteilhafte Heirat und kehrte nach Paris zurück, wo sie in angenehmen Verhältnissen lebt.

Zu jener Zeit machte Friedrichs Schwester, die Herzogin von Braunschweig, dem König einen Besuch; sie war von ihrer Tochter begleitet, die im folgenden Jahre den Thronfolger von Preußen heiratete. Aus diesem Anlaß kam der König nach Berlin und ließ auf seiner kleinen Bühne in Charlottenburg eine italienische Oper aufführen. Ich sah an diesem Tage den König von Preußen in einem Rock von Glanzseide, der an allen Nähten mit Gold gestickt war, und in schwarzseidenen Strümpfen. Seine Erscheinung war geradezu komisch; er glich mehr einem Theatergroßpapa als einem Herrscher. Den Hut unterm Arm betrat er den Saal, seine Schwester an der Hand führend. Alle Zuschauer betrachteten ihn mit dem größten Erstaunen, denn nur alte Leute konnten sich erinnern, ihn ohne seinen Uniformrock und seine hohen Stiefel gesehen zu haben.

Ich wußte nicht, daß die berühmte Denis in Berlin war; so war ich denn sehr angenehm überrascht, als ich sie im Ballett auftreten und einen Solotanz zum Entzücken tanzen sah. Ich konnte Anspruch darauf machen, für einen alten Bekannten zu gelten, und bekam daher Lust, ihr gleich am nächsten Tage einen Besuch zu machen.

Ich muß meinen Lesern – vorausgesetzt, daß ich überhaupt jemals Leser habe – ein Geschichtchen aus meiner Jugend erzählen: Als in meinem zwölften Jahre meine Mutter im Begriff stand, nach Dresden abzureisen, wo sie eine Stelle am kurfürstlichen Theater erhalten hatte, ließ sie mich mit meinem guten Doktor Gozzi nach Venedig kommen. Dort sah ich mit Herzklopfen im Theater ein achtjähriges kleines Mädchen ein Menuett mit einer Anmut tanzen, die alle Zuschauer zu stürmischem Beifall hinriß. Diese junge Tänzerin, die Tochter des Schauspielers, der die wichtige Rolle des Pantalon spielte, bezauberte mich dermaßen, daß ich der Versuchung nicht widerstehen konnte, in ihr Ankleidezimmer zu gehen und ihr mein Kompliment zu machen. Ich trug damals die Soutane, und sie war sehr überrascht, als ihr Vater ihr befahl, aufzustehen und mich zu umarmen. Sie tat es jedoch mit großer Anmut, während ich diese unschuldige Gunstbezeigung sehr linkisch empfing. Aber ich war so entzückt, daß ich mich nicht enthalten konnte, von einer Juwelenhändlerin, die gerade da war, einen kleinen Ring zu kaufen, den ich ihr anbot und den sie mit großer Freude annahm. Ich wurde von ihr durch einen Kuß belohnt, den sie mir in der Freude des Herzens und als Zeichen ihrer Dankbarkeit gab.

Das schönste dabei war, daß die Zechine, die der Ring mir gekostet hatte, dem Doktor gehörte. Ich fühlte mich daher, als ich wieder zu ihm in die Loge ging, sehr unbehaglich; denn trotz meiner Liebe zu der kleinen Virtuosa fühlte ich, daß ich eine große Dummheit gemacht hatte – erstens, indem ich über Geld verfügte, das mir nicht gehörte; zweitens, weil ich es wie ein rechter Tor ausgegeben hatte, um bloß einen einfachen Kuß dafür zu erhalten.

Da ich wußte, daß ich am nächsten Morgen Rechenschaft über das mir anvertraute Geld abzulegen hatte, und da ich nicht wußte, wie ich mir eine Zechine verschaffen oder wie ich den Verlust beschönigen sollte, so verbrachte ich eine sehr unruhige Nacht. Am anderen Morgen wurde alles entdeckt, und meine Mutter gab dem Doktor die Zechine. Heute muß ich lachen, indem ich daran denke, wie rot ich damals über meine kindliche Galanterie wurde, die übrigens ein frühes Zeichen der Herrschaft war, die das schöne Geschlecht dereinst über mich ausüben sollte.

Die Händlerin, die mir im Theater den Ring verkauft hatte, kam zu uns, als wir beim Mittagessen saßen, und zeigte ihre Schmucksachen. Als man diese zu teuer fand, fing sie an, mich zu loben, und sagte, ich hätte den Ring nicht teuer gefunden, den ich der kleinen Giovannina geschenkt hätte. Weiter war nichts nötig, um mir meinen Prozeß zu machen. Ich befand mich wie auf glühenden Kohlen, glaubte aber der Sache ein Ende machen zu können, indem ich um Verzeihung bat, alle Schuld auf die Liebe schob und meiner Mutter fest versprach, es solle der letzte Fehltritt sein, den ich aus Liebe begehen werde. Kaum aber sprach ich das Wort Liebe aus, so lachte die ganze Gesellschaft laut auf und machte sich in grausamer Weise über mich lustig. Ich hätte mich am liebsten in die Erde verkrochen und nahm mir innerlich fest vor, es sollte das letzte Mal sein, daß ich mich solchen Unannehmlichkeiten aussetzen würde. Man weiß, wie ich Wort gehalten habe.

Die kleine Pantalons-Tochter war eine Patin meiner Mutter; obgleich ich ihretwegen der Liebe ewigen Haß geschworen hatte, schmachtete ich doch nach ihr. Meine Mutter hatte sie gern, und als sie meinen Kummer sah, gab sie mir die Zechine und fragte mich, ob es mir lieb wäre, wenn sie sie zum Abendessen einlüde. Meine Großmutter war vernünftiger oder strenger: sie erhob Widerspruch, und ich war ihr dafür dankbar.

Am Tage nach diesem komischen Auftritt reiste ich nach Padua zurück, wo ich über Bettina bald meine kleine Tänzerin vergaß. Ich hatte sie seitdem nicht wiedergesehen, bis wir uns dann in Charlottenburg trafen. Es waren siebenundzwanzig Jahre seitdem vergangen. Es drängte mich, sie unter vier Augen wiederzusehen und von ihr zu hören, ob sie sich dieser Geschichte noch erinnerte; denn daß sie mich selber wiedererkennen sollte, hielt ich nicht für wahrscheinlich. Ich erkundigte mich, ob ihr Mann, Denis, bei ihr wäre, und ich erfuhr, daß der König ihn ausgewiesen habe, weil er sie mißhandelte.

Ich ließ mich also gleich am nächsten Tage zu ihr führen und wurde von ihr sehr freundlich und höflich empfangen; sie sagte mir jedoch, sie glaube nicht das Vergnügen gehabt zu haben, mich schon früher zu kennen.

Ich erzählte ihr nun alles mögliche Gute von ihrer Familie, sprach von ihrer Patin, von ihrer Kindheit und von der rührenden Anmut, womit sie Venedig durch ihren Menuettanz entzückt habe, und erregte dadurch ihre lebhafteste Teilnahme. Sie unterbrach mich und rief: »Ich war damals nur sechs Jahre alt.«

»Sie können nicht älter gewesen sein; denn ich selber war erst zehn Jahre alt; trotzdem verliebte ich mich leidenschaftlich in Sie. Ich konnte damals meine Gefühle nicht äußern, aber ich habe niemals den Kuß vergessen, den Sie mir auf Befehl Ihres Vaters zum Lohn für ein kleines Geschenk gaben.«

»Schweigen Sie! Sie gaben mir einen Ring, der mir große Freude machte, und der Kuß, den ich Ihnen darauf gab, war nicht von meinem Vater befohlen worden. Sie waren damals als Abbate gekleidet. Ich habe Sie niemals vergessen. Aber ist es möglich, daß Sie das sind? Das freut mich sehr. Aber da ich Sie nicht wiedererkenne, so ist es unmöglich, daß Sie mich erkennen!«

»Allerdings hätte ich Sie gewiß nicht wiedererkannt, wenn ich nicht Ihren Namen gehört hätte.«

»In zwanzig Jahren, mein lieber Freund, ändert sich das Gesicht.«

»Sagen Sie lieber, meine Freundin: mit sechs Jahren sind die Züge noch nicht ausgebildet.«

»Sie können mir also bezeugen, daß ich erst sechsundzwanzig Jahre alt bin, zum Trotz den boshaften Zungen, die behaupten wollen, daß ich zehn Jahre älter sei.«

»Man muß die bösen Zungen reden lassen, meine liebe Freundin. Sie stehen in der Blüte Ihrer Jahre und sind zur Liebe geschaffen. Ich halte mich für den glücklichsten aller Menschen, Ihnen sagen zu können, daß Sie das erste Weib sind, das mir echte Liebe eingeflößt hat.«

Eine Unterhaltung dieser Art mußte uns bald in eine gerührte Stimmung bringen; aber die Erfahrung hatte uns beide gelehrt, daß es für den Augenblick besser sei, es dabei bewenden zu lassen und zu warten.

Die Denis war noch jung, schön und frisch, sie unterschlug zehn Jahre ihres Alters, obgleich sie sich in bezug auf mich keiner Täuschung hingeben konnte; trotzdem verlangte sie, daß ich ihr recht geben sollte oder wenigstens so täte. Sie würde mich verabscheut haben, wenn ich ihr dummerweise eine Tatsache hätte nachweisen wollen, die sie besser wußte als ich, die sie aber sich selber nicht gestehen wollte, damit niemand das Recht hätte, ihr etwas darüber zu sagen. Ohne Zweifel lag ihr wenig daran, was ich vielleicht darüber dächte; vielleicht bildete sie sich ein, daß ich ihr dankbar dafür sein müßte, da sie durch diese Lüge, die bei einer Frau ihres Berufes sehr unschuldiger Art war, mich selber ermächtigte, mich um zehn Jahre jünger zu machen, damit mein Alter zu dem ihrigen paßte. Daraus machte ich mir allerdings gar nichts. Die Verheimlichung ihres Alters ist für Theaterdamen gewissermaßen eine Pflicht; denn sie wissen, daß trotz allen ihren Talenten das Publikum ihnen niemals verzeiht, daß sie zu früh geboren sind.

Die Aufrichtigkeit, womit sie ihre kleine Schwäche vor mir enthüllt hatte, schien mir ein gutes Vorzeichen. Ich zweifelte nicht, daß ihre Güte meine Liebe dulden würde, und hoffte, daß sie mich nicht lange würde schmachten lassen. Sie zeigte mir ihr Haus, das ich in jeder Beziehung mit gesuchter Eleganz eingerichtet fand. Ich fragte sie, ob sie einen Freund hätte, und sie antwortete mir lächelnd:

»Ganz Berlin glaubt es, aber man täuscht sich gerade über den Hauptpunkt, denn mein Freund ist mir mehr ein Vater als ein Liebhaber.«

»Sie verdienen aber doch einen wirklichen Liebhaber zu haben; es erscheint mir unmöglich, daß Sie eines solchen entbehren können.«

»Ich versichere Ihnen, ich mache mir nichts daraus. Ich leide an Krämpfen, die mich unglücklich machen. Ich wollte nach Teplitz gehen und die Bäder gebrauchen, die ganz ausgezeichnet gegen Nervenkrankheiten sein sollen, aber der König hat mir die Erlaubnis verweigert; ich hoffe diese im nächsten Jahre zu erhalten.«

Ich war entflammt, sie sah es, und ich glaubte zu bemerken, daß sie mir für meine Zurückhaltung Dank wußte. Ich fragte sie: »Könnte es Ihnen unangenehm sein, wenn ich Sie häufig besuchte?«

»Wenn es Ihnen nicht mißfällt, lieber Freund, werde ich mich für Ihre Nichte oder für Ihre Base ausgeben, und dann könnten wir uns sehen.«

»Aber, liebes Herz, wissen Sie auch, daß es wohl wahr sein kann? Ich möchte nicht darauf schwören, daß Sie nicht meine Schwester sind!«

Dieser Scherz brachte unser Gespräch auf die Freundschaft zwischen ihrem Vater und meiner Mutter. Wir erwiesen uns Liebkosungen, die unter nahen Verwandten ganz unverdächtig sind; als wir jedoch fühlten, daß ich zu weit gehen würde, trennten wir uns. Sie begleitete mich bis an die Treppe und fragte, ob ich am nächsten Tage bei ihr zu Mittag essen wollte; natürlich lehnte ich nicht ab.

Ganz erhitzt kam ich in meinen Gasthof zurück; ich dachte über die eigentümlichen Verknüpfungen nach, die aus meinem Leben eine ununterbrochene Kette von Ereignissen machten. Wenn ich alles in allem rechnete, glaubte ich der ewigen Vorsehung dafür dankbar sein zu müssen, denn schließlich mußte ich anerkennen, daß ich unter einem glücklichen Stern geboren war.

Als ich mich am nächsten Tage zu Madame Denis begab, fand ich bereits die ganze Gesellschaft versammelt, die bei ihr speisen sollte. Der erste, der auf mich zukam und mich wie einen alten Bekannten umarmte, war ein junger Tänzer, namens Aubry, den ich in Paris als Opernstatisten und später in Venedig gekannt hatte. Er war dadurch berühmt geworden, daß er gleichzeitig der Liebhaber einer der vornehmsten Damen Venedigs und der Liebling ihres Gatten gewesen war. Man behauptete, diese skandalöse Verbindung sei so innig gewesen, daß Aubry zwischen den beiden Gatten geschlafen habe. Nach Schluß der Opernsaison schickten die Staatsinquisitoren ihn nach Triest. Er stellte mich seiner Frau vor, die ebenfalls Tänzerin war und sich La Santina nannte. Er hatte sie in St. Petersburg geheiratet; sie kamen von dort und wollten den Winter in Paris verbringen. Nach Aubry sah ich einen dicken Herrn auf mich zukommen, der mir die Hand entgegenstreckte und mir sagte: »Wir sind seit fünfundzwanzig Jahren Freunde; aber Sie waren damals so jung, daß Sie mich wohl nicht erkennen können. Wir haben uns in Padua beim Doktor Gozzi kennen gelernt: ich bin Giuseppe da Loglio.«

»Ich erinnere mich: Sie waren damals bei der Kapelle der Kaiserin von Rußland als geschickter Cellist.«

»Ganz recht; jetzt kehre ich in die Heimat zurück, um sie nicht wieder zu verlassen. Ich habe die Ehre, Ihnen meine Frau vorzustellen; sie ist in Petersburg geboren als Tochter des ersten Geigers Madonis, der in ganz Europa berühmt ist. In acht Tagen werde ich in Dresden sein und die große Freude haben, Signora Casanova, Ihre Mutter, zu umarmen.«

Ich war entzückt, mich in Gesellschaft von Leuten zu finden, die mir so gut gefielen; aber ich sah, daß Erinnerungen, die über ein Vierteljahrhundert reichten, meiner reizenden Denis nicht lieb waren. Ich schnitt daher die indiskreten Erinnerungen ab und brachte das Gespräch auf die Petersburger Ereignisse, die die große Katharina auf den Thron gebracht hatten.

Da Loglio sagte uns: »Ich war so ein bißchen in die Verschwörung verwickelt und habe nun den sehr vernünftigen Entschluß gefaßt, meinen Abschied zu erbitten. Zum Glück hatte ich schon seit langer Zeit mit dieser Notwendigkeit gerechnet, und so bin ich jetzt in der Lage, in Italien als unabhängiger Mann von meinem Vermögen bequem leben zu können.«

Die Denis erzählte hierauf: »Vor acht Tagen erst hat man mir einen Piemontesen, namens Audar, vorgestellt, der die Verschwörung zum großen Teil angesponnen und geleitet hat. Er erhielt von der Kaiserin ein Geschenk von hunderttausend Rubeln und den Befehl, Rußland unverzüglich zu verlassen.«

Ich habe seither erfahren, daß dieser Audar sich ein Landgut in Piemont kaufte und sich ein schönes Haus bauen ließ, worin er zwei oder drei Jahre später vom Blitz erschlagen wurde. Wenn ihn eine allmächtige Hand damit traf, so war es gewiß nicht die des Schutzgeistes von Rußland, die den Tod Peters des Dritten hätte rächen wollen; denn wenn dieser unglückselige Monarch am Leben geblieben wäre, würde er die Zivilisation des moskowitischen Reiches um ein Jahrhundert verzögert haben.

Die Kaiserin Katharina, welcher Rußland die größte Dankbarkeit schuldet, belohnte mit großartiger Freigebigkeit alle Ausländer, die ihr beigestanden waren, um sich eines Gatten zu entledigen, der ihr Feind und der Feind seines Sohnes und seines ganzen Volkes war; sie zeigte sich erkenntlich gegen alle Russen, die ihr die Hand reichten, damit sie den Thron besteigen konnte. Alle russischen Großen, die sie im Verdacht hatte, keine Freunde von Revolutionen zu sein, schickte sie als gute Politikerin auf Reisen.

Da Loglio und seine Frau brachten mich auf den Gedanken, nach Rußland zu gehen, falls der König von Preußen mir keine Anstellung nach meinen Wünschen geben sollte. Sie versicherten mir, daß ich dort mein Glück machen würde, und gaben mir gute Empfehlungen.

Nachdem der wirklich liebenswürdige da Loglio Berlin verlassen hatte, wurde ich der Vertraute und zärtliche Freund der Denis. Unsere Vertraulichkeit begann, als sie nach einem Abendessen von Krämpfen ergriffen wurde, die die ganze Nacht dauerten. Ich ging nicht einen Augenblick von ihrer Seite, und als sie am Morgen sich wieder ganz wohl fühlte, vollendete die Dankbarkeit, was die Liebe sechsundzwanzig Jahre vorher begonnen hatte, und unser Liebesverhältnis dauerte bis zu meiner Abreise von Berlin. Wir werden diese reizende Frau sechs Jahre später in Florenz wiederfinden.

Einige Tage nach dem Beginn unseres Liebesverhältnisses war die Denis so freundlich, mit mir nach Potsdam zu fahren und mir dort alle Sehenswürdigkeiten zu zeigen. Unsere Vertraulichkeit konnte niemanden verletzen, denn sie galt allgemein für meine Nichte, und der General, der sie unterhielt, war davon überzeugt oder tat wenigstens als kluger Mann, wie wenn er nicht daran zweifelte.

Außer anderen Merkwürdigkeiten sah ich in Potsdam auch den König, der in eigener Person das erste Bataillon seiner Garde-Grenadiere kommandierte, das aus lauter auserwählten Männern besteht, die sich ebensosehr durch ihre Tapferkeit wie durch ihre Schönheit auszeichnen.

Das Zimmer, worin wir in unserem Gasthof wohnten, lag einem Korridor gegenüber, den der König durchschritt, wenn er das Schloß verließ. Da die Fensterläden geschlossen waren, erzählte unsere Wirtin uns, eine sehr hübsche Tänzerin, die Reggiana, die in unserem Zimmer gewohnt habe, sei eines Tages vom König im Zustande der reinen Natur bemerkt worden; diese Erscheinung habe die bescheidenen Blicke Seiner Majestät verletzt, und der König habe die Fensterläden schließen lassen; diese seien seitdem nicht wieder geöffnet worden, obgleich die Tänzerin schon seit vier Jahren nicht mehr da sei.

Der König hatte Furcht gehabt; denn er war von der Barbarina hart behandelt worden. Wir sahen im Schlafzimmer des Königs das Bildnis der Barbarina, das der Cochois, einer Schwester der Schauspielerin, die die Frau des Martin d’Argens wurde, und ein Porträt, das die Kaiserin Maria Theresia als junges Mädchen darstellte. Friedrich hatte sich in sie verliebt, weil er Kaiser zu werden wünschte.

Nachdem man die Schönheit und Eleganz der Schloßeinrichtung bewundert hatte, mußte man sich noch mehr über die Art und Weise wundern, wie der Herr untergebracht war: ein armseliges Zimmer; ein schmales Bett, das hinter einem Schirm stand. Kein Schlafrock, keine Pantoffeln. Der Kammerdiener zeigte uns eine alte Mütze, die der König aufsetzte, wenn er erkältet war. Er stülpte dann seinen Hut darüber; das mußte sehr unbequem sein. Vor einem Kanapee stand ein Tisch, der mit Papieren, Federn, einem Tintengeschirr und halbverbrannten Heften bedeckt war: dies war der Schreibtisch Seiner Preußischen Majestät. Der Kammerdiener sagte uns, diese Hefte seien die Geschichte des letzten Krieges; der Unfall, bei dem die Hälfte angebrannt seien, habe den König so sehr geärgert, daß er das Werk nicht fortgesetzt habe. Wahrscheinlich hat er die Arbeit später wieder aufgenommen; denn dieses Werk, dem man übrigens keinen großen Wert beimißt, wurde gleich nach dem Tode des Herrschers veröffentlicht.

Fünf oder sechs Wochen waren seit meiner eigentümlichen Unterhaltung mit dem König verflossen, als Lord Marishal mir mitteilte, Seine Majestät bewillige mir eine Stelle als Erzieher an einer soeben geschafften Kadettenschule für pommersche Junker. Die Gesamtzahl derselben war auf fünfzehn festgesetzt, und er wollte diesen fünf Erzieher geben. Jeder Gouverneur hätte also drei Kadetten gehabt; er erhielt sechshundert Taler Gehalt und dasselbe Essen wie die Kadetten. Die Gouverneure hatten die Verpflichtung, ihre Schüler überallhin zu begleiten; wenn sie zu Hofe gingen, mußten sie im Tressenrock erscheinen. Ich sollte mich unverzüglich entscheiden; denn die vier anderen waren bereits in ihr Amt eingesetzt, und der König wartete nicht gern. Ich fragte Lord Keith, wo die Anstalt sei, und versprach ihm eine Antwort für den nächsten Tag.

Ich bedurfte einer Kaltblütigkeit, die sonst nicht meine Art ist, um nicht über diesen sonderbaren Vorschlag eines sonst so weisen Mannes laut herauszulachen, aber meine Überraschung war noch viel größer, als ich die Behausung dieser fünfzehn Edelleute aus dem reichen Pommernlande sah: drei oder vier große Säle, fast ohne alle Möbel; mehrere Zimmer mit weißgetünchten Wänden, einem elenden kleinen Bett, einem Tisch und zwei Stühlen aus Fichtenholz. Die jungen Kadetten waren alle etwa zwölf bis dreizehn Jahre alt; sie waren schmutzig, schlecht frisiert und in eine ärmliche Uniform eingeschnürt, in der ihre ländlichen Gesichtszüge besonders hervortraten. Sie saßen in bunter Reihe mit den Gouverneuren, die ich für ihre Bedienten hielt, und die mich ganz verblüfft ansahen, da sie sich gar nicht vorstellen konnten, daß ich der zu ihrem Kollegen ausersehene neue Gouverneur wäre.

Im Augenblick, wo ich diesen armen Tröpfen auf Nimmerwiedersehen Lebewohl sagen wollte, sah einer von den Erziehern zum Fenster hinaus und rief: »Da kommt der König angeritten!«

Ich konnte ihm nicht gut ausweichen; übrigens war es mir auch ganz angenehm, ihn noch einmal zu sehen, besonders an diesem Ort.

Der König trat mit seinem Freunde Quintus Icilius ein, besah sich alles, blickte mich an, sagte mir aber kein Wort. Ich trug das brillantenbesetzte Kreuz meines Ordens um den Hals und hatte einen eleganten Taftanzug an. Aber ich mußte mir auf die Lippen beißen, um nicht laut aufzulachen, als ich den großen Friedrich wütend werden sah: sein Zorn galt einem Nachttopf, der unter einem Bett hervorsah und noch die Spuren einer gewissen Unreinlichkeit trug.

»Wem gehört dies Bett?« rief der Monarch.

»Mir, Eure Majestät«, sagte ein Kadett, an allen Gliedern zitternd.

»Gut; aber mit Ihm will ich nichts zu tun haben, wo ist sein Gouverneur?«

Der glückliche Gouverneur tritt vor, und der freundliche König nennt ihn einen Lümmel und wäscht ihm gehörig den Kopf. Zum Schluß sagte er ihm, er habe einen Bedienten zu seiner Verfügung und müsse daher auf Sauberkeit achten.

Diese ekelhafte Szene genügte mir; ich schlich mich leise hinaus und begab mich zu Lord Marishal, um ihm für das schöne Glück zu danken, das der Himmel mir durch seine Vermittlung zugedacht hatte. Der gute alte Herr fing an zu lachen, als ich ihm ausführlich den Auftritt erzählte, den ich soeben erlebt hatte. Er sagte mir, ich habe recht, wenn ich eine derartige Anstellung verschmähe. Trotzdem müsse ich mich aber beim König bedanken, bevor ich von Berlin fortgehe. Als ich ihm sagte, es widerstrebe mir, noch einmal vor einen Menschen zu treten, den ich so wenig zugänglich gefunden habe, nahm er es auf sich, Seiner Majestät meine Weigerung und meine Entschuldigung mitzuteilen.

Ich entschloß mich nun nach Rußland zu reisen und traf allen Ernstes meine Vorbereitungen. Baron Treidel bestärkte mich in meinem mutigen Entschluß, indem er sich erbot, mir eine Empfehlung an seine Schwester, die Herzogin von Kurland, mitzugeben. Ich schrieb Herrn von Bragadino, er möchte mir eine Empfehlung an einen Petersburger Bankier besorgen, der mir jeden Monat die Summe auszahlen würde, deren ich zu einem bequemen Lebensunterhalt bedürfte.

Anstandshalber mußte ich mit einem Bedienten reisen. Der Zufall übernahm es, mir einen solchen zu besorgen. Als ich eines Tages bei Frau Rufin war, trat ein junger Lothringer ein; er trug wie Bias seine ganze Habe bei sich, aber unter dem Arm. Er stellte sich mit folgenden Worten vor: »Madame, ich heiße Lambert, bin Lothringer und wünsche bei Ihnen zu wohnen.«

»Sehr gern, mein Herr; aber Sie müssen jeden Tag bezahlen.«

»Das ist unmöglich, Madame, denn ich habe keinen Heller; aber ich werde Geld bekommen, sobald ich meinen Aufenthaltsort mitgeteilt habe.«

»Unter diesen Bedingungen kann ich Sie nicht aufnehmen, mein Herr.«

Als ich ihn mit ganz betrübtem Gesicht auf die Tür zugehen sah, fühlte ich Mitleid mit ihm, rief ihn zurück und sagte: »Bleiben Sie, ich werde heute für Sie bezahlen.«

Ein Glücksschimmer flog über sein Gesicht.

»Was haben Sie denn in Ihrem Bündel?« fragte ich ihn.

»Zwei Hemden, ein paar Dutzend mathematische Bücher und etwas Wäsche.«

Ich nahm ihn mit mir auf mein Zimmer, und da ich ihn ziemlich gebildet fand, fragte ich ihn, durch welchen Zufall er in eine solche Lage gekommen sei.

Er antwortete: »Ich war in Straßburg. Ein Fähnrich der dortigen Garnison gab mir in einem Kaffeehause eine Ohrfeige; am Tage darauf ging ich in sein Zimmer und erdolchte ihn. Nach dieser unglückseligen Tat ging ich nach Hause, packte ein paar Kleidungsstücke und die notwendigsten Bücher zusammen und verließ die Stadt. Da ich immer zu Fuß ging und bescheiden lebte, ist es mir bis heute früh gelungen, mich durchzuschlagen. Morgen werde ich an meine Mutter schreiben, die in Lunéville wohnt, und ich bin gewiß, daß sie mir Geld schicken wird.«

»Und was gedenken Sie zu tun?«

»Ich habe die Absicht, mich um eine Anstellung beim Geniekorps zu bewerben, denn ich glaube mich in diesem Stande nützlich machen zu können; im äußersten Notfall werde ich Soldat.«

»Ich werde Ihnen ein kleines Bedientenzimmer geben lassen und Ihnen ein bißchen Geld geben, um sich Ihr Essen zu kaufen, bis Sie die Hilfe von Ihrer Mutter erhalten haben.«

Er küßte mir dankbar die Hand und sagte: »Der Himmel hat Sie mir in den Weg geführt.« 52g Ich traute dem jungen Mann keinen Betrug zu, obgleich er stotterte; trotzdem schrieb ich aus Neugier an Herrn von Schauenburg, der sich damals in Straßburg befand, und fragte bei ihm an, ob der von dem jungen Menschen mir erzählte Vorfall sich wirklich zugetragen habe.

Am nächsten Tage hatte ich Gelegenheit, mit einem Genieoffizier zu sprechen. Dieser sagte mir, es seien so viele wissenschaftlich gebildete Leute im Regiment, daß keiner mehr angenommen würde, wenn er sich nicht bereit erklärte, als gewöhnlicher Soldat zu dienen. Ich bedauerte den jungen Menschen, daß er gezwungen sein würde, sich dazu zu entschließen. Wir verbrachten zusammen ganze Stunden mit der Lösung mathematischer Aufgaben, und da ich fand, daß er wirklich Kenntnisse hatte, hatte ich den Einfall, ihn mit nur nach Petersburg zu nehmen. Als ich ihm dies vorschlug, antwortete er mir:

»Das wäre ein Glück für mich, und um Ihre Güte anzuerkennen, würde ich gern unterwegs Ihren Bedienten machen.«

Er sprach schlecht französisch; da er aber Lothringer war, so wunderte ich mich nicht darüber. Trotzdem war ich überrascht, daß er kein Wort Latein verstand, und daß er die gröbsten orthographischen Fehler machte, als ich ihm einmal einen Brief diktierte. Als ich darüber lachte, schämte er sich keineswegs, sondern sagte mir, er sei nur zur Schule gegangen, um Geometrie und Mathematik zu lernen, und es sei ihm sehr lieb, daß die langweilige Grammatik mit der Rechenkunst nichts zu tun habe. Er verstand in der Tat nur Mathematik und war in allem übrigen höchst unwissend. Er wußte sich auch nicht zu benehmen und betrug sich wie ein richtiger Bauernjunge.

Nach zehn oder zwölf Tagen erhielt ich von Herrn von Schauenburg die Antwort auf meinen Brief. Er schrieb mir, der Name Lambert sei in Straßburg unbekannt und in dem von mir genannten Regiment sei kein Fähnrich getötet oder verwundet worden.

Als ich Lambert diesen Brief zeigte, um ihm seine Lüge vorzuhalten, sagte er mir, er habe es für notwendig gehalten, sich als einen tapferen Menschen hinzustellen, weil er den Wunsch gehabt habe, in den Heeresdienst einzutreten; da die Lüge nicht darauf berechnet gewesen sei, mich irrezuführen, so müsse ich sie ihm verzeihen. »Die Armut ist eine schlechte Lehrmeisterin, die einen zu den übelsten Sachen treibt; ich bin von Natur nicht lügenhaft; leider habe ich Ihnen aber noch etwas anderes vorgelogen, was von viel größerer Bedeutung ist: ich erwarte nichts von meiner armen Mutter, die im Gegenteil meiner Unterstützung bedürftig wäre. Also verzeihen Sie mir, und verlassen Sie sich darauf, daß ich Ihnen gut und treu dienen werde.«

Ich hatte stets – und nicht ohne Grund – viel Nachsicht gegen kleine Sünden. Lamberts Entschuldigung gefiel mir; ich ermahnte ihn, sich gut aufzuführen, und sagte ihm, wir würden in fünf bis sechs Tagen abreisen.

Der Baron Bodisson aus Venedig, der dem König ein Gemälde des Andrea del Sarto verkaufen wollte, machte mir den Vorschlag, ihn nach Potsdam zu begleiten. Da ich Lust hatte, mich nach Lord Marishals Rat noch einmal dem König zu zeigen, so nahm ich die Einladung an. In Potsdam ging ich zur Wachtparade, bei welcher Friedrich selten fehlte. Sobald er mich sah, kam er auf mich zu und fragte mich leutselig, wann ich nach Petersburg abzureisen gedächte.

»In fünf oder sechs Tagen, Sire, wenn Eure Majestät es erlauben wollen.«

»Gute Reise; aber was erhoffen Sie dort zu Lande?«

»Was ich hier zu Lande erhoffte, Sire: dem Souverän zu gefallen.«

»Haben Sie Empfehlungen an die Kaiserin?«

»Nein, Sire, nur an einen Bankier.«

»Das ist auch viel besser. Wenn Sie auf Ihrer Rückreise wieder hier durchkommen, wird es mich freuen, von Ihnen Neues über Rußland zu hören. Adieu!«

»Adieu, Sire.«

Dies war meine zweite Unterhaltung mit dem großen König, den ich nicht wiedergesehen habe.

Ich verabschiedete mich von allen meinen Bekannten und erhielt vom Baron Treidel einen Brief an den Großkanzler Herrn von Keyserlingk in Mitau mit einer Einlage für seine Schwester, die Herzogin von Kurland. Den letzten Abend verbrachte ich mit meiner guten Denis, die mir meine Postkalesche abkaufte. Ich hatte zweihundert Dukaten in meiner Börse, und diese Summe hätte für die Reise vollkommen genügt, wenn ich nicht die Torheit begangen hätte, bei einer Vergnügungspartie, die ich in Danzig mit jungen Kaufleuten machte, die Hälfte davon zu verspielen. In Königsberg, wo ich an den Gouverneur Feldmarschall von Lehwald empfohlen war, blieb ich nur einen Tag, um die Ehre zu haben, bei dem liebenswürdigen alten Herrn zu speisen. Er gab mir einen Empfehlungsbrief an seinen Freund, den General Wojakoff, Gouverneur von Riga.

Da ich noch Geld genug hatte, um in Mitau als großer Herr ankommen zu können, nahm ich einen viersitzigen Wagen mit sechs Pferden und gelangte in drei Tagen nach Memel. Im Gasthof, wo ich abstieg, fand ich eine florentinische Sängerin, Namens Bregonci, die mich mit Liebenswürdigkeiten überhäufte, weil ich, wie sie sagte, sie geliebt hätte, als ich noch ein Kind gewesen wäre und die Soutane getragen hätte. Ich habe sie sechs Jahre später in Florenz wiedergesehen, wo sie mit der Denis zusammenwohnte.

Am Tage nach meiner Abreise von Memel kam auf offenem Felde ein einzelner Mann, offenbar ein Jude, an meinen Wagen heran und sagte mir, ich sei auf polnischem Gebiete und müsse Durchgangszoll für die Waren bezahlen, die ich bei mir habe.

»Ich bin kein Kaufmann und habe nichts zu bezahlen.«

»Ich habe das Recht, Ihren Wagen zu durchsuchen, und ich werde davon Gebrauch machen.«

»Sie sind verrückt!« rief ich; zugleich befahl ich dem Postillon, Galopp zu fahren.

Der Jude aber packte die vordersten Pferde an den Zügeln und hielt uns an. Dem Postillon fiel es nicht ein, den frechen Kerl mit Peitschenhieben fortzujagen, sondern er wartete mit seinem deutschen Phlegma, bis ich uns freimachen würde. Wütend sprang ich aus dem Wagen, in der einen Hand eine Pistole, in der anderen meinen Stock. Ich streichelte den Juden mit einem halben Dutzend wohlgezielter Hiebe, und bald ergriff er die Flucht. Mein Reisegefährte, mein Bedienter Archimedes, der unterwegs die ganze Zeit schlief, rührte sich nicht von seinem Platze. Als ich ihm Vorwürfe deswegen machte, antwortete er mir, er habe nicht gewollt, daß der Jude sagen könnte, wir seien zu zweien über einen einzelnen hergefallen.

Zwei Tage später kam ich in Mitau an und stieg in dem Gasthofe ab, der dem Schloß gegenüberliegt. Ich hatte nur noch drei Dukaten.

Gleich am nächsten Morgen ging ich zu Herrn von Keyserlingk. Nachdem er den Brief des Barons von Treidel gelesen hatte, stellte er mich seiner Gemahlin vor und ließ mich dann mit ihr allein, um zu Hofe zu gehen und der Herzogin den Brief ihres Bruders zu bringen. Frau von Keyserlingk ließ mir von einer jungen Polin von blendender Schönheit eine Tasse Schokolade reichen. Das Mädchen stand mit gesenkten Wimpern vor mir, wie wenn sie mir Gelegenheit geben wollte, sie in aller Muße zu betrachten. Dabei kam mir eine Laune. Ich habe in meinem ganzen Leben nicht meinen Launen widerstehen können; aber diese war allerdings unter den obwaltenden Umständen sehr eigentümlich. Wie ich vorhin sagte, hatte ich nur noch drei Dukaten; während ich nun langsam meine Schokolade schlürfte, dabei die schöne Polin betrachtete und einige Worte mit Frau von Keyserlingk wechselte, zog ich geschickt meine drei Dukaten aus der Tasche und legte sie auf die Tasse, als ich diese zurückgab.

Der Kanzler kam zurück und teilte mir mit, die Herzogin könne mich im Augenblick nicht empfangen, aber sie lade mich zum Abendessen und zu dem darauf folgenden Ball ein. Das Abendessen nahm ich an, aber die Einladung zum Ball schlug ich aus, unter dem Vorwande, daß ich nur Sommeranzüge und einen schwarzen Rock bei mir habe. Wir waren im Anfang des Oktobers, und die Kälte machte sich bereits bemerkbar. Der Kanzler kehrte ins Schloß zurück, und ich begab mich nach meinem Gasthof.

Eine halbe Stunde später überbrachte ein Kammerherr mir die Komplimente Ihrer Hoheit und sagte mir: »Der Ball ist ein Maskenball, Sie können im Domino hingehen. Einen solchen können Sie sich leicht bei irgendeinem Juden besorgen. Ursprünglich sollte ein Galaabend stattfinden; aber die Herzogin hat alle Gäste benachrichtigt, daß statt dessen Maskenball sein werde, weil ein Fremder, der daran teilnehmen solle, seine Koffer schon vorausgeschickt habe.«

»Es tut mir leid, daß ich an dieser Abänderung schuld bin.«

»Beunruhigen Sie sich deshalb nicht: der Maskenball ist bei uns viel beliebter, weil er mehr Freiheit gewährt.«

Nachdem er mir die Stunde des Beginns gesagt hatte, entfernte er sich.

Der Leser denkt nun gewiß, daß ich mich in einer großen Verlegenheit befunden habe, und würde mich wohl nicht für aufrichtig halten, wenn ich nicht gestehen wollte, daß ich mich in der Tat nicht wohl fühlte. Aber mein gutes Glück kam mir zu Hilfe.

Da das preußische Geld, das schlechteste in ganz Deutschland, in Rußland keinen Kurs hatte, so kam ein Jude zu mir und fragte mich, ob ich Friedrichsdor hätte; er erbot sich, mir diese ohne Verlust gegen Dukaten einzuwechseln.

»Ich habe nur Dukaten,« antwortete ich ihm, »kann also von Ihren Diensten keinen Gebrauch machen.«

»Ich weiß es, mein, Herr, und Sie geben sie sehr billig.«

Da ich nicht wußte, was er damit sagen wollte, so sah ich ihn erstaunt an. Er fuhr fort, er würde mir gern zweihundert Randdukaten geben, wenn ich die Güte haben wollte, sie ihm in Rubeln auf St. Petersburg diskontieren zu lassen.

Ich war ein wenig überrascht von der Dienstwilligkeit des Mannes, tat aber, wie wenn ich mir seinen Vorschlag überlegte, und sagte ihm dann, ich hätte keine Dukaten nötig, wäre aber bereit, hundert zu nehmen, um ihm einen Gefallen zu tun. Er zählte mir mit dankbarer Miene sofort hundert Dukaten auf, und ich gab ihm dafür eine Anweisung auf den Bankier Demetrio Papanelopulo, für den da Loglio mir einen Brief mitgegeben hatte. Der Jude bedankte sich und ging, indem er mir sagte, er werde mir eine Anzahl schöner Dominos zur Auswahl schicken. Da mir einfiel, daß ich auch seidene Strümpfe brauchte, schickte ich Lambert hinter ihm her, um ihm zu sagen, daß er mir welche mitbringen solle. Als mein Diener zurückkam, erzählte er mir, der Wirt hätte ihn angehalten und ihm gesagt, ich würfe die Dukaten zum Fenster hinaus; der Jude hätte ihm erzählt, daß ich der Jungfer der Frau von Keyserlingk drei Dukaten gegeben hätte.

Das war des Rätsels Lösung. Nichts ist auf dieser Welt leicht oder schwer, sondern es kommt nur darauf an, ob man sich richtig oder falsch benimmt, und ob das Glück uns günstig oder feindselig gesinnt ist. Ohne die Renommisterei mit meinen letzten drei Dukaten hätte ich in Mitau keinen Taler gefunden. Das Mädchen, das an solche Freigebigkeit jedenfalls nicht gewöhnt war, hatte die Geschichte als ein Wunder ausposaunt, und der Jude, der stets auf eine Gelegenheit zum Geldverdienen lauerte, hatte sich beeilt, seine Dukaten dem vornehmen Herrn anzubieten, der sich so wenig daraus machte.

Zur bezeichneten Stunde begab ich mich an den Hof. Herr von Keyserlingk stellte mich sofort der Herzogin vor und diese dem Herzog, dem berühmten Biron oder Birlen, dem früheren Günstling der Kaiserin Anna Iwanowna, der nach dem Tode dieser Herrscherin Regent von Rußland gewesen und hierauf zu zwanzigjähriger Verbannung nach Sibirien verurteilt war. Er war sechs Fuß hoch und man sah ihm noch an, daß er früher ein sehr schöner Mann gewesen war. Aber das Alter, das die schönsten Formen zerstört, hatte auch ihn mit seiner Eisenhand angepackt. Am nächsten Tage hatte ich mit ihm eine lange Besprechung.

Eine Viertelstunde nach meiner Ankunft begann der Ball mit einer Polonaise. Als wohl empfohlener Fremder hatte ich die Ehre, von der Herzogin eingeladen zu werden, diesen Tanz mit ihr zu tanzen. Ich kannte den Tanz nicht, aber er ist so leicht, daß ich mich mit Ehren herauszog; denn er fügt sich jedem Einfall und gestattet trotz seiner Einfachheit eine große Anmut zu entwickeln.

Nach der Polonaise wurden Menuetts getanzt. Eine schon etwas ältliche Dame fragte mich, ob ich den »liebenswürdigen Sieger« tanzen könnte, und ich führte sofort diesen anmutigen Tanz mit ihr aus. Er war früher, zur Zeit der Regentschaft, Mode gewesen, und meine Tänzerin mochte wohl damals darin geglänzt haben. Er war wie ein Wunder für alle jungen Damen, die uns umringten. Nachdem ich mit Fräulein von Manteuffel, der hübschesten von den vier Hofdamen der Herzogin, einen Kontertanz getanzt hatte, ließ ihre Hoheit mir melden, daß das Souper bereit sei. Ich trat auf sie zu, bot ihr meinen Arm und befand mich gleich darauf neben ihr als ein einziger Kavalier an einem Tisch zu zwölf Gedecken. Aber beneide mich nicht, lieber Leser, besonders wenn du jung bist; denn meine elf Tischgenossinnen waren Matronen, die schon längst das Vorrecht verloren hatten, Männern den Kopf zu verdrehen. Die Herzogin war äußerst zuvorkommend gegen mich und schenkte mir gegen Ende des Mahles mit eigener Hand ein Glas Likör ein, den ich für Tokayer hielt und sehr lobte; es war aber nur altes englisches Bier. Doch was tut man nicht für eine Herzogin! Als wir vom Tisch aufstanden, führte ich sie wieder auf den Ball. Der junge Kammerherr, der mir die Einladung überbracht hatte, machte mich mit all den schönen Damen bekannt, aber ich hatte keine Zeit, einer von ihnen besonders den Hof zu machen.

Am nächsten Tage speiste ich bei Herrn von Keyserlingk und schickte Lambert zu einem Juden, um sich anständige Kleider zu kaufen.

Am übernächsten Tage aß ich zu Mittag bei dem Herzog, bei dem ich nur Herren fand. Der alte Fürst ließ mich fortwährend sprechen, und gegen das Ende der Mahlzeit kam die Unterhaltung auf die Reichtümer des Landes, die besonders in edlen und in halbedlen Metallen bestanden. Ich sagte ganz beiläufig, diese Reichtümer hingen nur von der Ausbeutung ab, könnten aber sehr kostbar werden. Um diese Behauptung zu rechtfertigen, hatte ich über das Thema zu sprechen, wie wenn ich es ganz besonders studiert hätte. Ein alter Kammerherr, dem alle Bergwerke von Kurland und Sämland unterstanden, ließ mich zunächst alles vorbringen, was die Begeisterung mir eingab; hierauf verbreitete er sich selber über das Thema, brachte allerlei Einwendungen vor, billigte aber andererseits auch meine vernünftigen Bemerkungen über die sparsame Einrichtung, von der der Erfolg der Ausbeutung abhängen müsse.

Ich hatte gesprochen, wie wenn ich Kenner in diesen Dingen wäre. Hätte ich daran gedacht, daß ich vielleicht mit einem Kenner zu tun haben würde, so würde ich sicherlich viel weniger gesagt haben; denn ich war ziemlich unwissend auf diesem Gebiete. Aber diese Vorsicht wäre mir zu Schaden gewesen, denn dann würde ich keinen Eindruck gemacht haben. Der Herzog setzte sich in den Kopf, daß ich viel mehr wüßte als ich gesagt hätte. Nach Tisch zog er mich in eine Fensternische und bat mich, ihm vierzehn Tage zu schenken, wenn ich es mit meiner Reise nach St. Petersburg nicht sehr eilig hätte. Ich stellte mich ihm zur Verfügung, und er führte mich in sein Arbeitszimmer. Dort sagte er mir, der Kammerherr, der mit mir gesprochen hätte, würde mir alle Einrichtungen dieser Art zeigen, die in seinen Herzogtümern beständen; ich mochte die Gefälligkeit haben, alle meine Bemerkungen über einen ökonomischen Betrieb aufzuschreiben. Ich erklärte mich mit seinem Vorschlage einverstanden, und meine Abreise wurde auf den nächsten Tag angesetzt.

Entzückt von meiner Dienstwilligkeit ließ der Herzog den Kammerherrn rufen und gab ihm die entsprechenden Aufträge. Wir verabredeten, daß er mich bei Tagesanbruch mit einem sechsspännigen Wagen abholen solle.

Ich ging nach Hause, traf meine Vorbereitungen und befahl Lambert, sich bereit zu halten, um mich mit seinem mathematischen Besteck zu begleiten. Ich setzte ihn von dem Zweck meiner Reise in Kenntnis, und er versprach mir, nach besten Kräften mir zu dienen, obwohl er von Verwaltungswissenschaft und Bergbau keine Ahnung hatte.

Zur verabredeten Stunde fuhren wir ab; ein Bedienter saß auf dem Kutschbock, zwei andere ritten, bis an die Zähne bewaffnet, vor uns her. Alle zwei oder drei Stunden wechselten wir die Pferde; der Kammerherr hatte einen reichlichen Vorrat guter Weine mitgenommen, und wir erfrischten uns, so oft wir Lust bekamen.

Unsere Rundfahrt dauerte vierzehn Tage, und wir besuchten fünf Kupfer- oder Eisenwerke. Ich brauchte nicht Kenner zu sein, um überall etwas aufschreiben zu können; es genügte, wenn ich vernünftige Bemerkungen machte, besonders über die ökonomische Einrichtung, auf die es dem Herzog hauptsächlich ankam. Hier riet ich Reformen an, die mir nützlich zu sein schienen, dort wies ich nach, daß eine Vermehrung der Arbeiterzahl die Erträgnisse verbessern würde. Besonders bei einem Bauwerk, worin man dreißig Strafgefangene arbeiten ließ, ordnete ich die Herstellung eines sehr kurzen Kanals an; dieser stand mit einem stets wasserhaltigen, ziemlich hoch gelegenen, kleinen Fluß in Verbindung, und es brauchte nur eine einfache Schleuse angebracht zu werden, um drei Räder in Bewegung zu setzen und dadurch zwanzig Arbeiter zu sparen. Lambert entwarf unter meiner Anleitung einen sehr sauberen Plan des Werkes, maß die Höhen, zeichnete die Schleuse und die Räder und steckte die ganze Länge des geplanten Kanals ab. Durch andere Kanäle legte ich weite Täler trocken, in denen sich große Mengen Schwefel und Vitriol gewinnen ließen.

Sehr befriedigt von meiner Reise kehrte ich nach Mitau zurück, denn ich hatte mich wirklich nützlich machen können. Auch freute ich mich, in mir ein Talent entdeckt zu haben, von welchem ich bisher keine Ahnung gehabt hatte.

Den nächsten Tag verbrachte ich damit, die von mir aufgezeichneten Beobachtungen ins Reine zu schreiben und die dazu gehörigen Zeichnungen in größeren Maßstab übertragen zu lassen.

Am zweiten Tage überbrachte ich alles dem Herzog, der mir seine große Zufriedenheit aussprach; als ich mich zugleich von ihm verabschiedete, sagte er mir, er werde mich in einem seiner Wagen nach Riga bringen lassen und mir einen Brief an seinen dort in Garnison stehenden Sohn Karl mitgeben.

Zum Schluß bat der gute und weise Greis mich, ihm ohne Umschweif zu sagen, ob ich einen Schmuckgegenstand oder den entsprechenden Wert in barem Gelde zu erhalten wünschte.

»Mein Fürst, von einem Weisen, wie Eure Hoheit es sind, wage ich es, Geld anzunehmen, da dieses mir jetzt nützlicher sein kann als Schmucksachen.«

Sofort übergab er mir eine Anweisung auf vierhundert Albertstaler, die mir der Kassierer in schönen Mitauer Dukaten auszahlte. Der Albertstaler gilt einen halben Dukaten. Nachdem ich der Herzogin die Hand geküßt hatte, speiste ich zum zweiten Male bei Herrn von Keyserlingk.

Am nächsten Tage brachte ein junger Kammerherr mir den Brief des Herzogs, wünschte mir gute Reise und sagte mir, der Hofwagen stehe vor meiner Tür. Sehr zufrieden fuhr ich mit meinem stotternden Lambert ab; am Mittag kam ich in Riga an und schickte sofort dem Prinzen Karl den Brief seines Vaters.

Zweites Kapitel


Vergnügungspartie. – Meine traurige Trennung von Clementina. – Ich reise mit der Geliebten Croces von Mailand «b. – Meine Ankunft in Genua.

Die Alten, deren fruchtbare, glänzende und bewegliche Einbildungskraft Laster und Tugenden zu verkörpern wußte, haben die Unschuld dargestellt, wie sie, immer vertrauensvoll, mit einer Schlange oder einem scharfen Pfeile spielt. Die Alten besaßen eine gründliche Kenntnis vom Herzen des Mannes und des Weibes, und wenn auch die Neueren in dieser Hinsicht ihre Kenntnisse durch die Entdeckung dieser oder jener Fiber vermehrt haben mögen, so bleibt es darum doch wahr, daß die Werke, die jene uns hinterlassen haben, vom Symbol bis zur philosophischen Fachsprache, immer mit Nutzen zu Rate gezogen werden können, wenn jemand gern recht tief in die Wissenschaft des Geschmacks und der Vernunft eindringen möchte.

Nachdem ich Clairmont gesagt hatte, er solle nicht länger auf mich warten, legte ich mich zu Bett und dachte über mein Verhältnis zu dieser wundervollen Clementina nach, die von der Natur dazu geschaffen zu sein schien, um in einem Kreise zu glänzen, dem sie, trotz ihrer vornehmen Geburt, ihrer seltenen Schönheit und ihrem ausgezeichneten Geist, durch den Mangel an Vermögen ferngehalten wurde. Ich lachte darüber, daß sie sich, im Widerspruch mit aller Erfahrung, einem Gefühl hingeben zu können glaubte, wie wenn man dadurch den Hunger eines Menschen befriedigen könnte, daß man ihm die Speisen vorsetzt, die seine Sinne begehren, und ihm zugleich vorschreibt, sie nicht anzurühren. Doch konnte ich nicht umhin, sehr vernünftig zu finden, was sie in der Überzeugung naiver Unschuld ausgesprochen hatte: wenn man seinen Begierden widersteht, kann es einem nicht begegnen, daß man sich gedemütigt fühlt, nachdem man sie befriedigt hat. Daß sie sich vor solcher Demütigung fürchtete, hing mit ihrem Pflichtgefühl zusammen, und sie erwies mir eine Ehre, indem sie annahm, daß ich ihre Grundsätze teile. Wie dem auch sein mag, hier kam mein Selbstgefühl ins Spiel und ich faßte den Entschluß, nichts zu tun, wodurch ich ihr Vertrauen verlieren könnte.

Wie man sich denken kann, erwachte ich an diesem Tag sehr spät. Als ich aber meinem Kammerdiener geklingelt hatte, sah ich Clementina eintreten, die mir mit fröhlichem Gesicht einen guten Morgen wünschte. Sie hielt den Pastor fido in der Hand und sagte mir: »Ich habe soeben den ersten Akt gelesen. Niemals las ich etwas so Süßes, mein lieber Freund. Stehen Sie auf, wir wollen vor dem Mittagessen den zweiten Akt zusammen lesen.«

»Darf ich es wagen, in Ihrer Gegenwart aufzustehen?«

»Warum nicht? Ein Mann braucht nur sehr wenig Rücksichten zu nehmen, um den Anstand zu bewahren.«

»So machen Sie mir also das Vergnügen, mir jenes Hemd dort zu reichen!«

Eifrig breitete sie es aus und streifte es mir dann lachend über den Kopf.

»Bei der nächsten Gelegenheit,« sagte ich zu ihr, »werde ich Ihnen den gleichen Dienst erweisen.«

»Von Ihnen zu mir,« versetzte sie errötend, »ist ein geringerer Abstand als von mir zu Ihnen.«

»Das verstehe ich nicht, meine göttliche Hebe. Sie sprechen wie die Sibylle von Cumä, oder vielmehr, wie wenn Sie in Ihrem Tempel zu Korinth Orakelsprüche von sich gäben.«

»Hatte denn Hebe einen Tempel in Korinth? Davon hat Sardini nichts gesagt.«

»Aber Apollodor sagt es. Dieser Tempel war sogar ein Asyl. Aber ich komme wieder auf unsere Frage und bitte Sie, nicht auszuweichen. Was Sie gesagt haben, ist gegen die Geometrie. Der Abstand von Ihnen zu mir muß unbedingt der gleiche sein wie der von mir zu Ihnen.«

»Es kann wohl sein, daß ich eine Dummheit gesagt habe.«

»Durchaus nicht. Hebe. Gestatten Sie mir, beharrlich zu sein: Sie hatten einen Gedanken; mag er nun richtig oder falsch sein, ich wünsche, daß Sie ihn mir sagen.«

»Nun gut denn: Die beiden Entfernungen sind verschieden, je nach dem Aufsteigen und dem Absteigen, oder, wenn Sie wollen, dem Fallen. Ist denn nicht die Eigenschaft des Fallens allen Körpern eigentümlich, die nicht durch einen andern Körper zurückgehalten werden, der die Kraft besitzt, ihrer Schwerkraft zu widerstehen, ohne daß sie eines Antriebes oder Anstoßes bedürfen?«

»Ohne Zweifel.«

»Ist es nicht ferner wahr, daß ohne Antrieb kein Aufsteigen möglich ist?«

»Das ist vollkommen wahr.«

»Geben Sie mir also zu, daß ich, da ich kleiner bin als Sie, Sie nur durch eine aufsteigende Bewegung erreichen kann, was immer eine schwere Anstrengung erfordert, während Sie, um zu mir zu gelangen, sich nur fallen zu lassen brauchen, was keine Schwierigkeit bietet. Aus demselben Grunde laufen Sie keine Gefahr, indem Sie mir erlauben, Ihnen ein Hemd anzuziehen; ich aber würde mich einer großen Gefahr aussetzen, wenn ich Sie bei mir den gleichen Dienst verrichten ließe. Wenn Sie zu schnell auf mich fielen, könnten Sie mich erdrücken. Sind Sie jetzt überzeugt?«

»Überzeugt ist nicht das richtige Wort, schöne Hebe: ich bin entzückt, außer mir! Niemals, meine schöne Freundin, ist ein Paradoxon geistvoller verteidigt worden. Ich könnte Einwendungen machen, mit Ihnen streiten; aber ich will lieber schweigen, bewundern und anbeten.«

»Ich danke Ihnen, lieber Iolas. Aber keine Gnade! Welche Einwendungen könnten Sie mir machen?«

»Ick könnte Ihnen einwenden, daß es eine Geschicklichkeit von Ihnen war, Ihre Weigerung mit meiner Größe zu begründen, während Sie mir doch das Glück, Ihnen ein Hemd anzuziehen, nicht bewilligen würden, selbst wenn ich ein Zwerg wäre.«

»Sehr gut, mein lieber Iolas; wir können uns nicht betrügen, Ich wäre glücklich, wenn der Himmel mir einen Mann wie Sie zum Gatten bestimmt hätte.«

»Ach, warum bin ich nicht würdig, es zu werden!«

Ich weiß nicht, wohin dieses Gespräch uns noch hätte führen können, wenn nicht die schöne junge Mutter gekommen wäre, um uns zu sagen, daß man uns bei Tische erwarte; sie fügte hinzu, sie sehe mit großer Freude, daß wir uns liebten.

»Wir lieben uns wahnsinnig,« rief Clementina, »aber wir sind vernünftig.«

»Wenn ihr vernünftig seid, liebt ihr euch also nicht wahnsinnig.«

»Das stimmt ganz genau, göttliche Gräfin,« sagte ich; »denn Liebeswahnsinn und Vernünftigkeit passen nicht zueinander; aber trotzdem sind wir vernünftig, und Vernunft des Geistes kann sich recht wohl mit Wahnsinn des Herzens vereinigen.«

Wir speisten fröhlich zu Mittag; hierauf spielten wir, und am Abend lasen wir den Pastor fido zu Ende. Als wir damit fertig waren und über die Schönheiten des reizenden Werkes gesprochen hatten, fragte Clementina mich, ob der dreizehnte Gesang der Äneide schön sei.

»Meine liebe Gräfin, er taugt nichts, und ich habe ihn nur gelobt, um einem Nachkommen des Verfassers zu schmeicheln. Der Verfasser hat jedoch ein Gedicht über die Spitzbübereien der Bauern gemacht, das nicht übel ist. Aber Sie sind müde, und ich verhindere Sie, sich auszukleiden.«

»Glauben Sie das doch nicht!«

Sie kleidete sich augenblicklich mit der größten Ungezwungenheit aus, ohne jedoch meinen gierigen Blicken die mindeste Gunst zu gewähren, und legte sich zu Bett. Ich setzte mich neben sie; sie richtete sich zu einer sitzenden Stellung auf, und ihre Schwester drehte uns den Rücken zu. Der Pastor fido lag auf ihrem Nachttisch. Ich ergriff das Buch, schlug es aufs Geratewohl auf und traf auf die Stelle, wo Myrtill von der Süßigkeit des Kusses spricht, den er von Amaryllis empfing. Ich las die Stelle in dem Tone, der der Lage angemessen war. Da Clementina mir ebenso bewegt und gerührt erschien, wie ich selber es war, so preßte ich meinen Mund auf ihre Lippen. Welch reine Wollust! Da ich fühlte, daß meine Hebe meinen Kuß mit Entzücken einsaugte, und da ich an ihr keine Unruhe wahrnahm, so wollte ich sie an mein Herz drücken; aber sie stieß mich mit engelhafter Milde sanft zurück und bat mich, sie zu schonen.

Ihre Tugend lag in den letzten Zügen. Ich bat sie um Verzeihung, ergriff ihre schöne Hand und hauchte auf diese die ganze Glut aus, die meine Lippen verzehrte.

»Sie zittern!« sagte sie zu mir in jenem Tone, der die Erregung eines liebenden Herzens noch vermehren muß.

»Ja, meine göttliche Gräfin, ich zittere! Und ich kann Ihnen versichern, ich zittere vor Furcht, Ihnen mißfallen zu haben. Leben Sie wohl! Ich gehe, und wünsche mir, ich könnte Sie weniger lieben!«

»Warum? Ein solcher Wunsch kann nur ein Beginn von Haß sein. Machen Sie es wie ich: ich wünsche, die Liebe, die Sie mir eingeflößt haben, möge stets in demselben Verhältnis zunehmen, wie die Kraft, die ich brauche, um ihr zu widerstehen.«

Sehr unzufrieden mit mir selber legte ich mich zu Bett. Ich befand mich in einer solchen Stimmung, daß ich mir nicht klar werden konnte, ob ich zu weit oder nicht weit genug gegangen war. Aber darauf kam es weniger an: das Wesentliche war, daß ich Reue fühlte, und das ist nach meiner Meinung die allerpeinlichste Lage.

Ich sah in Clementina ein Weib, das die höchste Achtung und die vollkommenste Liebe verdiente, und ich wußte weder, wie ich aufhören könnte, sie zu lieben, noch wie ich fortfahren könnte, sie zu lieben, ohne die Belohnung zu erhalten, die ein leidenschaftlich Verliebter von dem Gegenstand seiner Liebe erwartet. Wenn sie mich liebt, sagte ich bei mir selber, kann sie mir diese Belohnung nicht verweigern; ich aber muß mich darum bemühen, ja sogar den Sieg mit Gewalt erringen, um ihre Niederlage zu rechtfertigen. Ein Liebhaber hat die Pflicht, die geliebte Frau zu nötigen, daß sie sich auf Gnade und Ungnade ergibt; dann wird die Liebe ihn niemals schuldig finden können. Gemäß dieser Folgerung, die ich ganz naiv in die Farbe meiner Leidenschaft und meines Interesses kleidete, konnte Clementina mir einen unbedingten Widerstand nur dann entgegensetzen, wenn sie mich nicht liebte, und ich fühlte mich verpflichtet, sie auf die Probe zu stellen. In diesem Gedanken bestärkte mich das Bedürfnis, aus der Aufregung herauszukommen, in die sie mich versetzt hatte; denn ich wußte, daß ich bald genesen würde, wenn ich sie unbeweglich fände. Zugleich aber erschien dieses Mittel mir abscheulich, und der Gedanke, Clementina nicht mehr lieben zu sollen, kam mir ebenso abgeschmackt wie grausam vor.

Nachdem ich eine sehr unruhige Nacht verbracht hatte, stand ich in aller Frühe auf und ging zu ihr, um ihr guten Morgen zu sagen. Sie schlief noch, aber die Gräfin Eleonora war beim Ankleiden. Sie sagte zu mir: »Meine Schwester hat bis drei Uhr morgens gelesen. Jetzt, da sie so viele Bücher hat, wird sie ganz verrückt werden. Wir wollen ihr doch einen Streich spielen! Legen Sie sich auf jene Seite neben sie; wir werden über ihre Überraschung lachen, wenn sie aufwacht.«

«Aber glauben Sie, daß sie die Sache scherzhaft nehmen wird?«

»Sie kann sie doch nur von der lächerlichen Seite auffassen; Sie sind ja angekleidet.«

Die Gelegenheit war zu verführerisch, die Aufforderung zu beruhigend; ich warf meinen Schlafrock ab und streckte mich, meine Nachtmütze auf dem Kopf, ganz leise auf Eleonoras Platz aus und deckte mich bis zum Halse zu. Die Schwester lachte, ich aber fühlte ein sehr heftiges Herzklopfen. Ich war nicht imstande, dem Streich jenen scherzhaften Anstrich zu geben, der allein ihn als unschuldig erscheinen lassen konnte. Ich wünschte, daß es noch recht lange dauern würde, bis sie erwachte, damit ich Zeit hätte, mich zu beruhigen, um ein lustiges Gesicht machen zu können.

Seit fünf Minuten befand ich mich in dieser Lage, als Clementina halb erwachte. Sie drehte sich zu mir um, ohne jedoch die Augen zu öffnen, streckte den Arm aus und gab mir in der Meinung, ihre Schwester zu berühren, einen Gewohnheitskuß; hierauf schien sie in dieser Stellung wieder einzuschlafen. Ich hätte sie sicherlich noch lange so liegen lassen; denn ihr warmer Atem berührte meine Lippen und gab mir einen Vorgeschmack von Ambrosia. Aber Eleonora konnte nicht mehr an sich halten; sie lachte laut heraus, so daß ihre Schwester erwachen mußte. Trotzdem merkte sie, daß sie mich in ihren Armen hielt, erst dann, als sie ihre Schwester vor dem Bett stehen und aus allen Kräften lachen sah.

»Das ist ein hübscher Streich,« sagte Clementina, ohne sich zu rühren, »und ich bewundere euch alle beide.«

Diese friedfertige Aufnahme meines Scherzes versetzte mich in meine natürliche Stimmung; von Selbstvertrauen wieder belebt, hatte ich nunmehr Selbstbeherrschung genug, um meine Rolle gut spielen zu können. »Auf diese Weise,« sagte ich, »habe ich von meiner schönen Hebe einen Kuß bekommen.«

»Ich glaubte ihn meiner Schwester zu geben. Es ist der Kuß, den Amaryllis dem Myrtill gab.«

»Das ist einerlei. Der Kuß hat seine Wirkung geübt, und Iolas ist verjüngt.«

»Meine liebe Eleonora, was du den guten Iolas hast machen lassen, geht zu weit; denn wir lieben uns, und ich träumte von ihm.«

»Es geht nicht zu weit,« sagte die Schwester, »denn dein Iolas ist ja vollkommen bekleidet. Sieh doch nur!«

Mit diesen Worten riß daß ausgelassene junge Mädchen die Decke von mir ab, um sie zu überzeugen; aber die Bewegung ihres Armes war zu stark gewesen, und sie entblößte Clementina, die einen leisen Schrei ausstieß und schnell mir zu verbergen suchte, was meine Blicke im Nu verschlungen hatten. Ich hatte alles gesehen, aber nur so, wie man jene Blitze sieht, die schneller durch die Luft fahren als jener Pfeil, der Helvetien frei machte; ich hatte das Gesimse und den Fries des Altars der Liebe gesehen, auf dem ich zu sterben wünschte.

Clementina deckte sich wieder zu, und Eleonora ging hinaus. Ich aber lag, den Kopf auf die eine Hand gestützt, schweigend und unbeweglich da und betrachtete den Schatz, den ich begehrte und dessen ich mich doch nicht zu bemächtigen wagte.

Endlich brach ich das Schweigen und sagte: »Meine liebe Hebe, Sie sind sicherlich schöner als jene, die an der Tafel der Götter den Nektar einschenkte. Ich habe gesehen, was Hebe bei ihrem Fall sehen ließ, und wäre ich Jupiter gewesen, ich hätte sicherlich anders gehandelt als er.«

»Sardini hat mir gesagt, Jupiter habe meine Schutzherrin fortgeschickt; um sie zu rächen, sollte ich jetzt Jupiter fortschicken.«

»Das gebe ich zu, mein Engel; ich aber bin Iolas, Ihr eigenes Werk. Ich bete Sie an und suche Begierden zu ersticken, die mich foltern.«

»Sie haben diesen schlechten Streich mit Eleonora verabredet.«

»Nein, mein Herz, es bestand nicht die geringste Verabredung. Der Zufall hat alles gefügt, ich bin hereingekommen, um Ihnen guten Morgen zu sagen; denn ich glaubte, Sie seien schon wach. Sie schliefen noch, und Ihre Schwester kleidete sich an. Ich betrachtete Sie, und da kam Eleonora auf den Einfall, ich sollte mich auf ihren Platz legen, damit wir bei Ihrem Erwachen über Ihr Erstaunen lachen könnten. Ich muß ihr dankbar sein für einen Einfall, den ich mir zunutze machen mußte, weil ich Sie liebe. Aber die Schönheiten, die sie mich hatte sehen lassen, übertreffen die Vorstellung, die ich mir von Ihnen machte. Wird meine reizende Hebe mir ihre großmütige Verzeihung versagen?«

»Nein; ich verzeihe, da der Zufall alles so gefügt hat. Aber es ist sonderbar, daß man unwillkürlich auf die Person eines Menschen neugierig wird, den man zärtlich liebt.«

»Diese Neugier ist höchst natürlich, meint göttliche Denkerin. Man könnte sogar die Liebe als eine mächtige Neugier betrachten, wenn es gestattet wäre, die Neugier zum Range einer Leidenschaft zu erheben. Aber Sie sind nicht neugierig auf mich?«

»Nein, denn Sie würden mir vielleicht nicht gefallen, und dieser Gefahr will ich mich nicht aussetzen; denn ich liebe Sie und bin entzückt von den Gefühlen, die bei mir zu Ihren Gunsten sprechen.«

»Ich fühle wohl, daß dies möglich ist, und daß ich mir folglich große Mühe geben muß, um diese Vorteile zu erhalten.«

»Sie sind also mit mir zufrieden?«

»Unaussprechlich! Ich bin ein ziemlich guter Baumeister und finde, daß Sie mit einer göttlichen Regelmäßigkeit gebaut sind.«

»Das freut mich, mein lieber Iolas, aber enthalten Sie sich jede Berührung! Um Ihr Urteil zu fällen, möge es Ihnen genügen, mich gesehen zu haben.«

»Ach! Gerade das Gefühl muß die Irrtümer der Augen berichtigen; denn durch das Gefühl überzeugt man sich von der Glätte und dem elastischen Widerstand. Erlauben Sie mir, diese beiden Lebensquellen zu küssen. Ich ziehe sie den hundert der Kybele vor und bin nicht eifersüchtig auf Attys.«

»Sie täuschen sich, lieber Freund; Sardini sagte mir, die Diana von Ephesus habe diese Brüste gehabt.«

Wie hätte ich nicht lachen sollen, da ich in einem solchen Augenblicke Clementinas Munde solche mythologische Gelehrsamkeit entströmen sah. Kann die Liebe auf eine solche Episode gefaßt sein? Kann sie sie fürchten oder vorhersehen? Nein; sie ist nicht natürlich oder zum mindesten sehr selten. In der Lage, in der ich mich befand, indem meine Hand einen Alabasterbusen drückte, mußte in Clementina die Leidenschaft des Wissens mächtiger sein als die Leidenschaft der Liebe, wenn sie nicht dem Feuer der Begierde unterliegen sollte. Ich fand indessen ihre Gelehrsamkeit durchaus nicht unangenehm, sondern faßte sie vielmehr als ein gutes Vorzeichen auf. Ich sagte ihr, sie habe recht, und aus literarischer Dankbarkeit dachte sie nicht daran, meinem Munde zu wehren, daß er sich eines kaum erblühenden Knöspchens bemächtigte, dessen Purpur die Pole ihrer beiden alabasternen Halbkugeln so wundervoll krönte.

»Du saugst vergeblich, teurer Iolas; es ist unfruchtbarer Boden. Geh zu meiner Schwester! Aber du schluckst ja etwas hinunter?«

»Ja, die Quintessenz meines eigenen Kusses.«

»Es ist wohl möglich, daß auch ein Teilchen von mir selber dabei ist, denn du hast mir eine Wonne bereitet, die ich nie zuvor gefühlt habe.«

»Teure Hebe, du machst mich überglücklich!«

»Das freut mich; aber mir scheint, der Kuß auf den Mund ist bei weitem vorzuziehen.«

»Ganz gewiß; denn bei diesem findet Gegenseitigkeit statt. Die Wonne erhöht sich für jeden um die ganze Summe der Wonne, die er dem andern mitteilt.«

»Lehre und Beispiel! Grausamer Lehrer! Mach ein Ende, lieber Freund; es ist zu süß! Amor sieht uns zu und lacht über unsere Verwegenheit.«

»Warum, liebe Freundin, zögern wir noch, ihm einen Sieg zuzugestehen, der uns nur glücklich machen kann?«

»Dieses Glück ist nicht sicher. Nein, bitte, tun Sie es nicht! Lassen Sie Ihre Arme hier oben! Wenn Küsse uns töten können, wollen wir uns töten! Aber laß uns anderer Waffen nicht bedienen!«

Nach einem langen ebenso süßen wie grausamen Kampf hielt sie zuerst inne. Mich mit flammensprühenden Augen ansehend, bat sie mich, sie allein zu lassen.

Es ist unmöglich, die Aufregung zu beschreiben, in der ich mich befand: ich machte mir Vorwürfe, daß ich mir eines traurigen Vorurteils wegen Zwang auferlegt hatte, und ich weinte vor Wut. Nachdem ich meine Glut durch eine Abwaschung gedämpft hatte, die mir niemals so notwendig gewesen war, kleidete ich mich an und kehrte in ihr Zimmer zurück.

Ich fand sie mit Schreiben beschäftigt.

»Ich bin froh, daß Sie wieder gekommen sind,« sagte sie zu mir; »ich fühle mich von einer Begeisterung beseelt, die ich nie zuvor empfunden habe. Ich will in Versen den Sieg besingen, den wir errungen haben.«

»Ein trauriger Sieg, den die Liebe verabscheut, weil er ein Schimpf für sie ist, und den die Natur hassen muß.«

»Sie werden poetisch. Lassen Sie uns alle beide schreiben: ich, um den Sieg zu feiern, Sie aber, um ihn zu schelten. Aber, lieber Freund, Sie sehen ja traurig aus!«

»Ich leide; da Sie jedoch die männliche Körperbildung nicht kennen, so können Sie den Grund nicht wissen.«

Clementina antwortete mir nicht; aber ich bemerkte, daß ihr die Sache zu Herzen ging. Ich litt einen dumpfen, aber starken Schmerz an jenem Teil, den ich dem Vorurteil zuliebe gefangen gehalten hatte, während Natur und Liebe verlangt hätten, daß er seine volle Freiheit bekäme. Nur die Ruhe des Schlafes konnte das Gleichgewicht wieder herstellen.

Wir gingen zum Mittagessen hinunter, aber ich rührte fast keine Speise an. Ich war keiner Aufmerksamkeit fähig und hörte daher zerstreut Herrn Vigi seine Übersetzung vorlesen, die er mitgebracht hatte; ich vergaß sogar die Höflichkeit in dem Grade, daß ich ihm nicht einmal ein Kompliment machte. Nachdem ich sodann den Grafen, meinen Freund, ersucht hatte, für mich eine Pharaobank aufzulegen, bat ich um Erlaubnis, zu Bett gehen zu dürfen. Niemand konnte die Natur meines Unwohlseins erraten, nur Clementina konnte sie wohl vermuten.

Ich schlief vier Stunden; hierauf stand ich auf und beschrieb in Danteschen Terzinen die Geschichte der Krankheit, die ich dem traurigen Siege verdankte.

Zur Zeit des Abendessens kam Clementina mit einem Bedienten, brachte mir einen leckeren Imbiß und sagte mir, daß die Bank gewonnen habe. Dies war das erstemal; denn ich hatte immer so abgezogen, daß ich verlieren mußte. Ich aß mit ziemlich gutem Appetit, aber traurig und schweigsam. Als ich fertig war, wünschte Clementina mir gute Nacht und sagte, sie wolle an ihrem Gedicht weiter arbeiten.

Ich war zum Dichten aufgelegt; von meinem Gegenstande ganz erfüllt, vollendete ich mein Gedicht und schrieb es ins Reine, bevor ich zu Bett ging. Am nächsten Morgen kam Clementina in aller Frühe zu mir und gab mir ihre Verse. Ich las diese mit Vergnügen; aber die Freude, die ich ihr durch meine Lobsprüche bereitete, war mindestens ebenso groß wie meine eigene.

Nachdem ich die Schönheit ihrer Gedanken von allen Selten hervorgehoben hatte, kam mein eigenes Gedicht an die Reihe, und ich bemerkte gar bald, welchen tiefen Eindruck die Schilderung meiner Leiden auf sie machte. Schwere Tränen standen in ihren schönen Augen, aber durch diese Tränen hindurch sprühten zärtliche Blitze. Ich hatte das Glück, sie schließlich sagen zu hören: wenn sie diese physischen Wirkungen gekannt hätte, so würde sie sich anders benommen haben.

Nachdem ich eine Tasse Schokolade mit ihr getrunken hatte, bat ich sie, sich unentkleidet neben mich zu legen und mich ebenso zu behandeln wie ich sie am Tage vorher behandelt hätte, damit sie ebenfalls das Martyrium zu erleiden hätte, das ich in meinen Versen besungen hätte. Sie lächelte und ergab sich meinen Bitten, aber unter der Bedingung, daß ich nichts gegen sie unternehme.

Diese Bedingung war grausam; es war aber doch schon ein Anfang vom Sieg, und deshalb mußte ich mich ihrem Willen unterwerfen. Ich hatte keine Ursache, über meine Gefügigkeit zu klagen; denn ich konnte den Despotismus genießen, den sie als Herrin meines ganzen Körpers über mich ausübte, und konnte mich an der Qual freuen, die sie ausstehen mußte, weil ich nicht einen gleichen Despotismus über sie ausübte und weil sie ihren Augen den Anblick der Reichtümer versagen mußte, über die ihre Hände verfügten. Vergebens forderte ich sie auf, sich zu befriedigen, ihren Begierden nichts zu versagen; sie behauptete fortwährend, sie wünsche nichts weiter als was sie bereits tue. »Unmöglich!« sagte ich zu ihr, »kann in diesem Augenblick Ihr Genuß dem meinigen gleichkommen.« Aber ihr scharfer Geist wußte sofort eine Antwort darauf; sie erwiderte: »Dann wäre es doch ungerecht, wenn Sie sich darüber beklagen wollten.«

Die Prüfung war indessen doch zu stark gewesen, um nicht entscheidend zu sein. Sie erhob sich ganz entflammt von meiner Seite, gab mir einen jener Küsse, die alle Zweifel beseitigen, und ging hinaus, indem sie zu mir sagte, sie sei jetzt überzeugt, daß man in der Liebe alles haben müsse oder nichts.

Wir verbrachten den Tag mit Lesen, Essen, Spazierengehen und mit fröhlichen, zweideutigen, ernsten Unterhaltungen; leider konnte ich jedoch nicht bemerken, daß unsere Liebe so große Fortschritte machte, wie die Probe vom Morgen anscheinend mir versprach. Clementina wollte das Gegenteil von jener Umschrift auf der Medaille des Aristipp bedeuten, worin es in bezug auf die Lais hieß: Ich besiege sie, aber sie besiegt mich nicht; sie wollte meine liebende Herrin sein, aber mich nicht ihren liebenden Herrn sein lassen. Ich beklagte mich freundlich darüber, aber damit kam ich nicht weiter.

Zwei oder drei Tage später schlug ich ihr in Gegenwart ihrer Schwester vor, sie solle mich an ihrer Seite schlafen lassen. Dies ist das Auskunftsmittel, das man einer Nonne, einer Witwe oder einem mannbaren Mädchen vorschlägt, die aus Furcht vor den Folgen nichts von der Liebe wissen wollen, und dieses Mittel glückt fast immer, wenn der, der es vorschlägt, geliebt wird. Ich zog aus meiner Tasche ein Päckchen feine englische Überzieher und erklärte ihr deren Anwendung. Sie nahm sie und untersuchte sie genau. Nachdem sie aber sehr darüber gelacht hatte, rief sie, diese Dinger seien abscheulich, ekelhaft, skandalös, und ihre Schwester stimmte ein. Vergebens wollte ich diese Vorwürfe zurückweisen, indem ich auf die Beruhigung aufmerksam machte, die sie verschafften; sie behauptete jedoch, die Überzieher seien nicht sicher, es könne leicht vorkommen, daß sie platzten. Um mich hiervon zu überzeugen, steckte sie den Finger in einen von den Überziehern und stieß so stark, daß er mit einem Knall zerriß. Notgedrungen mußte ich mich also ergeben; ich steckte meine Instrumente wieder ein, und sie sagte mir noch, dieses Mittel flöße ihr Abscheu ein.

Ich wünschte den beiden Mädchen gute Nacht und entfernte mich in ziemlicher Verwirrung. Indem ich über Clementinas eigentümlichen Widerstand nachdachte, gelangte ich zu der Überzeugung, daß sie nur deshalb so standhaft sein könnte, weil ich ihr nicht genug Liebe eingeflößt hätte. Ich beschloß daher, diese Liebe durch ein unfehlbares Mittel zu steigern: ihr nämlich neue Vergnügungen zu verschaffen, ohne dabei auf die Geldausgabe zu sehen. Ich wußte nichts Besseres zu tun, als mit der ganzen Familie nach Mailand zu fahren und ihnen bei meinem Pastetenbäcker ein prachtvolles Bankett zu geben. Ich überlegte mir folgendes: Ich werde die ganze Familie hinführen, ohne vorher ein Wort davon zu sagen, als bis wir unterwegs sind; denn wenn ich sagte, daß ich nach Mailand wollte, würde möglicherweise mein Freund sich verpflichtet fühlen, seiner Spanierin Bescheid zu geben, um ihr seine Schwägerinnen vorzustellen, und dies würde mir ganz und gar nicht passen. Ich dachte, dieser Ausflug müßte den drei Schwestern sehr verführerisch erscheinen, da sie Mailand noch niemals gesehen hatten. Meine Phantasie zeigte mir diesen Plan in immer schönerem Lichte, und ich beschloß, diesen Ausflug mit allem Glänze auszustatten, der sich mit meinen Absichten vereinigen ließ.

Kaum war ich erwacht, so schrieb ich an Zenobia, sie solle drei Kleider von den schönsten Lyoner Seidenstoffen für drei junge Damen von Stande kaufen. Ich schickte ihr die Maße und schrieb ihr ganz genau vor, wie die Kleider besetzt werden sollten. Das von mir für die verheiratete Gräfin bestimmte sollte von perlgrauem Atlas und reich mit Valencienner Spitzen besetzt sein. Ich fügte meinem Briefe eine Anweisung auf Herrn Greppi bei, den ich bat, er möchte ihr einen Mann mitgeben, um alles zu bezahlen, was sie kaufen würde. Ich befahl ihr, die drei Kleider nach meiner Privatwohnung zu bringen und sie dort auf meinem Bett auszubreiten. Ferner legte ich einen Brief an meinen Pastetenbäcker bei, worin ich eine Mahlzeit für acht Personen bestellte und ihm einschärfte, daß er keine Kosten sparen sollte. Zenobia sollte sich am bestimmten Tage bei dem Pastetenbäcker einfinden, um die drei Damen zu bedienen, die mit mir kommen würden. Meinen Brief ließ ich durch Clairmont nach Mailand bringen, ohne daß ein Mensch etwas davon erfuhr.

Vor dem Mittagessen war Clairmont bereits zurück; er brachte mir ein Briefchen von Zenobia, die mir versicherte, es solle alles nach meinen Wünschen gemacht werden. Beim Nachtisch wandte ich mich an die Gräfin und sagte zu ihr, ich wünsche ihr ein Mittagessen in derselben Art wie seinerzeit in Lodi zu geben, aber unter zwei Bedingungen: erstens, daß niemand erführe, wohin wir gingen, bis wir im Wagen säßen; zweitens, daß wir nach dem Essen wieder in die Wagen stiegen, um zum Schlafen in Sant‘ Angelo zu sein.

Anstandshalber sah die Gräfin, bevor sie antwortete, ihren Gemahl an; dieser aber ließ sich nicht lange bitten, sondern rief, er sei zur Fahrt bereit, und wenn ich auch die ganze Familie entführen wolle.

»Also gut!« sagte ich. »Wir werden morgen früh um acht Uhr abfahren, und Sie brauchen sich um nichts zu bekümmern; die Wagen werden bereit stehen.«

Ich glaubte, den guten Domherrn nicht von der Teilnahme an unserem Ausflug ausschließen zu dürfen, nicht nur, weil er der Gräfin Ambrogio sehr angelegentlich den Hof machte, sondern auch, weil er ein eifriger Spieler geworden war und jeden Abend verlor, so daß eigentlich er die Kosten des Festes bestritt. Er verlor an diesem selben Abend dreihundert Zechinen auf Wort und war genötigt, mich um eine Frist von drei Tagen zu bitten. Ich antwortete ihm, mein ganzes Vermögen stehe zu seiner Verfügung.

Als die Gesellschaft sich trennte, reichte ich meiner Hebe den Arm und begleitete sie und ihre Schwester in ihre Zimmer. Wir hatten die »Mehrheit der Welten« von Fontenelle zu lesen begonnen, und ich glaubte, wir würden vor dem Schlafengehen damit fortfahren; als ich jedoch diesen Vorschlag machte, sagte Clementina, sie wolle zu Bett gehen, da sie am andern Morgen schon so früh aufstehen müsse.

»Sie haben recht, meine liebe Hebe: legen Sie sich zu Bett; unterdessen werde ich Ihnen etwas vorlesen.«

Da sie nichts hiergegen einzuwenden hatte, so nahm ich den Ariosto und las, so gut ich nur konnte, die Geschichte von der spanischen Prinzessin Fiordespina, die sich in Bradamante verliebt hatte. Ich glaubte, diese reizende Geschichte würde Clementina in Feuer und Flammen setzen; aber ich irrte mich: sie war verdrießlich, ebenso ihre Schwester Eleonora.

»Was haben Sie denn, liebes Herz? Hat Ricciardetto Ihnen vielleicht mißfallen?«

»Nein, er hat mir im Gegenteil sehr gefallen, und an Stelle der Prinzessin hätte ich mich ebenfalls in ihn verliebt; aber wir werden diese ganze Nacht nicht schlafen, und daran sind Sie schuld.«

»Ich? Was habe ich denn getan?«

»Ach – nichts. Aber Sie könnten uns glücklich machen, indem Sie uns einen großen Beweis Ihrer Freundschaft gäben.«

»Sprechen Sie! Worum handelt es sich? Gibt es denn etwas, was ich nicht Ihnen zu Gefallen gern tun würde, wenn es in meiner Macht stände? Mein Leben, ja sogar mein Wille gehören Ihnen. Sie sollen schlafen.«

»Nun, so vertrauen Sie uns an, wohin wir morgen fahren.«

»Habe ich Ihnen nicht gesagt, daß ich es Ihnen im Augenblick der Abfahrt sagen würde?«

»Ja, aber das genügt uns nicht. Wir werden vor Verlangen sterben, es schon heute zu wissen. Wir können unsere Neugier nicht bezwingen, und wenn Sie unseren Wunsch nicht befriedigen, werden wir die ganze Nacht nicht schlafen und dann werden wir morgen den ganzen Tag verdrießlich sein und abscheulich aussehen,«

»Dies würde mich tief betrüben; aber ich bezweifle, daß es Ihnen möglich ist, jemals abscheulich auszusehen.«

»Zweifeln Sie an unserer Verschwiegenheit? Übrigens kann das Geheimnis nicht bedeutend sein.«

»Allerdings nicht, es hat durchaus keine Bedeutung. Aber es ist ein Ordensgeheimnis.«

»Es ist abscheulich, daß Sie mir meine Bitte abschlagen.«

»Si, liebe Hebe, wie könnte ich Ihnen eine Bitte abschlagen? Ich gestehe sogar, es ist unartig von mir, daß ich Sie so lange warten lasse. Also hören Sie: ich gebe Ihnen morgen ein Mittagessen in meiner Wohnung.«

»In Ihrer Wohnung? Aber wo denn?«

»Ihre Frage ist berechtigt: in Mailand.«

»In Mailand! In Mailand! Oh, welches Glück!«

Indem sie diese Worte mit ungemessener Freude wiederholten, sprangen sie aus dem Bett, fielen mir ohne jede Toilettenförmlichkeit um den Hals, bedeckten mich mit Küssen, preßten mich in ihre Arme und setzten sich hierauf auf meinen Schoß.

»Niemals haben wir Mailand gesehen!« riefen sie fortwährend alle beide; »niemals haben wir einen so sehnlichen Wunsch gehabt, als diese herrliche Stadt zu sehen. Wie oft sind wir errötet, wenn wir gestehen mußten, daß wir sie nie gesehen hatten!«

»Dieser Ausflug macht mich glücklich,« sagte Hebe; »aber mein Glück trübt sich bei dem Gedanken, daß wir nichts sehen werden; denn Sie haben uns das harte Gesetz auferlegt, sofort nach dem Essen zurückzufahren. Das ist doch barbarisch! Kann man fünfzehn Miglien fahren, nur um in Mailand zu speisen, und dann denselben Weg zurückfahren, gewissermaßen um die Verdauung zu erleichtern! Zum mindesten müßten wir doch unsere Schwägerin besuchen.«

»Ich habe alle eure Einwendungen vorausgesehen, liebe Kinder; unk dies ist eben der Grund, warum ich die Sache geheim halten wollte. Aber die Partie ist nun einmal so angeordnet. Gefällt sie Ihnen nicht? Dann sprechen, befehlen Sie!«

»Wie sollte sie uns mißfallen, teuerer Iolas? Die Partie ist so, wie Sie sie sich ausgedacht haben, reizend, selbst wenn sie uns noch einiges zu wünschen übrig lassen sollte; vielleicht würde sie sogar durch den Grund der Beschränkung, wenn wir ihn kennten, noch einen neuen Reiz erhalten.«

»Das ist wohl möglich, meine göttliche Hebe; aber für heute kann dieser Grund für Sie keine Bedeutung haben, und ich darf ihn Ihnen nicht sagen.«

»Wir werden auch die Unbescheidenheit nicht so weit treiben, Sie danach zu fragen.«

Mit diesen Worten umarmte sie mich freudetrunken von neuem; Eleonora aber sagte, sie wolle schlafen, damit sie am nächsten Morgen recht munter sei. Dies war das beste, was sie tun konnte. Denn da ich fühlte, daß das Schäferstündchen nahte, so befeuerte ich Clementinas Küsse durch die Glut der meinigen, und von Freude und Liebe entflammt, dachte sie nicht mehr daran, meinen kühnen Angriffen Widerstand zu leisten. Bald war ich ganz in den Tempel eingedrungen, den zu betreten ich so heiß begehrt hatte. Stumm vor Glück und Wollust, teilte Hebe mein Entzücken, mein überschwengliches Glück und vermischte ihre Tränen wonniger Seligkeit mit denen, die ich im Übermaß der Lust vergoß.

Nachdem wir zwei Stunden in dieser wonnigen Selbstvergessenheit verbracht hatten, ging ich freudetrunken zu Bett, ungeduldig dem nächsten Tag entgegensehend, um die Liebesszene noch vollständiger und in einer bequemeren Lage zu wiederholen.

Um acht Uhr waren wir alle am Frühstückstisch versammelt; aber trotz allen meinen Anstrengungen und trotz der glücklichen Stimmung, worin sich meine Lebensgeister befanden, gelang es mir nicht, auch nur einen Schimmer von Heiterkeit auf die Gesichter meiner Gäste zu locken; Herren und Damen waren nachdenklich; die Neugier fraß an ihnen. Clementina und ihre junge Schwester wagten nicht, ihre innere Befriedigung zu zeigen, und stimmten in dieses Konzert der Schweigsamkeit ein. Ich hatte meine innere Freude daran.

Clairmont hatte alle meine Anordnungen aufs beste ausgeführt. Als er uns meldete, daß die Wagen vorgefahren seien, lud ich meine Gäste ein, hinunterzugehen. Man folgte mir schweigend. Ich brachte die Gräfin Ambrogio und Clementina in meinem Wagen unter; die letztere hatte den Säugling auf dem Schoß. Nachdem ich hierauf Eleonora und die drei Herren im zweiten Wagen hatte Platz nehmen lassen, rief ich lachend: »Nach Mailand!«

»Nach Mailand! Nach Mailand!« wiederholten alle Gäste stürmisch. »Bravo!«

Clairmont ritt auf einem guten Pferde uns voraus, und wir fuhren ab. Clementina spielte die Erstaunte; ihre Schwester strahlte vor Freude, sah aber zugleich ein wenig überrascht aus, wie wenn das unerwartete Ereignis ihr Anlaß zu Bedenken gäbe. Da wir jedoch in aller Muße darüber plaudern konnten, so bemerkte ich bald, daß ihre Sorgen verschwunden waren, und nun herrschte unter uns dreien vollkommene Fröhlichkeit. Auf halbem Wege hielten wir in einem Dorfe an, um die Pferde verschnaufen zu lassen, und stiegen alle aus.

Ich hatte einige Zweifel, daß meinem Freunde, dem Grafen, die Partie vielleicht nicht so ganz recht sein konnte; aber zu meiner Befriedigung sah ich, daß alle einverstanden waren und sich mit meinem Streich abgefunden hatten.

»Was wird meine Frau sagen?« fragte der Graf mich.

»Nichts, denn sie wird nichts davon erfahren. Auf alle Fälle werde ich der einzige Schuldige sein. Sie werden bei mir speisen, in einer Wohnung, die ich inkognito gemietet habe, seit ich in Mailand bin; denn, mein lieber Freund, Sie haben gewiß begriffen, daß die Wohnung bei Ihnen mir nicht genügen konnte, da der Platz bereits besetzt war.«

»Und Zenobia?«

»Ja, mein Lieber, Zenobia ist ein sehr leckerer Bissen, aber sie war doch kein täglich Brot für mich.«

»Sie sind ein Glücksmensch!«

»Ich bemühe mich, glücklich zu sein.«

»Lieber Mann,« sagte die Gräfin Ambrogio, »seit zwei Jahren gehst du mit dem Plan um, mir Mailand zu zeigen. Der Herr Chevalier hat nur eine Viertelstunde über den Plan nachgedacht, und schon sind wir unterwegs.«

»Da hast du recht, liebe Freundin; aber nach meinem Plan sollten wir einen Monat dort verbringen.«

»Wenn Sie einen Monat bleiben wollen,« sagte ich zu ihm, »so übernehme ich alles.«

»Ich danke Ihnen, mein werter Herr! Sie sind ein außerordentlicher Mensch.«

»Sie erweisen mir, Herr Graf, weit mehr Ehre, als ich verdiene. An mir ist weiter nichts Außerordentliches, als daß ich leicht finde, was wirklich leicht ist.«

»Das kann wohl sein; aber Sie werden zugeben, daß die Schwierigkeiten entweder aus dem Standpunkt hervorgehen, von dem aus man die Verhältnisse betrachtet, oder aus der Lage, worin man sich befindet.«

»Das gebe ich zu.«

Als wir wieder eingestiegen waren, sagte die Gräfin zu mir:

»Gestehen Sie, Herr Chevalier, daß Sie ein glücklicher Mensch sind.«

»Ich bestreite das nicht, liebenswürdige Gräfin. Aber mein Glück hängt von meiner Gesellschaft ab; wenn Sie mich aus der Ihrigen verweisen würden, wäre ich unglücklich.«

»Sie sind nicht der Mann, den man hinausweisen würde.«

»Dies ist ein sehr freundliches Kompliment.«

»Sagen Sie: ein sehr wahres.«

»Es macht mich glücklich, daß Sie das sagen. Aber man würde mich für einen anmaßenden Laffen halten, wenn ich selber es sagte.«

So erheiterten wir die Fahrt durch tausend liebenswürdige und galante Bemerkungen, besonders auf Kosten des Domherrn, der die Gräfin gebeten hatte, bei mir ein gutes Wort einzulegen, daß ich ihm erlauben möchte, sich auf eine halbe Stunde zu entfernen.

»Ich muß«, hatte er zu ihr gesagt, »einer Dame einen Besuch machen, deren gute Meinung von mir unwiderruflich dahin sein würde, wenn sie erführe, daß ich in Mailand gewesen wäre, ohne ihr meine Aufwartung zu machen.«

»Sie müssen sich, hochwürdiger Herr,« hatte die liebenswürdige Dame ihm geantwortet, »der allgemeinen Bedingung unterwerfen; rechnen Sie also nicht auf meine Verwendung.«

»Wir kamen in Mailand Schlag zwölf Uhr an und stiegen vor dem Hause des Pastetenbäckers ab. Die Frau bat die Gräfin, ihr ihren Säugling anzuvertrauen, indem sie ihr, um ihren Widerstand zu besiegen, einen wundervollen Busen zeigte, der dafür zeugte, daß sie halten würde, was sie versprach. Diese Szene mütterlicher Gastfreundschaft spielte sich am Fuße der Treppe ab, und die Gräfin nahm das Anerbieten mit einer Anmut und Würde an, die mich bezauberten. Es war eine entzückende Episode, die der Zufall herbeigeführt hatte, um die meinem Geist entsprungene Komödie zu verschönen. Alle schienen glücklich zu sein, ich aber war es mehr als alle anderen, und ich fühlte dies. Das Glück ist an und für sich lediglich Einblldungssache; um glücklich zu sein, muß man sich für glücklich halten. Ich gebe jedoch zu, daß die Umstände, die unseren Geist in die geeignete Stimmung versetzen, oftmals nicht von uns abhängen, während dagegen ungünstige Umstände gewöhnlich das Ergebnis unserer eigenen Handlungen sind.

Nachdem die Gräfin meinen Arm genommen, führte ich die Gesellschaft in meine Wohnung, die von Sauberkeit glänzte. Ich sah Zenobia, wie ich es erwartet hatte, aber zu meiner angenehmen Überraschung erblickte ich neben ihr Croces Geliebte, schön wie eine Liebesgöttin. Ich tat jedoch, wie wenn ich sie nicht kennte. Sie war sehr gut angezogen, und ihr Gesicht, von dem der Ausdruck der Traurigkeit entschwunden war, den es getragen hatte, als ich sie zum ersten Male sah, hatte etwas so Verführerisches an sich, daß es mir nach dem ersten Eindruck, den ein schönes Gesicht immer auf mich macht, beinahe leid tat, sie in diesem Augenblick bei mir zu sehen.

»Das sind zwei sehr hübsche Mädchen«, sagte die verheiratete Gräfin. »Wer sind Sie, meine jungen Damen?«

»Wir sind«, antwortete Zenobia, »die sehr ergebenen Dienerinnen des Herrn Chevalier und sind hierher gekommen, um die Ehre zu haben, Sie zu bedienen.«

Zenobia hatte auf ihre eigene Verantwortung die schöne Marseillerin mitgebracht, die bereits anfing, italienisch zu sprechen, und die mich mit einem scheuen Blick ansah, weil sie fürchtete, ich könnte es übelnehmen, daß sie ohne meinen Befehl gekommen wäre. Ich glaubte, sie beruhigen zu müssen, und sagte ihr daher, ich sei erfreut, daß sie Zenobia begleitet habe. Diese Worte waren Balsam für ihr Herz. Ihre Stirn erheiterte sich, und ihre Schönheit erhielt dadurch neuen Glanz. Das schöne junge Mädchen konnte nicht lange unglücklich sein, denn es war unmöglich, sie zu sehen, ohne eine lebhafte Teilnahme für sie zu fühlen. Ein Empfehlungsbrief, der von der Hand der Grazien auf die Schönheit geschrieben ist, wird niemals unter Protest zurückgewiesen; denn wer Augen und ein Herz hat, bezahlt bei Sicht.

Meine freundlichen Dienerinnen nahmen den drei Damen die Mäntel ah und folgten ihnen in mein Schlafzimmer, wo die drei schönen Kleider auf einem Tische ausgebreitet lagen. Ich kannte nur das mit Spitzen besetzte, zartgraue Atlaskleid, weil ich nur dieses besonders bezeichnet hatte. Die Gräfin, die vor ihren beiden Schwestern eintrat, bemerkte es zuerst und rief, indem sie näher trat: »Was für ein schönes Kleid! Wem gehört es denn, Herr von Seingalt? Sie müssen es doch wissen!«

»Selbstverständlich, gnädige Frau. Es gehört Ihrem Herrn Gemahl, der damit tun mag, was er will. Ich hoffe, wenn er es Ihnen schenkt, werden Sie ihm nicht den Schimpf antun, es zurückzuweisen. Sehen Sie, Herr Graf, dieses Kleid gehört Ihnen, und ich schieße mir eine Kugel durch den Kopf, wenn Sie mir nicht die Ehre erweisen, es anzunehmen.«

»Wir haben Sie zu lieb, um Sie zu einer Verzweiflungstat treiben zu wollen. Dieser Zug ist ebenso edel wie neu; er ist Ihrer würdig. Ich empfange also Ihr schönes Geschenk mit der einen Hand und gebe es mit der andern an die, der es gebührt. Denn ich spiele bei dieser Gelegenheit die Rolle eines Reflexspiegels.«

»Wie, mein lieber Mann, dieses prachtvolle Kleid gehört mir? Wem soll ich danken? Allen beiden. Ich will mich unbedingt für die Mahlzelt damit schmücken.«

Die beiden anderen Kleider waren nicht so reich, aber, glänzender, und ich freute mich innig, als ich sah, wie die Augen meiner Clementina sich auf das längere hefteten. Eleonora ihrerseits bewunderte das Kleid, das, wie sie erriet, für sie bestimmt war. Das erste war von herrlichem, apfelgrün und rosarot gestreiftem Atlas und mit Federblumen von bestem Geschmack verziert; das zweite, ebenfalls von Atlas, war himmelblau mit tausend Blümchen und mit Mignonettesspitzen besetzt, die eine sehr schöne Wirkung übten. Zenobia sagte, ohne mich zu fragen, zu Clementina, das erstere sei für sie.

»Woher wissen Sie denn das?«

»Gnädiges Fräulein, es ist das längere, und Sie sind die größere.«

»Da haben Sie recht. Es ist also mein?« fragte sie, indem sie sich zu mir wandte.

»Wenn ich hoffen darf, daß Sie es anzunehmen geruhen.«

»Daran kann nicht der geringste Zweifel sein, Iolas; ich werde es sofort anziehen.«

Eleonora sagte, ihr Kleid sei das schönste, und sie sterbe vor Verlangen, sich damit geschmückt zu sehen.

»Gut!« rief ich überglücklich. »Wir werden Sie allein lassen, damit Sie sich in aller Bequemlichkeit anziehen können. Diese beiden Damen sind dazu da, um Sie zu bedienen.«

Ich ging mit den beiden Brüdern und dem Domherrn hinaus und bemerkte, daß diese ganz betroffene Gesichter machten. Ohne Zweifel dachten sie über die Verschwendung eines Spielers nach, dem das Geld nichts kostete. Ich versuchte nicht, sie zum Sprechen zu bringen, denn da es meine Leidenschaft war, Leute in Erstaunen zu setzen, konnte ihr Erstaunen mir nur angenehm sein. Ich gestehe, es war ein Gefühl zügelloser Eitelkeit, das mich den Menschen meiner Umgebung überlegen machte; wenigstens glaubte ich dies, und das genügte mir. Ich würde jeden verachtet haben, der es gewagt hätte, mir zu sagen, man mache sich über mich lustig; trotzdem ist es wohl möglich, daß man mir damit nur die Wahrheit gesagt hätte.

Da ich von wirklicher Freude beseelt war, so teilte ich diese bald meinen Gästen mit. Ich umarmte herzlich den Grafen Ambrogio, indem ich ihn um Verzeihung bat, daß ich es gewagt hätte, seinen Angehörigen einige kleine Geschenke zu machen, und ich dankte seinem Bruder, daß er mir dies ermöglicht hatte. »Ich bin bei Ihnen so außerordentlich gut aufgenommen,« setzte ich hinzu, »daß ich mir nicht das Glück versagen konnte, Ihnen ein wenig meine Dankbarkeit dafür zu bezeigen.«

Bald kamen die schönen Gräfinnen, strahlend in ihrem Putz und in ihrer Freude. Sie sagten zu mir: »Es ist unmöglich, daß Sie uns nicht Maß genommen haben; nur wissen wir nicht, wie Sie das hätten machen sollen.«

»Das Spaßhafteste dabei ist,« rief die älteste von den Schwestern, »daß Sie mein Kleid so haben machen lassen, daß man es nach Bedürfnis weiter machen kann, ohne den Schnitt zu ändern. Aber was für ein prachtvoller Besatz! Der ist viermal so viel wert als das Kleid.«

Clementina konnte nicht vom Spiegel fortfinden. Sie bildete sich ein, ich hätte ihr mit den Farben rot und grün die Attribute der jungen Hebe beilegen wollen. Die jüngste Schwester behauptete immerzu, ihr Kleid sei das schönste.

Hocherfreut über die Zufriedenheit meiner schönen Damen, bat ich die Gäste, zu Tisch zu gehen. Wir hatten alle einen ausgezeichneten Appetit, und man trug uns eine vortreffliche Mahlzeit von Fleisch und Fastenspeisen auf. Alles war köstlich; die Krone des Mahles aber war ein Korb Austern aus dem Arsenal von Venedig, den mein Pastetenbäcker dem Haushofmeister des Herzogs von Modena wegzukapern gewußt hatte. Wir schwelgten darin. Wir vertilgten dreihundert Stück, denn unsere Damen waren Lecker und der Domherr unersättlich, und wir befeuchteten sie mit einer Menge Flaschen Champagner. Wir blieben drei Stunden bei Tisch, tranken, sangen und scherzten nach Herzenslust, denn wir waren alle von gleicher Fröhlichkeit beseelt. Während dieser ganzen Zeit warteten uns meine immer willigen Dienerinnen auf, deren Reize es mit denen der sie bewundernden Damen aufnehmen konnten.

Gegen Ende der Mahlzeit trat die schöne Pastetenbäckerin fröhlichen Gesichtes mit bloßem Busen ein und reichte der Gräfin ihr Kind, das sich an ihrer Brust festgesogen hatte. Es war eine Theaterszene. Die Freude der liebenswürdigen Mutter äußerte sich in einem Aufjauchzen, als sie ihr Kind sah, und die Pastetenbäckerin strahlte vor Stolz darüber, daß sie vier Stunden lang den einzigen Sprößling einer so erlauchten Familie besessen hatte. Bekanntlich hat die Phantasie, die auf die Männer so stark wirkt, daß man sie für die Schöpferin des Genius halten könnte, auf die Frauen einen Einfluß, der sich gar nicht berechnen läßt. Diese Frau war einfach und gut, wie es im allgemeinen alle Frauen aus dem Volke sind, wenn nicht Laster und Elend sie verderben und herabwürdigen; wer weiß, ob nicht meine Pastetenbäckerin sich einbildete, ihren eigenen Sprößling zu adeln, indem sie ihre Brust einem jungen Grafen bot? Solche Ideen sind natürlich unsinnig, aber gerade darum macht das Volk sie sich zu eigen.

Wir verbrachten noch eine Stunde damit, Kaffee und Punsch zu trinken; hierauf zogen die Gräfinnen wieder ihre Kleider an, in denen sie am Morgen gekommen waren. Zenobia packte die drei Kleider in Schachteln und ließ diese an meinen Wagen festbinden.

Croces Geliebte benutzte einen günstigen Augenblick, um mir unter vier Augen zu sagen, sie sei mit Zenobia sehr zufrieden, und um mich zu fragen, wann wir abreisen würden.

Ich drückte ihr die Hand und sagte: »Sie werden spätestens vierzehn Tage nach Ostern in Marseille sein.«

Zenobia, die ich gleich zu Anfang heimlich befragt hatte, hatte mir gesagt, die junge Marseillerin sei ein sehr liebenswürdiges und anständiges Mädchen, und es würbe ihr sehr leid tun, wenn sie sich von ihr trennen müsse. Ich gab ihr zwölf Zechinen zum Dank für ihre Bemühungen.

Mit allem sehr zufrieden, bezahlte ich dem wackeren Pastetenbäcker eine recht starke Rechnung: ich bemerkte dabei, daß wir mehr als zwanzig Flaschen Champagner getrunken hatten. Allerdings hatten wir fast gar keinen anderen Wein getrunken, da meine drei Damen eine ganz besondere Vorliebe für diesen Saft hatten.

Ich liebte, ich wurde geliebt, ich war gesund, ich hatte viel Geld, ich verschwendete es zu meinem Vergnügen und ich war glücklich. Dies sagte ich mir gern und lachte dabei über die dummen Moralisten, die behaupten, es gäbe kein wahrhaftes Glück auf Erden. Und grade dieses Wort: »auf Erden« erregt meine Heiterkeit: wie wenn es möglich wäre, das Glück anderswo zu suchen! Mors ultims linea rerum est! Ja, der Tod ist die letzte Zeile im Buche des Lebens; er ist das Ende von allem, denn mit dem Tode hört der Mensch auf, Sinne zu haben; aber ich bin weit entfernt, zu behaupten, daß der Geist das Schicksal der Materie teilt. Man darf nur behaupten, was man positiv kennt, und bei den letzten Grenzen des Möglichen muß der Zweifel beginnen.

Ja, ihr verdrießlichen und unklugen Moralisten, es gibt Glück auf Erden, sogar viel Glück, und jeder hat seinen Teil daran. Es ist nicht dauernd, nein, das ist es allerdings nicht; es entschwindet, kehrt zurück und entschwindet von neuem nach jenem Naturgesetz, das für alles Geschaffene gilt: der Bewegung, der ewigen Umwälzung der Menschen und Dinge. Vielleicht übersteigt die Summe der Übel, die eine Folge unserer körperlichen und geistigen Unvollkommenheit sind, für jedes einzelne Individuum die Summe des Glückes. Das alles ist wohl möglich, aber es folgt nicht daraus, daß es nicht Glück, und zwar viel Glück gibt. Wenn es kein Glück auf Erden gäbe, wäre die Schöpfung eine Mißgeburt, und Voltaire hätte recht gehabt, unseren Planeten die Latrine des Weltalls zu nennen; ein schlechter Witz, der nur eine Ungereimtheit oder vielmehr überhaupt nur ein Ausbruch galliger Dichterlaune ist. Ja, es gibt Glück und viel Glück! Das wiederhole ich heute, da ich es nur noch in der Erinnerung kenne. Diejenigen, die aufrichtig bekennen, daß sie das Glück empfinden, sind würdig, es zu besitzen; seiner unwürdig aber sind jene, die es leugnen, obwohl sie es genießen, und diejenigen, die es vernachlässigen, obwohl sie es sich verschaffen könnten. Ich habe mir in diesen beiden Beziehungen keinen Vorwurf zu machen.

Es war sieben Uhr, als wir meine hübsche Wohnung verließen, um nach dem Schloß des Grafen zurückzukehren, wo wir um Mitternacht ankamen. Die Fahrt war so köstlich, daß der Weg uns kurz erschien. Der Champagner, der Punsch und das Vergnügen hatten meine beiden Gefährtinnen erhitzt, und dank der Dämmerung konnte ich mir glückliche Zerstreuungen verschaffen, über welche sie keineswegs böse waren; ich liebte jedoch Clementina zu sehr, um den Spaß mit ihrer reizenden Schwester weiter als bis zu den Fingerspitzen zu treiben.

Sobald wir aus dem Wagen gestiegen waren, wünschten wir einander gute Nacht, und ein jeder begab sich in sein Zimmer, nur ich nicht; denn ich verbrachte mit Clementina Stunden jener köstlichen Wollust, deren Erinnerung sich nie verwischt.

»Glaubst du, mein süßer Freund,« sagte das reizende Mädchen zu mir, »daß ich nach deiner Abreise noch glücklich sein kann?«

»Meine liebe Hebe, ich weiß, daß wir in den ersten Tagen beide unglücklich sein werden; aber allmählich wird die Ruhe uns zurückkehren; die Philosophie wird unsere Liebe nicht auslöschen, sondern die Bitternis des Scheidens köstlich süß machen.«

»Eine köstlich süße Bitternis! Ich glaube nicht, daß die Philosophie ein solches Wunder wirken kann. Ich weiß wohl, mein liebenswürdiger Sophist, du wirst dich leicht mit deinen Fräuleins trösten. Glaube übrigens nur nicht, daß ich eifersüchtig bin. Ich wäre mir selber ein Greuel, wenn ich mich eines so niedrigen Gefühls für fähig halten könnte. Aber ich würde mich ebensosehr verachten, wenn ich imstande wäre, mich mit jenen Mitteln zu trösten, die du ganz gewiß anwenden wirst.«

»Ich wäre in Verzweiflung, wenn du dies glauben könntest.«

»Es ist nur natürlich.«

»Jene Fräuleins, wie du dich ausdrückst, sind nicht dazu angetan, dich zu ersetzen, und können mich nicht beschäftigen. Die größere von den beiden ist die Frau eines Schneiders, und die andere ist ein anständiges Mädchen aus Marseille. Ein unglückseliger Freund von mir hat sie verführt und dann entführt, und ich habe mich erboten, sie nach ihrer Heimatstadt Marseille zurückzubringen. Du wirst in Zukunft und bis zu meinem Tode das einzige Weib sein, das meine Seele beherrscht; sollte es mir je begegnen, daß ich, von meinen Sinnen hingerissen, eine Frau, die mich verführt hat, in meine Arme schließe, so wird dich bald die Reue wegen einer Untreue rächen, woran meine Seele keinen Teil haben wird.«

»Ich bin sicher, daß ich niemals eine derartige Reue verspüren werde. Aber ich begreife nicht, wie du an die Möglichkeit, mir untreu zu werden, denken kannst, da du mich so liebst, wie du mich liebst, mich in deinem Besitze hast und in deine Arme pressest!«

»Ich glaube nicht an diese Untreue, aber ich setze sie als möglich voraus.«

»Ich sehe in diesem Falle keinen großen Unterschied zwischen Glauben und Voraussetzung.«

Was sollte ich auf diese Einwürfe antworten? Clementina hatte recht, obgleich sie sich irrte; aber dieser Irrtum entsprang aus ihrer Liebe. Die meinige war durchaus nicht von einer Glut, die mich hätte verhindern können, eine mögliche, ja sogar unausbleibliche Treulosigkeit vorauszusehen. Ich urteilte nur darum richtiger als sie, weil ich nicht zum ersten Male verliebt war. Wenn aber meine Leser das gleiche durchgemacht haben, wie die meisten von ihnen es sicherlich getan haben, so werden sie wissen, in welche Verlegenheit einen Liebenden solche Worte aus dem Munde einer Frau versetzen, die er für immer glücklich machen möchte. Da weiß auch der Schlagfertigste nicht, was er sagen soll, und kann nur durch Küsse und Tränen antworten.

»Willst du mich mit dir nehmen?« fragte sie mich; »ich bin bereit, dir zu folgen, und ich werde glücklich sein. Wenn du mich liebst, mußt du über dein eigenes Glück hocherfreut sein. Laß uns einander glücklich machen, lieber Freund!«

»Ich kann deine Familie nicht entehren.«

»Findest du mich unwürdig, deine Frau zu werden?«

»Du bist eines Thrones würdig; ich aber bin nicht wert, ein solch herrliches Weib zu besitzen. Ich muß dir sagen, daß ich auf dieser Welt nichts habe als mein Geld, das ich morgen verlieren kann. Für mich allein fürchte ich keine Schicksalsschläge, aber ich würde mir das Leben nehmen, wenn du irgendeiner Entbehrung ausgesetzt wärest, nachdem du dein Schicksal mit dem meinigen verknüpft hättest.«

»Woher mag es wohl kommen, daß es mir unmöglich scheint, du könntest jemals mit mir unglücklich werden, und daß ich überzeugt bin, du kannst nur mit mir wirklich glücklich werden? Deine Liebe gleicht nicht der meinen, wenn du weniger Vertrauen zu ihr hast als ich.«

»Mein Engel, wenn ich weniger Vertrauen habe als du, so liegt es daran, daß ich eine grausame Lebenserfahrung besitze, die du nicht hast, und die mich für die Zukunft zittern läßt. Wird die Liebe beunruhigt, so verliert sie an Stärke, was sie an Vernunft gewinnt.«

»Grausame Vernunft! So müssen wir uns also entschließen, uns zu trennen?«

»Es muß sein, liebes Herz. Es ist eine grausame Notwendigkeit, aber mein Herz wird bei dir bleiben. Wenn ich auch scheide, so bete ich dich doch an, und wenn mir das Glück in England günstig ist, wirst du mich nächstes Jahr hier wiedersehen. Ich werde ein Landgut kaufen, wo du willst, und es dir an unserem Hochzeitstage schenken; dann werden unsere Kinder und die schönen Wissenschaften uns beglücken.«

»Oh, welch angenehme Zukunft! Welch ein Traum! Warum kann ich nicht mit diesem Traum einschlafen, um erst an dem Tage zu erwachen, wo er sich erfüllen wird, oder beim Erwachen zu sterben, wenn er nicht in Erfüllung gehen soll! Aber, lieber Freund, was soll ich tun, wenn du mich schwanger zurückläßt?«

»Dies, meine göttliche Hebe, hast du nicht zu befürchten. Hast du nicht bemerkt, daß ich dich geschont habe?«

»Geschont? Das verstehe ich nicht, aber ich kann es mir wohl vorstellen und danke dir dafür. Ach, vielleicht wäre es besser, du hättest keine Vorsicht beobachtet; denn du bist nicht geboren, mich unglücklich zu machen, und wenn du ein Pfand unserer gegenseitigen Zärtlichkeiten hinterlassen hättest, so würdest du Mutter und Kind nicht verleugnet haben.«

»Du beurteilst mich richtig, liebe Freundin. Solltest du bemerken, daß, trotz meinen Vorsichtsmaßregeln, dein Leib sich rundet, was du vor Ablauf von zwei Monaten merken wirst, so schreibe mir. Mag dann meine Lage sein wie sie will, ich werde die Frucht unserer Liebe legitimieren, indem ich dir meinen Namen und meine Hand gebe. Allerdings wirst du durch diese Namensänderung eine Mißheirat eingehen; aber du wirst deshalb weniger glücklich sein?«

»Nein, nein! Dein Name und deine Hand sind für mich das höchste Ziel des Ehrgeizes. Nein, niemals werde ich bereuen, daß ich mich ohne Rückhalt dir hingegeben habe.«

»Du machst mich überglücklich!«

»Meine ganze Familie liebt dich; alle sagen, du seiest glücklich und verdienest dein Glück. Wie sie dich loben, lieber Freund! Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie mein Herz vor Freude pocht, wenn ich in deiner Abwesenheit solche Bemerkungen höre. Wenn man mir sagt, ich liebe dich, so antworte ich: ich bete dich an; und du weißt, ich lüge nicht.«

Mit solchen Gesprächen füllten wir während der letzten fünf oder sechs Nächte, die wir miteinander verbrachten, die Pausen zwischen unseren Liebesekstasen aus. Ihre Schwester, die neben uns lag, schlief oder tat wenigstens so, wie wenn sie schliefe. Wenn ich von ihr ging, legte ich mich zu Bett; spät stand ich auf und verbrachte dann den ganzen Tag mit ihr, entweder allein oder in ihrer Familie. Welch köstliches Leben! Ist es möglich, daß ein Mensch, der sein eigener Herr, der unabhängig ist wie der Adler in den Lüften, sich entschließen kann, ein solches Glück aufzugeben? Heute begreife ich es nicht.

Das Glück hatte es gefügt, daß ich dem guten Domherrn das ganze Geld abgewann, das ich die Familie hatte gewinnen lassen. Niemals achtete ich auf deren Spiel; nur Clementina allein machte sich niemals meine Unaufmerksamkeit zunutze; aber die beiden letzten Tage nötigte ich sie, sich an meiner Bank zu beteiligen, und da der Domherr beständig unglücklich war, so gewann sie etwa hundert Zechinen. Der gute Mönch verlor tausend Zechinen, von denen siebenhundert in der Familie blieben. Das war eine gute Bezahlung für die Gastfreundschaft, die ich genossen hatte, und daß ein Mönch die Kosten bestritt, war um so anerkennenswerter, mochte er auch ein Ehrenmann sein.

Die letzte Nacht, die ich ganz mit meiner reizenden Gräfin zubrachte, war sehr traurig: wir wären vor Schmerz gestorben, hätten wir nicht die unerschöpfliche Wollust der Liebe genossen. Niemals wurde eine Nacht besser angewandt! Tränen des Schmerzes wechselten unaufhörlich mit Tränen der Liebe, und ich erneuerte neunmal das Opfer auf dem Altar des Gottes, der meine Kräfte in demselben Maße ersetzte, wie der Genuß sie erschöpfte. Blut und Tränen überströmten das Heiligtum; Priester und Opfer waren erschöpft, und doch riefen die Begierden: noch einmal! Wir mußten uns mit einer Anstrengung losreißen, die ebenso schmerzhaft war, wie unsere achtstündige Vereinigung süß gewesen war.

Eleonora benutzte einen Augenblick, wo wir der Ermüdung nachgebend in doppelter Verschlingung eingeschlafen waren, um leise aufzustehen und uns allein zu lassen. Wir waren ihr dankbar dafür und bewunderten ihre Freundschaft und ihre Entsagung; doch mußten wir gestehen, daß sie entweder sehr unempfindlich war oder daß sie als Zeugin unserer köstlichen Liebeskämpfe sehr hatte leiden müssen. Ich verließ Clementina, damit sie ihre Abwaschungen vomehmen könnte, deren sie ohne Zweifel sehr bedurfte, und kleidete mich selber an.

Als wir zusammen zum Frühstück herunterkamen, sahen wir aus wie zwei Sterbende; besonders Clementina mußte durch ihre Augen verraten werden. Aber man schonte uns. Ich konnte nicht lustig sein, wie ich es gewöhnlich war, aber man fragte mich nicht nach dem Grunde. Ich versprach ihnen, Nachricht zu geben und im nächsten Jahre wiederzukommen. Ich habe ihnen auch geschrieben, doch gab ich es auf, als das Unglück, das mich in London zu Boden schmetterte, mir die Hoffnung raubte, sie jemals wiederzusehen.

Ich habe sie in der Tat nicht wiedergesehen, aber ich habe Clementina niemals vergessen können. Als ich sechs Jahre später aus Spanien zurückkam, erfuhr ich, daß sie in glücklicher Ehe mit dem Marchese N. lebte, den sie drei Jahre nach meiner Abreise geheiratet hatte. Ich weinte Freudentränen über diese Nachricht. Sie hatte damals zwei Söhne; der jüngere von ihnen, jetzt siebenundzwanzig Jahre alt, ist Hauptmann in österreichischen Diensten. Welche Freude würde es mir sein, ihn zu sehen! Als ich von Clementinas Glück hörte, kam ich, wie gesagt, aus Spanien und war unglücklich. Ich war auf der Reise nach Livorno, wo ich mein Glück zu machen hoffte; auf der Fahrt durch die Lombardei war ich nur vier Miglien von einem Landsitz entfernt, wo diese anbetungswürdige Frau mit ihrem Gatten sich aufhalten mußte. Aber ich hatte nicht den Mut, sie aufzusuchen, und vielleicht tat ich recht daran.

Doch zurück zu meiner Erzählung!

Ich war Eleonoren dankbar für ihre Güte und wollte dies gern zum Ausdruck bringen. Ich zog von meinem Finger einen sehr schön von Diamantenrosetten umgebenen geschnittenen Onyx, worauf der Gott des Schweigens dargestellt war, und benützte einen günstigen Augenblick, um sie beiseite zu ziehen und ihr den Ring an den Zeigefinger zu stecken, bevor sie Zeit hatte, ein Wort zu sagen. Ich drückte ihr schweigend die Hand.

Als es Zeit war, hinunter zu gehen, um in meinen Wagen zu steigen, schickte die ganze Familie sich an, mich zu begleiten. Da füllten meine Augen sich mit Tränen. Ich suchte Clementina; sie war verschwunden. Ich tat, wie wenn ich etwas in meinem Zimmer vergessen hätte, und ging in die Schlafkammer meiner Hebe. Ich fand sie in einem entsetzlichen Zustande: ihr Schluchzen erstickte sie. Ich schloß sie in meine Arme und vermischte meine Tränen mit den ihrigen. Sie konnte kein Wort hervorbringen. Ich legte sie auf ihr Bett, drückte einen letzten Kuß auf ihre zitternden Lippen und riß mich los von diesem Ort, wo ich so süße und so schmerzliche Erinnerungen zurückließ.

Nachdem ich allen, auch dem guten Domherrn, der sich zum Abschied eingefunden hatte, meinen Dank ausgesprochen und sie alle umarmt hatte, flüsterte ich Eleonoren ins Ohr, sie möchte schnell zu ihrer Schwester gehen, und sprang in den Wagen, worin mein lieber Graf bereits saß. Wir sprachen kein Wort miteinander, sondern schliefen während der ganzen Fahrt, bis Clairmont vor dem Hause den Wagenschlag aufmachte. Wir fanden den Marchese Triulzi bei der Spanierin, die uns nicht erwartete; der liebenswürdige Stellvertreter meines Freundes ließ schnell ein Mittagessen für vier Personen holen. Zu meiner nicht geringen Überraschung wußten sie, daß wir in Mailand diniert hatten, und die Gräfin hatte große Lust, uns ihren Verdruß fühlen zu lassen, weil wir ihr unseren Besuch nicht gemeldet hätten. Zum Glück beschwichtigte der Marchese, der nie um eine Ausrede verlegen war, die schöne Dame, indem er ihr sagte, es sei nur Zartgefühl von meiner Seite gewesen, denn ich habe ihr die Mühe ersparen wollen, ein Mittagessen für so viele Personen herzurichten.

Bei Tisch erklärte ich, daß ich sehr bald nach Genua abreisen würde; zu meinem Unglück bot mir der Marchese einen Empfehlungsbrief an die berühmte Kokette Signora Isolabella an; die Gräfin versprach mir einen anderen an ihren Verwandten, den Bischof von Tortona.

Ich war in Mailand gerade zur rechten Zeit angekommen, um von meiner Teresa Abschied zu nehmen, die nach Palermo abreisen wollte. Ich sprach mit ihr von den Wünschen Don Cesarinos und bemühte mich nach Möglichkeit, sie zu bestimmen, ihn seiner Neigung folgen zu lassen. Sie antwortete mir: »Ich lasse ihn in Mailand; ich weiß, wo seine Leidenschaft entstanden ist, und ich werde mich niemals bereit finden lassen, seinen Wünschen in dieser Richtung nachzugeben. Übrigens hoffe ich, daß er bei meiner Rückkehr seine Ansichten geändert haben wird.«

Sie täuschte sich: mein Sohn änderte sich nicht, und in fünfzehn Jahren werden meine Leser mehr von ihm erfahren.

Nachdem ich mit Greppi abgerechnet hatte, nahm ich Wechsel auf Marseille und eine Anweisung von zehntausend Franken auf Genua, wo ich nach meiner Meinung nicht viel Geld nötig haben konnte. Trotz meinem Glück im Spiel reiste ich von Mailand mit tausend Zechinen weniger ab als ich bei meiner Ankunft gehabt hatte. Ich hatte allerdings auch außerordentlich viel Geld ausgegeben.

Alle meine Nachmittage verbrachte ich bei der schönen Marchesa Q.; bald war ich mit ihr allein, bald war ihre Base anwesend. Aber mein Herz war noch voll von der Erinnerung an Clementina, und darum schien mir die junge Marchesa nicht mehr dieselbe zu sein wie vor drei Wochen.

Ich hatte keinen Grund, dem Grafen A. B. ein Geheimnis daraus zu machen, daß ich das Fräulein aus Marseille mitnahm. Ich ließ daher von Clairmont ihr Köfferchen abholen und bezahlte der schönen Zenobia die kleinen Auslagen, die sie gemacht hatte. Am Tage meiner Abreise kam um acht Uhr morgens das Fräulein, sauber gekleidet zu mir.

Ich küßte der Gräfin, die nach meinem Leben getrachtet hatte, die Hand und dankte ihr für ihre liebenswürdige Gastfreundschaft, der ich, wie ich sagte, es verdankte, daß ich in so guter Gesellschaft von Mailand abreise. Hierauf dankte ich dem Grafen, der mich wiederholt seiner ewigen Dankbarkeit versicherte, und reiste ab. Wir schrieben den 20. März des Jahres 1763. Ich bin niemals wieder nach dieser prächtigen Hauptstadt zurückgekehrt.

Die junge Dame, die ich aus Achtung vor ihr und ihrer Familie Crosin nennen will, war reizend. Sie hatte einen edlen Anstand, welcher Achtung einflößt und einen Ton der Zurückhaltung, der auf eine sorgfältige Erziehung schließen ließ. Als ich sie so neben mir sitzen sah, wünschte ich mir Glück, daß ich keine Gefahr für mich sah, mich in sie zu verlieben; der Leser aber ahnt wohl schon, daß ich mich irrte. Ich sagte Clairmont, daß ich sie für meine Nichte ausgeben wolle, und befahl ihm, sie mit aller erdenklichen Rücksicht zu behandeln.

Da ich niemals Gelegenheit gehabt hatte, sie zum Sprechen zu bringen, so wünschte ich vor allen Dingen festzustellen, wes Geistes Kind sie sei, und obwohl ich nicht im geringsten die Absicht hatte, ihr den Hof zu machen, so empfand ich doch das Bedürfnis, ihr Freundschaft einzuflößen und ihr Vertrauen zu gewinnen.

Die Wunde, die meine letzte Liebe meinem Herzen geschlagen hatte, blutete noch; darum freute ich mich, daß ich imstande war, die junge Marseillerin ihrem Vater zurückzugeben, ohne mir einen Zwang aufzuerlegen und ohne etwas bereuen zu müssen. Ich freute mich im voraus meiner in Aussicht stehenden guten Handlung und bildete mir etwas darauf ein, soviel Selbstbeherrschung zu besitzen, daß ich mit einem sehr hübschen Mädchen zusammenleben konnte, ohne einen anderen Wunsch zu verspüren, als das heroische Interesse, sie vor der Schande zu bewahren, in die sie hätte versinken können, wenn sie die Reise ganz allein hätte machen müssen oder wenn sie nicht das Glück gehabt hätte, mir zu begegnen, nachdem ihr Verführer sie verlassen hatte. Sie fühlte denn auch dies alles und sagte zu mir: »Ich bin überzeugt, Herr de la Croix hätte mich niemals verlassen, wenn er Ihnen nicht in Mailand begegnet wäre.«

»Ich bewundere Sie, mein Fräulein, teile jedoch keineswegs die gute Meinung, die Sie von ihm haben. In meinen Augen hat Croce geradezu als schlechtes Subjekt gehandelt, um es nicht stärker auszudrücken; denn so anziehend Sie auch sind, konnte er doch nicht mit Bestimmtheit auf mich rechnen. Ich will nicht sagen, daß er Sie verächtlich behandelt hat, denn möglicherweise wurde er von der Verzweiflung fortgerissen; so viel aber ist gewiß, da er Sie in solcher Weise verlassen konnte, so liebte er Sie nicht mehr.«

»Ich bin vom Gegenteil überzeugt. Als er sich ohne Mittel sah, mußte er mich verlassen oder sich das Leben nehmen.«

»Weder das eine noch das andere. Er mußte alles was Sie haben, verkaufen und Sie nach Marseille zurückbringen. Sie konnten mit geringen Kosten nach Genua gelangen und von dort wären Sie auf dem Wasserwege nach Marseille gereist. Croce hat darauf gerechnet, daß ihr hübsches Gesicht mir Teilnahme einflößen werde, und er hat sich nicht geirrt; aber Sie begreifen wohl, welcher Gefahr er Sie ausgesetzt hat. Glauben Sie mir, mein Fräulein, wenn man wirklich liebt, ist schon der bloße Gedanke daran unerträglich. Sie werden sich nicht beleidigt fühlen, wenn ich Ihnen eine Wahrheit gestehe: hätten Sie nicht, als Sie mich um einen Besuch baten, einen tiefen Eindruck auf meine Sinne gemacht, so hätte ich für Sie nur eine mitleidige Teilnahme empfunden, und solche Teilnahme veranlaßt nicht eben zu großen Opfern. Aber ich habe unrecht, daß ich Croce tadele; dies ist Ihnen peinlich, denn ich sehe klar und deutlich, daß Sie ihn lieben.«

»Das gebe ich zu. Ich beklage ihn. Was mich selbst betrifft, so beklage ich nur mein grausames Geschick. Ich werde ihn nicht mehr sehen, aber ich werde auch keinen Menschen mehr lieben, denn mein Entschluß steht fest: ich werde mich in ein Kloster zurückziehen, um dort meinen Fehltritt zu sühnen. Mein Vater hat ein ausgezeichnetes Herz; er wird mir verzeihen. Ich war ein Opfer der Liebe; mein Wille war nicht frei. Von Croce verführt, hatte ich die Vernunft verloren; aber ich muß mich allein dafür bestrafen, daß ich nicht gegen die Täuschung meiner Sinne auf der Hut gewesen bin. Wenn ich übrigens reiflich darüber nachdenke, sehe ich in meiner Handlungsweise kein Verbrechen, sondern nur einen Fehltritt.«

»Sie wären also von Mailand mit Croce fortgegangen, wenn er es Ihnen gesagt hätte? Sie wären sogar zu Fuß gegangen?«

»Verlassen Sie sich darauf! DaS wäre ja meine Pflicht gewesen; aber er liebte mich zu sehr, als daß er mich dem beschwerlichen und elenden Leben, das er vor sich sah, hätte aussetzen mögen.«

»Er sah es nicht vor sich, sondern war schon mitten darin. Ich bin überzeugt: wenn Sie ihn in Marseille finden, werden Sie wieder zu ihm gehen.«

»Oh nein, niemals! Mit meiner Vernunft erlange ich allmählich meine Freiheit wieder, und der Tag wird kommen, da ich Gott danken werde, ihn ganz und gar vergessen zu haben.«

Die Aufrichtigkeit des jungen Mädchens gefiel mir, und da ich die Macht der Liebe kannte, so beklagte ich sie aufrichtig. Sie erzählte mir zwei Stunden lang ausführlich die ganze Geschichte ihrer unglücklichen Leidenschaft, und da sie gut erzählte, so machte sie mir Vergnügen, und ich begann Geschmack an ihr zu finden.

Mit Einbruch der Nacht kamen wir in Tortona an; ich beschloß, dort zu übernachten, und befahl Clairmont, uns ein Abendessen nach meinem Geschmack herrichten zu lassen. Bei Tisch entfaltete meine angebliche Nichte einen Geist, über den ich sehr erstaunt war. Auch bot sie mir im Essen die Spitze, denn sie hatte einen ausgezeichneten Appetit; das Glas in der Hand, konnte sie es mit jedem gleichaltrigen jungen Mädchen aufnehmen. Sie war lustig, aber anständig, scherzte im Ton der guten Gesellschaft und war entzückend, weil sie nicht mehr von ihrem Liebhaber sprach. Als wir von Tisch aufstanden, sagte sie bei irgendeiner Gelegenheit ein so treffendes und pikantes Scherzwort, daß ich laut auflachen mußte und daß sie mich vollends eroberte. Ich umarmte sie mit überströmendem Gefühl, und da ich auf ihrem reizenden Munde einem Kuß begegnete, der ebenso heiß war wie mein eigener, so fühlte ich, daß die Liebe sich allen Ernstes einmischte. Weil ich in meiner stürmischen Liebesglut keine Zeit hatte, meine Worte abzuwägen, fragte ich sie, ob es ihr recht wäre, wenn wir uns mit einem einzigen Bett begnügten.

Als ich diese Einladung ohne alle Umschweife vorbrachte, malten Überraschung und Furcht sich auf ihrem Antlitz, und mit ernster Miene, aber in jenem Tone der Unterwürfigkeit, die alle Begierden tötet, antwortete sie mir: »Ach, Sie sind der Herr und haben zu befehlen! Wenn aber die Freiheit ein kostbares Gut ist, so ist sie es besonders in der Liebe.«

»Von Gehorsam oder auch nur Gefälligkeit ist gar nicht die Rede, mein Fräulein. Sie haben mir Liebe eingeflößt; aber wenn Sie dieses Gefühl nicht teilen, so kann ich es in seiner Geburt ersticken. Wie Sie sehen, haben wir hier zwei Betten; Sie können nach Ihrem Belieben wählen.«

»Dann werde ich mich also in dieses da legen; sollte aber darum Ihre gütige Teilnahme für mich sich vermindern, so würde mich dies unglücklich machen.«

»Nein, nein! Fürchten Sie das nicht, reizende Französin! Sie werden mich Ihrer Achtung nicht unwürdig finden. Gute Nacht; lassen Sie uns gute Freunde sein!«

Ihr Bett stand hinter einem Wandschirm. Sie wünschte mir gute Nacht und legte sich dann in vollem Vertrauen zu Bett; denn wie ich einige Tage darauf von ihr selber erfuhr, hatte sie sich völlig entkleidet.

Am nächsten Tage schickte ich in der Frühe dem Bischof den Brief, den die Gräfin mir gegeben hatte.

Als ich eine Stunde darauf mit meiner Nichte beim Frühstück saß, kam ein alter Priester und lud mich nebst der Dame, die in meiner Gesellschaft wäre, zum Mittagessen ein. In dem Brief der Gräfin stand nichts von einer Dame; aber der Prälat war Spanier und sehr höflich; darum fühlte er, daß ich meine wirkliche oder angebliche Nichte nicht allein in einem Gasthof lassen konnte und daher seine Einladung nicht angenommen haben würde, wenn er nicht zugleich mit mir auch sie gebeten hätte. Wahrscheinlich hatte Monsignore ihre Anwesenheit durch seine Lakaien erfahren, die in Italien eine Art von freiwilligen Spionen sind und ihren Herren die Skandalchronik der Stadt hinterbringen. Schließlich braucht ja doch ein Bischof noch etwas besseren Zeitvertreib als sein Gebetbuch, seitdem die apostolischen Tugenden unmodern geworden und veraltet sind. Kurz und gut, ich nahm die Einladung an und bat den abgesandten Priester, Seiner Gnaden meine Ehrfurcht zu vermelden. Meine Nichte war in reizender Laune und behandelte mich, wie wenn ich keinen Grund gehabt hätte, darüber empfindlich zu sein, daß sie ihr Bett dem meinigen vorgezogen. Dies gefiel mir, denn bei kaltem Blute sah ich wohl ein, daß sie sich erniedrigt haben würde, wenn sie anders gehandelt hätte. Ich war nicht einmal gereizt, was doch unter solchen Umständen sonst natürlich ist. Selbstgefühl und vielleicht auch Vorurteil machen es einer geistvollen Frau zur Pflicht, sich den Wünschen eines Liebhabers nicht eher zu ergeben, als bis er annehmen darf, daß er sie durch seine Aufmerksamkeiten verführt hat. Ich hatte sie so ganz leichthin eingeladen, mein Bett zu teilen; aber ich hätte dies nicht getan, wäre ich nicht durch die Dünste des Pomad und des Champagners umnebelt gewesen, mit denen wir die von dem Wirt uns vorgesetzten Speisen reichlich befeuchtet hatten. Die Einladung des Bischofs hatte ihr geschmeichelt, aber sie wußte nicht, ob ich dieselbe auch für sie angenommen hätte, und sie fühlte sich vor Freude beinahe in den Himmel erhoben, als ich ihr ankündigte, daß wir zusammen zum Essen gehen würden. Sie machte sich zurecht und kleidete sich für eine Reisende sehr gut. Zum Mittag holte der Wagen Seiner bischöflichen Gnaden uns ab.

Ich sah vor mir einen hochgewachsenen Prälaten, denn er war um zwei Zoll größer als ich; trotz seinen achtzig Jahren war er frisch, gut auf den Beinen und in jeder Beziehung stattlich, obgleich ernst wie ein spanischer Grande. Er empfing uns mit einer Liebenswürdigkeit, die viel von der ausgesuchten Höflichkeit der Franzosen an sich hatte. Als meine Nichte ihm die Hand küssen wollte, zog der Prälat dieselbe freundlich zurück und reichte ihr das prachtvolle Kreuz von Amethysten und Brillanten, das er um den Hals trug. Sie küßte es herzlich und sagte dabei: »Das liebe ich.« Dabei warf sie mir einen Seitenblick zu, und dieser Scherz, der eine Anspielung auf Croce enthielt, überraschte mich.

Wir setzten uns zu Tische, und ich fand in dem Bischof einen liebenswürdigen und gelehrten Mann. Wir waren zu neun, denn außer vier Priestern, die ich für seine täglichen Tischgenossen hielt, hatte Monsignore zwei junge Kavaliere eingeladen, die meiner Nichte alle Aufmerksamkeiten erwiesen, wie sie in der guten Gesellschaft üblich sind; sie erwiderte diese wie eine Dame, die an solchen Ton gewöhnt ist. Ich bemerkte, daß der Bischof, der sehr oft das Wort an sie richtete, nicht ein einziges Mal ihr hübsches Gesicht ansah. Monsignore kannte die Gefahr und setzte als vernünftiger Greis sich ihr nicht aus. Nach dem Kaffee verabschiedeten wir uns und um vier Uhr fuhren wir von Tortona ab, um in Novi zu übernachten.

Während dieser kurzen Nachmittagsfahrt belustigte meine schöne Marseillerin mich durch tausend liebenswürdige und geistreiche Bemerkungen. Beim Abendessen brachte ich das Gespräch auf den Bischof und dann auf die Religion, um einmal zu sehen, was für Grundsätze sie hätte. Als ich in ihr eine gute Christin fand, fragte ich sie, wie sie sich den zweideutigen Scherz habe erlauben können, als sie das Kreuz des Prälaten küßte.

»Daran waren nur der Zufall und die Gelegenheit schuld«, antwortete sie. »Die Zweideutigkeit ist unschuldig, denn ich hatte die Anspielung nicht vorher überlegt; hätte ich Zeit zum Nachdenken gehabt, so würde der schlechte Witz nicht aus meinem Munde gekommen sein.«

Ich tat, wie wenn ich ihr glaubte, denn schließlich war es möglich, daß sie aufrichtig war. Das Mädchen hatte viel Geist, und die Begierden, die sie mir einflößte, wurden immer feuriger; aber meine Eitelkeit hielt die Liebe im Zaum. Als sie zu Bett ging, vermied ich es, sie zu umarmen; da sie jedoch keinen Bettschirm hatte, so entkleidete sie sich erst, als sie glaubte, daß ich eingeschlafen wäre. Am nächsten Tage kamen wir gegen Mittag in Genua an.

Pogomas hatte für mich eine Privatwohnung gemietet und mir deren Adresse gesagt. Ich stieg dort ab und fand vier sehr gut möblierte Zimmer in schöner Lage; sie waren in jeder Beziehung komfortabel, wie die Engländer sagen, die sich so gut auf alle Annehmlichkeiten des Lebens verstehen. Nachdem ich ein gutes Mittagessen bestellt hatte, ließ ich Pogomas von meiner Ankunft in Kenntnis setzen.

Zwanzigstes Kapitel


Mein Aufenthalt in Riga. – Campioni. – Ste.-Héleine. – D’Aragon. – Ankunft der Kaiserin. – Meine Abreise von Riga und Ankunft in St. Petersburg. – Besuche. – Ich kaufe Zaïra.

Prinz Karl Biron, jüngerer Sohn des regierenden Herzogs von Kurland, Generalmajor in russischen Diensten, Ritter des Alexander-Newskis-Ordens, empfing mich, durch den Brief seines Vaters günstig gestimmt, mit großer Auszeichnung. Der Prinz war sechsunddreißig Jahre alt, hatte ein sehr angenehmes, wenn auch nicht schönes Gesicht, war höflich und sprach sehr gut französisch. Er sagte mir in wenigen Worten, was ich von ihm zu erwarten hätte, wenn ich einige Zeit in Riga zu verbringen gedächte. Er bot mir seinen Tisch, seine Gesellschaft, seine Vergnügungen, seinen Marstall, seinen Rat und seine Börse an, und er tat es mit jenem freimütigen Ton, der einem Soldaten so gut ansteht, und mit jener herzlichen Güte, die eigentlich eine unzertrennliche Eigenschaft aller Fürsten sein sollte.

»Eine Wohnung biete ich Ihnen nicht an,« sagte er zu mir, »weil mein eigenes Haus ein wenig eng ist; aber ich werde dafür sorgen, daß Sie eine passende Wohnung finden.«

In Wirklichkeit war diese Wohnung bereits gefunden, und ich wurde von einem Adjutanten des Prinzen hingeführt. Kaum hatte ich mich eingerichtet, so machte der General mir bereits einen Besuch und nötigte mich, so wie ich war, mit ihm zum Essen zu gehen. Es war eine Mahlzeit ohne alle Umstände, und zu meiner angenehmen Überraschung sah ich dabei Campioni wieder, von dem ich bereits zwei- oder dreimal in diesen Erinnerungen gesprochen habe. Dieser Campioni war ein Tänzer, der weit über seinem Berufe stand und für die gute Gesellschaft geschaffen war: er war höflich, witzig, heiter und ein Lebemann, hatte keine Vorurteile, liebte Frauen, gutes Essen und hohes Spiel, war vorsichtig, verschwiegen, tapfer und lebte ruhig, sowohl wenn das Glück ihm günstig wie wenn es ihm ungünstig war. Wir freuten uns beide, uns wiederzusehen.

Ein anderer Gast, ein Savoyarde, Baron von Ste.-Héleine, hatte eine junge Frau, die ziemlich hübsch, im übrigen aber sehr unbedeutend war. Der Baron, dick und fett, war Spieler, Esser und Trinker. Fügt man zu diesem dreifachen Verdienst noch die Kunst, Schulden zu machen und seine Gläubiger vortrefflich in Sicherheit zu wiegen, so hat man das Ganze seiner Kunst und Wissenschaft; denn im übrigen war er dumm in der vollen Bedeutung des Wortes. Ein Adjutant und die Geliebte des Prinzen speisten ebenfalls mit uns. Diese Geliebte war blaß, traurig, mager, träumerisch, dabei aber ziemlich hübsch; sie mochte etwa zwanzig Jahre alt sein. Sie aß beinahe gar nichts, weil sie alles schlecht fand. Sie sagte, sie sei krank, und alle ihre Züge drückten Mißbehagen aus. Der Prinz forderte sie vergeblich zum Essen und Trinken auf; sie wies alles verächtlich zurück. Der Prinz neckte sie lachend wegen ihrer Lächerlichkeiten, aber er tat es in so zartfühlender Form, daß sie sich nicht allzusehr verletzt fühlen konnte.

Wir verbrachten beinahe zwei Stunden recht heiter bei Tische. Nach dem Kaffee schüttelte der Prinz mir die Hand, da er anderweitige Geschäfte hatte; er bat mich, mittags und abends an seinen Tisch zu kommen, wenn ich nichts Besseres wüßte, und ließ mich mit Campioni allein.

Mein alter Freund und liebenswürdiger Landsmann führte mich in seine Wohnung, um mich mit seiner Frau und seiner Familie bekannt zu machen. Ich wußte nicht, daß er sich wieder verheiratet hatte. Ich fand in seiner angeblichen Frau eine sehr liebenswürdige, etwas magere, aber geistsprühende Engländerin. Sie hatte eine Tochter von elf Jahren; diese war sehr frühreif, denn man hätte ihr ohne weiteres fünfzehn Jahre gegeben. Sie war geist- und talentvoll, tanzte, sang und spielte Klavier, und ihre Augen schleuderten Blitze, ein Beweis, daß ihre Natur den Jahren vorausgeeilt war. Sie eroberte mich, und ihr Vater wünschte ihr Glück dazu. Darüber freute sie sich; aber ihre Mutter kränkte sie sichtlich, indem sie sie kleine Bambina nannte – eine blutige Beleidigung für ein junges Mädchen, das seine Bestimmung zu fühlen beginnt.

Auf einem Spaziergang, den ich mit Campioni machte, gab er mir Auskunft über alles; zuerst über sich selber: »Seit zehn Jahren lebe ich mit dieser Frau. Betty, die Sie so reizend finden, ist nicht meine Tochter; die anderen aber sind meine Kinder, und ich habe sie von meiner Engländerin erhalten. Vor zwei Jahren habe ich Petersburg verlassen, und ich lebe hier recht gut. Ich habe Zöglinge, die mir Ehre machen. Ich spiele beim Prinzen – gewinne, verliere, kann aber niemals eine so große Summe gewinnen, um einen unglückseligen Gläubiger zu befriedigen, den ich in Petersburg zurückgelassen habe und der mich auf Grund eines Wechsels verfolgt. Er kann mich ins Gefängnis setzen lassen, und ich bin jeden Tag darauf gefaßt.«

»Handelt es sich um eine große Summe?«

»Fünfhundert Rubel.«

»Aber das ist doch nicht so arg: Zweitausend Franken!«

»Ich weiß es wohl, aber wenn man sie nicht hat?«

»Sie hätten die Schuld durch Teilzahlungen decken sollen.«

»Davon will der Unmensch nichts wissen.«

»Und was gedenken Sie nun zu tun?«

»Wenn es möglich ist, will ich das Eintreten des starken Frostes abwarten; dann werde ich allein die Flucht ergreifen und nach Polen gehen; dort werde ich sehen, ob ich alles in Ordnung bringen kann. Der Baron von Ste.-Héleine wird ebenfalls ausreißen, wenn er kann; er hält sich nur noch durch Versprechungen aufrecht. Der Prinz, den wir alle Tage besuchen, ist uns sehr nützlich, denn wir können bei ihm spielen; sollte uns aber ein Unglück zustoßen, so könnte er uns auch nicht helfen. Er ist nämlich selber überschuldet, weil die Ausgaben, die er machen muß, seine Einnahmen bei weitem übersteigen. Er spielt und verliert immer. Seine Geliebte kostet ihn viel und ärgert ihn durch ihre schlechte Laune.«

»Warum ist sie denn, so verdrießlich?«

»Sie verlangt uon ihm, er solle ihr sein Wort halten; denn er hat ihr versprochen, sie nach Ablauf von zwei Jahren zu heiraten, und nur unter dieser Bedingung hat sie ihm erlaubt, ihr zwei Kinder zu machen. Jetzt, wo die zwei Jahre verflossen und die beiden Kinder gemacht sind, erlaubt sie ihm nichts mehr, weil sie Angst hat, ein drittes Kind könnte dabei herauskommen.«

»Kann der Prinz ihr denn nicht einen Heirater finden?«

»Er hat einen Leutnant für sie gefunden, aber sie verlangt wenigstens einen Major.«

Der Prinz gab dem kommandierenden General Wojakoff, an den ich einen Brief vom Feldmarschall Lewald hatte, ein Galadiner; ich traf bei dieser Gelegenheit die Baronin Korff von Mitau, Madame Ittinoff und ein schönes adliges Fräulein, die Braut des Barons von Budberg, den ich in Florenz, Turin und Augsburg gekannt hatte, von dem ich aber vielleicht in diesen Erinnerungen noch nicht gesprochen habe.

Im Verkehr mit allen diesen Herrschaften vergingen mir drei Wochen sehr angenehm; besonders entzückt war ich vom alten General Wojakoff. Dieser wackere alte Herr war vor fünfzig Jahren in Venedig gewesen, als die Russen noch Moskowiter genannt wurden und der Gründer oder Schöpfer von Petersburg noch lebte. Allmählich war er alt geworden wie eine Eiche, immer auf demselben Fleck wurzelnd und immer mit dem gleichen Horizont um sich herum. In seinen Augen war alles noch so wie es damals gewesen war, und er pries mir Venedig und dessen Regierung in dem Glauben, es sei alles noch so wie vor fünfzig Jahren.

In Riga erfuhr ich von einem englischen Kaufmann, Collins, daß der angebliche Baron Stenau, der mir in London den falschen Wechsel gegeben und mich dadurch zu meiner plötzlichen Abreise gezwungen hatte, in Portugal gehängt worden war. Dieser angebliche Baron war ein Livländer, der Sohn eines armen Kaufmanns, und war selber ein armer Kommis gewesen. Er hatte sein Kontor verlassen, um dem Glücke nachzujagen, das ihn leider an den Galgen brachte. Der liebe Gott schenke ihm seinen Frieden.

Eines Abends kam ein Russe, der im Auftrage seines Hofes in Polen gewesen war, auf der Rückreise zum Prinzen, beteiligte sich am Spiel und verlor zwanzigtausend Rubel auf Wort. Campioni hielt die Bank. Der Russe gab Wechsel in Höhe des Betrages; sobald er aber in Petersburg war, erklärte er vor dem Handelsgericht seine eigenen Wechsel für ungültig, verleugnete also gegen Treu und Glauben sein Ehrenwort und seine Unterschrift. Infolge dieser hinterlistigen Handlung wurden nicht nur alle Gläubiger um ihren Anspruch betrogen, sondern es wurde auch ein strenges Verbot gegen das Spiel erlassen, das in Zukunft auch bei den Stabsoffizieren nicht mehr stattfinden durfte.

Der Russe, der diese Gemeinheit beging, war derselbe Schuft, der alle geheimen Maßnahmen der Zarin Elisabeth verriet, als sie mit dem König von Preußen Krieg führte. Er schickte dem Neffen der Kaiserin und erklärten Thronfolger, Peter, alle Befehle, die seine Herrscherin ihren Generälen erteilte, und Peter schickte schleunigst alles dem von ihm angebeteten König von Preußen.

Nach Elisabeths Tode machte Peter der Dritte den Halunken zum Vorsitzenden des Handelsgerichts, und dieser veröffentlichte mit Ermächtigung des neuen Zaren die von ihm geleisteten Dienste, die ihm diese schöne Belohnung eingetragen hatten: er rühmte sich also seines abscheulichen Vorgehens, statt sich dessen zu schämen. Peter wußte offenbar nicht, daß man aus Politik zuweilen ein Verbrechen belohnt, daß man aber den Verbrecher stets verachtet.

Ich sagte, Campioni habe die Bank gehalten; sie ging aber für Rechnung des Prinzen. Ich war mit einem Zehntel daran beteiligt, das mir ausgezahlt werden sollte, sobald der Schuldner seine Wechsel eingelöst hätte; als ich aber bei Tisch sagte, ich setzte keine Hoffnungen darauf und würde gerne meinen Anteil für hundert Rubel abtreten, nahm der Prinz mich beim Wort und zahlte mir sofort diesen Betrag aus. So kam es, daß ich der einzige war, der von dem Abend einen gewissen Vorteil hatte.

Katharina die Zweite wünschte sich in den neuen Staaten zu zeigen, die unter ihre Herrschaft gekommen waren, obgleich sie in der Person ihres früheren Günstlings Stanislaus Poniatowski einen Schattenkönig auf den polnischen Thron gesetzt hatte. Sie kam durch Riga, und dort sah ich zum erstenmal diese große Fürstin. Ich war Zeuge der Liebenswürdigkeit und der anmutigen Freundlichkeit, womit sie die Huldigungen des livländischen Adels entgegennahm: alle adligen Fräuleins, die ihr die Hand küssen wollten, küßte sie auf den Mund. Um sie herum standen die Orloffs und einige andere hohe Herren, die die Verschwörung geleitet hatten. Die Kaiserin sagte lächelnd zu ihnen, sie wolle für ihre treuen Diener eine Pharaobank von zehntausend Rubeln auflegen.

In einem Augenblick war der Tisch hergerichtet; es wurden Karten gebracht und Goldstücke aufgestapelt. Sie nahm die Karten, tat, wie wenn sie mischte, und gab sie dem ersten besten zum Abheben. Sie hatte das Vergnügen, in der ersten Taille die Bank gesprengt zu sehen, wie es nicht anders sein konnte; denn wenn sie nicht blödsinnig waren, mußten die Spieler stets wissen, welche Karte herauskommen würde. Am nächsten Tage reiste die Zarin nach Mitau, wo ihr zu Ehren Triumphbogen errichtet waren; diese Triumphbogen waren aus Holz, denn Steine sind in diesem Lande selten, außerdem hätte man auch keine Zeit gehabt, sie aus Stein aufzuführen.

Am Tage nach ihrer Ankunft gab es einen großen Schreck: man vernahm, daß in Petersburg eine Revolution auszubrechen drohte und daß es sogar schon zur Ausführung gekommen war. Man hatte den unglücklichen Iwan Iwanowitsch, der in der Wiege zum Zaren ausgerufen und von Elisabeth Petrowna entthront worden war, mit Gewalt aus der Zitadelle befreien wollen, in der er gefangen gehalten wurde. Die beiden Offiziere, die mit der Bewachung des unglücklichen Prinzen beauftragt waren, töteten den armen unschuldigen Monarchen, sobald sie sahen, daß sie nicht stark genug waren, um seine Befreiung zu verhindern.

Die Ermordung des unschuldigen Opfers machte einen so starken Eindruck auf das Publikum, daß der vorsichtige Panin einen Ausbruch des Unwillens befürchtete und Kurier um Kurier schickte, um die Kaiserin Katharina anzuflehen, sie möchte zurückkehren und sich ihrem Volke zeigen. Dieser Grund nötigte die Zarin, Mitau schon vierundzwanzig Stunden nach ihrer Ankunft wieder zu verlassen. Statt ihre Vergnügungsreise bis Warschau fortzusetzen, kehrte die Kaiserin in größter Eile nach Petersburg zurück, wo sie alles in der größten Ruhe fand. Die Politik veranlaßte sie, die Mörder des unglücklichen Iwan zu belohnen und den Frechen, die sie aus Ehrgeiz hatten vom Thron stoßen wollen, den Kopf abzuschlagen.

Man verbreitete das Gerücht, Katharina sei mit den Mördern im Einverständnis gewesen; aber man kam bald zu der Überzeugung, daß dies eine Verleumdung war. Die Zarin hatte eine starke Seele, aber sie war nicht hinterlistig und grausam. Als ich sie in Riga sah, war sie fünfunddreißig Jahre alt; sie regierte damals seit zwei Jahren. Obwohl sie nicht schön war, hatte sie etwas an sich, was gefiel: sie war groß, gut gewachsen, freundlich, leutselig und besonders von einer Ruhe, die sie nie verließ.

Um diese Zeit kam ein Freund des Barons von Ste.-Héleine von Petersburg an, um nach Warschau zu reisen. Er war ein Marchese Dragon, der sich d’Aragon nennen ließ. Er war Neapolitaner, ein großer Spieler, schön gewachsen, ein geschickter Fechter und stets bereit, in heiklen Fällen mit seiner Person einzustehen. Er hatte Petersburg verlassen, weil die Orloffs die Kaiserin überredet hatten, die Glücksspiele verbieten zu lassen. Man fand es eigentümlich, daß gerade die Orloffs das Glücksspiel verbieten ließen, da sie doch von weiter nichts lebten, bevor sie durch ein viel gefährlicheres, aber gewiß nicht edleres Mittel ihr Glück machten. Und doch waren sie vollkommen weise, indem sie diese Maßregel trafen. Sie wußten, daß die Spieler, die vom Spiel leben müssen, notwendigerweise Gauner sind: sie waren es selber gewesen. Sie wußten, daß solche Spieler im allgemeinen zu allen Ränken bereit sind, sobald sich nur irgendeine Aussicht auf Gewinn bietet: auch hierüber konnten sie selber am besten urteilen. Die Orloffs würden sich wohl gehütet haben, das Spiel in den Bann tun zu lassen, wenn sie nicht selber reich gewesen wären. Bürgerliche Tugenden richten sich fast immer nach den Umständen.

übrigens kann ein Spieler ein Schwindler sein und doch ein großes Herz haben, und gerechterweise muß man sagen, daß dies von den Orloffs gilt. Alexis hat die Narbe, die seine Wange ziert, in einer Schenke empfangen; der Mann, der ihn mit diesem Messerhieb zeichnete, hatte eine große Summe Geldes an ihn verloren und behauptete, Orloff verdanke diesen Gewinn mehr seiner Geschicklichkeit als dem Glück. Sobald Alexis reich und mächtig war, beeilte er sich den Mann, der ihn so empfindlich gezüchtigt hatte, glücklich zu machen; er dachte nicht daran, sich für die Verunglimpfung seines Antlitzes zu rächen. Dies ist ein edler Zug.

Die erste Kunst dieses Dragon bestand darin, stets die ihm günstige Karte umzuschlagcn, die zweite, den Degen zu führen. Er war im Jahre 1759 mit dem Baron von Ste.-Héleine nach Petersburg gekommen. Elisabeth regierte damals noch, aber der Thronfolger, Herzog Peter von Holstein, spielte schon eine große Rolle. Dragon ging auf einen Fechtboden, den der Prinz oft besuchte, und schlug dort alle Anwesenden. Der Herzog ärgerte sich darüber, nahm eines Tages ein Florett in die Hand und forderte den neapolitanischen Marchese heraus. Dragon nahm an und ließ sich zwei Stunden lang verdreschen; der Herzog entfernte sich triumphierend, denn nun konnte er sich für den besten Fechter von Petersburg halten.

Als der Prinz fort war, konnte Dragon sich nicht enthalten, zu sagen, er habe sich nur schlagen lassen, um nicht sein Mißfallen zu erregen; natürlich wurde diese Renommisterei dem Großfürsten hinterbracht. Dieser wurde zornig und schwor, er werde ihn zwingen, seine ganze Kraft aufzubieten, und wenn der Marchese ihn nicht vollständig besiege, so werde er ihn aus Petersburg ausweisen lassen. Zugleich ließ Seine Hoheit Dragon befehlen, sich am nächsten Tage auf dem Fechtboden einzufinden.

Der Herzog kam in seiner Ungeduld zuerst, bald aber erschien auch d’Aragon. Sobald der Prinz ihn sah, machte er ihm bittere Vorwürfe über seine Bemerkungen; der Neapolitaner versuchte nicht zu leugnen, sondern antwortete, er habe allerdings aus Furcht, dem Thronfolger zu mißfallen, ihm ein Zeichen seiner besonderen Hochachtung geben wollen, indem er sich zwei Stunden lang habe verdreschen lassen.

»Gut,« sagte der Großfürst, »aber jetzt werden Sie mich verdreschen, und zwar ohne jede Schonung; sonst lasse ich Sie morgen aus Petersburg ausweisen.«

»Gnädiger Herr, es soll nach den Befehlen Eurer Hoheit geschehen. Sie werden mich nicht ein einziges Mal berühren, aber ich hoffe, Prinz, Sie werden mir darob nicht zürnen, sondern mir im Gegenteil Ihren mächtigen Schutz gewähren.«

Die beiden Kämpen fochten den ganzen Vormittag miteinander, und der Großfürst empfing etwa hundert Stöße, ohne an den Marchese überhaupt herankommen zu können. Schließlich sah der Prinz die Überlegenheit seines Gegners ein, warf sein Florett weg und streckte dem Marchese die Hand entgegen. Er machte AjH ihn zu seinem Fechtmeister und ernannte ihn zum Major in seinem holsteinischen Garderegiment.

Nachdem d’Aragon auf diese Weise sich beim Großfürsten in Gunst gesetzt hatte, erhielt er bald darauf die Erlaubnis, im Palais des Herzogs eine Pharaobank zu halten. In drei oder vier Jahren besaß er hunderttausend Rubel in bar; mit diesen ging er an den Hof des neuen Königs Stanislaus, wo alle Spiele erlaubt waren. In Riga stellte Ste.-Héleine ihn dem Prinzen Karl vor, der ihn bat, am nächsten Tage mit dem Florett gegen ihn und einige Freunde seine Kunst zu zeigen. Ich hatte die Ehre, dabei zu sein. Er verdrosch uns alle ganz gehörig, denn seine Geschicklichkeit war wirklich teufelsmäßig. Es kränkte meine Eitelkeit, von ihm mit jedem Stoß getroffen zu werden, und ich sagte in meiner Empfindlichkeit zu ihm: mit dem blanken Degen in der Hand würde ich ihn nicht fürchten. Er hatte mehr Selbstbeherrschung wie ich und beruhigte mich, indem er mir die Hand hinstreckte und mir sagte: »Mit dem blanken Degen schlage ich mich ganz anders; Sie haben vollkommen recht, wenn Sie im Einzelkampf niemanden fürchten, denn Ihre Fechtweise muß Ihnen Achtung verschaffen.«

Am nächsten Tage reiste d’Aragon ab. Leider fand er in Warschau Griechen, die besser griechisch konnten als er – Gauner, die sich nicht auf dem Fechtboden amüsierten und ihm in weniger als sechs Monaten seine hunderttausend Rubel abnahmen. So geht’s dem Spieler: Es gibt kein dümmeres und niederträchtigeres Gewerbe als berufsmäßiges Spiel.

Acht Tage vor meiner Abreise von Riga, wo ich zwei Monate zubrachte, reiste Campioni mit Unterstützung des trefflichen Prinzen Karl in aller Heimlichkeit ab. Drei oder vier Tage später folgte ihm der Baron von Ste.-Héleine, ohne sich von seinen zahlreichen Gläubigern zu verabschieden. Nur dem Engländer Collins, dem er tausend Taler schuldete, schrieb er ein Briefchen, worin er sagte, als Ehrenmann lasse er seine Schulden an dem Ort, wo er sie gemacht habe. In einigen Jahren werde ich wieder auf diese drei Herren zu sprechen kommen.

Campioni überließ mir seinen Schlafwagen; infolgedessen mußte ich sechsspännig nach Petersburg fahren. Der Abschied von seiner Tochter Betty machte mir großen Kummer, und mit der Mutter unterhielt ich während meines ganzen Petersburger Aufenthalts einen Briefwechsel.

Am 15. Dezember reiste ich bei fünfzehn Grad Kälte von Riga ab; aber ich fühlte die Kälte nicht einen einzigen Augenblick, obgleich ich Tag und Nacht fuhr; denn während der sechzigstündigen Fahrt verließ ich meinen Schlafwagen nicht ein einziges Mal. Um so schnell reisen zu können, hatte ich bereits in Riga alle Posten bis Petersburg bezahlt, und der Gouverneur von Livland, Marschall Brown, hatte mir den Passierschein für die Post ausfertigen lassen. Auf dem Kutschbock hatte ich einen französischen Bedienten, der mich gebeten hatte, mich während meiner Reise bedienen zu dürfen, und dafür keinen anderen Lohn verlangte, als einen Platz neben dem Kutscher. Er hielt sein Versprechen und bediente mich sehr gut. Trotz seiner schlechten Kleidung hielt er zwei Tage und drei Nächte lang die entsetzliche Kälte aus, ohne daß sie ihn zu belästigen schien. Nur ein Franzose kann derartige Temperaturunterschiede aushalten; ein Russe würde in einer so leichten Kleidung wie mein Franzose in vierundzwanzig Stunden erfroren sein, trotz allem Kornbranntwein, den er trinken würde.

Nach der Ankunft in Petersburg verlor ich diesen Franzosen aus den Augen; aber drei Monate darauf begegnete ich ihm wieder: er saß in einem reichen Tressenkleide neben mir an der Tafel des Herrn von Tschernitscheff; er war Uschitel eines jungen Grafen, der an seiner anderen Seite saß. Ich werde noch Gelegenheit haben, von der Stellung zu sprechen, die der Uschitel oder Hofmeister in Rußland einnimmt.

Lambert lag neben mir in meinem Schlafwagen; während der ganzen Reise tat er nichts als essen, trinken und schlafen. Da er stotterte, sprach er niemals ein Wort, wenn er nicht mußte. Außerdem konnte er sich nur über mathematische Probleme unterhalten, und ich war nicht immer in der Laune, mich mit solchen zu beschäftigen. Niemals machte er eine scherzhafte Bemerkung, niemals eine kritische Beobachtung über das, was wir sahen. Er war langweilig, denn er war dumm; aber dieser Eigenschaft verdankte er den Vorzug, sich selber niemals zu langweilen.

Ich wurde wahrend meiner Reise von Riga nach Petersburg nur ein einziges Mal angehalten, nämlich in Narwa, wo ich einen Paß zeigen mußte, den ich nicht besaß. Ich sagte dem Gouverneur: »Als Venetianer, der nur zu seinem Vergnügen reist, habe ich nicht geglaubt, daß ein Paß für mich notwendig ist; denn meine Republik liegt mit keiner anderen Macht im Kriege, und Rußland hat in Venedig keinen Gesandten. Sollte jedoch Eure Exzellenz Schwierigkeiten machen, so werde ich sofort umkehren; aber ich werde mich beim Marschall Brown beklagen, der mir den Passierschein für die Post gegeben hat, obgleich er wußte, daß ich keinen diplomatischen Paß besitze.« Nachdem er sich einen Augenblick die Stirn gerieben hatte, gab der Gouverneur mir einen Passierschein, den ich noch jetzt aufbewahre. Ich bin damit nach Petersburg hineingekommen, ohne daß man mich danach gefragt hat, ja sogar ohne daß man meine Koffer und meinen Wagen durchsuchte.

Zwischen Koporie und Petersburg ist nur ein einziges Nachtlager in einem ärmlichen Hause, das nicht einmal Poststation ist. Das Land ist eine Einöde, und man spricht nicht einmal russisch. Es heißt Ingermannland; die Volkssprache hat, wie ich glaube, mit keiner anderen Sprache etwas gemein. Die Bauern der dortigen Gegend betreiben das Gewerbe, den Reisenden, die nur einen Augenblick ihren Wagen außer acht lassen, alles zu stehlen, was sie können.

Ich kam in Petersburg in dem Augenblick an, wo die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne den Horizont vergoldeten. Da wir uns zur Zeit der Wintersonnenwende befanden, und da ich die Sonne genau um neun Uhr vierundzwanzig Minuten über einer ungeheuren Ebene aufgehen sah, so kann ich versichern, daß die längste Nacht dieser Gegend achtzehn und dreiviertel Stunden dauert.

Ich nahm eine Wohnung in einer großen und schönen Straße, die die Million genannt wird. Man gab mir zu billigem Preise zwei Zimmer, die vollständig leer waren, die man aber im Handumdrehen mit zwei Betten, vier Stühlen und zwei kleinen Tischen möblierte. Da ich Ofen von riesiger Größe sah, so glaubte ich, es sei eine große Menge Holz nötig, um sie zu erwärmen; aber ich irrte mich. Nur in Rußland besitzt man die Kunst, Ofen zu bauen, wie man nur in Venedig Zisternen zu graben versteht. Ich untersuchte im Sommer und mit einer Sorgfalt, wie wenn ich die Absicht gehabt hätte, den Russen diese Kunstfertigkeit zu stehlen – ich untersuchte, sage ich, das Innere eines dieser Ofen. Er war zwölf Fuß hoch und sechs Fuß breit und heizte einen ungeheuren Saal. Ich bewunderte die vernünftige Anlage der Züge. Diese Öfen werden nur einmal in vierundzwanzig Stunden geheizt, weil man eine oben angebrachte Klappe schließt, sobald das ganze Holz in glühende Kohlen verwandelt ist.

Nur bei reichen Herren wird täglich zweimal geheizt, weil es den Bedienten streng verboten ist, jemals die Klappe zu schließen. Der zweifellos sehr vernünftige Grund dieses Verbots ist folgender:

Wenn ein Herr ermüdet von der Jagd oder von einer Reise zurückkehrt und schlafen möchte, befiehlt er seinen Leuten, sein Zimmer zu heizen, um zu Bett gehen zu können. Wenn nun aus Unaufmerksamkeit oder Gedankenlosigkeit der Bediente die Klappe schließt, bevor alles Holz durchgeglüht ist, geht der Herr zu Bett und schläft ein, um nicht wieder aufzustehen: in drei oder vier Stunden gibt er seinem Schöpfer seine Seele zurück, ohne um Hilfe rufen zu können, ohne auch nur die Augen zu öffnen. Wenn man am Morgen das Zimmer betritt, findet man den Herrn erstickt; vergebens sucht man ihn ins Leben zurückzurufen; nun verfolgt man den armen Teufel von Diener, der sich geflüchtet hat, den man aber mit erstaunlicher Leichtigkeit zu finden weiß. Man hängt ihn auf der Stelle auf, ohne seine Verteidigungsgründe auch nur anzuhören. Dies Verfahren der Polizei oder der Justiz ist strenge, ja sogar grausam; aber es ist heilsam und verhindert manches Unglück; denn ohne dasselbe könnte jeder Diener seinen Herrn ad patres schicken, sobald er nur den geringsten Anlaß hätte, sich an ihm zu rächen.

Nachdem ich die Preise für alles abgemacht und alles billig gefunden hatte – was heutzutage nicht mehr der Fall ist, denn jetzt wird alles so teuer bezahlt wie in London – kaufte ich einige Möbel, die ich nicht entbehren konnte, die aber damals in Rußland nicht viel in Gebrauch waren, zum Beispiel eine Kommode, einen Schreibtisch und dergleichen.

Die Umgangssprache in St. Petersburg, ausgenommen in den Kreisen des niedrigsten Volkes, war die deutsche. Ich sprach diese damals nicht besser als heute; es wird mir ziemlich schwer, mich auszudrücken, und meine Zuhörer lachen immer über das, was ich sage. Diese Sprache gehört nun einmal zur russischen Landessitte, aber ich gestehe, daß es mir etwas schwer wurde, mich daran zu gewöhnen.

Nach dem Mittagessen sagte mein Wirt mir, am Abend finde ein Gratis-Maskenball für fünftausend Personen bei Hofe statt und dieser Ball dauere sechzig Stunden. Er gab mir eine Eintrittskarte und sagte mir, ich brauchte diese nur am Eingang zum kaiserlichen Palast vorzuzeigen.

Da ich glaubte, es müßte ganz interessant sein, gleich nach meiner Ankunft eine so zahlreich besuchte Gesellschaft zu sehen, so entschloß ich mich, von der Eintrittskarte Gebrauch zu machen. Ich besaß noch den Domino, den ich in Mitau gekauft hatte, und brauchte nur eine Maske. Ich ließ mich in einer Sänfte hintragen und traf eine Menge Menschen, die in mehreren Sälen nach den Klängen mehrerer Orchester tanzten. Ich fand mehrere Büfetts, die mit Eßwaren und Getränken beladen waren, und wo ein jeder, der Hunger oder Durst hatte, nach Herzenslust aß oder trank. Freude und Freiheit herrschte überall, und die in verschwenderischer Zahl angebrachten Kerzen verbreiteten Helligkeit in jeden Winkel. Ich fand das alles prachtvoll und bewunderungswürdig und bewunderte es um so rückhaltloser, je größer der Gegensatz zu dem Wetter draußen war. Plötzlich hörte ich neben mir eine Maske zu einer anderen sagen: »Da kommt die Zarin. Jetzt werden wir gleich auch Gregor Orloff sehen; denn er hat Befehl, ihr von weitem zu folgen, und trägt einen Domino, der wie Katharinas Domino wohl fünf Kopeken wert ist.«

Ich folgte dieser Maske und gewann bald die Gewißheit, daß es wirklich die Herrscherin war, denn zwanzig Personen zur Linken und zur Rechten wiederholten es; aber niemand tat, wie wenn er sie kenne. Diejenigen, die sie wirklich nicht kannten, stießen sie an, als sie sich so durch das Gedränge schob. Ich stellte mir gern das Vergnügen vor, das sie darüber empfinden mußte; denn hierdurch mußte sie die Überzeugung gewinnen, daß man sie nicht erkannte. Mehrere Male sah ich, wie sie sich neben Leute setzte, die russisch sprachen und sich vielleicht über sie unterhielten. Allerdings setzte sie sich hierdurch einigen Enttäuschungen für ihre Eitelkeit aus. Aber sie verschaffte sich dadurch den unschätzbaren Vorteil, Wahrheiten zu erfahren, die sie von den Höflingen, welche ihr ohne Maske schmeichelten, niemals zu hören hoffen durfte. In einiger Entfernung sah ich stets die Maske, die man als Gregor Orloff bezeichnet hatte. Er verlor sie keine Minute aus den Augen; jedermann erkannte ihn an seinem hohen Wuchs und an der Art, wie er den Kopf vorstreckte.

In einem Saal, wo ein französischer Kontertanz ganz ausgezeichnet getanzt wurde, blieb ich stehen, um mit Vergnügen zuzusehen. Plötzlich sah ich eine Maske in Bahute, Mantel, weißer Larve und aufgeschlagenem Hut eintreten. Der Herr war zu gut kostümiert, um nicht mein Landsmann zu sein, denn ich habe selten gesehen, daß Fremde unsere Tracht so gut nachahmen, um eine Täuschung erregen zu können. Zufällig stellte er sich neben mich.

»Man würde Sie für einen Venetianer halten«, sagte ich auf französisch zu ihm.

»Ich bin es ja auch.«

»Wie ich.«

»Ich scherze nicht.«

»Ich auch nicht.«

»So sprechen wir doch venetianisch!«

»Sprechen Sie nur; ich werde Ihnen antworten.«

Wir sprachen nun miteinander venetianisch, aber an dem Worte sabato Samstag, das man in Venedig sabo ausspricht, erkannte ich, daß er zwar Venetianer war, aber nicht aus der Hauptstadt stammte. Er gab es zu und sagte mir, er erkenne an meiner Sprache mit Bestimmtheit, daß ich aus der Stadt Venedig selbst sei.

»So ist es.«

»Ich glaubte, in Petersburg gäbe es keinen anderen Italiener als Bernardi.«

»Wie Sie sehen, kann man sich täuschen.«

»Ich bin Graf Volpati von Treviso.«

»Geben Sie mir Ihre Adresse; ich werde Sie aufsuchen und Ihnen sagen, wer ich bin; hier kann ich Ihnen das nicht sagen.«

»Meine Adresse? Hier!«

Ich trennte mich vom Grafen und streifte wieder auf diesem eigenartigen Ball herum. Zwei oder drei Stunden später überraschte mich die Stimme einer weiblichen Maske, die im Kreise mehrerer anderer Masken in Falsett nach der Mode der Opernbälle pariserisch sprach.

Die Stimme erkannte ich nicht, aber der Stil ließ mir keinen Zweifel darüber, daß es eine von meinen Bekannten wäre; denn sie gebrauchte dieselben Ausdrücke und Zwischenrufe, die ich in Paris an allen Orten, die ich häufiger besuchte, in die Mode gebracht hatte: oh! la bonne chose! le cher homme! Ich war neugierig, wer das wohl sein möchte; da ich sie aber nicht anreden wollte, bevor ich sie kannte, so wartete ich geduldig, um sie im verstohlenen sehen zu können, wenn sie einmal ihre Maske abnähme. Nach einer Stunde etwa gelang mir dies. Der Leser stelle sich meine Überraschung vor, als ich die Baret erkannte, die Strumpfhändlerin von der Ecke der Rue St. Honoré! Bei ihrem Anblick erwachte meine Liebe von neuem; ich trat auf sie zu und sagte ihr mit Falsettstimme, ich sei ihr Freund vom Hotel d’Elbeuf.

Offenbar wurde sie neugierig; aber sie erriet nicht, wer ich war, und wagte kein Wort zu sagen. Ich flüsterte ihr ins Ohr: Gilbert, Baret, Rue des Prouvères, sowie einige Tatsachen, die nur ihr selber und einem glücklichen Liebhaber bekannt sein konnten.

Als sie sah, daß ich ihre geheimsten Angelegenheiten kannte, ließ sie alle anderen stehen, hängte sich an meinen Arm und bat mich, ihr doch zu sagen, wer ich sei.

»Ich bin Ihr Liebhaber – einstmals sehr glücklicher Liebhaber; bevor ich Ihnen aber mehr sage, bitte ich Sie, mir anzugeben, mit wem Sie hier sind und wie es Ihnen geht.«

»Schön! Aber vor allen Dingen bitte ich Sie, keinem Menschen zu sagen, was Sie von mir wissen! Ich verließ Paris mit Herrn d’Anglade, Parlamentsrat in Rouen. Nachdem ich eine Zeitlang mit ihm ziemlich glücklich gelebt hatte, verließ ich ihn, um dem Direktor einer komischen Oper zu folgen, der mich unter dem Namen l’Anglade als Schauspielerin hierher gebracht hat. Jetzt werde ich vom polnischen Gesandten, Grafen Rzewuski, unterhalten. Und nun, wo Sie alles wissen, sagen Sie mir, bitte, wer Sie sind.«

Da ich sicher war, sie wiederum zu besitzen, nahm ich meine Maske ab. Freudetrunken drückte sie mir die Hände und rief: »Mein guter Engel führt Sie nach Petersburg.«

»Wieso?«

»Rzewuski ist genötigt, nach Polen zurückzukehren; ich kann mich daher nur Ihnen anvertrauen, damit Sie es mir möglich machen, Rußland zu verlassen; denn ich kann es hier nicht mehr aushalten, da ich einen Beruf ausüben muß, für den ich wohl nicht geboren bin: denn ich kann weder singen noch Komödie spielen.«

Sie gab mir ihre Adresse, und ich verließ sie, hocherfreut über meine Entdeckung. Nachdem ich eine halbe Stunde an einem Büfett verbracht hatte, wo ich einige Leckerbissen aß und französische Weine trank, mischte ich mich wieder unter die Menge und sah meine schöne l’Anglade mit Bolpati plaudern. Er hatte sie mit mir gesehen und war sofort zu ihr gegangen, um zu erfahren, wer ich sei; sie war jedoch verschwiegen, wie ich es von ihr zum Lohn für meine eigene Diskretion verlangt hatte, und hatte ihm gesagt, ich sei ihr Gemahl; mit diesem Namen rief sie mich an, indem sie sagte, die neugierige Maske wolle es nicht glauben, obwohl es doch wahr sei.

Ermüdet verließ ich gegen Morgen den Ball; ich legte mich mit der Absicht zu Bett, in der Frühe aufzustehen, um in die Messe zu gehen. Nachdem ich eine gute Weile geschlafen hatte, wachte ich auf; da ich aber alles noch dunkel sah, drehte ich mich auf die andere Seite und schlief wieder ein, endlich wachte ich zum zweiten Male auf; da ein schwaches Tageslicht durch mein Doppelfenster drang, so stand ich auf und ließ einen Friseur holen. Ich sagte meinem Bedienten, er solle sich beeilen, denn ich wolle die Messe hören, weil heute der erste Sonntag meines Petersburger Aufenthalts sei.

»Aber, gnädiger Herr, der erste Sonntag war ja gestern; heute haben wir Montag.«

»Wie? Montag?«

»Gewiß, gnädiger Herr.«

Ich hatte siebenundzwanzig Stunden geschlafen. Nachdem ich herzlich über meinen Irrtum gelacht hatte, überzeugte ich mich bald von der Richtigkeit der Tatsache, denn ich verspürte einen Wolfshunger.

Das ist der einzige Tag in meinem Leben, wovon ich sagen kann, daß ich ihn wirklich verloren habe, aber ich werde darüber nicht weinen, wie der römische Kaiser, sondern ich lache darüber; freilich ist das nicht der einzige Unterschied zwischen Titus und Casanova.

Ich ging zu dem griechischen Kaufmann Demetrio Papanelopulo, bei dem ich für hundert Rubel monatlich akkreditiert war. Außerdem war ich von Herrn da Loglio an ihn empfohlen worden. Er nahm mich ausgezeichnet auf und bat mich, jeden Tag bei ihm zu speisen; die fällige Monatsrate zahlte er mir sofort aus, zeigte mir, daß er meinen Mitauer Wechsel eingelöst hatte, und besorgte mir einen Bedienten, für dessen Treue er mir bürgte, sowie ein Mietsfuhrwerk für achtzehn Rubel monatlich, etwas mehr als sechs Dukaten. Eine Billigkeit, die heutzutage nicht mehr vorhanden ist.

Am nächsten Tage speiste ich bei dem braven Griechen mit dem jungen Bernardi, dem Sohn des Bernardi, der aus Verdachtsgründen, die von der Weltgeschichte bestätigt oder widerlegt werden mögen, vergiftet wurde. Als der Nachtisch aufgetragen wurde, kam Graf Volpati und erzählte, er habe auf dem Ball einen Venetianer getroffen, der ihm versprochen hatte, ihn aufzusuchen.

»Dieser Venetianer, Herr Graf, würde sein Versprechen gehalten haben, wenn er nicht nach dem Ball siebenundzwanzig Stunden geschlafen hätte. Dieser Venetianer bin ich, und ich bin entzückt, hier meine Bekanntschaft mit Ihnen zu vervollständigen.«

Der Graf wollte abreisen; seine Abreise war bereits in der Petersburger Zeitung angekündigt, wie es damals in Rußland Vorschrift war. Niemand bekam einen Paß früher als vierzehn Tage, nachdem seine Abreise öffentlich angekündigt war. Infolgedessen geben die Kaufleute Fremden gern Kredit, während die Fremden es sich zweimal überlegen, bevor sie Schulden machen.

Am nächsten Tage überbrachte ich einen Brief an den damaligen Oberst und späteren Artillerie-General Pietro Iwanowitsch Melissino. Der Brief war von Madame da Loglio, die mit ihm sehr befreundet gewesen war. Er empfing mich aufs beste, stellte mich seiner sehr liebenswürdigen Gemahlin vor und lud mich ein für allemal ein, jeden Abend bei ihnen zu speisen. Sein Haushalt war nach französischer Art eingerichtet: man spielte, man soupierte in zwangloser Weise. Ich lernte bei ihm auch seinen älteren Bruder kennen, Prokurator des Synods; dieser war mit einer Fürstin Dolgorucki verheiratet. Es wurde Pharao gespielt, und die Gesellschaft bestand nur aus zuverlässigen Leuten, die sich weder über ihre Verluste beklagten, noch sich ihrer Gewinne rühmten. Man war daher sicher, daß die Regierung niemals die Verletzung des Spielverbotes entdecken würde. Die Bank hielt Baron Lefort, ein Sohn des berühmten Admirals Peters des Großen. Dieser Lefort war ein Beispiel für die Unbeständigkeit des Glückes: er war damals in Ungnade wegen einer Lotterie, die er gelegentlich der Krönung der Kaiserin in Moskau veranstaltet hatte; die Zarin selber hatte ihm die Mittel dazu geliefert, um ihrem Hof ein kleines Vergnügen zu machen. Aus Mangel an guter Leitung war die Lotterie in die Luft geflogen, und die Verleumdung hatte dem Baron schuld daran gegeben.

Ich spielte an jenem Abend mit bescheidenen Einsätzen und gewann ein paar Rubel. Beim Essen saß ich neben dem Baron Lefort und wurde mit ihm näher bekannt; nachdem ich ihn später mehrere Male freundschaftlich besucht hatte, weihte er mich in seine Verhältnisse ein.

Während wir vom Spiel sprachen, pries ich die edle Gleichgültigkeit, womit ein gewisser Fürst tausend Rubel an ihn verloren hatte. Er lachte und sagte mir, der schöne Spieler, dessen vornehme Gleichgültigkeit ich bewundere, spiele auf Kredit, bezahle aber nicht.

»Aber die Ehre?«

»Die Russen haben ihre besondere Auffassung von Ehre, und wenn einer seine Schulden nicht bezahlt, so leidet darunter seine Ehre nicht. Es ist eine stillschweigende Bedingung, daß derjenige, der auf Wort verliert, nur bezahlt, wenn er will; der Gewinner würde sich lächerlich machen, wenn er ihn an seine Schuld erinnern würde.«

»Ohne Zweifel hat aber dafür ein Bankhalter das Recht, unbare Sätze zurückzuweisen?«

»Selbstverständlich. Niemand darf sich dadurch beleidigt fühlen. Der Spieler entfernt sich oder gibt Pfänder, übrigens ist die Verderbnis unter den Spielern in Rußland so hoch gestiegen, daß man solche Dinge, wie sie hier vorkommen, anderswo in ganz Europa kaum in einer Diebeshöhle antreffen würde. Ich kenne junge Leute vom höchsten Adel, die damit renommieren, daß sie das Glück zu meistern verstehen – mit anderen Worten: daß sie betrügen. Ein Matuschkin hat sogar alle fremden Betrüger herausgefordert, ihm etwas abzugewinnen. Er hat soeben die Erlaubnis erhalten, drei Jahre lang im Ausland zu reisen, und er machte lein Geheimnis daraus, daß er draußen seine Geschicklichkeit auszuüben gedenkt. Er hat sich vorgenommen, mit reicher Beute nach Rußland zurückzukehren.«

Ein junger Gardeoffizier, namens Zinowieff, ein Verwandter der Orloffs, den ich bei Melissino getroffen hatte, verschaffte mir die Bekanntschaft des englischen Gesandten Macartney, eines schönen und geistvollen jungen Mannes, der ein großer Freund des Vergnügens war. Er hatte sich in ein Fräulein von Schitroff, eine Hofdame der Kaiserin, verliebt; und da die Schöne dieser Liebe gegenüber nicht unempfindlich geblieben war, so war ein Püppchen das Ergebnis gewesen. Die Kaiserin hatte diese englische Freiheit sehr unverschämt gefunden; der Sünderin verzieh sie allerdings, aber sie ließ den Verführer abberufen. Diese Nachsicht der Zarin, wurde dem Umstände zugeschrieben, daß Fräulein von Schitroff das Talent hatte, sehr anmutig auf der kaiserlichen Bühne zu tanzen. Ich kannte den Bruder dieser Hofdame, einen sehr jungen und sehr schönen Offizier, der zu guten Hoffnungen berechtigte. Ich hatte den Vorzug, zu einer Hofaufführung zugelassen zu werden, und sah bei dieser Gelegenheit Fräulein von Schitroff tanzen. Ferner tanzte das schöne Fräulein Sievers, die jetzige Fürstin von ***, die ich vor vier Jahren mit ihrer Tochter, einer sehr gut erzogenen jungen Prinzessin, in Dresden wiedersah. Dieses Fräulein Sievers bezauberte mich. Ich verliebte mich in sie; da ich ihr aber niemals vorgestellt wurde, so habe ich es ihr niemals sagen können. Der Kastrat Putini besaß ihre Gunst, und er verdiente sie ebensosehr durch sein Talent wie durch seinen Geist und seine persönlichen Vorzüge.

Der gute Papanelopulo machte mich mit dem Minister Alsuwieff bekannt. Dies war ein geistvoller Mann, dick und fett und der einzige Gelehrte, den ich in Rußland kennen gelernt habe. Er hatte in Upsala gute Studien gemacht, liebte die Frauen, den Wein und eine gute Tafel. Er lud mich ein, bei Locatelli in Katharinenhof zu speisen; dies war ein kaiserliches Lustschloß, das die Zarin dem alten Theaterdirektor auf Lebenszeit überlassen hatte. Er war verwundert, mich zu sehen, und ich war noch viel mehr verwundert, als ich sah, daß er Restaurateur geworden war; denn für einen Rubel, ohne den Wein, gab er jedem, der kam, ein ganz ausgezeichnetes Essen. Herr Alsuwieff machte mich auch mit seinem Kollegen, dem Kabinettssekretär Teploff, bekannt; dieser hatte das Laster, hübsche Knaben zu lieben, und das Verdienst, Peter den Dritten erdrosselt zu haben, als dieser durch den Genuß von Limonade die Wirkungen des Arseniks beseitigt hatte, das man ihm in einer Flasche Burgunder hatte trinken lassen. Die Tänzerin Mécour, der ich einen Brief von der Santina überwacht hatte, machte mich mit ihrem Liebhaber bekannt, dem dritten Kabinettssekretär Yelagin, der zwanzig Jahre in Sibirien verbracht hatte.

Ein Brief von da Loglio verschaffte mir die freundlichste Aufnahme von Seiten des Kastraten Luini, eines liebenswürdigen Menschen, bei dem man ausgezeichnet speiste. Er war der Geliebte der sehr tüchtigen ersten Tänzerin Colonna; aber sie schienen nur zusammen zu sein, um sich zu quälen, denn nicht einen einzigen Tag sah ich sie einträchtig. Bei ihm machte ich die Bekanntschaft eines anderen sehr liebenswürdigen Kastraten, namens Millico, eines sehr guten Freundes des Großjägermeisters Narischkin. Da Millico oftmals mit Achtung von mir sprach, wünschte er mich ebenfalls kennen zu lernen. Dieser Narischkin, ein liebenswürdiger und ziemlich gebildeter Herr, war der Gatte der berühmten Maria Paulowna.

An der prunkvollen Tafel des Großjägermeisters lernte ich den Kalogero Platon kennen, der jetzt Erzbischof von Nowgorod ist. Damals war er Hofprediger der Kaiserin. Dieser schlaue Mönch verstand griechisch, sprach lateinisch und französisch, hatte Geist und war, was man einen schönen Mann nennen kann; es war nicht zu verwundern, daß er in Rußland sein Glück machte; denn in diesem Lande hat der Adel sich niemals dazu herbeilassen wollen, sich um geistige Würden zu bewerben.

Da ich einen Brief von da Loglio für die Fürstin Daschkoff hatte, brachte ich ihn ihr nach ihrem drei Werst von Petersburg gelegenen Landgut, wo sie in der Verbannung lebte, weil sie geglaubt hatte, den Thron, den Katharina mit ihrer Hilfe bestiegen hatte, mit der Zarin teilen zu dürfen. Die große Katharina konnte den Ehrgeiz der früheren Freundin nicht befriedigen und mußte ihn daher tödlich kränken.

Ich fand die Fürstin in Trauer wegen des Todes ihres Gemahls. Sie empfing mich mit großer Güte und versprach mir, meinetwegen mit Herrn Panin zu sprechen. Drei Tage darauf schrieb sie mir, ich könne mich diesem hohen Herrn vorstellen, sobald ich wolle. Bei dieser Gelegenheit sah ich, daß die Zarin ein großer Mensch war: sie hatte die Fürstin in Ungnade fallen lassen, aber sie hielt ihren Günstling und ersten Minister nicht ab, ihr jeden Abend seinen Besuch zu machen. Ich habe von glaubwürdigen Leuten gehört, Graf Panin sei nicht der Liebhaber, sondern der Vater der Fürstin Daschkoff gewesen; diese ist jetzt Vorsitzende der Akademie der Wissenschaften, und ohne Zweifel haben die Gelehrten in ihr eine zweite Minerva erkennen müssen, denn sonst würden sie wahrscheinlich darüber erröten, daß eine Frau an ihrer Spitze steht. Man braucht den Russen nur noch eine Frau zu wünschen, die ihr Heer kommandieren kann; aber die Jungfrauen von Orléans sind nicht reichlich.

Am Dreikönigstage wohnte ich mit Melissino einer ganz außerordentlichen Feier bei, nämlich der Einsegnung des Wassers der Newa, die damals mit fünf Fuß dickem Eis bedeckt war.

Nachdem das Wasser gesegnet ist, tauft man darin Kinder, indem man sie in ein großes Loch im Eise eintaucht. An jenem Tage geschah es, daß dem Popen ein Kind, das er taufen sollte, aus den Händen glitt. »Drugoi!« rief er. Das hcißt: »Gebt mir ein anderes.«

Man stelle sich meine Überraschung vor, als ich Vater und Mutter des verunglückten Kindes freudetrunken sah! Sie waren überzeugt, daß ihr Kind auf geradem Wege zum Himmel emporgeflogen sei. Glückliche Unwissenheit!

Ich hatte einen Brief von der Florentinerin Bregonci, die mich in Memel zum Abendessen eingeladen hatte, an ihre Freundin, die Venetianerin Roccolini. Diese hatte die Laune gehabt, Venedig zu verlassen, um an der Petersburger Oper zu singen, obgleich sie keine Note kannte und niemals vorher die Bühne betreten hatte. Die Kaiserin hatte über ihre Torheit gelacht und ihr sagen lassen, sie habe keine Stellung zu vergeben, die ihrem besonderen Talent entspreche. Die Roccolini, die man die Vicenza nannte, war nicht die Frau, sich durch eine solche Kleinigkeit entmutigen zu lassen. Sie schloß eine enge Freundschaft mit einer französischen Kaufmannsfrau, namens Proté, die bei dem Großjägermeister wohnte. Diese Proté war gleichzeitig die Geliebte des Großjägermeisters und die Vertraute seiner Frau, Marin Puulowna, die ihren Mann nicht liebte und daher glücklich war, daß die Französin sie von ihren ehelichen Verpflichtungen befreite.

Diese Proté war eine der schönsten Frauen, die ich je gesehen habe, und ohne Zweifel die schönste, die es damals in Petersburg gab. In der Blüte ihrer Jahre stehend, vereinigte sie mit dem galantesten Wesen den ausgesuchtesten Geschmack in der Kunst der Kleidung. Keine Frau wußte sich so anzuziehen wie sie, und da sie sehr lustig und in Gesellschaft außerordentlich liebenswürdig war, so war sie überall beliebt. Die Vicenza war nun ihre Freundin, Vertraute und Kupplerin geworden. Sie empfing in ihrer Wohnung die Kavaliere, die sich in die Proté verliebt hatten, und die zu erhören der Mühe wert erschien. Die Proté kam dabei auf ihre Rechnung, und die Vermittlerin verlor nichts, denn sie empfing von allen Seiten.

Ich erkannte die Signora Roccolini auf den ersten Blick wieder; da aber seit unserer Bekanntschaft schon etwa zwanzig Jahre verflossen waren, so wunderte sie sich nicht, daß ich so tat, wie wenn ich mich nicht mehr erinnerte, und suchte auch nicht mein Gedächtnis aufzufrischen. Ihr Bruder hieß Montellato; er hatte mich eines Nachts, als ich vom Ricotto kam, mitten auf dem Markusplatze ermorden wollen. Bei der Roccolini hatte man das Komplott geschmiedet, das mir das Leben gekostet hätte, wenn ich einen Augenblick gezögert hätte, durch das Fenster auf die Straße zu springen.

Die Roccolini empfing mich, wie man eben einen lieben Landsmann in der Fremde begrüßt. Sie erzählte mir im einzelnen alles Unglück, das sie gehabt hatte, aber sie war stolz auf ihren Mut und sagte zu mir: »Ich brauche keinen Menschen und verkehre vergnügt und guter Dinge mit den liebenswürdigsten Damen von St. Petersburg. Da Sie oft beim Großjägermeister Narischkin speisen, so wundere ich mich, daß Sie dort noch nicht die schöne Madame Proté kennen gelernt haben; denn sie ist ja mit Narischkin ein Herz und eine Seele. Kommen Sie morgen zum Kaffee zu mir; Sie werden ein Wunder sehen!«

Ich stellte mich pünktlich ein und fand die Dame noch weit erhaben über das Lob, das die Venetianerin ihr gezollt hatte. Ich war von ihr geblendet; da ich aber nicht mehr reich war, so bot ich meinen Geist auf, um mich bei ihr in Gunst zu setzen.

Obwohl ich wußte, wie sie hieß, fragte ich sie nach ihrem Namen. Sie antwortete mir: »Proté.«

»Sie könnten mir, meine Gnädige, nichts Angenehmeres sagen, denn Sie haben mir soeben gesagt, daß Sie mir gehören.«

»Wieso?« fragte sie mit einem reizenden Lächeln.

Ich erklärte ihr das lateinische Wortspiel (Pro te) und sie lachte darüber. Nachdem ich ihr allerlei angenehme Dinge gesagt hatte, gab ich ihr offen zu erkennen, welche Wirkung ihre Schönheit auf mich ausgeübt hatte, und sprach die Hoffnung aus, daß ich sie mit der Zeit durch meine Bewerbungen gewinnen könnte. Die Bekanntschaft war gemacht, und seitdem sprach ich jedesmal entweder vor oder nach dem Essen bei ihr vor, wenn ich zu Narischkin ging.

Da der polnische Gesandte um diese Zeit nach seiner Heimat zurückkehrte, mußte ich meine Liebschaft mit der schönen l’Anglade aufgeben, denn sie nahm einen vorteilhaften Vorschlag an, den ein Graf Braun ihr machte. Einige Monate später starb die reizende Französin an den Pocken. Ohne Zweifel war dies für sie eine Wohltat des Schicksals; denn da sie weder sparsam noch eigennützig war, hätte sie im Elend enden müssen, sobald ihre Schönheit ihr nicht mehr den Unterhalt verschaffen konnte.

Ich hatte Lust, die Gunst der schönen Proté zu erwerben, und lud sie daher nach Katharinenhof zum Speisen bei Locatelli ein; außerdem bat ich Luini, die Colonna, den Gardeoffizier Zinowieff, die Signora Vicenza und deren Liebhaber, einen Geigenvirtuosen. Wir hatten ein ausgezeichnetes Essen; Wein und Fröhlichkeit brachten die Gäste in die von mir gewünschte Stimmung, so daß nach der Mahlzeit ein jeder mit der Seinen die Einsamkeit suchte; bald war ich bei meiner schönen Proté auf dem besten Wege zum Erfolge, als ein Zwischenfall uns störte. Luini rief uns heran, um ihn als Jäger zu bewundern; denn er hatte seine Gewehre mitgebracht und seine Hunde kommen lassen.

Ich hatte mich mit Zinowieff etwa hundert Schritte vom Kaiserlichen Lustschloß entfernt, als ich eine junge Bäuerin von wahrhaft überraschender Schönheit entdeckte. Ich machte den jungen Offizier auf sie aufmerksam, und wir gingen auf sie zu; aber leicht und gewandt wie ein Reh lief sie davon und trat in eine nahe gelegene Hütte ein. Wir folgten ihr und sahen in der Hütte ihren Vater, ihre Mutter, mehrere Kinder und die Schöne, die sich in eine Ecke gedrückt hatte, wie ein Kaninchen, das Angst hat, von der verfolgenden Meute zerrissen zu werden.

Zinowieff – der, nebenbei bemerkt, derselbe ist, der zwanzig Jahre lang in Madrid Gesandter der Kaiserin war – sprach ziemlich lange Zeit russisch mit dem Vater. Natürlich verstand ich nichts davon, aber ich erriet, daß von dem jungen Mädchen die Rede war, denn der Vater rief sie heran, und sie trat mit gehorsamer und unterwürfiger Miene heran und stand mit gesenkten Augen vor uns.

Nachdem er ziemlich lange gesprochen hatte, ging Zinowieff hinaus; ich gab dem Bauern einen Rubel und folgte meinem Freunde. Zinowieff gab mir Bericht über sein langes Gespräch: er habe den Vater gefragt, ob er ihm seine Tochter als Magd geben wolle, der Vater habe ihm geantwortet, das wolle er sehr gern tun, aber er verlange hundert Rubel für sie, weil sie noch Jungfrau sei. »Es ist also, wie Sie sehen, nichts dabei zu machen.«

»Wieso nichts zu machen?«

»Natürlich nicht. Hundert Rubel!«

»Und wenn ich Lust hätte, dieses Geld zu geben?«

»Dann wäre sie Ihre Magd, und Sie könnten mit ihr anfangen, was Sie wollten; nur töten dürfen Sie sie nicht.«

»Und wenn sie nicht wollte?«

»Das kommt niemals vor; aber dann könnten Sie sie prügeln.«

»Nehmen wir an, sie sei einverstanden: könnte ich sie noch weiter behalten, wenn ich sie nach meinem Geschmack gefunden hätte?«

»Sie werden ihr Herr, sage ich Ihnen; Sie können sie sogar festnehmen lassen, wenn sie Ihnen fortläuft; oder sie muß Ihnen die hundert Rudel wiedergeben, die Sie für sie ausgegeben haben.«

»Und was muß ich ihr monatlich geben?«

»Nichts. Sie bekommt nur Essen und Trinken, und Sie müssen sie jeden Samstag baden lassen, damit sie Sonntags in die Kirche gehen kann.«

»Und könnte ich sie zwingen, mit mir zu kommen, wenn ich von Petersburg fortginge?«

»Nein; es wäre denn, daß Sie gegen Bürgschaft die Erlaubnis dazu erhielten; denn das Mädchen wird zwar Ihre Leibeigene, aber sie bleibt darum doch in erster Linie Leibeigene der Kaiserin.«

»Gut. Wollen Sie mir diese Sache in Ordnung bringen? Ich werde die hundert Rubel geben und sie gleich mitnehmen. Ich verspreche Ihnen, sie nicht als Leibeigene zu behandeln. Aber ich verlasse mich auf Sie; ich möchte nicht gerne betrogen werden.«

»Ich werde selber den Handel abschließen und verspreche Ihnen, daß man Sie nicht betrügen wird. Soll es gleich geschehen?«

»Nein, morgen. Denn ich wünsche nicht, daß unsere Gesellschaft etwas davon erfährt.«

»Schön; also morgen.«

»Wir fuhren alle zusammen in einem großen Phaeton nach Petersburg zurück. Am anderen Morgen ging ich um neun Uhr zu Zinowieff, der, wie er sagte, entzückt war, mir diesen kleinen Dienst leisten zu können. Unterwegs sagte er mir: »Wenn Sie Lust haben , bringe ich Ihnen in ein paar Tagen einen Harem von soviel schönen Mädchen zusammen, wie Sie wünschen.«

»Wenn ich verliebt bin, brauche ich nur eine.«

Mit diesen Worten gab ich ihm die hundert Rubel. Wir gingen in die Hütte und fanden Vater, Mutter und Tochter. Zinowieff sagte ihm in wenigen Worten, worum es sich handelte; der Vater dankte nach dem Landesbrauch dem heiligen Nikolaus für das Glück, das er ihm bescherte; hierauf sprach er mit seiner Tochter, die mich ansah und auf russisch »ja« sagte. Dies Wort verstand ich.

Zinowieff sagte mir, ich müsse mich überzeugen, daß sie unberührt sei; denn bei der Unterzeichnung des Vertrages müsse ich anerkennen, daß ich sie als Jungfrau gekauft habe. Ich fürchtete sie dadurch zu beleidigen und wies daher jede Untersuchung zurück, aber Zinowieff sagte mir, das Mädchen würde gekränkt sein, wenn ich sie nicht untersuchte; ich würde ihr im Gegenteil ein großes Vergnügen bereiten, wenn sie dadurch ihre Eltern überzeuge könnte, daß sie keusch geblieben wäre. Ich untersuchte sie daher so zartfühlend, wie ich nur konnte, aber ganz gründlich, und fand sie unberührt. Allerdings würde ich sie sicherlich nicht verraten haben, selbst wenn ich sie nicht als Jungfrau gefunden hätte.

Zinowieff übergab hierauf die hundert Rubel dem Vater, der sie seiner Tochter gab; diese aber nahm sie nur, um sie sofort ihrer Mutter zu reichen. Mein Bedienter und mein Kutscher traten ein und unterschrieben als Zeugen den Vertrag, von dessen Inhalt sie keine Ahnung hatten.

Das junge Mädchen, dem ich den Namen Zaïra gab, stieg in ihrem groben Tuchrock und ohne Hemd in unseren Wagen und fuhr mit uns nach Petersburg. Nachdem ich Zinowieff nach Hause gebracht hatte, fuhren wir zu mir. Vier Tage lang schloß ich mich mit ihr ein und wich nicht einen Augenblick von ihrer Seite, bis ich sie ohne Luxus, aber sehr sauber nach französischer Art gekleidet sah. Es war mir sehr schmerzlich, daß ich nicht Russisch konnte, aber in weniger als drei Monaten verstand Zaïra genug Italienisch, um mich verstehen zu können und um mir alles zu sagen, was sie wünschte. Es dauerte nicht lange, so liebte sie mich, später wurde sie eifersüchtig. Aber davon werden wir im nächsten Kapitel sprechen.

Elftes Kapitel


Paulinens Geschichte. – Mein Glück. – Ihre Abreise.

Ich bin die einzige Tochter des unglücklichen Grafen X…., den Carvalho Oeiras nach dem den Jesuiten zugeschobenen Anschlag auf das Leben des Königs im Gefängnis sterben ließ. Ich weiß nicht, ob mein Vater schuldig, oder ob er ein unschuldiges Opfer einer Privatrache war; aber soviel weiß ich, daß der tyrannische Minister es nicht gewagt hat, ihm den Prozeß zu machen oder sein Vermögen zu konfiszieren; ich bin daher im Besitz desselben, kann aber Einkünfte davon nur beziehen, wenn ich wieder in meine Heimat zurückkehre.

Meine Mutter ließ mich in einem Kloster erziehen, dessen Äbtissin ihre Schwester war; diese hielt mir alle möglichen Lehrer, unter anderen auch einen gelehrten Italiener aus Livorno, der mich in sechs Jahren alles lehrte, was ich nach seiner Ansicht wissen durfte. Ich fand ihn stets bereit, meine Fragen zu beantworten, soweit sie nicht die Religion betrafen; aber ich muß gestehen, daß seine Zurückhaltung in dieser Hinsicht mir durchaus nicht mißfiel, sondern im Gegenteil ihn mir noch lieber machte, denn er ließ es sich angelegen sein, mein Urteil zu bilden, und gab meinem Geist Nahrung, indem er mich lehrte, selber nachzudenken und zu urteilen.

Als ich achtzehn Jahre alt war, nahm mein Großvater mich aus dem Kloster, obgleich ich erklärt hatte, ich würde mit Vergnügen solange bleiben, bis sich die Gelegenheit böte, mich zu verheiraten. Ich hing mit zärtlicher Liebe an meiner Tante, die seit dem Tode meiner guten Mutter alles aufbot, um mir den doppelten Verlust, den ich erlitten hatte, weniger schmerzlich zu machen. Mein Austritt aus dem Kloster war für mein ganzes Leben entscheidend, und da er nicht auf meinen Willen erfolgt war, so habe ich ihn nicht zu bereuen gehabt.

Mein Großvater brachte mich zu seiner Schwägerin, der Marchesa X…. mo, die mir die Hälfte ihres Palastes einräumte. Man gab mir auch eine Hausdame, eine Gesellschafterin, Kammerzofen, Pagen und Bediente, die alle unter dem unmittelbaren und ausschließlichen Befehl der Hausdame standen, einer Adeligen, die zum Glück eine rechtliche und sehr gute Frau war.

Ein Jahr nach meinem Eintritt in die Welt kam mein Großvater zu mir und sagte mir in Gegenwart meiner Hausdame, Graf Fl…. bewerbe sich um mich für seinen Sohn, der an demselben Tage aus Madrid eintreffen solle.

»Was haben Sie ihm geantwortet, mein lieber Papa?«

»Daß diese Heirat dem ganzen Adel nur angenehm sein könne und gewiß die Billigung des Königs und der ganzen königlichen Familie finden werde.«

»Aber, lieber Großpapa, weiß man denn auch gewiß, daß ich dem Grafen gefalle, und andererseits, daß ich ihn nach meinem Geschmack finde?«

»Daran zweifelt man nicht, liebes Kind, und braucht sich also nicht damit zu beschäftigen.«

»Aber ich, Großpapa, kann wohl daran zweifeln, und in meinem Interesse liegt es, daran zu denken. Wir werden also sehen.«

»Ihr werdet euch vor dem Abschluß der Heirat sehen, aber an dem Zustandekommen der Vermählung kann dies nichts mehr ändern.«

»Ich wünsche es, ich hoffe es sogar, lieber Großpapa; aber wir wollen es nicht verschwören, sondern abwarten.«

Als mein Großvater fortgegangen war, sagte ich meiner Hausdame, ich sei fest entschlossen, meine Hand nur dem Manne zu geben, dem ich mein Herz schenken würde; und das würde ich nur tun, nachdem ich den Charakter des Betreffenden geprüft hätte und zu der Überzeugung gekommen wäre, daß er mich glücklich machen könnte. Meine Hausdame antwortete mir nicht, und als ich sie bestimmte, mir ihre Meinung zu sagen, antwortete sie mir, in einer so zarten Angelegenheit müsse sie sich Schweigen zur Pflicht machen. Dies sagte mir klar und deutlich, daß sie meine Ansicht billigte, oder wenigstens glaubte ich dies.

Gleich am nächsten Tage suchte ich meine Tante, die Äbtissin, auf. Sie hörte mich mit gütiger Teilnahme an und sagte mir dann, es sei zu wünschen, daß der Graf mir gefalle und daß ich seine Eroberung mache. Aber selbst wenn das nicht der Fall wäre, so würde die Heirat wahrscheinlich doch zustande kommen; denn sie glaube zu wissen, daß dieser Plan von der Prinzessin von Brasilien herrühre, die den Grafen Fl. begünstige.

Obgleich diese Nachricht mich sehr betrübte, war es mir doch lieb, daß ich sie erfahren hatte; sie bestärkte mich nur in meinem Entschluß, mich nur zu verheiraten, wenn die Partie nach meinem eigenen Wunsch wäre.

Nach vierzehn Tagen kam Graf Fl. mit seinem Vater. Mein Großvater stellte ihn mir vor; mehrere Damen waren dabei zugegen. Vom Heiraten war nicht die Rede, aber man ließ den jungen Herrn viel von fremden Ländern und von den Sitten und Gebräuchen anderer Völker erzählen. Ich hörte alles mit der größten Aufmerksamkeit an und tat selber fast nicht ein einziges Mal den Mund auf. Da ich wenig Welterfahrung, besaß, konnte ich über den Bewerber nicht durch Vergleichung urteilen; aber es schien mir unmöglich zu sein, daß er wirklich Ansprüche darauf machte, einer Frau zu gefallen, und daß ich ihm jemals angehören könnte. Er war ein anmaßender Spötter, ein schlechter Spaßmacher, albern, dumm und fromm bis zum Aberglauben und Fanatismus, Außerdem – und das ist in dem Auge jedes Weibes wichtig – war er häßlich, schlecht gewachsen und dermaßen eitel, daß er sich nicht schämte, in spöttischer und verächtlicher Weise von mehreren galanten Abenteuern zu erzählen, die er in Frankreich und Italien gehabt haben wollte.

Voller Hoffnung, ihm nicht gefallen zu haben, ging ich nach Hause; denn ich hatte mich nicht liebenswürdig gegen ihn gezeigt; ein achttägiges Schweigen bestärkte mich in dieser angenehmen Meinung. Aber meine Täuschung wurde mir gar bald genommen. Meine Großtante lud mich zum Essen ein; ich fand den Dummkopf und dessen Vater anwesend, und mein Großvater stellte mir den Sohn als meinen künftigen Gatten vor und bat mich, den Tag festzusetzen, um den Heiratevertrag zu unterschreiben. Da ich entschlossen war, lieber mein Todeseurteil zu unterzeichnen, so antwortete ich ziemlich höflich, aber in sehr lautem und festem Ton: ich würde den Tag bestimmen, wenn ich mich entschlossen hätte, mich zu verheiraten; aber dazu wäre Zeit nötig. Beim Essen ging es sehr still her; ich öffnete den Mund nur zu einsilbigen Antworten, wenn ich durchaus nicht umhin konnte, auf unmittelbare Fragen zu erwidern, die von den anderen Gästen, außer dem mir ekelhaften Dummkopf, an mich gerichtet wurden. Nach dem Kaffee entfernte ich mich, indem ich nur meine Tante und meinen Großvater grüßte.

Abermals verflossen mehrere Tage, ohne daß ich jemanden sah, und ich begann schon zu hoffen, daß ich den jungen Herrn von jeder weiteren Bewerbung um meine Person abgeschreckt hätte; da ließ meine Hausdame mir sagen, Vater Freire sei im Vorzimmer und wünsche mit mir zu sprechen. Ich ließ ihn eintreten; er war der Beichtvater der Prinzessin von Brasilien, und nach einigen einleitenden Redensarten sagte er mir, die Prinzessin habe ihn beauftragt, mir zu meiner bevorstehenden Heirat mit dem Grafen Fl. Glück zu wünschen.

Ohne mir irgendwelche Überraschung anmerken zu lassen, antwortete ich ihm, ich sei für die Güte Ihrer Königlichen Hoheit gebührend dankbar; aber es sei noch nicht fest entschieden, denn ich denke noch nicht daran, mich zu verheiraten.

Der Priester war ein feiner Höfling; er sagte mir mit einem halb gütigen, halb spöttischen Lächeln, ich habe das Glück, mich in dem schönen Alter zu befinden, wo ich an nichts zu denken brauche, da ich diese Sorge meinen mich liebenden Verwandten überlassen könne. Meine Entscheidung sei also eine reine Formsache, die sich in einem Augenblick erledigen lasse.

Ich antwortete ihm nur durch ein ungläubiges Lächeln, das er trotz seiner Mönchsschlauheit für Verlegenheit eines jungen Mädchens halten konnte.

Da ich voraussah, daß man mich hartnäckig verfolgen würde, fuhr ich gleich am nächsten Tags mit meiner Hausdame zu meiner Tante, der Äbtissin, die mir in meiner Verlegenheit einen Rat nicht verweigern konnte. Dieser Rat sollte jedoch nur die äußeren Formen betreffen, denn ich erklärte ihr von Anfang an meinen festen Entschluß, lieber zu sterben, als jemals meine Einwilligung zur Heirat mit einem mir widerwärtigen Menschen zu geben.

Die gute Nonne antwortete mir, man habe ihr den Grafen vorgestellt; sie habe ihn allerdings ebenfalls unleidlich gefunden, befürchte aber doch, man werde Mittel finden, mich trotz meinem Widerwillen zu dieser Vereinigung zu zwingen.

Diese Antwort machte auf mich einen solchen Eindruck, daß es mir nicht möglich war, noch ein Wort über die Sache zu sagen; ich sprach daher bis zum Ende meines Besuches von allen möglichen anderen Dingen. Kaum aber war ich wieder zu Hause, so faßte ich, nur der Stimme meiner Verzweiflung folgend, und ohne einen Menschen zu Rate zu ziehen, den seltsamsten Entschluß: ich schloß mich in mein Zimmer ein und schrieb an den Henker meines unglücklichen Vaters, den unbarmherzigen Oeiras. Ich setzte ihm die ganze Angelegenheit auseinander und flehte ihn um seine Fürsprache beim König an. Ich schrieb ihm, er sei mir diese schuldig, denn er habe mich zur Waise gemacht und dadurch vor Gott die Verpflichtung auf sich genommen, mein Beschützer zu sein. Ich wünsche, daß er mich vor der Ungnade der Prinzessin von Brasilien beschütze, und daß man mir die Freiheit lasse, über meine Hand nur zugleich mit meinem Herzen zu verfügen.

Ich setzte zwar bei Pombal keine Menschlichkeit voraus, aber ich konnte doch annehmen, daß auch er ein Menschenherz hätte, und daß ich dieses rühren könnte; übrigens glaubte ich durch meine feste und entschlossene Sprache seine Teilnahme zu erregen und durch meinen ungewöhnlichen Schritt seinem Stolz zu schmeicheln. Ich war überzeugt, daß er sich bemühen werde, mir Gerechtigkeit zu verschaffen, um mir zu beweisen, daß er gegen meinen Vater nicht ungerecht gewesen sei. Wie man sehen wird, täuschte ich mich nicht; obgleich ich noch ein ganz junges Mädchen war, Menschen und Welt nicht kannte, hatte mein Instinkt mir das richtige gesagt.

Zwei Tage, nachdem ich meinen Brief durch einen Pagen hatte bestellen lassen, kam ein Abgesandter Pombals zu mir und ließ mich um die Ehre einer geheimen Unterredung bitten. Er sagte mir, Oeiras lasse mir vertraulich raten, ich solle allen denen, die mir zu dieser Heirat zureden würden, antworten: ich würde mich nicht eher entscheiden, als bis man mich davon überzeugt hätte, daß Ihre Königliche Hoheit die Prinzessin von Brasilien diese Heirat wünschte. Der Minister ließ mich um Entschuldigung bitten, daß er mir nicht schriftlich antworte; er habe zwingende Gründe, so zu handeln; aber ich könne mich auf ihn verlassen.

Nachdem der Bote das gesagt hatte, machte er mir eine tiefe Verbeugung und entfernte sich, ohne mir Zeit zu einer Antwort zu lassen. Übrigens hatte mich, das muß ich gestehen, der Anblick dieses jungen Boten stumm gemacht. Ich kann den Eindruck nicht beschreiben, den er auf meinen Geist machte; aber ich muß sagen, daß er den größten Einfluß auf mein Verhalten geübt hat und ohne Zweifel auch auf mein ganzes übriges Leben üben wird.

Die Botschaft des Ministers benahm mir alle Unruhe; denn er konnte in solcher Weise nie zu mir gesprochen haben, wenn er nicht die Gewißheit hatte, daß die Prinzessin sich nicht mehr um die Heirat bekümmern würde. Ich überließ mich nun völlig dem neuen Gefühl, das mich beherrschte. Aber so stark dies Gefühl auch war, es würde sich ohne Zweifel verwischt haben, wenn es nicht jeden Tag neue Nahrung erhalten hätte. Als ich fünf oder sechs Tage später dem jungen Boten in der Kirche begegnete, erkannte ich ihn kaum; von diesem Augenblick an jedoch traf ich ihn überall: auf der Promenade, im Theater, in den Häusern, wo ich Besuche machte. Wenn ich aus dem Wagen steigen oder wieder einsteigen wollte, stets war er da, um mir seine Hand zu reichen. Ich gewöhnte mich dermaßen daran, ihn zu sehen und an ihn zu denken, daß ich unruhig wurde, wenn ich ihn einmal nicht in der Kirche fand; ich verspürte dann eine Leere, die mich unglücklich machte.

Fast alle Tage sah ich die Grafen Fl. bei meiner Großtante; da aber von einer Heirat zwischen uns nicht mehr die Rede war, so sah ich sie ohne Verdruß wie ohne Vergnügen. Ich hatte ihnen verziehen, aber ich war nicht glücklich. Das Bild des jungen Boten, dessen Name und Rang mir immer noch unbekannt waren, verfolgte mich ohne Unterlaß, und ich errötete über meine Gedanken, obgleich ich mir selber keine Rechenschaft darüber abzulegen wagte.

In diesem Geisteszustand befand ich mich, als eines Morgens der Klang einer mir unbekannten Stimme mich in das Zimmer meiner Kammerjungfer lockte. Ich sah auf einem Tisch Spitzen ausgebreitet und trat heran, ohne auf ein junges Mädchen zu achten, das dabei stand und mir eine Verbeugung machte. Als ich nichts davon nach meinem Geschmack fand, sagte sie, sie werde am nächsten Tage eine neue Auswahl bringen. Ich warf einen Blick auf sie und sah zu meiner Überraschung vor mir das Gesicht des Jünglings, der Tag und Nacht meine Gedanken beschäftigte. Ich zweifelte jedoch, daß er es wirklich sei, und dachte, ich könne auch durch eine zufällige Ähnlichkeit getäuscht sein. Es beruhigte mich etwas, daß das Mädchen mir größer vorkam. Außerdem erschien eine solche Kühnheit mir doch unwahrscheinlich. Das Mädchen packte die Spitzen wieder zusammen und entfernte sich, ohne mir ins Gesicht zu sehen; dies vermehrte meinen Verdacht.

»Kennen Sie dieses Mädchen?« fragte ich in gleichgültigem Ton meine Kammerjungfer. Sie antwortete mir: »Ich sehe sie heute zum ersten Mal.«

Ich glaubte dies nicht, aber ich ging hinaus, ohne ein Wort zu sagen.

Fortwährend mußte ich an diese Ähnlichkeit denken, und da ich mir beinahe lächerlich vorkam, bemühte ich mich, diesen Gedanken zu verjagen, zugleich aber beschloß ich, mit dem Mädchen zu sprechen, wenn es wiederkommen sollte, und es zu entlarven, wenn mein Verdacht begründet wäre. Ich sagte mir, vielleicht sei sie eine Schwester des jungen Mannes, in den ich mich verliebt hätte; sie könne also wohl unschuldig sein, und wenn dies der Fall wäre, würde es mir vielleicht weniger schwer werden, von meiner Leidenschaft zu genesen. Ein junges Mädchen, das über Herzensangelegenheiten nachdenkt, legt einen großen Weg zurück, ohne es zu merken, besonders, wenn sie niemanden hat, dem sie sich anvertrauen kann, und der sie vor falschen Schritten zu bewahren vermag, zu denen sich so reiche Gelegenheit bietet.

Die angebliche Modistin kam pünktlich mit einem Kasten voll Blonden und Spitzen. Unverzüglich ließ ich sie in mein Zimmer eintreten, sobald man sie mir meldete. Ich wollte sie nötigen, mich anzusehen, und redete sie daher an. Sofort bemerkte ich, daß ich unzweifelhaft das Wesen vor mir hatte, dem alle meine Gedanken gehörten, und das eine Macht über mich ausübte, die mich völlig bezwang. Ich war so bewegt, daß ich nicht imstande war, auch nur eine einzige von den Fragen an ihn zu richten, die ich mir vorher zurecht gelegt hatte. Außerdem war meine Jungfer anwesend, und die Befürchtung, mich in ihren Augen bloßzustellen, hielt mich, wie ich glaube, ebenso stark zurück wie meine Aufregung. Mechanisch begann ich einige Blonden auszusuchen. Als ich aber meine Zofe hinausgeschickt hatte, um meine Börse zu holen, fiel plötzlich die falsche Spitzenhändlerin mir zu Füßen und rief in leidenschaftlichem und doch ehrerbietigem Tone:

»Entscheiden Sie, ob ich leben oder sterben soll, Madame! Sie erkennen mich!«

»Ja, ich erkenne Sie, und ich kann Sie nur für wahnsinnig halten.«

»Ja, ich bin es vielleicht, Madame; aber ich bin wahnsinnig vor Liebe und Verehrung: ich bete Sie an.«

»Stehen Sie auf. Meine Kammerjungfer kommt gleich wieder.«

»Sie kennt mein Geheimnis.«

»Wie? Sie haben gewagt… ?«

Er stand auf. Die Kammerjungfer trat ein und zählte ihm mit größter Ruhe sein Geld auf. Er warf die auf dem Tisch herumliegenden Spitzen in den Kasten, machte mir eine tiefe Verbeugung und ging.

Es wäre natürlich gewesen, wenn ich nach seinem Fortgehen mit meiner Kammerfrau gesprochen hätte; noch natürlicher aber wäre es gewesen, wenn ich sie auf der Stelle fortgeschickt hätte. Ich hatte nicht den Mut dazu, und über meine Schwäche werden nur strenge Sittenrichter sich wundern, die das Herz eines jungen Mädchens nicht kennen, und die ohne Wohlwollen der Lage gegenüberstehen, worin ich mich befand: jung, verliebt und nur auf mich selber angewiesen.

Da ich nicht sofort getan hatte, was strenge Pflicht mir sofort geboten hätte, wenn ich mich mit ruhiger Überlegung nur nach dieser gerichtet hätte, so sah ich bald, daß es zu spät war. Wie man ja stets leicht Trostgründe zu finden weiß, wenn man sich selber in eine unangenehme Lage gebracht hat, so überredete ich mich, ich könnte so tun, wie wenn ich nicht wüßte, daß meine Kammerjungfer das Geheimnis kannte. Ich beschloß also, nichts zu sagen; ich hoffte, ich würde den kecken Jüngling nicht wiedersehen, und die Sache würde damit erledigt sein.

Dieser Entschluß war jedoch nur einer augenblicklichen verdrießlichen Regung entsprungen. Denn als vierzehn Tage vergangen waren, ohne daß ich dem jungen Manne auf den Spaziergängen oder im Theater oder an den sonstigen Orten begegnete, wo ich ihn früher getroffen hatte, wurde ich traurig und träumerisch, obgleich ich darüber errötete, daß ein Gefühl, dessen Gegenstand meiner vielleicht nicht würdig war, mich so völlig unterjochte. Ich brannte vor Verlangen, seinen Namen zu erfahren, und diesen konnte mir nur meine Kammerjungfer sagen, denn ich konnte natürlich nicht zu Oeiras gehen und diesen fragen. Ich verabscheute meine Kammeriungfer und errötete, wenn ich sie vor mir sah. Ich bildete mir ein, sie wisse, daß ihr Vergehen mir bekannt sei, und sie habe Spaß an meiner Zurückhaltung. Andererseits fürchtete ich, diese Zurückhaltung könnte ihr einen unziemlichen Begriff von meiner Ehre geben. Mit einem Wort, ich befürchtete, sie könnte glauben, daß ich den Jüngling liebte, und der bloße Gedanke an diesen Verdacht, der mir schimpflich schien, brachte mich auf. Der allzu kühne junge Mensch erschien mir mehr beklagenswert als tadelnswert; denn ich dachte nicht daran, daß er sich für geliebt halten könnte; ich fühlte mich daher genügend dadurch gerächt, daß er glauben würde, ich müßte ihn verachten.

Aber so dachte ich nur in den Augenblicken, wo meine Eitelkeit stärker war als meine Liebe, und diese Augenblicke waren von kurzer Dauer; denn bald rächte die Verzweiflung ihn an meinem Stolz: da ich ihn nicht mehr sah, so bildete ich mir ein, er habe beschlossen, nicht mehr an mich zu denken, und habe mich vielleicht schon vergessen.

Ein Zustand so heftiger Gemütsbewegung kann nicht sehr lange dauern; denn wenn kein äußerer Anlaß die Ruhe des gequälten Geistes wiederherstellt, so macht dieser bald eine Anstrengung aus sich selber heraus, um das verlorene Gleichgewicht wiederzufinden.

Als die Verräterin mir eines Tages ein Spitzentuch umlegte, das ich von der falschen Modistin gekauft hatte, sagte ich zu ihr: »Was ist denn eigentlich aus dem Mädchen geworden, von dem ich diese Spitzen gekauft habe?«

Ich stellte diese Frage ohne vorherige Überlegung; sie war eine Eingebung meines guten oder meines bösen Geistes.

Meine Kammerjungfer war ebenso schlau wie ich naiv gewesen war. Sie antwortete mir, die Modistin habe ohne Zweifel deshalb nicht wiederzukommen gewagt, weil sie befürchtet habe, ich hätte ihre Verkleidung bemerkt.

»Selbstverständlich habe ich diese bemerkt; aber es wundert mich nicht wenig, daß Sie wissen, daß unter dieser Verkleidung sich ein junger Mann verbarg.«

»Madame, ich glaubte nichts zu tun, was Ihnen mißfallen könnte; denn ich kannte ihn persönlich.«

»Wer ist er?«

»Graf von Al…., den Sie ohne Zweifel wiedererkannt haben; denn Sie haben ihn vor ungefähr vier Monaten in diesem selben Zimmer empfangen.«

»Das ist wahr; es ist sogar möglich, daß ich ihn wiedererkannt habe; aber ich wünsche zu wissen, warum Sie gelogen haben, als ich Sie fragte, ob Sie dies Mädchen kennen?«

»Madame, ich habe gelogen, um Sie nicht in Verlegenheit zu bringen. Außerdem habe ich befürchtet, Sie würden ärgerlich darüber sein, daß ich die Maske kannte.«

»Sie hätten mir mehr Ehre angetan, wenn Sie das Gegenteil angenommen hätten. Als Sie in Ihrem Zimmer waren, befahl ich ihm sofort zu gehen; ich sagte ihm, seine Handlungsweise sei ein Wahnsinn und er müsse befürchten, daß Sie ihn vor mir auf den Knien fänden. Da sagte er mir: Sie seien in das Geheimnis eingeweiht!«

»Wenn es ein Geheimnis ist, so gestehe ich es; aber ich sah die ganze Sache als einen Spaß ohne Bedeutung an.«

»Ich will diese Möglichkeit nicht bestreiten; ich aber habe der Sache eine solche Bedeutung beigelegt, daß ich, um Sie nicht fortjagen zu müssen, beschlossen habe, darüber zu schweigen, wie wenn ich nichts gesehen hätte.«

»Ich hatte mir eingebildet, Madame, diese Maskerade könne Ihnen nur Spaß machen; da ich nun aber erfahre, daß Sie sie ernst genommen haben und böse darüber sind, so bin ich wirklich in Verzweiflung, mir gewissermaßen vorwerfen zu müssen, daß ich meine Pflicht verletzt habe.«

Wie schwach ist ein Frauenherz, wenn die Liebe es eingenommen hat! Ich sah in dieser Erklärung, die mir die ganze Größe des von meiner Dienerin begangenen Fehlers hätte enthüllen müssen, nur eine volle Rechtfertigung. Allerdings machte sie mein Herz ruhig, und das war damals viel, aber mein Geist fand trotzdem noch nicht jene Ruhe, deren er bedurfte. Ich wußte, daß es einen jungen Grafen Al…. gab, der aus sehr gutem Hause stammte, aber gar kein Vermögen hatte. Er hatte weiter nichts als den Schutz des Minister und Aussicht auf eine gute Anstellung. Der Gedanke, daß der Himmel mich vielleicht dazu bestimmt hätte, die Ungerechtigkeit des Glücks wieder auszugleichen, wiegte mich zuweilen in süße Träume, und dann ertappte ich mich dabei, zu finden, daß meine Kammerjungfer mehr Geist hätte als ich, indem sie den gewagten Schritt des Grafen als eine Eulenspiegelei ansähe, die die Liebe entschuldigen müsse. Ich ging sogar so weit, mein gewissenhaftes Zartgefühl lächerlich zu finden und es nur für Prüderie zu halten. Ich war mehr verliebt, als ich selber glaubte, und das kann meine übrige Auffassung verzeihlich machen: ich hatte keinen Menschen, dem ich mich hätte anvertrauen können, keinen Menschen, der mich hätte leiten oder beraten können.

Aber nach solchen tröstlichen Gedanken kamen andere von düsterer Art. Es war die Kehrseite der Medaille. Mein Geist glich einem ebbenden und flutenden Meere, das bald ruhig, bald bewegt war. Da der Graf anscheinend beschlossen hatte, mich nicht mehr zu sehen, so mußte ich annehmen, daß er entweder sehr beschränkten Geistes, oder daß seine Liebe sehr gering war. Dies schmerzte mich mehr als alles andere, denn eine solche Annahme demütigte mich. Ich sagte zu mir selber: wenn der Graf es übel genommen hat, daß sein Wagnis mir als die Handlungsweise eines Wahnsinnigen vorkam, so ist er ganz gewiß nicht zartfühlend und verständig, also auch meiner Zärtlichkeit nicht würdig.

Während ich mich in dieser grausamen Ungewißheit befand, dem Schlimmsten, was es auf der Welt gibt, nahm meine Kammerjungfer es auf sich, dem Grafen zu schreiben, er könne sie in der gleichen Verkleidung besuchen; sie sei überzeugt, ich werde ihre Kühnheit nicht tadeln.

Er folgte ihrem Rat, und eines schönen Morgens trat die schlaue Zofe bei mir ein und sagte mir lachend, die falsche Modistin sei mit allerlei Tand in ihrem Zimmer. Diese Nachricht regte mich sehr auf; doch gelang es mir, mich zu beherrschen, so daß ich meine Aufregung wenigstens zum Teil verbergen konnte, und ich lachte wie sie, obgleich die Sache mir durchaus nicht lächerlich vorkam.

»Soll ich sie hereinkommen lassen, Madame?«

»Bist du verrückt?«

»Soll ich sie fortschicken?«

»Nein, ich werde selber kommen und mit ihr sprechen.«

An diesem Tage begann unsere große Liebesgeschichte. Während meine Kammerjungfer aus und ein ging, hatten wir vollauf Zeit, uns zu verständigen und uns gegenseitig alle gewünschten Erklärungen abzugeben. Ich gestand ihm offen, daß ich ihn liebe; aber ich machte ihm begreiflich, daß die Klugheit von mir verlange, ihn zu vergessen, weil es nicht wahrscheinlich wäre, daß meine Verwandten jemals ihre Einwilligung zu unserer Verbindung geben würden. Er dagegen erklärte mir, der Minister habe beschlossen, ihn unverzüglich nach England zu schicken, und er werde an Verzweiflung sterben, wenn er nicht die Hoffnung mitnehmen könne, mich eines Tages zu besitzen. Denn er liebe mich zu sehr, um sich darein fügen zu können, daß er ohne mich leben solle. Er bat mich, ihm zu erlauben, daß er mich zuweilen in seiner Verkleidung aufsuchen dürfe. Obgleich ich ihm nichts verweigern zu dürfen glaubte, wandte ich doch ein, daß wir uns dadurch großen Gefahren aussetzen könnten.

»Mir genügt es,« rief er feurig und voller Zärtlichkeit, »daß ich nichts für Sie zu befürchten habe: meine Besuche können niemals Ihnen zugeschrieben werden, sondern stets nur Ihrer Kammerjungfer.«

»Aber mir genügt es, daß ich um Sie in Furcht sein müßte; denn schon Ihre Verkleidung ist ein Verbrechen; Ihr guter Ruf würde darunter leiden, und das wäre kein gutes Mittel, uns der Erfüllung unserer Wünsche näher zu bringen.«

Obgleich ich diese Einwendungen machte, sprach doch mein Herz zu seinen Gunsten, außerdem wußte er seine Sache so beredt zu vertreten, er versprach mir, so vorsichtig zu sein, daß ich ihm schließlich sagte, er könne sicher sein, daß ich ihn stets mit dem größten Vergnügen sehen werde.

Graf Al…. war zweiundzwanzig Jahre alt und ist kleiner als ich; er ist schlank und gut gewachsen, so daß er in seiner Verkleidung als Frau schwer zu erkennen war; auch ist seine Stimme sehr sanft. Er weiß Bewegungen und Benehmen einer Frau täuschend nachzuahmen; er hat sehr schwachen Bartwuchs und ist so schön, daß mehr als eine Frau gern damit einverstanden sein würde, ihm ähnlich zu sehen.

So kam denn also der Graf fast drei Monate lang jede Woche drei- oder viermal; wir trafen uns stets im Zimmer meiner Vertrauten, und fast immer war diese zugegen. Aber wenn wir auch volle Freiheit gehabt hätten, so würde er doch niemals auch nur die geringste Rücksichtslosigkeit begangen haben; denn er befürchtete zu sehr, mir zu mißfallen. Heute glaube ich, daß diese gegenseitige Zurückhaltung mächtig dazu beigetragen hat, die Glut anzufachen, die uns verzehrte; denn wenn wir an den nahe bevorstehenden Augenblick der Trennung dachten, kam Traurigkeit über uns, und wir versanken in einen stummen Schmerz. Trotzdem aber dachten wir gar nicht daran, irgendeinen Entschluß zu fassen, um uns glücklich zu machen. Unsere Liebe machte uns stumpfsinnig, indem sie unseren Geist zu Boden drückte. Wir schmeichelten uns mit der Hoffnung, daß der Himmel irgendein Wunder tun oder daß der Augenblick der Trennung niemals erscheinen würde; oder wir hielten uns die Gedanken daran absichtlich fern. So war denn der Augenblick plötzlich ganz unversehens und natürlich viel zu früh da: wir wußten nicht, ob wir einen Entschluß fassen sollten oder nicht.

Eines Morgens kam der Graf früher als gewöhnlich und teilte mir unter Tränen mit, der Minister habe ihm am Tage vorher einen Brief an den portugiesischen Gesandten in London, Herrn de Saa, gegeben; ein zweiter offener Brief sei an den Kapitän einer Fregatte gerichtet, die von Ferrol erwartet werde und die nach einem Aufenthalt von wenigen Stunden nach England weitersegeln solle. In diesem zweiten Brief befahl der Minister dem Kapitän, den Grafen Al…. an Bord zu nehmen, ihn nach England zu bringen und ihn mit Auszeichnung zu behandeln.

Mein armer Liebhaber war völlig vernichtet; Tränen erstickten seine Stimme, und sein Kopf befand sich in einem Zustande, daß er keine zwei Gedanken miteinander verbinden konnte. Ich sah nur seinen Schmerz und meine Liebe, und da er selber nicht handeln konnte, so faßte ich augenblicklich den kühnen Plan, mit ihm als sein Bedienter zu reisen, oder noch besser ihn als seine Frau zu begleiten, damit ich mein Geschlecht nicht zu verbergen brauchte. Als ich ihm meinen Plan mitteilte, war er von freudiger Überraschung wie geblendet. Das Übermaß des Glückes versetzte ihn in eine solche Aufregung, daß er nicht imstande war, über eine so wichtige Sache nachzudenken, sondern alles meinem Willen überließ. Wir verabredeten, am nächsten Tage ausführlicher darüber zu sprechen, und trennten uns dann.

Da ich voraussah, daß es mir vielleicht Schwierigkeiten machen würde, mein Haus in Frauenkleidung zu verlassen, so beschloß ich, mich als Mann zu verkleiden; da ich aber als solcher nur als Kammerdiener meines Geliebten auftreten konnte, so überlegte ich mir, daß ich im Falle einer stürmischen Seefahrt Strapazen ausgesetzt sein würde, die über die Kräfte einer zarten Frau gehen würden. Infolgedessen kam ich auf den Gedanken, selber den Herrn zu spielen, falls etwa der Kapitän den Grafen nicht persönlich kennen sollte; indem ich diesen Plan weiter ausdachte, widerstrebte es mir jedoch, meinen Geliebten als Diener auftreten zu sehen, und ich beschloß daher, ihn für meine Frau auszugeben. Sobald wir in England an Land gestiegen sind, sagte ich bei mir selber, werden wir uns heiraten, und dann legt ein jedes wieder die Kleider seines Geschlechtes an. Durch unsere eheliche Verbindung wird der Makel unserer Flucht getilgt; vielleicht wird man meinen Liebhaber anklagen, mich entführt zu haben; aber man entführt eine junge Dame doch nicht ohne ihre Einwilligung, und es ist nicht anzunehmen, daß Graf Oeiras mich verfolgen wird, weil ich seinen Günstling glücklich gemacht habe. Um bis zum Eintreffen meiner Einkünfte leben zu können, wird der Verkauf meiner Diamanten, über die ich verfügen kann, uns genügende Mittel geben.

Als ich am nächsten Tage dem Grafen diesen seltsamen Plan mitteilte, konnte oder wollte er nichts dagegen einwenden. Das einzige Hindernis war nach seiner Meinung die Möglichkeit, daß der Kapitän des erwarteten Kriegsschiffes ihn persönlich kannte. Dies schien ihm jedoch nicht wahrscheinlich zu sein, und wir mußten das Wagnis eben auf uns nehmen. Wir machten ab, daß er mir die nötigen Kleider für meine neue Rolle sofort besorgen solle.

Ich sah meinen Liebhaber erst drei Tage darauf bei Einbruch der Nacht wieder. Ihm war von der Admiralität mitgeteilt worden, daß die Fregatte von Ferrol angekommen sei und an der Mündung des Tajo liege; der Kapitän werde sofort wieder absegeln, wenn er an Bord komme; er sei nur an Land gegangen, um seine Depeschen zu überbringen und vom Marineministerium neue Befehle zu erhalten. Graf Al…. werde daher aufgefordert, um Mitternacht an einem bestimmten Ort zu sein, wo eine Schaluppe ihn erwarten werde, um ihn an Bord zu bringen.

Da ich fest entschlossen war, so brauchte ich nichts mehr zu wissen als den Ort, wo wir uns treffen sollten. Ein Unwohlsein vorschützend, schloß ich mich in mein Zimmer ein, packte die allernotwendigsten Sachen und das kostbare Juwelenkästchen in ein Köfferchen, zog Männerkleider an und verließ den Palast auf einer Treppe, die nur für die Dienstboten bestimmt war. Ich wurde nicht einmal von dem Türhüter bemerkt, als ich die Schwelle meines Palastes überschritt.

Etwa hundert Schritte vom Hause erwartete mich der Graf, der befürchtet hatte, ich könnte mich vielleicht verirren. Es war für mich eine angenehme Überraschung, als er meinen Arm nahm und mir gleichzeitig sagte: Ich bin’s. An dieser einfachen und natürlichen Vorsicht erkannte ich, daß er Verstand hatte; denn da er meine Entschlossenheit noch nicht kannte, hatte er gefürchtet, mich zu erschrecken, wenn er mich berührte, ohne sich zu erkennen zu geben. Wir gingen zusammen in ein Haus, wo er seinen Koffer hatte, und in einer halben Stunde war er vollständig umgezogen. Als alles fertig war, holte ein Packträger unser geringes Gepäck, und wir gingen ans Ufer des Flusses, wo die Schaluppe bereits auf uns wartete. Es war elf Uhr, als wir vom Ufer abstießen. Da ich glaubte, daß mein Schmuckkästchen in seiner Tasche sicherer sei als in meinem Koffer, so gab ich es ihm. Geduldig warteten wir auf die Ankunft des Kapitäns. Gegen Mitternacht kam er mit seinen Offizieren; er trat auf mich zu und sagte mir, er habe Befehl, mich mit Auszeichnung zu behandeln. Ich dankte ihm herzlich für seinen Empfang und stellte ihm hierauf meine Frau vor. Er begrüßte diese ehrerbietig und sagte ihr, er sei entzückt, eine liebenswürdige Landsmännin an Bord zu haben, der wir gewiß eine glückliche Fahrt zu verdanken haben würden. Er war zu galant, um es auffällig zu finden, daß der Minister, der ihm den Grafen so angelegentlich empfohlen hatte, nichts davon erwähnt hatte, daß dessen Gemahlin an der Reise teilnehmen sollte.

In einer kleinen Stunde waren wir auf der Fregatte, die drei Meilen seewärts auf der Reede lag; sobald wir an Bord waren, ließ der Kapitän die Segel setzen. Er führte uns in eine Kajüte, die für ein Kriegsschiff recht bequem war, und entfernte sich dann, nachdem er uns gebeten hatte, uns einzurichten, so gut wir könnten.

Als wir allein waren, dankten wir dem Himmel, daß alles so gut abgegangen war. Wir gingen nicht zu Bett, sondern verbrachten den ganzen Rest der Nacht damit, über den kühnen Schritt uns zu unterhalten, den wir getan oder vielmehr erst begonnen hatten, der aber nach unserer Meinung ein ebenso glückliches Ende haben mußte, wie der Anfang gewesen war. Als der Morgen dämmerte, freuten wir uns, daß Lissabon nicht mehr in Sicht war. Da wir der Ruhe bedürftig waren, warf ich mich auf eine Bank, während der Graf sich in eine breite Hängematte legte. Wir blieben beide in unseren Kleidern.

Kaum hatten wir ein wenig zu schlummern begonnen, so wurden wir von der Seekrankheit befallen, die uns drei Tage lang nicht einen Augenblick Ruhe ließ. Am vierten Tage konnten wir uns kaum noch aufrecht halten; der Hunger quälte uns dermaßen, daß wir alle Selbstbeherrschung aufbieten mußten, um uns von allzu gierigem Essen zurückzuhalten, das uns leicht eine ernstliche Krankheit hätte zuziehen können. Zum Glück für uns hatte der Kapitän einen reichen Vorrat von guten Sachen, und die Mahlzeiten, die wir erhielten, waren sehr gut und lecker zubereitet. Mein Liebhaber, der unter der Seekrankheit noch mehr litt als ich, benützte gerne diesen Vorwand, um die Kajüte nicht zu verlassen; der Kapitän kam nur ein einziges Mal, um ihm einen Besuch zu machen. Wir konnten diese Zurückhaltung nur einer übergroßen Höflichkeit zuschreiben; denn bei uns ist es einem Manne erlaubt, eifersüchtig zu sein, ohne für lächerlich zu gelten. Ich selber war fast den ganzen Tag auf Deck; die frische Luft tat mir wohl, und ich unterhielt mich damit, mit meinem Fernrohr die Gegenstände zu beobachten, die man in der Ferne entdecken konnte.

Am siebenten Tage unserer Fahrt zitterte mir das Herz, wie von einem Vorgefühl von Unglück, als man mir sagte, ein Kriegsschiff, das wir in ziemlich weiter Entfernung bemerkten, sei eine Korvette, die einen Tag nach uns in See gegangen sein müsse, die aber als Schnellseglerin zwei oder drei Tage vor der Fregatte in England ankommen werde.

Obgleich die Überfahrt von Lissabon nach England sehr lange dauert, da man fast das ganze Atlantische Meer zu durchsegeln hat, so kamen wir doch, dank einem leichten Winde, den wir beständig im Rücken hatten, schon am vierzehnten Tage ans Ziel und warfen mit Tagesanbruch im Hafen von Plymouth den Anker aus.

Der Offizier, den der Kapitän an Land schickte, um die Erlaubnis zur Ausschiffung der Passagiere einzuholen, kam gegen Abend wieder an Bord und überbrachte ihm Briefe. Nachdem er einen davon mit ganz besonderer Aufmerksamkeit gelesen hatte, rief der Kapitän mich beiseite und sagte zu mir:

»Dieser Brief ist vom Grafen Oeiras, der mich bei meinem Kopfe dafür verantwortlich macht, daß eine junge, portugiesische Dame mein Schiff nicht verläßt, falls sie sich darauf befinden sollte, es sei denn, daß sie mir persönlich bekannt wäre. Er befiehlt mir, sie nach Lissabon zurückzubringen, nachdem ich einige Aufträge ausgeführt haben werde, die mich noch etliche Tage hier zurückhalten müssen. Auf der Fregatte befindet sich weder eine Frau noch ein Mädchen, mit Ausnahme der Frau Gräfin, Ihrer Gemahlin. Beweisen Sie mir, daß sie wirklich Ihre Frau ist, und ich setze ihrer Landung durchaus kein Hindernis entgegen; sonst aber darf ich, wie Sie begreifen werden, gegen die Befehle des Ministers nicht ungehorsam sein.«

»Sie ist meine Frau«, erwiderte ich ihm kaltblütig. »Da ich jedoch auf etwas Derartiges nicht gefaßt gewesen bin, so habe ich nicht ein einziges Papier bei mir, das Sie davon überzeugen könnte.«

»Das tut mir leid, denn nun wird sie mit mir nach Lissabon zurückfahren, übrigens können Sie sich darauf verlassen, daß sie, gemäß dem ausdrücklichen Befehle des Herrn Ministers, mit aller erdenklichen Ehrerbietung behandelt werden wird.«

»Aber, Herr Kapitän, die Frau ist doch untrennbar von ihrem Gatten!«

»Das gebe ich Ihnen zu, aber ich kann gegen die von meinem Vorgesetzten empfangenen Befehle nichts machen, übrigens hindert Sie ja nichts, auf der Korvette nach Lissabon zurückzufahren. Sie werden vor uns dort sein.«

»Warum kann ich nicht auf dieser Fregatte zurückfahren?«

»Weil ich ausdrücklichen Befehl habe, Sie an Land zu setzen. Da fällt mir ein: warum ist in dem Brief, der mir befiehlt, Sie nach England zu bringen, kein Wort von Ihrer Frau gesagt? Wenn Madame nicht die Person ist, die der Minister sucht, so können Sie sich darauf verlassen, daß man sie Ihnen wieder nach London schicken wird.«

»Werden Sie mir gestatten, noch einmal mit ihr zu sprechen?«

»Gern, aber nur in meiner Gegenwart.«

Mir blutete das Herz, indessen galt es gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Ich suchte den Grafen auf, redete ihn meine liebe Frau an und verkündete ihm den grausamen Befehl, der uns trennen wollte. Ich fürchtete, er würde sich verraten, aber er besaß die Kraft, sich zu beherrschen, und antwortete mir, uns bliebe nichts anderes übrig, als uns zu unterwerfen, da wir ja sicher sein könnten, in einigen Monaten uns wiederzusehen.

Ich konnte ihm in Gegenwart des Kapitäns nichts sagen, als was alle Welt hören durfte. Ich beschränkte mich daher darauf, ihm mitzuteilen, daß ich von London aus unverzüglich an die Äbtissin schreiben werde, daß er in Lissabon diese zu allererst aufsuchen müsse, und daß er von ihr meine Adresse erfahren werde. Ich hütete mich wohl, mein Schmuckkästchen von ihm zu verlangen, denn der Kapitän hätte möglicherweise geglaubt, es in Verwahrung nehmen zu müssen, da ein so reicher Schatz von Diamanten ihn auf die Vermutung bringen konnte, meine angebliche Frau wäre vielleicht irgendein reiches Fräulein, das ich entführt hätte. Wir mußten uns gänzlich unserem Schicksal überlassen. Weinend umarmten wir uns, und der Kapitän, der durch und durch ein Ehrenmann war, weinte ebenfalls, als er den Grafen zärtlich zu mir sagen hörte: »Legen Sie Ihr Glück und das meinige in die Hände dieses würdigen Kapitäns; wir wissen ja, daß wir uns auf einander verlassen können!«

Der Koffer des Grafen wurde in die Schaluppe gebracht, und da ich nicht wagte, meine Reisetasche an mich zu nehmen, so besaß ich bei meiner Ankunft am Lande weiter nichts als eine Ausrüstung von Männerkleidern, deren ich mich nicht hätte bedienen können, selbst wenn ich meine Verkleidung noch hätte fortsetzen wollen.

Auf dem Zollamt erfuhr ich, was ich besaß: Schreibhefte, Bücher, Briefe, Wäsche, einige Anzüge, einen Degen, zwei Paar Pistolen, von denen ich das eine sofort in meine Tasche steckte. Hierauf ließ ich mich nach einem Gasthof führen, dessen Wirt mir sofort bei meinem Eintritt sagte: wenn ich am nächsten Morgen nach London reisen wolle, werde ich nur ein Pferd zu bezahlen haben.

»Wer sind die Personen, die einen Begleiter wünschen?«

»Ich werde Sie mit ihnen zu Abend essen lassen, wenn Sie es wünschen.«

Ich nahm das Anerbieten an und fand einen Geistlichen der Hochkirche und zwei Damen, deren Benehmen es mir angenehm erscheinen ließ, von der Gelegenheit Gebrauch zu machen. Ich hatte das Glück, ihnen ebenfalls zu gefallen, und am nächsten Tage kamen wir bei guter Zeit in London an und stiegen am Strand in einem Gasthof ab. Dort aß ich nur zu Mittag und machte mich sofort auf die Suche nach einer Wohnung, die mit meinen Mitteln und mit der von mir zu beobachtenden Lebensweise in Einklang stünde. Ich besaß nur fünfzig Lisbonninen und einen Ring von ungefähr gleichem Werte.

Ich nahm ein Zimmer im dritten Stock eines Hauses, dessen Wirtin mir wegen ihres guten und ehrbaren Gesichtes gefiel. Da ich weder Erfahrung noch Empfehlungen an irgendeinen Menschen besaß, konnte ich mich nur auf Gott und auf meinen guten Willen verlassen und mußte mein Schicksal der Freundlichkeit meiner Mitmenschen anheim stellen. Die Frau gefiel mir, und ich nahm bei ihr ein Zimmer zu zehn Schilling wöchentlich. Ich bat sie, mir sofort behilflich zu sein, um mich sauber, aber ohne jeden Luxus meinem Geschlecht gemäß zu kleiden; denn in meinen Männerkleidern wagte ich nicht mehr auszugehen.

Schon am nächsten Tage sah ich mich mit allem versehen, was ein armes Mädchen braucht, das weder blenden noch überhaupt die Blicke seiner Mitmenschen auf sich ziehen will. Da ich gut genug englisch sprach, um nicht als Ausländerin zu erscheinen, so wußte ich, wie ich mich zu benehmen hatte, um keine Unannehmlichkeiten befürchten zu müssen. Obgleich meine Wirtin eine recht gute Frau war, bemerkte ich doch bald, daß ihr Haus nicht ganz meiner Lage entsprach; denn die Ordnung meiner Angelegenheit konnte lange Zeit dauern, und wenn mir das Geld ausgegangen wäre, hätte ich mich unglücklich gefühlt. Ich beschloß also, das Haus zu verlassen. Da ich meine eigene Herrin war, so hatte ich keine Besuche empfangen; aber ich konnte es nicht verhindern, daß den ganzen Tag Neugierige an meine Türe kamen; es kamen immer mehr, je weiter die Nachricht bekannt wurde, daß ich keine Besuche empfinge. Es verkehrten zu viele Menschen in diesem Hause. Da es nicht weit von der Börse lag, so wimmelte die Straße von jungen Menschen, und mehrere Herren, die im ersten Stock zu Mittag aßen, versuchten alles mögliche, um mich von meiner sogenannten Traurigkeit zu heilen, obgleich ich durchaus nicht so tat, wie wenn ich solcher Heilung bedürftig wäre.

Ich beschloß, wöchentlich nur eine Guinee auszugeben, und da mein Ring vollkommen nutzlos für mich war, so entschloß ich mich, ihn zu verkaufen, aber unter der Bedingung, daß ich den Wert nur in Teilzahlungen nach und nach erhielte. Ein alter Händler, der nebenan wohnte, und für dessen Redlichkeit meine Wirtin einstand, schätzte meinen Ring auf hundertundfünfzig Guineen und bat mich, ihm das Vorkaufsrecht zu geben, wenn ich keinen besseren Preis fände. Ich hielt den Ring nicht für so weltvoll und überließ ihm denselben unter der Bedingung, daß er mir monatlich vier Guineen auszahlen solle, und daß ich ihn für dieselbe Zahl von Guineen, die ich empfangen haben würde, zurückkaufen könnte, wenn ich dazu vor der völligen Bezahlung imstande wäre.

Das bare Geld, das ich bei mir hatte und noch jetzt besitze, wollte ich behalten, um auf dem Landwege nach Lissabon zurückkehren zu können, sobald man mir schreiben würde, daß ich mich unbesorgt dort wieder sehen lassen könnte. Ich hatte unter der Seekrankheit so sehr gelitten, daß ich mich nicht entschließen konnte, noch einmal eine solche Fahrt zu machen.

Ich teilte meine Verlegenheit meiner braven Wirtin mit, die noch jetzt meine Freundin ist. Sie half mir eine andere Wohnung suchen; aber ich war genötigt, eine Magd anzunehmen, um meine kleinen Einkäufe zu besorgen, da ich mich nicht entschließen konnte, außer dem Hause zu essen. Hieraus entsprangen für mich lauter Unannehmlichkeiten und Verdrießlichkeiten, denn ich fand nichts als Spitzbübinnen. Da ich nun nicht mehr als einen Schilling täglich ausgeben wollte, so konnte ich begreiflicherweise nicht über die kleinen Diebstähle hinwegsehen, an die diese elenden Frauenzimmer so gewöhnt sind, daß sie es als Ehrensache ansehen, beim kleinsten Einkauf ein Extraprofitchen für sich zu machen.

Die nüchterne Lebensweise, die ich mir zur Pflicht gemacht hatte, griff mich so an, daß ich von Tag zu Tag abmagerte, denn ich lebte beinahe nur von Wasser und Brot. Ich sah jedoch keine Möglichkeit, mir so bald etwas Besseres gönnen zu dürfen. Da fiel zufällig mein Blick auf Ihr eigenartiges Aushängeschild. Ich lachte bei mir selber darüber, aber mich trieb eine unwiderstehliche Gewalt oder auch vielleicht die Neugier, die, wie wir gestehen müssen, unserer Frauennatur innewohnt, und ich konnte nicht der Lust widerstehen, mit Ihnen zu sprechen. Instinktmäßig suchte ich ein Mittel, meine Lage zu verbessern, ohne meine Ausgaben zu vermehren.

Als ich nach Hause kam, fand ich bei meiner Wirtin eine Nummer des Advertiser, worin der Herausgeber über das soeben von mir gelesene Schild seine Scherze machte. Er sagte, der Herr des Hauses sei ein Italiener, der sich offenbar vor einem Angriff nicht fürchte. Da ich meinerseits glaubte, daß ich eine Gewalttätigkeit nicht werde zu befürchten brauchen, so faßte ich den Mut, das Wagnis zu bestehen. Ich fühle jedoch, daß ich sehr anmaßend gewesen bin, und daß es süß sein kann, Angriffen keinen Widerstand zu leisten. Da ich von einem Italiener, einem klugen und rechtschaffenen Manne, erzogen worden bin, so habe ich stets eine große Vorliebe für Ihre Nation gehabt. – Meine schöne Portugiesin war mit ihrer Erzählung zu Ende. Nach einer kleinen Pause sagte ich zu ihr: »Ihre kleine Geschichte, meine Gnädige, hat mir viel Spaß gemacht; es ist ja ein richtiger Romanstoff.«

»Das glaube ich auch, und er würde den Vorzug haben, ein historischer Roman zu sein. Mich freut am meisten, daß Sie meine Erzählung haben anhören können, ohne sich zu langweilen.«

»Falsche Bescheidenheit, Madame! Ihre Erzählung hat mir nicht nur sehr gefallen, sondern seitdem ich weiß, daß Sie Portugiesin sind, fühle ich mich sogar mit Ihrer Nation völlig wieder ausgesöhnt.«

»Sie liebten uns also nicht?«

»Ich hatte einen Groll auf euch, weil ihr vor zweihundert Jahren euren Virgil habt im Elend sterben lassen.«

»Camoens! Aber vor uns haben die Griechen das Unrecht begangen, ihren Homer so sterben zu lassen.«

»Das ist wahr; aber das Unrecht des einen entschuldigt nicht das Unrecht des anderen.«

»Das gebe ich zu; aber wie können Sie Camoens so hoch schätzen, wenn Sie nicht portugiesisch verstehen?«

»Ich las eine Übersetzung in lateinischen Hexametern, die so schön waren, daß ich Virgil zu lesen glaubte.«

»Ist das auch wahr?«

»Ich kann Ihnen nichts vorlügen.«

»Nun, so gelobe ich hiermit, daß ich lateinisch lernen will!«

»Dieses Gelübde ist Ihres Geistes würdig; aber Sie müssen von mir diese schöne Sprache lernen. Ich will in Portugal leben und sterben, wenn Sie mir Ihr Herz versprechen.«

»Mein Herz! Warum habe ich nicht zwei! Seitdem ich Sie kenne, liebe ich mich selber weniger, denn ich befürchte sehr, unbeständig zu sein.«

»Ich werde mich damit begnügen, nur so geliebt zu werden, wie wenn ich Ihr Vater wäre; nur müssen Sie mir erlauben, zuweilen meine Tochter an mein Herz drücken zu dürfen. Bitte, fahren Sie in Ihrer Geschichte fort; das Wesentliche haben Sie mir noch zu erzählen. Was ist aus Ihrem Liebhaber geworden? Und was taten Ihre Verwandten, als Ihre Flucht ihnen bekannt wurde?«

Am dritten Tage nach meiner Ankunft in dieser Riesenstadt schrieb ich meiner Tante, der Äbtissin, einen langen Brief, worin ich ihr ausführlich und wahrheitsgemäß alles schilderte, was mir begegnet war. Ich bat sie, meinen Gatten zu beschützen und mir zu helfen, meinen Entschluß durchzusetzen: ich würde nicht früher nach Lissabon zurückkehren, als bis sie mir versichert hätte, daß meiner Heirat keine Hindernisse mehr bereitet würden und daß ich, als Herrin meines Vermögens, offen vor aller Welt mit dem Gatten meiner Wahl leben könnte. Zugleich bat ich sie, mich über alles auf dem Laufenden zu halten und ihre Briefe an meine Wirtin zu adressieren, indem sie der Adresse nur die Worte hinzufügte: »für Miß Pauline.«

Ich ließ meinen Brief über Paris und Madrid gehen; das ist zu Lande der nächste Weg; ich erhielt daher die Antwort erst nach drei Monaten. In ihrem Brief schrieb meine Tante mir, die Fregatte, die mich nach London gebracht habe, sei erst seit wenigen Tagen wieder in Lissabon. Sofort nach seiner Ankunft habe der Kapitän dem Minister geschrieben: die einzige Dame, die er bei seiner Ankunft in England an Bord gehabt habe, befinde sich noch bei ihm; denn er habe sie wieder zurückgebracht, trotz dem Einspruch des Grafen Al…., der ihm erklärt habe, daß die Dame seine Gemahlin sei. Zum Schluß seines Briefes bat der Kapitän seine Exzellenz, ihm nähere Verhaltungsmaßregeln zu geben, an welchen Ort er besagte Dame zu bringen habe.

Der Minister Oeiras zweifelte nicht daran, daß ich diese angebliche Gemahlin sei, und befahl dem Kapitän, mich in das Kloster meiner Tante zu bringen und ihr einen Brief zu übergeben, den er ihm zugleich schicke. In diesem Brief schrieb er meiner Tante, er sende ihr ihre Nichte und bitte sie, diese bis auf weiteren Befehl in guter Hut zu halten. Meine Tante war sehr überrascht; aber ihre Überraschung wäre noch größer gewesen, wenn sie nicht wenige Tage vorher bereits meinen Brief empfangen hätte. Sie dankte dem Kapitän und führte die angebliche Nichte in ein Zimmer, in das sie sie einschloß. Hierauf schrieb sie dem Grafen Oeiras: Gemäß dem Befehle Seiner Exzellenz habe sie vom Kapitän eine Person empfangen, die für ihre Nichte gelte; da jedoch diese Person ein als Frau verkleideter Mann sei, so könne sie diesem nicht länger Zuflucht in ihrem Kloster geben und bitte daher Ihre Exzellenz, dieser Verlegenheit sobald wie möglich ein Ende zu machen.

Nachdem die Äbtissin diesen eigenartigen Brief an den Minister abgeschickt hatte, machte sie dem Grafen Al…. einen Besuch. Er warf sich ihr zu Füßen, meine gute Tante aber hob ihn sofort auf und zeigte ihm meinen Brief. Sie teilte ihm mit, daß sie an den Minister habe schreiben müssen und daß man ihn ohne Zweifel nach wenigen Stunden an einen anderen Ort bringen werde. Der Graf brach in Tränen aus, flehte die würdige Äbtissin an, sich unserer gemeinsamen Angelegenheiten anzunehmen, und übergab ihr mein Schmuckkästchen, das meine Tante bereitwillig in Verwahrung nahm. Bevor sie ging, versprach sie ihm noch, mir alles zu berichten.

Da der Minister sich auf einem seiner Güter befand, erhielt er den Brief der Oberin erst am nächsten Tage. Er beeilte sich, ihr seine Antwort persönlich zu überbringen. Meine Tante überzeugte Seine Exzellenz mit leichter Mühe, daß es von größter Wichtigkeit sei, die Sache geheim zu halten, da durch die Verletzung des Klosterbannes ihre Ehre ernstlich bedroht sei. Sie gab dem stolzen Minister den Brief, den sie von mir erhalten hatte, und teilte ihm mit, daß der ehrenwerte junge Mann ihr meinen Schmuck übergeben habe. Der Graf dankte der Äbtissin für die Offenheit, womit sie ihn in die ganze Angelegenheit eingeweiht habe, und bat sie lachend um Verzeihung, daß er ihr einen hübschen Jungen zur Gesellschaft geschickt habe.

»Es ist von allergrößter Wichtigkeit,« sagte Seine Exzellenz, »daß die Sache geheim bleibt, und um dessen sicher zu sein, dürfen wir keinen Dritten ins Vertrauen ziehen. Ich werde Sie daher in eigener Person von der falschen Nichte befreien und diese auf der Stelle in meinem Wagen mitnehmen.«

Meine Tante nahm die Exzellenz beim Wort und holte den jungen Eingesperrten. Dieser stieg in den Wagen, der vor der Tür hielt, und fuhr mit dem Minister ab. Die gute Äbtissin sagte mir, von diesem Augenblick an habe sie nichts mehr erfahren. Ganz Lissabon spreche von meiner Geschichte, aber man füge noch einen Umstand hinzu, der die Sachlage ganz wesentlich verändere und den Grafen Oeiras ohne Zweifel höchlichst ergötzen müßte: man sage nämlich, der Minister habe mich zuerst der Äbtissin anvertraut, habe sich aber dann später meiner bemächtigt und halte mich verborgen; man kenne jedoch nicht den Ort, wo er mich eingesperrt halte.

Man glaubt also, daß Graf Al…. in London ist und daß ich mich in der Gewalt des Ministers befinde, dem die Skandalchronik wahrscheinlich zärtliche Gefühle für mich zuschreibt. Ohne Zweifel ist Seine Exzellenz über meinen Aufenthalt hier in London vollkommen unterrichtet, denn er weiß meinen Namen und meine Adresse und es fehlt ihm sicherlich nicht an Spionen.

Auf den Rat meiner Tante habe ich vor einigen Monaten dem Grafen Oeiras geschrieben: ich sei bereit, nach Lissabon zurückzukehren, wenn Seine Exzellenz mir eigenhändig schreiben wolle, daß sofort nach meiner Rückkehr in die Heimat Graf Al…. vor der Öffentlichkeit mein Gatte werden solle, und daß niemand über mein Tun und Lassen Rechenschaft fordern dürfe, selbst nicht unter dem Vorwande der Freundschaft. Werden diese Bedingungen mir nicht bewilligt, so, habe ich dem Minister erklärt, sei ich entschlossen, niemals London zu verlassen, wo die Gesetze mir völlige Freiheit verbürgen. Ich erwarte jeden Augenblick seine Antwort, und ich habe kaum einen Grund, anzunehmen, daß sie den von mir kundgegebenen Wünschen entgegen sein wird; denn unter allen Umständen kann mich kein Mensch meiner Einkünfte berauben, und ich brauche mir daher aus der Gunst des Hofes nichts zu machen; aber auch abgesehen davon bin ich überzeugt, daß Oeiras sich glücklich schätzen wird, mir seinen Schutz zu gewähren, täte er es auch nur, um das Odium zu mildern, das ihm infolge des Todes meines Vaters anhaftet.

Pauline machte mir kein Geheimnis aus den Namen der Personen, die in dieser Geschichte vorkommen; aber sie lebt vielleicht noch, und ihr Andenken ist mir immer noch zu teuer, als daß ich mich der Gefahr aussetzen möchte, ihr Mißfallen zu erregen, indem ich diese Namen nenne, obgleich diese Erinnerungen wahrscheinlich nicht dazu bestimmt sind, zu meinen Lebzeiten das Licht der Welt zu erblicken. Um die Wahrheit des von meiner schönen Portugiesin Erzählten zu bestätigen, genügt es mir, daß ihre Geschichte allen Einwohnern von Lissabon recht gut bekannt ist, und daß die Mitspielenden, die in dieser Komödie auftreten, lauter Leute sind, deren Dasein in Portugal keinem Menschen ein Geheimnis ist.

Ich lebte mit der schönen Pauline in inniger Eintracht; von Tag zu Tag fühlte ich meine Liebe zu ihr wachsen und flößte ich ihr zärtlichere Gefühle ein. Aber wie nun meine Liebe wuchs und immer unwiderstehlicher wurde, magerte ich sichtlich ab, verlor Ruhe, Schlaf und Appetit: ich wäre an meiner Sehnsucht zugrunde gegangen, wenn ich sie nicht hätte befriedigen können. Pauline dagegen blühte auf und wurde jeden Tag schöner.

Eines Tages sagte ich zu ihr: »Wenn mein Leiden dazu dient, Ihre Reize zu vermehren, so müssen Sie dafür sorgen, daß ich nicht sterbe: denn ein Toter leidet nicht mehr.«

»Sie glauben, Ihr Leiden sei eine Folge des Gefühls, das ich Ihnen einflöße?«

»Daran kann ich nicht zweifeln.«

»Ich will gern glauben, daß etwas Wahres an Ihrer Behauptung ist; aber glauben Sie mir, ein so süßes Gefühl kann nicht an Ihrer Abmagerung und an Ihrer Schlaflosigkeit schuld sein. Ich schreibe mit gutem Grunde Ihre Veränderung der sitzenden Lebensweise zu, die Sie führen, seitdem ich in Ihrem Hause bin. Wenn Sie mich lieben, müssen Sie mir einen Beweis davon geben: machen Sie einen Spazierritt!«

»Ich kann Ihnen nichts abschlagen, schöne Pauline! Und nachher?«

»Nachher? Da werden Sie mich dankbar finden, werden guten Appetit haben und werden schlafen.«

»Schnell ein Pferd, schnell meine Stiefel!«

Ich küsse ihr die Hand – denn weiter war ich noch nicht bei ihr – und reite nach Kingston hinaus. Da das Traben mir unangenehm ist, so setze ich mein Pferd in Galopp. Plötzlich stürzt es, und ich liege vor der Tür des Herzogs von Kingston auf dem Pflaster. Miß Chudleigh stand gerade am Fenster, und als sie mich alle Vier von mir strecken sah, stieß sie einen lauten Schrei aus, wie eine erste Regung des Gefühls ihn so leicht einer Frau entreißt. Als ich infolge dieses Schreies meinen Kopf umwandte, erkannte sie mich und schickte mir sofort einen ihrer Leute zu Hilfe. Sobald ich wieder aufrecht stand, wollte ich zu ihr gehen, um ihr meinen Dank auszusprechen, aber es war mir unmöglich, mich von der Stelle zu rühren. Man trug mich in ein Zimmer des Erdgeschosses und zog mir die Stiefel aus. Ein Kammerdiener, der zugleich Chirurg war, untersuchte mich und stellte fest, daß ich den Knöchel verrenkt hätte, und daß ich acht Tage lang mich vollkommen ruhig verhalten müßte.

Die junge Miß sagte mir sofort, wenn ich bei ihr bleiben wolle, könne ich der sorgfältigsten Pflege sicher sein. Ich dankte ihr lebhaft, sagte aber, ich wolle ihr keine Umstände machen, und sprach den Wunsch aus, nach meinem Hause gebracht zu werden. Sofort gab sie mit reizender Anmut alle nötigen Befehle, und bald hatte ein bequemer Wagen mich nach Hause gebracht. Es war mir unmöglich, die beiden Bedienten, die mich begleiteten, zur Annahme eines Geldgeschenkes zu bewegen; ich erkannte darin jene zartfühlende Gastfreundschaft, die man den Engländern zur Ehre anrechnet. Sie verdienen auch dieses Lob in mancher Hinsicht, obgleich andererseits Egoismus einer der hervorstechendsten Züge ihres Nationalcharakters ist.

Zu Haufe angekommen, legte ich mich sofort ins Bett und ließ einen Wundarzt rufen, der über die angebliche Verrenkung herzlich lachte.

»Ich wette, es ist nur eine einfache Verstauchung, und ich wünschte, der Fuß wäre gebrochen, um Ihnen zeigen zu können, was ich kann.«

»Ich bin entzückt, daß ich Ihr Talent nicht auf eine solche Probe zu stellen brauche, und ich werde die beste Meinung von Ihnen haben, wenn Sie mich recht schnell wieder herstellen.«

Zu meinem Erstaunen sah ich Pauline nicht. Man sagte mir, sie habe sich in einer Sänfte forttragen lassen, und ich empfand darüber beinahe Eifersucht, obgleich ein beleidigender Verdacht mir fern blieb. Zwei Stunden darauf trat sie endlich ganz aufgeregt bei mir ein; die alte Hausmeisterin hatte ihr gesagt, ich hätte ein Bein gebrochen und es sei bereits ein Arzt eine volle Stunde bei mir gewesen.

»Ich Unglückselige!« rief sie, indem sie an mein Bett eilte, »an diesem Unglück bin ich schuld!«

Kaum hatte sie dies gesagt, so erbleichte sie und sank beinahe ohnmächtig an meine Seite. »Göttliches Weib!« rief ich, indem ich sie in meine Arme schloß, »es ist nichts… eine einfache Verstauchung.«

»Dummes altes Weib! Wie weh hat sie mir getan! Aber Gott sei gelobt! Fühlen Sie mein Herz.«

»Oh! Ich fühle es mit Entzücken! Glücklicher Sturz!«

Meine Lippen auf die ihrigen pressend fühlte ich mit Entzücken, wie unsere Küsse ineinander verschmolzen, und ich segnete meine glückliche Verstauchung.

Nach diesem ersten Ergusse unseres Glücksgefühles sah ich Pauline lachen.

»Worüber lachen Sie, entzückende Freundin?«

»Über die Spitzbüberei der Liebe, die schließlich doch immer triumphiert.«

»Wo waren Sie?«

»Ich war bei meinem Alten, um meinen Ring einzulösen, und ich schenke ihn Ihnen, damit Sie eine Erinnerung an mich haben.«

»O, meine Pauline, ein bißchen Liebe wäre mir viel lieber als dieser schöne Solitär.«

»Sie haben den Diamanten und meine Liebe. Bis zu meiner Abreise, die nur zu bald erfolgen wird, werden wir als zwei zärtlich liebende Gatten miteinander leben und die Hochzeit werden wir heute Abend feiern, indem wir hier an Ihrem Bette speisen; denn die Verstauchung und ich, mein süßer Freund, verbieten Ihnen, es zu verlassen.«

»Ach, meine liebe Pauline, was für holde Worte aus Ihren Lippen! Welch ein Glück verkünden Sie mir! Nein, ich würde es nicht ertragen, wenn ich es nur in Aussicht hätte. Gestatten Sie mir, daran zu zweifeln, bis ich die volle Wirklichkeit genieße!«

»Gern, mein Freund, wenn Sie das wollen; aber Ihr Zweifel darf nur ganz leicht sein, sonst könnte er mir Unrecht tun. Ich war es müde, so mit Ihnen zusammenzuleben und durch meine Liebe sie unglücklich zu machen. Darum beschloß ich, Ihnen anzugehören, als ich Sie zu Pferde steigen sah. Infolgedessen ging ich während Ihrer Abwesenheit schnell fort, um meinen Ring einzulösen, und nun will ich nicht mehr Ihre Arme verlassen, bis der verhängnisvolle Brief, den ich aus Lissabon erwarte, mich Ihnen entreißen wird. Seit acht Tagen lebe ich in beständiger Furcht; denn diesen Brief, den ich so sehr ersehnt habe, fürchte ich jetzt eintreffen zu sehen.«

»Wenn doch der Kurier unterwegs seines Briefsackes beraubt würde.«

»Solches Glück werden wir nicht haben.«

Da Pauline noch immer neben meinem Bett stand, bat ich sie, in meine Arme zu kommen; denn ich starb vor Verlangen, ihr die lebhaftesten Zeichen meiner Zärtlichkeit zu geben.

»Nein, mein Freund! Die Liebe schließt ja nicht die Vorsicht aus, und wie Sie sehen, steht die Türe offen.«

Sie holte den Ariosto und las mir das Abenteuer Ricciardettos mit der spanischen Prinzessin Fiordespina vor – die schönste Episode des fünfundzwanzigsten Gesanges dieses schönen Gedichtes, das ich auswendig wußte. Sie stellte sich vor, daß sie die Prinzessin und ich Ricciardetto sei.

Ihr machte der Gedanke Spaß:

che il ciel l’abbia concesso,
bradamante cangiato in miglior sesso …

Verwandelt ruht dann neben ihr der echte
Genoß, und zwar von besserem Geschlechte.

Dann kam sie an die Stanze:

Ie belle braccia al collo indi mi getta,
E dolcemente stringe, e baccia in bocca:
Tu buoi pensar se allora la saeta
Dirizza Amor, se in mezzo al cor mi tocca.

Der schöne Arm umschlingt mich alldieweile;
Sie drückt mich hold und küßt mich in den Mund.
Du magst dir denken, wie von Amors Pfeile
Die Spitze mir im tiefsten Herzen stund.

Sie wünschte eine Erklärung über das bacciar in bocca und über die Liebe, die in diesem Augenblick Ricciardettos Pfeil aufrichtete; ich gab ihr eine ausführliche Erläuterung und überraschte sie, indem ich sie plötzlich ebensolchen Pfeil berühren ließ wie jenen, von dem Ariosto spricht. Sie wurde darüber böse. Dies war auch ganz in der Ordnung; aber ihr Zorn konnte nicht lange dauern, und sie lachte laut auf, als sie an die Verse kam:

Io il veggo, io il sento, e a pena vero parmi:
Sento in maschio da femina mutarmi.

Kaum glaub ich’s, doch ich seh’s, ich fühl’s am Leibe:
Ich wandle mich zum Mann aus einem Weibe.

Und weiter:

Cosi le dissi, e feci ch’ella stessa
Trovò con man la verità espressa.

Ich sag’s und führ die Hand dem lieben Kinde,
Damit es selbst die volle Wahrheit finde.

Sie war erstaunt, daß Rom nicht dieses Gedicht verboten hätte, das, wie sie sagte, von Schmutzereien wimmelte.

»Ich glaube. Sie irren sich, meine liebe Pauline; was Sie Schmutzereien nennen, sind nur poetische Freiheiten, und mit solchen ist Rom nicht geizig.«

»Das ist ein frecher Witz, der Ihnen die Zensur der Kirche auf den Hals hetzen und Sie selber auf den Scheiterhaufen der heiligen Inquisition bringen könnte. Aber was nennen Sie denn Schmutzereien?«

»Dinge, die Ekel erregen, nicht aber solche, die gefallen.«

»Sie haben eine eigentümliche Logik. Aber bei dem augenblicklichen Zustande meines Herzens kann ich sie nicht bekämpfen; ich finde es scherzhaft, daß Ariosto von den Frauen aller anderen Nationen gerade eine Spanierin wählte, um ihr den seltsamen Geschmack zuzuschreiben, der sie gerade in den als Weib verkleideten Bradamante sich verlieben ließ.«

»Die Glut des Klimas hat ihn veranlaßt, ein glühendes Temperament und infolgedessen einen perversen Geschmack anzunehmen.«

»Die Dichter sind Narren, die sich alles Mögliche erlauben, was ihren Neigungen schmeichelt!«

Wir setzten die Vorlesung und das Gespräch fort, und ich glaubte, die Schäferstunde habe geschlagen, als sie an die Stelle kam:

Io senza scala in su la rocca salto,
E lo stendardo piantovi di botto
E la nemica mia mi caccio sotto.

Und ohne Leiter in das Schloß ich drang.
Dort pflanz‘ ich stolz mein Banner auf beim Siege,
Als ich die Feindin glücklich niederkriege.1

Ich wollte sofort die Szene dramatisch mit ihr darstellen, aber sie sagte mir mit jenem feinen Zartgefühl der Frauen, das diese so trefflich als Stachel anzuwenden wissen: »Mein lieber Freund, Sie könnten Ihr Übel verschlimmern; ich bitte Sie, mäßigen Sie sich, bis Ihre Verstauchung geheilt ist.«

»Müssen wir denn meine Heilung abwarten, um unsere Ehe zu vollziehen!«

»Ich glaube ja; denn wenn ich mich nicht irre, können Sie das Werk nicht ohne eine gewisse Bewegung vollbringen…«

»Sie irren sich, köstliche Pauline! Aber selbst wenn es so wäre! Verlassen Sie sich darauf, ich würde nicht bis morgen warten, und wenn es mir das Bein kosten sollte! Übrigens werden Sie sehen, daß es Mittel gibt, um den Zweck ziemlich leicht zu erreichen, ohne mein Übel zu verschlimmern. Sind Sie überzeugt? Sagen Sie es mir; denn Ihre Ängstlichkeit beunruhigt mich.«

»Ich weiß nicht… Ich schäme mich …«

»Aber, mein Herz, müssen Sie nicht über solche Gewissensbedenken erröten? Diese passen doch wirklich nicht für Ihren Geist!«

»Nun, so wollen wir doch wenigstens die Kerzen auslöschen; in einer Minute gehöre ich Ihnen.«

»Wenn es denn nicht anders sein kann! Allerdings beraubt die Abwesenheit des Lichtes mich großen Genusses. Also schnell die Kerzen aus!«

Ganz mit unserem künstlichen Licht beschäftigt, achtete meine reizende Portugiesin nicht darauf, daß der Mondschein das Zimmer hell erleuchtete und daß meine Musselinvorhänge kein genügendes Hindernis boten, um mir den Anblick der entzückendsten Formen zu entziehen, besonders in der Stellung, die sie zufällig angenommen hatte. Wäre Pauline eine Kokette gewesen, so hätte ich glauben können, dieses ganze Manöver sei absichtlich berechnet gewesen, um meine Glut zu steigern. Aber sie hatte dies nicht nötig. Endlich hielt ich sie in meinen Armen, und wir versanken in ein ungewöhnliches Schweigen, das durch keine andere Bewegung als durch einen innigen Druck und durch keinen anderen Laut als durch das leise Geräusch unserer Küsse unterbrochen wurde. Bald war unsere Vereinigung vollständig, und ihre Seufzer, ihre glühende Hingabe bewiesen mir, indem sie mir ihre Erstlinge darbrachte, daß ihr Liebesbedürfnis das meinige noch übertraf. Ich bewahrte genügende Selbstbeherrschung, um nicht zu vergessen, daß ich ihre Ehre schonen mußte. Sie war darüber sehr erstaunt; denn sie gestand mir, sie habe an eine solche Ausflucht nicht gedacht, sondern sich mir ohne Hintergedanken hingegeben und sei bereit gewesen, die Folgen auf sich zu nehmen, die sie für unvermeidlich gehalten habe. Ich machte sie glücklich, indem ich ihr das Geheimnis erklärte.

Bis zu diesem Augenblick hatte die Liebe allein mich belebt, aber nach dem blutigen Opfer fühlte ich mich von Achtung und Dankbarkeit durchdrungen. Ich sagte ihr mit überströmendem Herzen, ich fühle die ganze Größe meines Glückes und sei bereit, ihr mein Leben zu opfern, um sie von der Beständigkeit meiner Zärtlichkeit zu überzeugen.

Beglückt durch das Gefühl der Sicherheit, das ich ihr einzuflößen verstanden hatte, überließ Pauline sich der ganzen Glut ihres südlichen Temperamentes, und ich hielt ihr tapfer stand; wir wirkten jedoch so eifrig, daß uns schließlich die Erschöpfung übermannte und daß das letzte Opfer nicht ganz vollzogen werden konnte. Wir überließen uns einem friedlichen und tiefen Schlaf. Ich erwachte zuerst. Strahlende Sonne erleuchtete das Zimmer, und ich betrachtete lange Paulinen, die an meiner Seite lag. Auf meinen Ellbogen gestützt, stieß ich unwillkürlich einen tiefen Seufzer aus, als ich dies entzückende Weib in meinem Besitz sah, den einzigen Sprößling einer erlauchten Familie, die erste Schönheit Portugals, die sich mir in Liebe ergeben hatte und die ich leider nur kurze Zeit besitzen durfte. Pauline erwachte, und ihr Blick, leuchtend und sanft wie der erste Strahl einer Frühlingssonne, ruhte voll Vertrauen und Liebe auf mir.

»Woran denkst du, mein süßer Freund?«

»Ich suche mich zu überzeugen, daß mein Glück nicht ein Traum ist; und wenn es Wirklichkeit ist, so wünsche ich zu sterben, bevor ich dich verliere. Ich bin der glückliche Sterbliche, dem du einen unermeßlichen Schatz geschenkt hast, dessen ich mich unwert fühle, obgleich ich dich unbeschreiblich liebe.«

»Mein Freund, du bist meiner ganzen Hingebung und meiner ganzen Liebe würdig, wenn du mich noch achten kannst.«

»Dich nicht mehr achten! Pauline, könntest du daran zweifeln?«

»Nein, lieber Freund, ich glaube an deine Zärtlichkeit, und ich bin sicher, daß ich es niemals zu bereuen haben werde, Vertrauen zu dir gehabt zu haben.«

Nachdem wir das süßeste Opfer noch einmal erneut hatten, stand Pauline auf. Mit einem anmutigen Lachen machte sie die Bemerkung, daß sie sich jetzt nicht mehr in meiner Gegenwart schäme.

Plötzlich aber ging sie vom Scherz zu tiefsinnigen Betrachtungen über und sagte: »Lieber Freund, wenn das Verschwinden der Scham eine Wirkung erworbenen Wissens ist, woher kommt es, daß unser erstes Urelternpaar sich erst schämte, nachdem es wissend geworden war?«

»Das weiß ich nicht, angebetete Freundin; aber sage mir, ob du jemals diese Frage an deinen gelehrten italienischen Lehrer gerichtet hast, von dem du mir erzähltest?«

»Hm – ja!«

»Was hat er dir geantwortet?«

»Sie hätten sich geschämt, nicht weil sie genossen hätten, sondern weil sie ungehorsam gewesen wären; indem sie die Körperteile bedeckten, die sie verführt hätten, glaubten sie, den begangenen Fehltritt verleugnen zu können. Was man auch sagen mag, ich bin der Meinung, daß Adam viel mehr Schuld hatte als Eva.«

»Wieso?«

»Weil Adam das Verbot von Gott selber erhalten hatte, während Eva es nur von Adam vernommen haben konnte.«

»Ich glaube, alle beide empfingen das Verbot unmittelbar von Gott.«

»Du hast also nicht die Schöpfungsgeschichte gelesen?«

»Du machst dich über mich lustig.«

»Dann hast du sie also schlecht gelesen; denn es steht darin klar und deutlich, daß Gott die Eva schuf, nachdem er Adam verboten hatte, die Früchte vom Baum der Erkenntnis zu essen.«

»Ich finde es seltsam, daß unsere Bibel-Ausleger diesen Umstand nicht hervorgehoben haben, denn er scheint mir sehr wichtig zu sein.«

»Die Theologen sind eben Betrüger; sie sind fast alle Feinde unseres Geschlechts.«

»O, was das anbelangt, so geben sie sehr oft Beweise vom Gegenteil.«

»Bitte, laß uns davon nicht mehr sprechen! Aber mein Lehrer war ein ehrlicher Mann.«

»War er Jesuit?«

»Ja, aber von der kurzen Robe.«

»Was heißt das?«

»Darüber wollen wir ein anderes Mal sprechen.«

»Schön, meine Liebe; wir werden dann sehen, wie die Begriffe: Jesuit und ehrlicher Mann sich miteinander vertragen können.«

»Es gibt Ausnahmen von allen Regeln.«

Meine Pauline war eine tiefe Denkerin, und da sie sehr an ihrer Religion hing, so beschäftigte sie sich mehr damit als ich. Ich hätte diesen ihren Vorzug niemals kennen gelernt, wenn sie nicht meine Bettgenossin geworden wäre. Ich habe mehrere Frauen von solcher Geistesanlage gekannt: um die Höhe ihres Geistes, die Erhabenheit ihrer Seele zu erkennen, muß man sie zuerst dahin bringen, sich der Verdammnis zu ergeben; wenn einem dies gelingt, ist man ihres vollen Vertrauens sicher, denn sie haben kein Geheimnis mehr vor dem Sieger, der sie zu erobern wußte. Hauptsächlich aus diesem Grunde liebt das schwache und reizende Geschlecht die Tapferen und verachtet die Feigen. Allerdings sieht man zuweilen, wie Feiglinge anscheinend bevorzugt werden; aber dies sind Erfolge, die sie nur ihrer Schönheit oder einer Weiberlaune verdanken: die Frauen treiben ihren Spaß mit ihnen, und wenn ein Tapferer dem Feigling den Stock zu kosten gibt, sind sie die ersten, die darüber lachen.

Nach der köstlichsten Nacht, die die Liebe mir verschafft hatte und die mir die süßeste zu sein schien, die der liebe Gott mir jemals gewährt hat, beschloß ich, mein Haus nicht mehr zu verlassen, solange Pauline noch in London bleiben würde.

Das reizende Weib wich nicht einen Augenblick von meiner Seite, abgesehen von der kurzen Zeit, die sie brauchte, um am Sonntag die Messe zu hören. Ich verschloß meine Tür vor aller Welt, selbst vor dem Jünger Äskulaps, denn meine Verstauchung heilte von selbst. Ich beeilte mich, die liebenswürdige Miß Chudleigh von meiner schnellen Heilung in Kenntnis zu setzen; infolgedessen schickte sie nun nicht mehr zweimal täglich zu mir, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen, wie sie es bis dahin getan hatte.

Pauline war nach unserem Liebeskampf auf ihr Zimmer gegangen und kam erst zum Mittagessen wieder herunter. Aber wie strahlte sie da vor Schönheit! Ich glaubte, eine Nereide zu sehen oder vielmehr einen Engel. Ihr Gesicht, das durch ihr Darben zu bleich geworden war, hatte jene Farbe von Lilien und Rosen angenommen, die immer ein Zeichen von Jugend und Gesundheit sind, und auf ihrem Antlitz lag ein Ausdruck von Zufriedenheit und Glück, den ich unermüdlich bewundern mußte.

Da wir beide unsere Bildnisse zu besitzen wünschten, schrieb ich an Martinelli, er möchte mir den besten Maler von London schicken; er sandte mir einen Juden zu, dem seine Aufgabe trefflich gelang. Ich ließ mein Bild in einen Ring fassen, und dies war das einzige Geschenk, das Pauline von mir annehmen wollte, der ich mich doch nur um so reicher gefühlt hätte, wenn sie alles angenommen hätte, was ich besaß.

So verbrachten wir drei Wochen in einem Übermaß von Glück, das keine Feder beschreiben könnte. Ich war vollkommen wieder hergestellt; wir erfreuten uns einer ausgezeichneten Gesundheit, und unsere Liebe war voll Wollust und Gefühl. In jedem Augenblicke des Tages und der Nacht gehörten wir einander an, und da unsere Begierden stets befriedigt wurden und stets wieder von neuem erwachten, so befanden wir uns auf dem Höhepunkt des Glückes. Wir hatten keine Zeit, an die Zukunft zu denken, und vielleicht erhöhte dieser Umstand noch unsere Seligkeit. Mit einem Wort, ich glaube, es ist schwer, sich eine richtige Vorstellung von der Lage zweier Menschen zu machen, denen alle leiblichen Genüsse im Überfluß zu Gebote stehen und die kein Bedenken darin stört; die ganz in der Gegenwart leben und deren Gedanken keine Furcht vor der Zukunft beschäftigt; die durch sich selber und durch alles, was sie angeht, glücklich sind und deren Glück verhundertfacht wird durch die Genüsse, die sie sich unaufhörlich gegenseitig verschaffen. In solcher Lage befand ich mich damals, befand sich meine göttliche Pauline.

Jeden Tag entdeckte ich an meiner Geliebten Eigenschaften, die sie mir immer lieber machten: ihr Geist und ihr glücklicher Charakter waren ein unerschöpflicher Schatz; denn die Natur hatte sie mit moralischen Eigenschaften noch besser bedacht als mit körperlicher Schönheit, und einer ausgezeichneten Erziehung, die ihre Intelligenz gekräftigt hatte, verdankte sie eine außerordentliche Entwicklung aller ihrer Geistesgaben. Pauline hatte außer ihrer weiblichen Schönheit, Anmut und Sanftmut auch jenen festen und stolzen Charakter und den weiten Gesichtskreis, die nur höchstbegabten Männern eigen sind. Schon begann sie zu hoffen, der verhängnisvolle Brief, der sie zurückrufen sollte, werde gar nicht kommen, und Graf Al…. existierte in ihrer Erinnerung nur noch wie ein bedeutungsloser Traum; sie sagte mir manchmal, sie begreife nicht, wie ein hübsches Gesicht eine so materielle Macht ausüben könne, daß es aller Vernunft zum Trotz eine tiefe Neigung hervorrufe. »Ich fühle zu spät,« sagte sie, »daß nur der Zufall eine Vereinigung glücklich machen kann, die durch eine solche animalische Wirkung zustande kommt.«

Der erste August war ein verhängnisvoller Tag für sie und für mich. Pauline empfing aus Lissabon zwei Briefe, die ihr keinen Vorwand übrig ließen, um ihre Rückreise zu verzögern, und ich erhielt aus Paris die Nachricht, daß Frau von Urfé tot sei. Frau du Rumain schrieb mir: zufolge der Aussage ihrer Kammerfrau hätten die Ärzte erklärt, die Marquise habe sich selber umgebracht, indem sie eine zu große Menge einer von ihr als Panacee bezeichneten Flüssigkeit eingenommen habe. Man habe ein Testament gefunden, das nach dem Irrenhause schmecke: sie vermache ihr ganzes Vermögen dem ersten Sohn oder der ersten Tochter, die sie gebären werde; denn sie behaupte, schwanger zu sein.

Mich hatte sie zum Vormund des erwarteten Kindes bestellt, was mir sehr schmerzlich war, denn über eine solche Geschichte mußte ganz Paris mindestens eine Woche lang lachen. Die Gräfin du Châtelet, ihre Tochter, hatte sich ihres ganzen unbeweglichen Vermögens und ihres Portefeuilles bemächtigt, worin man zu meinem großen Erstaunen vierhunderttausend Franken gefunden hatte. Ich war von diesem Schlage wie betäubt, aber ich suchte meinen Schmerz und meine Reue über der Teilnahme zu vergessen, die die beiden Briefe meiner Pauline in mir erregten. Der eine war von ihrer Tante, der andere vom Grafen Oeiras, der sie aufforderte, sobald wie möglich auf dem See- oder Landwege nach Lissabon zurückzukehren, und ihr versicherte, sie werde sofort nach ihrer Ankunft in den Besitz ihres Vermögens gelangen und könne den Grafen Al… offen vor aller Welt heiraten. Er schickte ihr einen Sichtwechsel über zwanzig Millionen Reis. Ich hatte über den geringen Wert dieser Münze niemals nachgedacht und war daher außer mir; aber Pauline sagte mir lachend, der Wert betrage nur zweitausend Pfund Sterling. Immerhin erlaubte diese Summe ihr, wie eine Herzogin zu reisen. Der Minister riet ihr, den Seeweg zu benutzen, sie brauche in diesem Fall ihren Wunsch nur dem Herrn de Saa zu erkennen zu geben, der den Auftrag habe, eine portugiesische Fregatte, die sich augenblicklich in einem der englischen Häfen befinde, ihr zur Verfügung zu stellen. Pauline wollte weder von der Seefahrt noch von Herrn de Saa etwas wissen; kein Mensch sollte glauben können, daß sie zur Rückreise genötigt gewesen sei. Sie war ärgerlich, daß Oeiras ihr die Anweisung geschickt hatte, weil sie daraus sah, daß der Minister sich dem Glauben hingab, sie befinde sich in mißlichen Umständen. Es gelang mir allerdings ohne Mühe, ihr diese Sache im richtigen Lichte darzustellen, und sie gab schließlich zu, daß das Vorgehen des Ministers zartfühlend sei; denn er schrieb ihr nicht, daß er ihr mit der Anweisung ein Geschenk mache; dies würde sie allerdings beleidigt haben.

Pauline war reich und hatte eine große Seele. Dies geht schon daraus hervor, daß sie mich genötigt hatte, ihren Ring anzunehmen, als sie sich sozusagen im Elend befand; ganz gewiß rechnete sie niemals auf meine Börse, obgleich sie überzeugt war, daß ich sie niemals würde verlassen haben. Ich bin sicher, daß sie mich für sehr reich hielt, und ich tat allerdings nichts, woraus sie auf das Gegenteil hätten schließen können.

Wir verbrachten den Tag und sogar die Nacht sehr traurig. Am nächsten Morgen sprach Pauline zu mir mit jenem auserlesenen Feingefühl und mit jener Überzeugungskraft, die nur einem großen Charakter eigen sind:

»Wir müssen uns trennen, mein lieber Freund, und uns zu vergessen suchen; meine Ehre verlangt, daß ich sofort nach meiner Ankunft in Lissabon die Frau des Grafen Al…. werde. Denn alle Welt muß glauben, daß ich mich ihm bereits hingegeben habe; sobald ich aber mich dem Grafen gelobt habe, ist es meine Pflicht, ihm mein Herz wie meine Person ungeteilt zu geben. Dies wird mir nicht schwer werden; denn es ist mir nicht möglich, mir vorzustellen, daß ich auf andere Art glücklich sein könnte, und sobald ich dich nicht mehr sehe, wird mein Pflichtgefühl die Oberhand gewinnen; denn was man wirklich will, muß man auch können. Meine erste Liebe, die du beinahe verwischt hast, wird wieder die alte Gewalt erlangen, sobald ich dich verlassen habe, und ich bin überzeugt, daß ich meinen Gatten lieben werde, denn er ist gut, sanft und liebenswürdig; dies habe ich in den wenigen Tagen, die wir zusammen verlebten, wohl erkennen können.

Nach dieser Vorrede, mein lieber Freund, will ich dir nun sagen, worum ich dich bitten muß und was du mir gewähren mußt, sei es auch nur als eine Gnade: versprich mir, niemals nach Lissabon zu kommen, wenn ich dir nicht die Erlaubnis gebe. Ich hoffe, ich brauche dir nicht die Gründe zu sagen; du darfst es nicht wagen, den Frieden meiner Seele zu stören; denn wenn ich schuldig würde, müßte ich zugleich auch unglücklich werden, und du, der du mich so zärtlich liebst, wirst gewiß nicht das Werkzeug meines Unglücks werden wollen. Ach glaube mir, ich stelle mir vor, ich sei deine Gattin gewesen; sobald wir getrennt sind, werde ich mir einbilden, ich sei Witwe und reise nach Lissabon, um dort eine andere Ehe einzugehen.«

Unter strömenden Tränen schloß ich sie in meine Arme und versprach ihr Gehorsam.

Pauline antwortete dem Minister Oeiras und ihrer Tante, der Äbtissin, sie werde im Laufe des Oktobers in Lissabon eintreffen; sobald sie in Spanien sei, werde sie ihm weitere Nachricht geben. Da sie über die nötigen Mittel verfügte, kaufte sie einen Reisewagen, und nahm eine Kammerjungfer durch Vermittlung der braven Frau, bei der sie im Anfange ihres Londoner Aufenthaltes gewohnt hatte.

Die letzte Woche, die sie mit mir zubrachte, verging mit diesen Reisevorbereitungen. Als besondere Gunst bewilligte sie mir, daß Clairmont sie bis nach Madrid begleiten durfte. Sie sollte mir sofort nach ihrer Ankunft in der spanischen Hauptstadt diesen treuen Diener zurückschicken; aber das Schicksal hatte beschlossen, daß ich ihn nicht wiedersehen sollte, und ich gestehe, dies war einer der schlimmsten Streiche, die es mir in meinem Leben gespielt hat.

Wir verbrachten die letzten acht Tage in Bitternis und Wonne. Wir sahen uns an, ohne zu sprechen; wir sprachen, ohne zu wissen, was wir sagten. Wir vergaßen, uns zu Tisch zu setzen und zu essen; wir gingen zu Bett und hofften, wir würden vor Liebe und Schmerz nicht schlafen können; aber wir täuschten uns. Eine Lethargie, die durch die Erschöpfung unserer Sinne hervorgerufen war, versenkte uns in einen tiefen Schlaf, und wenn wir in inniger Verschlingung erwachten, schilderten tiefe Seufzer und feurige Küsse den wirklichen Zustand unserer Seelen.

Pauline konnte mir und sich das Glück nicht versagen, daß ich sie bis Calais begleitete. Wir reisten am zehnten August ab und hielten uns in Dover nur solange auf, wie notwendig war, um den Wagen auf ein Paketboot bringen zu lassen. Vier Stunden später landeten wir in Calais, wo Pauline, um ihre Witwenschaft zu beginnen, mich bat, in einem Zimmer zu schlafen, das von dem ihrigen getrennt war. Am zwölften August reiste sie ab. Mein armer Clairmont ritt voran, und sie hatte beschlossen, nur bei Tage zu reisen.

Meine Trennung von Pauline hat eine große Ähnlichkeit mit der schmerzlichen Trennung von Henriette, die ich fünfzehn Jahre früher in Genf durchmachen mußte. Auffallend ist die Charakterähnlichkeit dieser beiden unvergleichlichen Frauen, die nur in der Art ihrer Schönheit voneinander verschieden waren. Vielleicht war dies nötig, damit ich mich in die zweite ebenso leidenschaftlich verlieben konnte, wie ich mich in die erste verliebt hatte. Beide waren klug und verständig, beide waren tiefe Denkerinnen, und nur eine verschiedene Erziehung hatte bewirken können, daß die eine heiterer war, mehr Talente und weniger Vorurteile hatte als die andere. Pauline hatte den edlen Stolz ihrer Nation, sie hatte einen Hang zum Ernst, und die Religion war für sie Herzenssache; außerdem übertraf sie Henriette an verliebter Glut und an Neigung zum Liebesgenuß. Ich war mit beiden glücklich, weil ich reich war; sonst hätte ich weder die eine noch die andere überhaupt gekannt. Ich habe sie vergessen, weil wir Menschen alles vergessen; aber wenn ich mir die Erinnerung an sie zurückrufe, finde ich, daß der Eindruck, den Henriette auf mich machte, doch der tiefere war – ohne Zweifel nur deshalb, weil ich damals erst zweiundzwanzig Jahre alt war, während ich in London bereits siebenunddreißig zählte. Je älter ich werde, desto mehr fühle ich, wie das Alter unsere Eindrucksfähigkeit abstumpft, und desto mehr bedauere ich, daß ich nicht das Geheimnis habe finden können, die Jugend festzuhalten, diese glückliche Zeit süßer Einbildungen. Ohnmächtiges Bedauern! Wir müßten enden, wie wir beginnen, oder wir müßten die von der Natur aufgestellte Ordnung umstoßen, das heißt, damit beginnen, womit wir endigen. Noch einmal – ohnmächtiges Bedauern!

Ich schiffte mich am selben Tage wieder ein und hatte eine sehr unangenehme Überfahrt. Trotzdem hielt ich mich in Dover nicht auf, und sobald ich in London angekommen war, schloß ich mich in düsterster Stimmung in einem wirklich britannischen »Spleen« in mein Zimmer ein, um darüber nachzudenken, wie ich Pauline vergessen könnte. Jarbe brachte mich zu Bett. Dieser Jarbe war ein braver Junge, den ich für die Zeit von Clairmonts Abwesenheit in meinen persönlichen Dienst genommen hatte. Als er am nächsten Morgen in mein Zimmer trat, brachte er eine schauderhafte Naivität vor, über die ich bald darauf aber doch lachen mußte.

»Mein Herr,« sagte er zu mir, »die Alte läßt Sie durch mich fragen, ob sie das Schild wieder aushängen soll?«

»Das elende Weib! Sie will wohl, daß ich sie in der Wut erwürge?«

»Aber mein Gott, mein Herr, sie hängt sehr an Ihnen; und als sie Sie so traurig gesehen hat, da hat sie gedacht…«

»Sage ihr, sie soll sich’s nicht wieder einfallen lassen, derartige Gedanken zu haben, und du…«

»O – ich, Herr, werde alles tun, was Sie wollen.«

»Laß mich zufrieden!«

  1. Ich entnehme die Übersetzungen der Verse der bei Georg Müller erschienenen zweibändigen Ariost-Ausgabe von Alfons Kißner. Das herrlich ausgestattete Werk ist eine wahre Herzensfreude für jeden Bücherliebhaber.

Zwölftes Kapitel


Eigentümlichkeiten der Engländer. – Castelbajac. – Graf Schwerin. – Meine Tochter Sophie in Pension. – Die Charpillon.

Ich verbrachte eine jener Nächte, die wie ein beständiges Alpdrücken sind. Traurig und düster stand ich auf; ich war in einer Stimmung, daß ich einen Menschen hätte totschlagen oder auf Herzaß um sein Lebm hätte spielen mögen. Das Dach meines Hauses, das mir bis dahin so schön vorgekommen war, schien mit seinem ganzen Gewicht auf meiner Brust zu lasten. Ich ging aus, ohne an meinen Anzug zu denken; denn ich zog mechanisch meine Reisekleider wieder an. Der Anblick von etwa zwanzig Personen, die in einem Kaffeehause Zeitungen lasen, zog mich an, und ich trat ein.

Ich setzte mich an einen Tisch, den ich zufällig frei fand, und da ich kein Englisch verstehe, beobachtete ich die Gäste, wie sie kamen und gingen. Nach einigen Minuten wurde jedoch meine Aufmerksamkeit durch die Stimme eines Mannes erregt, der französisch sprach und an einen anderen folgende Worte richtete: »Tommy hat sich das Leben genommen, und daran hat er meiner Seel‘ recht getan, denn seine Vermögensverhältnisse waren in der allerschlimmsten Unordnung. Wenn er weitergelebt hätte, wäre er sehr unglücklich geworden.«

»Da irren Sie sich ganz und gar«, sagte der andere mit doktoraler Ruhe. »Da er auch mir schuldig war, war ich gestern dabei, als das Inventar seines Vermögens aufgenommen wurde, und da hat ein jeder sich überzeugen können, daß er einen wahren Anfängerstreich gemacht hat; denn er konnte noch sechs Monate warten, bis er sich das Leben nahm, und hätte trotz der Unordnung seiner Verhältnisse sich’s sehr wohl sein lassen können.«

über diese Art des Rechnens würde ich gelacht haben, wenn ich in einer weniger düsteren Stimmung gewesen wäre; aber es ist eine Tatsache, daß dieses Gefühl negativer Heiterkeit mir gut tat. Ich überlasse es den Physiologen, festzustellen, wie auf einen Menschen eine solche Wirkung hervorgebracht werden kann, daß er aus dem Zustande von Betäubung, worin ihn ein großer Verlust versetzt, in einen Zustand von Gleichgültigkeit übergeht, worin er sich besser befindet.

Ich verließ das Kaffeehaus, ohne ein Wort gesprochen oder auch nur etwas verzehrt zu haben, und ging nach der Börse, um mir Geld geben zu lassen. Bosanquet gab mir sofort so viel, wie ich verlangte, und begleitete mich hierauf. Da ich einen Herrn sah, dessen Gesicht mich interessierte, fragte ich ihn: »Wer ist dieser Herr?«

»Das ist ein Mann, der hunderttausend Pfund wert ist.«

»Und wer ist jener?«

»Das ist einer, der keine zehn wert ist.«

»Aber ich frage Sie ja nicht, wieviele Pfund Sterling die Herren wert sind, sondern ich frage Sie nach ihren Namen.«

»Den weiß ich nicht.«

»Aber wie können Sie ihren Wert abschätzen, ohne ihren Namen zu kennen?«

»Hier macht der Name nichts aus, der Wert aber alles. Einen Menschen kennen heißt: wissen, über welchen Betrag er verfügen kann. Was kommt es denn auch auf einen Namen an? Verlangen Sie von mir tausend Pfund und quittieren Sie darüber in meiner Gegenwart mit dem Namen Attila oder Sokrates – mir genügt das. Sie werden nicht als Seingalt, sondern als Sokrates oder Attila bezahlen, und wir werden lachen.«

»Aber wenn Sie Wechsel unterschreiben?«

»Das ist etwas anderes, denn diese muß ich mit demselben Namen unterzeichnen, den der Aussteller mir gibt.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Sie sind eben kein Engländer und kein Kaufmann.«

»Allerdings nicht.«

Von ihm begab ich mich nach dem Park; da ich aber vorher noch eine Banknote von zwanzig Guineen wechseln wollte, ging ich zu einem reichen Kaufmann, einem Lebemann, den ich im Gasthof kennen gelernt hatte. Ich warf eine Banknote auf seinen Tisch und bat ihn, mir dafür Goldstücke zu geben.

»Kommen Sie in einer Stunde wieder,« sagte er; »ich habe in diesem Augenblick kein Geld hier.«

»Gut; ich werde wieder vorsprechen, wenn ich vom Park zurückkomme.«

»Nehmen Sie Ihre Banknote wieder und geben Sie sie mir, wenn ich Ihnen die zwanzig Goldstücke auszahle.«

»Das ist einerlei. Behalten Sie sie nur; ich zweifle nicht an Ihrer Rechtschaffenheit.«

»Das ist Unsinn, lieber Freund; denn wenn Sie mir die Banknote hierlassen, werde ich Ihnen kein Geld mehr geben, wäre es auch nur, um Ihnen eine Lehre zu verabfolgen.«

»Ich halte Sie einer unredlichen Handlung nicht für fähig.«

»Ich bin es auch nicht; aber wenn es sich um eine so einfache Sache handelt, wie die, eine Banknote in die Tasche zu stecken, was durchaus keine Mühe macht, dann kann der redlichste Mensch glauben, er habe den Gegenwert dafür gegeben, und ein kleiner Irrtum des Gedächtnisses könnte zu einem Streit führen, bei welchem Sie sicherlich unterliegen müßten; denn man würde Ihnen ins Gesicht lachen, falls Sie etwa klagen sollten.«

»Ich fühle die Richtigkeit Ihrer Gründe, besonders in einer Stadt, wo man den Kopf fortwährend voll von Gedanken hat.«

Im Park fand ich Martinelli, dem ich für seinen Decamerone dankte; er hatte mir das Buch inzwischen gesandt. Er beglückwünschte mich zu meinem Wiedererscheinen in der Gesellschaft und zu der schönen Dame, deren glücklicher Besitzer und gewiß auch Sklave ich geworden sei. »Lord Pembroke hat sie gesehen und hat sie reizend gefunden.«

»Wie? Was sagen Sie da? Wo hat er sie gesehen?«

»Mit Ihnen in einem vierspännigen Wagen; Sie fuhren in scharfem Trab nach Rochester zu. Es ist etwa drei oder vier Tage her.«

»Schön, mein lieber Martinelli; jetzt kann ich es Ihnen ja sagen: ich brachte sie nach Calais und werde sie niemals wiedersehen.«

»Werden Sie Ihre Wohnung wieder zu denselben Bedingungen vermieten?«

»Nein, niemals wieder – obgleich der Gott der Liebe mich sehr gnädig behandelt hat. Sie werden mir ein Vergnügen machen, wenn Sie zu mir kommen, so oft Sie Lust haben.«

»Muß ich mich vorher anmelden?«

»Nein, für meine Freunde speist Lukullus bei Lukullus.«

Wir setzten unseren Spaziergang fort, ohne ein bestimmtes Ziel zu haben, und sprachen von Literatur und allerlei Gebräuchen. Plötzlich bemerkte ich in der Nähe von Buckingham-House zu meiner Linken im Gebüsch fünf oder sechs Personen, die ein dringendes Bedürfnis verrichteten und dabei den Vorübergehenden den Hintern zukehrten. Diese Stellung erschien mir empörend unanständig, und ich sprach Martinelli gegenüber meinen Abscheu aus, indem ich besonders bemerkte, diese schamlosen Menschen müßten doch zum mindesten den Vorübergehenden ihr Gesicht zukehren.

»Keineswegs!« rief er; »denn dann würde man sie vielleicht erkennen, und ganz sicherlich würde man sie ansehen, während sie durchaus keine Gefahr laufen, erkannt zu werden, wenn sie nur ihren Hintern den Blicken preisgeben; außerdem nötigen sie dadurch jeden einigermaßen zartfühlenden Menschen, seine Blicke von ihnen abzuwenden.«

»Ich erkenne Ihre Gründe als richtig an, mein lieber Freund, aber Sie werden es natürlich finden, daß so etwas einen Ausländer empört.«

»Natürlich; in allen Ländern wurzeln die besonderen Gebräuche sich ebenso fest ein wie die Vorurteile. Sie haben wohl schon bemerkt, daß ein Engländer, der auf der Straße seine Schleusen öffnen muß, nicht wie bei uns in einen Gang tritt oder sich an eine Tür stellt oder einen Prellstein als Deckung benutzt?«

»Ja, ich habe gesehen, daß Leute sich nach der Mitte der Straße wandten; aber wenn sie es auf diese Weise vermeiden, von den Leuten gesehen zu werden, die auf den Bürgersteigen oder in den Läden sind, so werden sie dafür von denen gesehen, die vorüberfahren, und das ist doch auch nicht richtig.«

»Wer zwingt denn die Herrschaften, die bequem im Wagen fahren, hinzusehen?«

»Das ist allerdings auch wieder wahr.«

Wir gingen bis zum Greenpark und trafen dort Lord Pembroke, der einen Spazierritt machte. Sobald er mich sah, hielt er an und erhob ein lautes Geschrei. Ich erriet die Ursache seiner Überraschung und sagte ihm, ohne seine Frage abzuwarten: »Ich habe zu meinem großen Bedauern meine Freiheit wiedererlangt und fühle mich an meiner guten Tafel sehr vereinsamt.«

»Ich bin ein wenig neugierig, mein lieber Seingalt, und werde vielleicht heute zu Ihnen kommen und Ihnen Gesellschaft leisten.«

Wir trennten uns, und da ich darauf rechnete, daß ich ihn zum Mittagessen bei mir sehen würde, so ging ich nach Hause, um meinem Koch zu sagen, ich würde im Apollosaale speisen. Martinelli hatte sich für diesen Tag schon verpflichtet und konnte daher nicht kommen; aber er zeigte mir eine Ausgangstür des Parkes, die ich noch nicht kannte, und brachte mich auf den Weg.

Als wir in eine Straße einbogen, sahen wir eine Menge Leute, die etwas zu beobachten schienen. Martinelli ging an den Haufen heran, kam dann wieder zu mir und sagte: »Sie werden da etwas Eigentümliches sehen, was Sie Ihren Beobachtungen englischer Gebräuche einverleiben können.«

»Was ist es denn?«

»Ein Mensch, der in einer Viertelstunde an den Folgen eines Faustschlages auf die Schläfe sterben wird, den er bei einer Boxerei von einem anderen braven Mann erhalten hat.«

»Gibt es denn kein Mittel dagegen?«

»Es ist ein Chirurg da, der ihn zu retten verspricht, wenn man ihm erlaubt, den Mann zur Ader zu lassen.«

»Wer kann ihm denn das verbieten?«

»Das ist eben das Merkwürdige: Zwei Männer haben zwanzig Guineen auf das Leben des Mannes gewettet. Der eine hat gesagt: ich wette, daß er stirbt; der andere: ich wette, er wird nicht sterben. Der erste erhebt Einspruch gegen den Aderlaß; denn wenn der Chirurg den Verwundeten heilt, wird der zweite seine zwanzig Guineen verlangen.«

»Ein sehr unglücklicher Mensch und sehr unbarmherzige Wetter!«

»In betreff des Wettens sind die Engländer eigentümliche Leute. Bei ihnen wird auf alles gewettet. Es gibt hier eine Gesellschaft, die man den Wettklub nennt. Wenn Sie Lust haben, dem Verein beizutreten, werde ich Sie vorstellen.«

»Spricht man französisch?«

»Ohne allen Zweifel; denn die Mitglieder sind geistreiche und vornehme Leute.«

»Und was macht man in diesem Klub?«

»Man plaudert, man disputiert; und wenn jemand irgend etwas leugnet, was ein anderer behauptet, so muß eine Wette angenommen werden, falls einer von den beiden sie vorschlägt; sonst muß eine Geldstrafe zugunsten einer allgemeinen Kasse bezahlt werden, die am Ende eines jeden Monats geteilt wird.«

»Lieber Freund, verschaffen Sie mir doch den Zutritt zu diesem reizenden Klub! Ich werde da reich werden; denn ich werde mit meiner Meinung nicht zurückhalten, so oft ich entgegengesetzter Ansicht bin, aber ich werde darauf halten, daß ich meiner Sache sicher bin.«

»Nehmen Sie sich in acht, denn Sie werden es mit starken Gegnern zu tun haben!«

»Aber kommen wir noch einmal auf den sterbenden Mann! Was wird man dem anderen tun, der ihn getötet hat?«

»Man wird seine Hand untersuchen, und wenn diese glatt ist wie die Ihrige und wie die meinige, wird man sich damit begnügen, sie zu zeichnen.«

»Das begreife ich nicht. Bitte, erklären Sie es mir! Woran erkennt man eine gefährliche Hand?«

»Wenn man die Hand gezeichnet findet, so ist dies ein Beweis, daß er bereits einen Menschen getötet hat. Nachdem man seine Hand gezeichnet hat, sagt man zu ihm: Nimm dich in acht, noch einen zu töten; denn wenn du dies tust, wird man dich hängen.«

»Aber wenn dieser Mann angegriffen wird?«

»Er braucht nur seine Hand zu zeigen. Bei diesem Anblick entfernt sich sofort ein jeder und läßt, ihn in Ruhe.«

»Aber wenn man ihn zwingt?«

»Dann befindet er sich in der Notwehr, und wenn er einen Totschlag begeht, wird er freigesprochen, vorausgesetzt, daß er Zeugen hat.«

»Ich wundere mich, daß der Faustkampf erlaubt ist, da er den Tod eines Menschen herbeiführen kann.«

»Er ist nur als Wette erlaubt. Die Gegner werfen vor Beginn des Kampfes ein Geldstück oder mehrere auf die Erde und bekunden dadurch, daß sie eine Wette eingehen. Haben sie das nicht getan, so wird der Sieger gehenkt, wenn er den anderen tötet.«

»O Gesetze, o Sitten!«

Durch solche Beobachtungen lernte ich diese stolze Nation kennen, die so groß und zugleich so klein ist.

Der edle Lord erschien pünktlich zur verabredeten Stunde, und ich bewirtete ihn aufs beste, um ihm Lust zu machen, recht bald wieder zu kommen. Obgleich wir beide allein miteinander speisten, saßen wir sehr lange bei Tisch, denn ich wünschte von ihm Erklärungen über alles, was ich am Morgen gesehen hatte, besonders über den Wettklub. Der liebenswürdige Pembroke riet nur, nicht einzutreten, wenn ich mir nicht etwa vornehmen wollte, eine oder fünf Wochen lang vollständig zu schweigen.

»Aber wenn man mich fragt.«

»Dann müssen Sie ausweichen.«

»Natürlich werde ich ausweichen, wenn ich nicht imstande bin, meine Meinung abzugeben; aber im gegenteiligen Falle wäre selbst Satan nicht imstande, mich zum Schweigen zu bringen.«

»Um so schlimmer.«

»Aber sind es denn Gauner?«

»Ganz gewiß nicht. Es sind lauter Edelleute, Gelehrte, reiche Herren und Lebemänner. Aber sie sind unbarmherzig im Vorschlagen und Annehmen von Wetten.«

»Ist die Kasse reich?«

»Nichts weniger als das, denn man betrachtet es als eine Schande, die Buße zu bezahlen, und nimmt lieber eine mäßige Wette an. Wer wird Sie vorschlagen?«

»Martinelli.«

»Ja, er wird sich an Spencer wenden, der Mitglied der Gesellschaft ist. Ich habe es abgelehnt, mich einführen zu lassen.«

»Warum?«

»Weil ich nicht gerne disputiere.«

»Ich habe den entgegengesetzten Geschmack, und darum will ich mich um meine Zulassung bewerben.«

»Wissen Sie übrigens, Herr von Seingalt, daß Sie ein eigentümlicher Mensch sind?«

»Warum, Mylord?«

»Sie schließen sich einen ganzen Monat lang mit einer Frau ein, die vierzehn Monate in London gelebt hat, ohne daß es einem Menschen gelungen ist, sie kennen zu lernen oder auch nur zu erfahren, aus welchem Lande sie ist! Die Neugier aller Liebhaber seltsamer Dinge ist hierdurch aufs höchste angestachelt worden.«

»Woher haben Sie erfahren, daß sie vierzehn Monate hier gelebt hat?«

»Mehrere Personen haben sie im Hause einer ehrbaren Witwe gesehen, bei der sie den ersten Monat wohnte. Sie hat auf die Anträge, die man ihr machte, niemals auch nur eine Antwort gegeben: Ihr Anschlagzettel hat geradezu Wunder gewirkt.«

»Zum Unglück für mich! Denn ich fühle, daß ich nach ihr kein anderes Weib mehr lieben kann.«

»Ach, das ist Kinderei, mein Lieber. In acht Tagen lieben Sie eine andere, vielleicht morgen schon, wenn Sie zu mir aufs Land kommen und bei mir zu Mittag speisen wollen. Ich traf gestern zufallig in Chelsea eine richtige französische Schönheit, die sich bei mir zum Essen einlud. Ich habe meine Anordnungen getroffen und einigen Freunden, die das Spiel lieben, Bescheid sagen lassen.«

»Das Glücksspiel?«

»Selbstverständlich.«

»Spielt diese reizende Französin gern?«

»Sie nicht, aber ihr Mann.«

»Wie heißt der?«

»Er läßt sich Graf Castelbajac nennen.«

»Ah! Castelbajac?«

»Ja.«

»Gascogner?«

»Ja.«

»Groß, mager, schwarz, pockennarbig?«

»Ganz recht! Ich bin entzückt, daß Sie ihn kennen. Ist seine Frau nicht wirklich eine Schönheit?«

»Das kann ich nicht sagen. Ich habe vor sechs Jahren diesen Castelbajac oder den Herrn, der sich so nennt, kennen gelernt und habe niemals etwas davon gehört, daß er verheiratet wäre. Übrigens stehe ich Ihnen zu Verfügung, Mylord, und es ist mir sehr angenehm, Ihre Gesellschaft mitzumachen. Nur muß ich Sie bitten, nichts zu sagen, falls er etwa so tun sollte, wie wenn er mich nicht kennte; denn er könnte triftige Gründe dazu haben, übermorgen werde ich Ihnen eine Geschichte erzählen können, die dem Herrn keine Ehre macht. Ich wußte nicht, daß er Spieler ist. Ich werde in der Gesellschaft der Wetter auf meiner Hut sein, und ich rate Ihnen, Mylord, seien Sie morgen in Ihrer Gesellschaft auf Ihrer Hut!«

»Ich werde mir den Rat zunutze machen.«

Nachdem Pembroke sich entfernt hatte, ging ich aus und machte einen Besuch bei der Cornelis, die mir vor acht Tagen mitgeteilt hatte, daß meine Tochter krank sei. Sie beklagte sich, daß sie zu zwei verschiedenen Malen, wo sie mich aufgesucht habe, nicht angenommen worden sei, obwohl ich ganz bestimmt zu Hause gewesen sei. Ich antwortete ihr: ich sei in meinem Hause verliebt und glücklich gewesen und habe darum meine Tür vor jedermann verschlossen gehalten. Hiermit mußte sie sich zufrieden geben.

Der Zustand meiner kleinen Sophie beunruhigte mich; sie lag mit starkem Fieber zu Bett, war sehr abgemagert, und ihr ausdrucksvoller Blick sagte mir, daß ein Kummer an ihr nagte. Ihre Mutter war in Verzweiflung, denn sie liebte sie leidenschaftlich, und ich glaubte, sie würde mir die Augen ausreißen, als ich ihr sagte: wenn das Kind sterben sollte, so würde sie sich seinen Tod vorzuwerfen haben. Sophie mit ihrem ausgezeichneten Herzen rief sofort: »Nein, nein, mein lieber Papa!«

Dann fiel sie ihrer Mutter um den Hals und suchte sie durch ihre Liebkosungen zu beruhigen.

Ich rief die Mutter auf die Seite und sagte zu ihr: »An Sophien« Krankheit ist nur die Furcht vor Ihrer übergroßen Strenge schuld. So zärtlich Sie sie lieben, behandeln Sie sie doch mit einem unerträglichen Despotismus. Geben Sie sie für ein paar Jahre in eine Pension, wo sie mit Töchtern aus guten Familien zusammen ist. Teilen Sie ihr dies noch heute Abend mit und Sie sollen sehen, morgen geht es ihr besser.«

»Aber eine gute Pension kostet jährlich hundert Guineen!«

»Wenn die Pension, die Sie wählen, mir zusagt, bin ich bereit, für ein Jahr vorauszubezahlen.«

Als sie dies hörte, umarmte diese Frau, die trotz ihrem Luxus und ihrem scheinbaren Reichtum wirklich in Not war, mich mit allen Anzeichen der lebhaftesten Dankbarkeit.

»Kommen Sie!« rief sie; »kommen Sie, mein lieber Freund, und sagen Sie es selber meiner Tochter. Ich will sehen, was für ein Gesicht sie dazu macht!«

»Gern.«

»Meine liebe Sophie,« sagte ich zu dem Kinde, »deine Mutter und ich sind überzeugt, daß eine Luftveränderung dich bald wieder gesund machen wird. Wenn du ein oder zwei Jahre in einer der besten Pensionen auf dem Lande verbringen willst, so bin ich bereit, sofort für das erste Jahr zu bezahlen.«

»Ich kann nur meiner lieben Mama gehorchen«, sagte Sophie.

»Von Gehorsam ist nicht die Rede. Gehst du gern in die Pension? Sprich dich ganz offen aus!«

»Aber wird es meiner lieben Mama angenehm sein?«

»Sehr angenehm, mein liebes Kind, wenn du gern gehst.«

»O! Dann gehe ich mit dem größten Vergnügen, liebe Mama!«

Bei diesen Worten wurde das Gesicht des Kindes feuerrot – für mich ein deutliches Zeichen, daß ich richtig gesehen hatte. Ich verabschiedete mich von ihnen, indem ich die Cornelis bat, mir Nachricht zu geben.

Am nächsten Morgen um zehn Uhr fragte Jarbe mich, ob ich meine Gesellschaft vergessen habe.

»Nein, aber es ist ja erst zehn Uhr.«

»Allerdings, Herr, aber Sie haben zwanzig Meilen zu fahren.«

»Zwanzig Meilen?«

»Ja, gewiß, Sie müssen ja nach St. Albans.«

»Ich finde es sonderbar, daß Pembroke mir davon nichts gesagt hat. Woher weißt du es denn?«

»Er hat seine Adresse hinterlassen, als er ging.«

»So sind die Engländer!«

Ich nahm die Post, was keine Umstände machte, denn sie ist überall zu haben, und in weniger als drei Stunden war ich an Ort und Stelle. Es gibt nichts Schöneres, als die englischen Landstraßen, und nichts Lieblicheres, als die lachende Landschaft. Nur der Weinstock fehlt, denn Englands Boden, so fruchtbar er ist, taugt doch nicht für den Weinbau.

Das Haus des Lords Pembroke ist nicht groß, kann aber doch bequem zwanzig Herrschaften mit ihren Dienern aufnehmen.

Da die Dame noch nicht gekommen war, zeigte der Lord mir seinen Park, seine Bäder, seine prachtvollen Gewächshäuser und einen Hahn, der in einem Verschlage angekettet war. Dieses Tier sah wirklich zum Erschrecken wild aus.

»Was haben Sie denn da, Mylord?«

»Das ist ein Hahn.«

»Das sehe ich; aber er ist angekettet – warum denn?«

»Weil er wild ist. Er ist sehr verliebt, und wenn er nicht angekettet wäre, würde er auf Liebesabenteuer ausgehen und alle Hähne der Nachbarschaft töten.«

»Aber warum verdammen Sie ihn zum Zölibat?«

»Damit er kriegstüchtig bleibt. Sehen Sie, hier ist die Liste seiner Siege.«

Er zeigte mir eine beglaubigte Liste aller Kämpfe, aus denen der Hahn als Sieger hervorgegangen war, nachdem er seinen Gegner getötet hatte: es waren mehr als dreißig. Ferner zeigte er mir die Stahlsporen, mit denen man ihn an den Kampftagen bewaffnete. Als der Hahn sie sah, fing er an zu zittern und krähte. Ich mußte unwillkürlich lachen, als ich solchen kriegerischen Mut bei einem so kleinen Tier bemerkte. Der Hahn schien vom Kampfteufel besessen zu sein; er hob seine Füße hoch, wie wenn er darum bitten wollte, daß man ihm seine Waffen anschnallte.

Nach den Sporen zeigte Pembroke mir den Helm, der ebenfalls aus sehr glänzendem Stahl verfertigt war.

»Aber,« bemerkte ich, »wenn er solche Vorteile hat, ist er natürlich sicher, seinen Gegner zu besiegen!«

»Durchaus nicht! Denn wenn er mit allen seinen Waffen gerüstet ist, verschmäht er einen Gegner, der nicht dieselben Waffen hat.«

»Das ist kaum zu glauben, Mylord.«

»Es ist vollkommen beglaubigt. Lesen Sie nur!«

Er zeigte mir nun eine Liste, die den ganzen Stammbaum dieses sonderbaren Zweifüßlers enthielt. Er konnte besser als mancher adelige Herr zweiunddreißig Ahnen nachweisen – aber natürlich nur von väterlicher Seite; denn hätte er auch von Seiten der Mütter sein reines Blut nachweisen können, so hätte Lord Pcmbroke ihn zum mindesten mit dem Orden vom Goldenen Vließ dekoriert.

»Dieser Hahn«, sagte er zu mir, »kostet mir hundert Guineen, aber ich würde ihn nicht für tausend hergeben.«

»Hat er Kinder?«

»Er arbeitet daran, aber die Sache ist schwierig.«

Ich erinnere mich nicht mehr, was der Lord mir über die Art dieser Schwierigkeiten sagte. Die Engländer sind das sonderbarste Volk; bei keiner anderen Nation kann der aufmerksame Beobachter so viele Eigentümlichkeiten sehen.

Endlich sah ich einen Wagen mit einer Dame und zwei Kavalieren ankommen. Der eine war der Gauner Castelbajac, der andere ein magerer Herr, der sich als Grafen Schwerin vorstellte, Neffen des berühmten gleichnamigen Feldmarschalls, der auf dem sogenannten Totenbett der Helden und Feld der Ehre starb. General Bekw …, ein Engländer, der das Regiment des Feldmarschalls im Dienste des Königs von Preußen kommandierte und einer der Gäste des Lords Pembroke war, sagte dem Herrn aus Höflichkeit, sein Oheim sei in seiner Gegenwart gestorben. Dies veranlaßte den bescheidenen Neffen, das blutbefleckte Band des Schwarzen Adlerordens aus seiner Tasche zu ziehen und zu uns zu sagen: »Dieses Band trug mein Oheim an seinem Todestage, und Seine Majestät von Preußen hat mir erlaubt, es als ein edles Andenken zu behalten.«

»Aber«, sagte ein anderer von den anwesenden Engländern, »so etwas trägt man doch nicht in der Tasche.«

Der angebliche Schwerin tat, wie wenn er ihn nicht verstände, und dies genügte mir, um zu sehen, wes Geistes Kind er war.

Lord Pembroke bemächtigte sich sofort der Dame, die aber nach meiner Meinung einen Vergleich mit Pauline nicht aushalten konnte; sie war weißer, weil sie blond war, aber sie war weniger groß und hatte nicht den geringsten adeligen Anstand. Sie ließ mich vollkommen kalt, denn das Lächeln machte sie häßlicher, und das ist ein großer Schönheitsfehler bei einer Frau; denn das Lachen muß sie verschönern, damit sie wirklich interessant werde.

Lord Pembroke stellte seine Gäste der Gesellschaft vor, und als er meinen Namen nannte, bezeugte Castelbajac eine große Freude, mich wiederzusehen, obgleich mein Name Seingalt ihm ja erlaubt haben würde, sich zu stellen, als ob er mich nicht kenne.

Wir hielten eine fröhliche Mahlzeit mit englischen Gerichten, und zum Schluß schlug Madame eine Partie Pharao vor.

Da Mylord niemals spielte, so erbot der General sich, zur Unterhaltung der Gesellschaft die Bank zu halten. Er legte etwa hundert Guineen und mehrere Banknoten auf den Tisch; alles in allem mochte die Bank etwa tausend Guineen stark sein. Hierauf gab er jedem Spieler zwanzig Marken, indem er erklärte, daß eine jede zehn Schilling gelte. Da ich nur gegen bar spielen wollte, so nahm ich keine Marken an. Bei der dritten Taille hatte Schwerin seine zwanzig Marken verloren und verlangte neue; als jedoch der Bankhalter ihm sagte, er spiele nicht auf Wort, schwieg der angebliche Neffe des Feldmarschalls und spielte nicht mehr.

Bei bei nächsten Taille kam Castelbajac in dieselbe Lage; da er neben mir saß, bat er mich um Erlaubnis, zehn Goldstücke von meinem Gelde nehmen zu dürfen.

»Sie würden mir Unglück bringen,« sagte ich kalt, indem ich zugleich seine Hand zurückstieß. Er ging in den Garten hinaus, jedenfalls, um die Beleidigung zu verdauen, die ich ihm zugefügt hatte. Die Dame sagte, ihr Mann habe seine Brieftasche vergessen. Eine Stunde darauf legte der General die Karten hin, und ich entfernte mich, indem ich Mylord und die ganze Gesellschaft für den nächsten Tag zum Mittagessen in mein Haus einlud.

Um elf Uhr war ich wieder zu Hause. Ich hatte unterwegs keine Straßenräuber getroffen, wie ich erwartet hatte; ich hatte für diesen Fall sechs Guineen in eine kleine Börse gesteckt, die ich zu opfern bereit war. Ich ließ meinen Koch wecken und sagte ihm, am nächsten Tage hätte ich zwölf Personen zu Tisch, und ich erwartete, daß er mir Ehre machte. Auf meinem Tisch fand ich einen Brief von der Cornelis, die mir schrieb, sie werde am nächsten Sonntag mit ihrer Tochter bei mir speisen und nach dem Essen wollten wir die Pension ansehen, in der sie das Kind unterzubringen gedächte.

Am nächsten Tage kam zuerst Lord Pembroke mit der schönen Französin in einem Wagen mit zwei engen Plätzen; aber diese Enge war der Liebe günstig. Der Gascogner und der Preuße kamen zuletzt.

Wir setzten uns um zwei Uhr zu Tisch und tafelten bis vier Uhr; wir waren alle sehr zufrieden mit meinem Koch und noch mehr mit meinem Weinhändler; denn obwohl wir vierzig Flaschen verschiedener ausgezeichneter Weine geleert hatten, waren wir alle bei Besinnung.

Nach dem Kaffee lud der General alle Anwesenden ein, bei ihm zu Abend zu essen, und Madame Castelbajac forderte mich auf, eine Bank zu legen. Ohne mich lange bitten zu lassen, legte ich tausend Guineen auf; da ich jedoch keine Spielmarken hatte, so erklärte ich, daß ich nur gegen bar spielen und daß ich aufhören würde, sobald es mir paßte.

Die beiden Grafen bezahlten vor Beginn des Spiels dem General ihren Verlust vom vorigen Tage mit zwei Banknoten, die der General mich ihm zu wechseln bat. Ich wechselte den Herren noch zwei andere und legte die vier Scheine unter meine Tabaksdose auf die Seite.

Das Spiel begann. Da ich keinen Kroupier hatte, mußte ich langsam abziehen und dabei auf die beiden Grafen achten, die sich beständig zu ihrem Vorteil irrten. Dies machte mich verdrießlich. Endlich waren sie alle beide auf dem Trockenen und hatten zu meinem Glück auch keine Banknoten mehr. Castelbajac zog einen Wechsel über zweihundert Guineen aus der Tasche und warf mir diesen hin, indem er mich bat, ihn zu diskontieren.

»Ich verstehe mich nicht auf Handelspapiere«, antwortete ich.

Ein Engländer nahm den Wechsel, untersuchte ihn sehr gründlich, und legte ihn dann wieder auf den Tisch, indem er sagte, er kenne weder den Aussteller noch den Akzeptanten noch den Indossanten.

»Der Indossant bin ich,« sagte Castelbajac, »und ich denke, das muß Ihnen genügen.«

Alle Anwesenden lachten, außer mir. Ich nahm den Wechsel, gab ihn höflich dem Herrn zurück und sagte, er könne ihn am nächsten Tage an der Börse diskontieren. Verdrießlich stand er auf und entfernte sich, indem er unverschämte Worte murmelte. Schwerin folgte ihm.

Nachdem die beiden Ehrenmänner sich entfernt hatten, zog ich in aller Ruhe bis tief in die Nacht hinein weiter ab. Obwohl ich im Verlust war, hörte ich endlich auf, weil der General zu sehr im Glück war. Bevor sie gingen, nahmen der Lord und er mich auf die Seite und baten mich, dafür zu sorgen, daß die beiden Schwindler am nächsten Abend nicht zum Essen kämen; »denn«, sagte der General, »wenn der Gascogner sich auch nur die Hälfte der Unverschämtheiten mir zu sagen erlaubte, die er sich Ihnen gegenüber herausgenommen hat, so würde ich ihn zum Fenster hinauswerfen lassen.«

Pembroke sagte ihm, er brauche nur die Frau damit zu beauftragen.

»Glauben Sie,« fragte ich ihn, »daß diese vier Banknoten, die von ihm herrühren, möglicherweise falsch sind?«

»Das ist sehr leicht möglich!«

»Was würden Sie tun, um den Zweifel zu beseitigen?«

»Ich würde sie nach der Bank schicken, um sie wechseln zu lassen.«

»Und wenn die Bank sie als falsch erkennt?«

»Dann würde ich den Verlust ruhig hinnehmen oder ich würde die Gauner verhaften lassen.«

Am nächsten Morgen ging ich selber auf die Bank. Der erste, dem ich meine vier Banknoten gab, reichte sie mir zurück und sagte kalt: »Das ist falsches Geld, mein Herr.«

»Wollen Sie sie, bitte, aufmerksam prüfen!«

»Das ist nicht nötig, die Scheine sind falsch. Geben Sie sie demjenigen zurück, der sie Ihnen gegeben hat; er wird sich nicht lange bitten lassen, sie Ihnen wieder zu wechseln.«

Ich wußte wohl, daß ich die beiden Gauner hinter Schloß und Riegel bringen konnte, aber es widerstrebte mir, dies zu tun. Ich ging zu Lord Pembroke, um mir ihre Adresse sagen zu lassen. Er lag noch im Bett; aber einer von seinen Leuten führte mich zu ihnen. Mein Erscheinen überraschte sie. Ich sagte ihnen ziemlich ruhig, ihre Banknoten wären falsch, und ich bäte sie daher, sie zurückzunehmen und mir dafür vierzig Goldstücke zu geben.

»Ich habe kein Gold,« sagte Castelbajac; »aber was Sie da sagen, überrascht mich sehr. Ich kann die Banknoten nur an den zurückgeben, von dem ich sie habe, das heißt: wenn es dieselben sind, die Sie gestern von uns erhalten haben.«

Bei dieser beleidigenden Andeutung stieg mir das Blut zu Kopfe. Ich warf ihm einen entrüsteten Blick zu und verließ ihn mit einem kurzen Wort, das ihn als das brandmarkte, was er war. Der Bediente, der mich begleitet hatte, führte mich sogleich zu dem zuständigen Richter, der mich meine Aussage beschwören ließ und mir eine Urkunde ausfertigte, die mich ermächtigt«, die Betrüger verhaften zu lassen. Ich gab die Urkunde einem Alderman, der es übernahm, sie zur Ausführung zu bringen, und ging sehr verdrießlich über diese ärgerliche Geschichte nach Hause.

Dort erwartete mich Martinelli; er war gekommen, um mit mir zu speisen. Ich erzählte ihm die Geschichte, ohne ihm jedoch zu sagen, daß die Spitzbuben verhaftet werden sollten. Er faßte die Sache als Philosoph auf und sagte mir ruhig, an meiner Stelle würde er mit den vier Banknoten ein Autodaf veranstalten. Der Rat war gut; leider befolgte ich ihn nicht. Der wackere Martinelli glaubte mir ein Vergnügen zu machen, indem er mir sagte, er habe mit Lord Spencer den Tag meines Eintritts in den Wettklub verabredet. Ich antwortete ihm jedoch, mir sei die Lust vergangen, Mitglied zu werden. Ich hätte diesen Mann, der sich durch sein Wissen ebenso sehr auszeichnete wie durch seinen Lebenswandel, höflich und rücksichtsvoll behandeln sollen. Aber wer könnte wohl je die Tiefen der menschlichen Schwächen ergründen! Oft nimmt man es einem anständigen Menschen übel, daß er einen klugen Rat gibt, den zu befolgen man nicht den Mut hat.

Gegen Abend begab ich mich zum General, bei dem ich die sogenannte Gräfin Castelbajac auf Lord Pembrokes Knien sitzend fand. Das Abendessen war schön und lustig; die beiden unglücklichen Kavaliere erschienen nicht, und es wurde von ihnen nicht gesprochen. Nach Tisch gingen wir in ein anderes Zimmer, wo wir bis Tagesanbruch spielten. Ich ging mit einem Verlust von zwei- oder dreihundert Guineen nach Hause.

Als ich am nächsten Tage sehr spät erwachte, sagte mein Diener mir, es sei ein Mensch da, der mit mir zu sprechen wünsche. Ich ließ ihn hereinkommen, und da er nur englisch sprach, mußte Jarbe mir als Dolmetscher dienen. Der Mann war der Anführer der Polizisten; er ließ mir sagen, daß er gegen Erstattung der Reisekosten bereit sei, Castelbajac in Dover zu verhaften, wohin dieser gegen Mittag abgereist sei. Den anderen werde er ganz bestimmt im Laufe der Nacht einfangen.

Ich gab ihm eine Guinee und ließ ihm sagen, die Verhaftung des zweiten genüge mir, und er könne den anderen ruhig laufen lassen.

Der nächste Tag war ein Sonntag – der einzige Tag der Woche, wo die Cornelis sich in den Lodoner Straßen sehen lassen konnte, ohne befürchten zu müssen, daß ein Polizeibeamter oder ein Gerichtsbote sie verhaftete. Sie kam daher mit ihrer Tochter zu mir, die durch die Aussicht, demnächst ihre Mutter verlassen zu dürfen, wie von einem Zaubermittel wiederhergestellt war. Die Pension, die die Cornelis gewählt hatte, befand sich in Harwich, und dorthin fuhren wir nach dem Essen.

Die Leiterin der Anstalt war katholisch. Trotz ihren sechzig Jahren sah sie frisch aus; sie besaß viel Geist und Weltgewandtheit. Da Lady Harrington ihr bereits eine Empfehlung geschickt hatte, empfing sie die junge Cornelis sehr freundlich. Sie hatte etwa fünfzehn junge Pensionärinnen von dreizehn bis vierzehn Jahren. Als sie ihnen Sophie als neue Kameradin vorstellte, umringten alle diese jungen Damen sie und überhäuften sie mit Liebkosungen. Fünf oder sechs waren Engel von entzückender Schönheit, und zwei oder drei waren abstoßend häßlich. Solche Gegensätze findet man in England öfter als anderswo. Meine Tochter war kleiner als alle anderen, aber sie war schön genug, um keinen Vergleich scheuen zu müssen, und ihre Klugheit machte sie einer jeden ebenbürtig. Sie erwiderte die Liebkosungen mit jener Leichtigkeit des Benehmens, die man in späteren Jahren nur durch lange Übung erwirbt.

Als wir die innere Einrichtung des Hauses besichtigten, begleiteten alle Schülerinnen uns; diejenigen, die gut genug französisch oder italienisch sprachen, redeten mich an und sagten mir, sie würden meine Tochter herzlich lieb haben. Die anderen hielten sich abseits, wie wenn sie sich ihrer Unwissenheit schämten. Wir besahen die Klaviere, die Harfen, die Schulsäle, die Schlafzimmer – alles, und ich fand, daß meine Sophie es gar nicht besser hätte treffen können. Wir gingen daher in das Privatzimmer der Vorsteherin, und die Cornelis zahlte ihr hundert Guineen für ein Jahr voraus, worüber sie sich eine Quittung geben ließ. Hierauf verabredeten wir, Sophie solle von dem Tage an, wo sie mit einem Bett und der erforderlichen Ausrüstung kommen werde, in die Anstalt eintreten und als Pensionärin behandelt werden. Die Cornelis besorgte dies schon am nächsten Sonntag.

Am Tage nach diesem Besuche teilte der Alderman mir mit, der Graf Schwerin sei bei ihm als Gefangener und wünsche mit mir zu sprechen. Anfangs weigerte ich mich; als aber der Bote des Aldermans mir durch Jarbe sagen ließ, der arme Teufel habe keinen Penny, da wurde ich mitleidig und änderte meinen Entschluß; denn da es sich um falsche Banknoten handelte, so würde man ihn nach Newgate gebracht haben, und dort wäre er in großer Gefahr gewesen, an den Galgen zu kommen.

Ich folgte dem Abgesandten des Beamten und ich kann nicht beschreiben, wie schmerzlich mir der Anblick der strömenden Tränen und der verzweifelten Gebärden des Unglücklichen war, der mich flehentlich bat, ich möchte doch Mitleid mit ihm haben. Er schwor mir, die Banknoten seien ihm von Castelbajac gegeben worden; er wisse aber, von wem dieser sie erhalten habe, und er erbot sich, mir die Person zu nennen, wenn ich ihm die Gnade erweisen wolle, ihn wieder in Freiheit setzen zu lassen.

Ein Restchen von Ärger veranlaßte mich, ihm zu antworten, er brauche ja nur die betreffende Person zu nennen und sei dann sicher, nicht gehenkt zu werden. Ich wolle es mir jedoch täglich vier Pence kosten lassen und ihn solange im Gefängnis lassen, bis er mir mein Geld wieder gegeben habe. Auf diese Drohungen hin begann er wieder zu weinen und zu schreien, er sei im allertiefsten Elend; nachdem er alle seine Taschen umgedreht hatte, in denen sich wirklich kein Heller befand, bot er mir das blutige Ordensband seines angeblichen Oheims als Pfand an. Ich freute mich, einen Vorwand zu haben, ohne mich schwach zeigen zu müssen. Ich nahm daher das Band an und gab ihm eine Quittung über seine Schuld, indem ich mich verpflichtete, ihm dieses Brimborium, woran der Schwarze Adler hing, zurückzugeben, sobald er mir vierzig Guineen auszahlen würde.

Nachdem ich meine Abstandserklärung schriftlich gegeben und die Kosten, seiner Haft bezahlt hatte, verbrannte ich in seiner Gegenwart und in der des Aldermans die vier falschen Banknoten und ließ ihn in Freiheit setzen.

Zwei Tage darauf fand die angebliche Gräfin sich bei mir ein und sagte mir, sie wisse nicht, wo sie ihr Haupt niederlegen solle, da Castelbajac und Schwerin abgereist seien. Sie beklagte sich bitterlich über Lord Pembroke, der sie ebenfalls verlassen habe, nachdem sie ihm die unzweifelhaftesten Beweise ihrer Zärtlichkeit gegeben habe. Um sie zu trösten, sagte ich ihr, er würde sehr unrecht daran getan haben, sie vorher zu verlassen, denn er müsse sie als seine Schuldnerin ansehen.

Um die Frau loszuwerden, mußte ich ihr das Reisegeld nach Calais geben. Sie sagte mir, sie wolle den Gascogner nicht wieder sehen; übrigens sei er gar nicht ihr Gatte. Wir werden in drei Jahren dieselben Persönlichkeiten wiederfinden.

Einen oder zwei Tage darauf ließ ein Italiener sich bei mir melden; er gab mir einen Brief meines Freundes Baletti, der mir den Überbringer, Constantini aus Vicenza, empfahl. Dieser komme nach London in einer wichtigen Angelegenheit, die er mir mitteilen müsse. Er bat mich, ihm nützlich zu sein, so sehr ich nur könnte.

Nachdem ich Herrn Constantini versichert hatte, ich würde mich glücklich schätzen, das Vertrauen eines meiner besten Freunde rechtfertigen zu können, faßte er den Mut, mir zu sagen: »Die lange Reise, die ich gemacht habe, hat meine Börse so ziemlich erschöpft; aber ich weiß, daß meine Frau hier ist und daß sie reich ist. Es wird mir leicht sein, ihren Aufenthalt zu entdecken, und wie Sie wissen,, gehört mir als Ehemann alles, was sie besitzt.«

»Das wußte ich nicht.«

»Sie kennen also die Gesetze dieses Landes nicht?«

»Nein.«

»Das tut mir leid, aber es ist so. Ich gedenke morgen zu ihr zu gehen und sie in dem Kleide, das sie auf dem Leibe hat, auf die Straße zu werfen, denn ihre Möbel, Kleider, Wäsche, Schmucksachen gehören mir – mit einem Wort: alles, was sie besitzt, ist mein. Dürfte ich Sie bitten, mich zu begleiten, wenn ich diesen schönen Streich ausübe?«

Ich war ganz verblüfft. Ich fragte ihn, ob er Baletti von seinen Absichten in Kenntnis gesetzt hätte, und er antwortete:

»Ich habe es keinem Menschen auf der ganzen Welt anvertraut; Sie sind der erste, dem ich mich eröffnet habe.«

Ich konnte ihn nicht als einen Wahnsinnigen behandeln, denn er sah nicht danach aus; auch war es wohl möglich, daß das Gesetz, wovon er sprach, in England gültig war. Ich antwortete ihm, ich sei nicht geneigt, mich in diese Angelegenheit einzumischen, die ich übrigens entschieden mißbillige, es sei denn, daß seine Gemahlin die Sachen, die sie in diesem Augenblick besitze, ihm entwendet habe.

»Meine Gattin, mein Herr, hat mir nur meine Ehre gestohlen und hat nur ihr Talent mitgenommen, als sie mich verließ. Sie muß hier ein großes Vermögen erworben haben, und habe ich nicht recht, wenn ich mich desselben bemächtige, wäre es auch nur, um sie zu bestrafen und um mich an ihr zu rächen?«

»Das mag wohl sein; aber da Sie mir ein vernünftiger Mann zu sein scheinen, so frage ich Sie: was würden Sie von mir halten, wenn ich so ohne weiteres bereit wäre, Sie bei einer Handlung zu unterstützen, die ich grausam finde, mögen Sie auch noch so gute Gründe haben? Außerdem wäre es sehr leicht möglich, daß ich Ihre Frau kenne, ja, daß ich sogar deren Freund bin.«

»Ich werde Ihnen den Namen nennen.«

»Nein, tuen Sie das nicht, bitte! obgleich ich keine Signora Constantini kenne.«

»Sie hat ihren Namen geändert, nennt sich Calori und ist Sängerin am Haymarkettheater.«

»Jetzt weiß ich, wer sie ist; und ich sage Ihnen, Sie haben unrecht getan, mir ihren Namen zu nennen.«

»Ich zweifle nicht an Ihrer Verschwiegenheit. Ich werde mich unverzüglich nach ihrer Wohnung erkundigen, denn das ist die Hauptsache.«

Der Mann ging weinend hinaus, und er tat mir leid. Indessen ärgerte ich mich, daß er mich, obgleich ohne mein Zutun, in sein Geheimnis eingeweiht hatte. Einige Stunden darauf machte ich der Binetti einen Besuch, und diese schilderte mir die Verhältnisse aller Virtuosinnen Londons. Als sie an die Calori kam, sagte sie mir, diese habe mehrere Liebhaber gehabt, von denen sie viel Geld erhalten habe; im Augenblick habe sie jedoch keinen Liebhaber außer dem berühmten Geiger Giardini, in den sie sich ernstlich verliebt habe.

»Wo ist sie her?« fragte ich.

»Aus Vicenza.«

»Ist sie verheiratet?«

»Ich glaube nicht.«

Ich dachte schon nicht mehr an diese üble Geschichte, als ich drei oder vier Tage darauf einen Brief aus dem Kings-Bench-Gefängnis erhielt. Er war von Constantini. Der Unglückliche schrieb mir, er sehe in mir den einzigen Freund, den er in London habe, und hoffe daher, ich werde ihn besuchen, um ihm wenigstens einen guten Rat zu geben.

Ich glaubte seiner Bitte nicht mein Ohr verschließen zu dürfen und ging daher in das Gefängnis. Ich fand den unglücklichen Menschen in verzweifelter Stimmung; bei ihm war ein alter englischer Sachwalter, den ich kannte, und der das Italienische radebrechte.

Constantini war am Tage vorher wegen mehrerer von seiner Frau akzeptierter und nicht eingelöster Wechsel verhaftet worden. Die Calori schuldete angeblich tausend Guineen. Der Sachwalter hatte diese Wechsel, fünf an der Zahl, in Händen und war nun zu dem Ehemann gekommen, um diesem einen Vergleich vorzuschlagen.

Ich sah sofort, daß hier ein niederträchtiger Betrug im Werke war; denn die Binetti hatte mir gesagt, daß die Calori sehr reich sei. Ich 3öS bat den Sachwalter, mich einen Augenblick mit dem Gefangenen allein zu lassen, da ich diesem etwas unter vier Augen zu sagen hätte.

»Man verhaftete mich,« sagte er mir, »wegen Schulden meiner Frau und sagte mir, ich müsse sie bezahlen, weil ich ihr Mann sei.«

»Ihnen wird da von Ihrer Frau ein Streich gespielt, weil sie ohne Zweifel erfahren hat, daß Sie in London sind.«

»Sie hat mich vom Fenster aus gesehen.«

»Warum haben Sie mit der Ausführung Ihres Planes solange gezögert?«

»Ich würde ihn heute morgen ausgeführt haben; wie konnte ich auch ahnen, daß die Spitzbübin Schulden hat!«

»Sie hat ja auch keine, und diese Wechsel sind fingiert. Sie sind vordatiert, denn sie sind erst gestern geschrieben worden. Das ist eine böse Geschichte, die ihr teuer zu stehen kommen kann.«

»Aber einstweilen bin ich im Gefängnis!«

»Bleiben Sie ruhig hier und verlassen Sie sich auf mich.«

Ich war empört über diese Spitzbüberei und entschloß mich, die Sache des unglücklichen Mannes zu der meinigen zu machen. Ich ging daher zu Bosanquet und trug ihm den Fall vor. Er antwortete mir, solche Schiebungen kämen in London jeden Tag vor; man wisse aber seit langer Zeit, wie man sie zu vereiteln habe. Wenn ich mich für den Gefangenen interessiere, werde er einen Anwalt besorgen, der ihm aus der Klemme helfen werde; die Frau und ihr Liebhaber, der ihr wahrscheinlich dabei geholfen habe, würden ihr Vorgehen zu bereuen haben. Ich bat ihn, vorzugehen, wie wenn es sich um mich selber handele, und mich nötigenfalls als Bürgen anzusehen.

»Das genügt,« sagte er; »Sie brauchen sich um die ganze Sache nicht mehr zu bekümmern.« Einige Tage später kam Bosanquet zu mir und sagte: »Wie mir der Anwalt, den ich mit der Angelegenheit betraut habe, soeben mitteilt, hat Constantini nicht nur das Gefängnis, sondern sogar England verlassen.«

»Wieso denn? Das ist ja unmöglich!«

»Nein, es ist im Gegenteil sehr einfach. Der Liebhaber seiner Frau wird das Gewitter vorausgesehen haben, und der unglückliche Ehemann wird für eine mehr oder weniger starke Geldsumme bereit gewesen sein, die Flucht zu ergreifen. Damit ist die Sache erledigt. Aber sie ist sehr komisch, und man wird sie bald in den Zeitungen lesen, denn sie ist geradezu ein Musterbeispiel für derartige Fälle. Ganz gewiß wird man Giardini loben, daß er seiner Geliebten diese edle Handlung geraten hat.«

Ich war allerdings mit dem Ausgang der Sache zufrieden, ärgerte mich aber trotzdem etwas über Constantini, daß er dem Liebespaar nicht einen kleinen Denkzettel gegeben hatte. Ich schrieb Baletti die ganze Geschichte, und ich erfuhr von der Binetti, daß die Calori hundert Guineen bezahlt habe; dafür habe Constantini sich verpflichtet, zu fliehen. Einige Jahre später habe ich die Calori in Prag wiedergefunden.

Ein vlamischer Offizier, dem ich in Aachen mit meiner Börse ausgeholfen hatte, machte mir mehrere Besuche; er speiste sogar zwei- oder dreimal bei mir. Ich machte mir Vorwürfe, daß ich so unhöflich gewesen war, ihm nicht einmal einen Anstandsgegenbesuch zu machen, und ich mußte erröten, als ich ihn zufällig auf der Straße traf und er mir in aller Höflichkeit einen leisen Vorwurf machte. Er hatte seine Frau und seine Tochter bei sich in London. Ein wenig Scham und viel Neugier veranlaßten mich unglücklicherweise, ihn in seiner Wohnung aufzusuchen.

Sobald er mich sah, fiel er mir um den Hals und stellte mich seiner Frau vor, indem er mich seinen Retter nannte. Ich mußte alle Komplimente über mich ergehen lassen, die die Gauner stets für anständige Leute, die sie zu betrügen, gedenken, in Bereitschaft halten. Einige Minuten später sah ich eine alte Frau mit einem jungen Mädchen eintreten. Der Offizier stellte mich ihnen als den Chevalier de Seingalt vor, von dem er ihnen schon so oft erzählt habe. Das junge Mädchen spielte die Erstaunte und sagte, sie habe einen Herrn Casanova gekannt, der mir sehr ähnlich sehe. Ich antwortete ihr, dies sei ebenfalls mein Name; ich habe jedoch nicht das Glück, mich ihrer zu erinnern.

»Ich nannte mich damals Ansperger; heute heiße ich jedoch Charpillon; da Sie mich nur ein einzigesmal gesehen und mit mir gesprochen haben, so ist es ja leicht erklärlich, daß Sie mich vergessen haben, zumal, da ich damals erst dreizehn Jahre alt war. Einige Zeit darauf bin ich mit meiner Mutter und meinen Tanten nach London gekommen, und seit vier Jahren wohnen wir hier.«

»Aber mein Fräulein, wo habe ich denn das Vergnügen gehabt, mit Ihnen zu sprechen?«

»In Paris.«

»Und an welchem Ort?«

»Im Palais Marchand. Sie waren in Begleitung einer reizenden Dame und schenkten mir diese Schuhschnallen« – sie zeigte sie mir an ihren Füßen. »Hierauf erwiesen Sie mir auf Veranlassung meiner Tante die Ehre, mich zu umarmen.«

Nun erinnere ich mich der Begebenheit; auch meine Leser werden sich erinnern, daß ich damals die schöne Strumpfhändlerin Baret bei mir hatte.

Ich sagte also zu ihr: »Jetzt entsinne ich mich, mein Fräulein; aber Ihre Frau Tante erkenne ich nicht wieder.«

»Diese hier ist die Schwester jener, die damals bei mir war; aber wenn Sie die Güte haben wollen, bei uns Tee zu trinken, werden Sie sie sehen.«

»Wo wohnen Sie, mein Fräulein?«

»Wir wohnen in Denmark-Street, Soho. Ich werde Ihnen das schmeichelhafte Kompliment, das Sie an mich richteten, schriftlich zeigen.«

Dreizehntes Kapitel


Die Charpillon. – Verhängnisvolle Folgen dieser Bekanntschaft.

Der Name Charpillon erinnerte mich daran, daß ich einen Brief für sie hatte. Ich zog meine Brieftasche, überreichte ihr das Billett und sagte ihr, dieses Briefchen werde uns gleich doppelt miteinander bekannt machen.

»Wie? Ein Briefchen von meinem lieben Botschafter, dem Herrn Prokurator Morosini! Wie mich dies freut! Und Sie sind schon drei Monate in London, mein Herr, und haben nicht daran gedacht, mir dieses Erinnerungszeichen zu überbringen?«

»Ich bekenne, daß ich sehr schuldig bin, mein Fräulein; aber das Briefchen trägt, wie Sie sehen, keine Adresse; außerdem hat Herr von Morosini die Sache durchaus nicht als eilig bezeichnet… Ich freue mich des Zufalls, der es mir heute erlaubt, mich dieser Pflicht zu entledigen.«

»Kommen Sie doch morgen zum Mittagessen zu uns!«

»Das kann ich nicht; ich habe dem Lord Pembroke versprochen, ihn zu erwarten.«

»Werden Sie allein sein?«

»Ich denke, ja. Wir wollen unter vier Augen speisen.«

»Das ist mir angenehm; dann komme ich mit meiner Tante.«

»Hier meine Adresse, mein Fräulein; Sie werden mir ein großes Vergnügen machen, wenn Sie mich besuchen.«

Sie nahm die Adresse, und zu meiner Überraschung sah ich sie lächeln.

»Dann sind Sie also jener Italiener, der den Zettel aushängte, über welchen die ganze Stadt gelacht hat?«

»Der bin ich.«

»Man hat mir gesagt, dieser Spaß sei Ihnen teuer zu stehen gekommen.«

»Ganz im Gegenteil; ich verdanke ihm eine meiner süßesten Erinnerungen.«

»Aber jetzt, da die schöne Dame nicht mehr hier ist, müssen Sie sich wohl recht unglücklich fühlen?«

»Ich gestehe es; aber es gibt Schmerzen, die so süß sind, daß man sie nicht missen möchte.«

»Niemand weiß, wer sie ist, aber Sie müssen das doch wissen.«

»Ja.«

»Machen Sie ein Geheimnis daraus?«

»Ganz gewiß; ich würde lieber sterben, als es verraten.«

»Fragen Sie meine Tante, ob ich nicht hingehen wollte, um bei Ihnen ein Zimmer zu mieten! Meine Mutter wollte es aber nicht erlauben.«

»Wozu haben Sie nötig, eine billige Wohnung zu suchen?«

»Das habe ich allerdings nicht nötig, aber ich wollte gern einmal lachen, und ich hatte Lust, den kühnen Verfasser einer solchen Anzeige zu bestrafen.«

»Wie würden Sie mich bestraft haben?«

»Ich hätte Sie in mich verliebt gemacht und Sie dann entsetzliche Qualen erdulden lassen. O, hätte ich gelacht!«

»Sie glauben also die Macht zu haben, jeden beliebigen Mann in sich verliebt zu machen, und Sie sind imstande, den schnöden Plan zu hegen, die tyrannische Gebieterin des Mannes zu werden, der Ihrer Schönheit die gebührende und von Ihnen erwartete Ehre erweisen würde? Einen solchen Plan kann nur ein Ungeheuer aushecken, und es ist ein Unglück für die Männer, daß Sie ganz und gar nicht so aussehen. Indessen bin ich Ihnen dankbar für Ihre Offenheit und werde mir diese zunutze machen, um auf der Hut zu sein.«

»Dann müßten Sie sich zwingen, mich nicht zu sehen; sonst würden alle Anstrengungen vergeblich sein.«

Da die Charpillon während dieses ganzen Gespräches unaufhörlich lachte, hielt ich ihre Bemerkungen natürlich nur für einen Scherz; aber ich konnte mich nicht enthalten, ihren Geist zu bewundern, der im Verein mit ihrer Schönheit es ihr leicht machen mußte, einen Mann zu unterjochen. Wie dem auch sei – der Tag, da ich dieses Weib kennen lernte, war für mich ein Unglückstag; meine Leser werden selber darüber urteilen können.

Gegen Ende des Septembers 1763 machte ich die Bekanntschaft der Charpillon, und an diesem Tage begann mein Sterben. Wenn der aufsteigende Teil des Lebens dem absteigenden gleich ist – wie es der Fall sein muß –, so glaube ich heute, den ersten November 1797, noch auf etwa vier Lebensjahre rechnen zu dürfen, die nach dem Satze motus in fine velacior sehr schnell vergehen werden.

Die Charpillon, die ganz London gekannt hat, und die, wie ich glaube, noch lebt, war eine jener Schönheiten, an denen man kaum den geringsten körperlichen Mangel entdecken kann. Ihre schönen Haare waren hellrotbraun und von erstaunlicher Länge und Fülle; ihre blauen Augen hatten das natürliche Schmachtende, das dieser Farbe eigen ist, und glänzten zugleich wie die einer Andalusierin; ihre von einer leichten Rosenfarbe angehauchte Haut war blendend weiß; ihr hoher Wuchs ließ erwarten, daß sie mit zwanzig Jahren eine stolze Erscheinung wie Pauline sein werde. Ihre Brüste waren vielleicht ein wenig klein, aber von vollkommener Form; ihre weißen, zarten Hände waren schlank und etwas länger, als sonst Hände gewöhnlich sind; ihre Füße waren sehr klein, ihr Gang hatte jene edle Anmut, die selbst einer nicht schönen Frau so großen Reiz verleiht. Ihr sanftes, offenes Gesicht trug den Ausdruck der Aufrichtigkeit und jenes feinen Zartgefühls, das stets eine unwiderstehliche Waffe für das schöne Geschlecht ist. Leider hatte die Natur gelogen, indem sie ihrem Gesicht diesen Ausdruck gab. Wäre doch lieber alles übrige Betrug gewesen und hätte sie in diesem Punkte die Wahrheit gesagt! Diese Sirene hatte, schon ehe sie mich kannte, daran gedacht, mich unglücklich zu machen, und sie sagte es mir, gleichsam um dadurch ihren Triumph noch zu erhöhen.

Ich war wie betäubt, als ich Malingans Wohnung verließ; ein sinnlicher Mensch wie ich, der in das weibliche Geschlecht leidenschaftlich verliebt war, hätte fröhlich sein müssen, die Bekanntschaft einer seltenen Schönheit gemacht zu haben, die er zur vollständigen Befriedigung seiner Wünsche zu besitzen hoffen durfte. Ich aber war vor Erstaunen wie betäubt, daß Paulinens Bild, das mir immer vor Augen stand und sich gebieterisch vor mir aufrichtete, so oft ich eine Frau sah, deren Schönheit Eindruck auf meine Sinne machen konnte – ich war, wie gesagt, vor Erstaunen wie betäubt, daß dieses Bild nicht imstande war, die Macht einer Charpillon, die ich unwillkürlich verachten mußte, zu vernichten.

Ich söhnte mich mit mir selber aus, indem ich mir einredete, ich sei nur durch die besonderen Umstände, durch den mächtigen Reiz der Neuheit und durch die Hoffnung, daß die Entzauberung bald eintreten werde, verleitet worden. »Ich werde sie nicht mehr so wunderbar finden,« sagte ich mir selber, »sobald ich sie besessen habe, und das kann nicht lange dauern.«

Der Leser wird sich vielleicht für berechtigt halten, mich für einen anmaßenden Gecken zu erklären. Aber wie hätte ich auf den Gedanken kommen können, daß die Charpillon Schwierigkeiten machen würde? Sie hatte sich selber bei mir zum Essen eingeladen; sie hatte dem Prokurator Morosini angehört, der jedenfalls nicht lange nach ihr geschmachtet hatte, denn das war nicht seine Art, und der sie bezahlt haben mußte, denn er war weder jung noch schön. Ganz abgesehen davon, daß ich ihr zu gefallen hoffen durfte, hatte ich Gold und war nicht geizig. So konnte ich also annehmen, daß sie mir keinen Widerstand leisten würde.

Pembroke war mein Freund geworden, seitdem ich das gute Werk an Schwerin getan hatte, und besonders deshalb, weil ich nicht die Hälfte des Betrages vom General zurückverlangt hatte. Er hatte mir gesagt, wir wollten eine Vergnügungspartie machen und auf diese Weise einen angenehmen Tag verbringen. Als er nun vier Gedecke aufgelegt sah, fragte er mich sofort, wer meine beiden anderen Gäste seien. Er war sehr überrascht, als er hörte, daß die Charpillon und ihre Tante kommen sollten, und daß das Mädchen sich selber eingeladen hatte, sobald sie erfuhr, daß er allein mit mir speisen würde.

»Diese Spitzbübin«, erzählte der Lord mir, »hatte mir für einige Augenblicke eine heftige Lust erregt, sie zu besitzen. Als ich sie eines Abends mit ihrer Tante in Vauxhall traf, bot ich ihr zwanzig Guineen, wenn sie allein mit mir in der dunklen Allee spazieren gehen wolle. Sie nahm an, aber unter der Bedingung, daß ich ihr das Geld im voraus gäbe; leider war ich so schwach, dies zu tun. Sie ging mit mir in die Allee hinein; als wir aber ein Stück gegangen waren, ließ sie meinen Arm los, und ich konnte sie die ganze Nacht nicht mehr finden.«

»Sie hätten sie öffentlich ohrfeigen sollen.«

»Damit hätte ich mir eine böse Geschichte aufgeladen; außerdem würde man mich ausgelacht haben. Ich habe es vorgezogen, das Mädchen zu verachten und die Summe, um die sie mich begaunert hatte, zu verschmerzen. Sind Sie verliebt in sie?«

»Nein, aber ich bin neugierig auf sie, wie Sie es gewesen sind.«

»Nehmen Sie sich in acht; denn sie wird alles versuchen, um Sie anzuführen.«

Die Charpillon trat ein, begrüßte Mylord, sagte ihm die artigsten Dinge von der Welt und beachtete mich überhaupt nicht. Sie lacht, scherzt, erzählt den Streich, den sie ihm in Vauxhall gespielt hat, und neckt ihn damit, daß er wegen einer Eulenspiegelei, die ihn doch eigentlich nur noch mehr habe reizen müssen, nicht mehr den Mut gehabt habe, sie noch weiter zu verfolgen.

»Ein anderes Mal werde ich Ihnen nicht wieder weglaufen.«

»Das kann wohl sein, meine Schöne; denn ein anderes Mal werde ich gewiß nicht wieder vorausbezahlen.«

»Pfui! ›Bezahlen‹ ist ein häßliches Wort, das Sie herabsetzt.«

»Und das Sie vielleicht ehrt?«

»Von so etwas spricht man nicht.«

Lord Pembroke lobte ihren Witz und lachte nur über alle unverschämten Bemerkungen, die sie an ihn richtete; offenbar ärgerte sie sich über die Gleichgültigkeit, womit er fortwährend zu ihr sprach. Bald nach dem Essen entfernte sie sich, nachdem sie mir das Versprechen abgenommen hatte, am übernächsten Tage bei ihr zu speisen.

Den nächsten Tag verbrachte ich mit dem liebenswürdigen Lord, der mich ein Bagnio auf englische Art kennen lehrte. Dies ist ein teueres Vergnügen, das ich nicht näher beschreiben will, weil ein jeder es kennt, der sechs Guineen ausgegeben hat, um sich diesen Genuß zu verschaffen. Wir hatten bei dieser Partie zwei sehr hübsche Schwestern, die man die Garich nannte.

Am Tage darauf trieb mich mein böser Stern, zur Charpillon zu gehen. Sie stellte mir ihre Mutter vor, die ich sofort erkannte, obwohl sie alt, krank und abgezehrt war.

Im Jahre 1759 hatte ein Genfer, namens Bolomé, mich überredet, Schmucksachen im Werte von sechstausend Franken an sie zu verkaufen; sie hatte mir dafür zwei Wechsel gegeben, die von ihr und ihren beiden Schwestern auf eben diesen Bolomé gezogen waren: sie nannten sich damals Ansperger. Der Genfer machte vor dem Verfall der Wechsel Bankerott, und die drei Schwestern verschwanden. Man kann sich denken, wie überrascht ich war, sie in England wiederzufinden, und besonders, durch die Charpillon zu ihnen geführt zu werden. Diese wußte von dem üblen Handel ihrer Mutter und ihrer Tanten nichts und hatte ihnen daher nicht gesagt, daß der Chevalier de Seingalt identisch war mit jenem Casanova, den sie um sechstausend Franken geprellt hatten.

»Ich habe das Vergnügen, mich Ihrer zu erinnern, Madame,« waren die ersten Worte, die ich an sie richtete.

»Mein Herr, ich erkenne Sie ebenfalls; der Spitzbube Bolomé …«

»Sprechen wir jetzt nicht davon, Madame; verschieben wir die Auseinandersetzung auf einen anderen Tag! Sie sind krank, wie ich sehe.«

»Ich war dem Tode nahe; aber jetzt geht es ein wenig besser. Meine Tochter hat Sie nicht unter Ihrem Namen angemeldet.«

»Verzeihung, sie hat Ihnen den richtigen Namen gesagt. Ich heiße Seingalt und heiße auch Casanova. Diesen letzteren Namen trug ich in Paris, als ich dort Ihre Tochter kennen lernte, ohne zu wissen, daß sie zu Ihnen gehörte.«

In diesem Augenblick trat die Großmutter, die wie ihre Tochter Ansperger hieß, mit den beiden Tanten ein. Eine Viertelstunde darauf kamen drei Herren, von denen der eine der Chevalier Goudar war, den ich in Paris gekannt hatte. Die beiden anderen kannte ich nicht; sie wurden mir unter den Namen Rostaing und Caumon vorgestellt. Die drei Herren waren Freunde des Hauses – Gauner, deren Aufgabe darin bestand, Dumme heranzuschleppen, um auf diese Weise gegenseitig Vorteil zu haben.

In diese niederträchtige Gesellschaft sah ich mich also eingeführt. Obgleich ich sofort wußte, woran ich war, entfernte ich mich nicht, und nahm mir nicht einmal vor, nicht wieder hinzugehen. Es gibt unbegreifliche Zustände von Verblendung. Ohne Zweifel glaubte ich, nichts zu wagen, wenn ich auf meiner Hut wäre; da ich keine andere Absicht hatte, als ein Liebesverhältnis mit der Tochter anzufangen, so sah ich alles übrige als etwas Unwesentliches an, das mit meinen Absichten nichts zu tun hatte.

Bei Tische stimmte ich in den Ton der Gesellschaft ein, ja, ich ging sofort mit meinem Beispiel voran: ich neckte, ich wurde geneckt, und ich fühlte mich sicher, daß ich meinen Zweck ohne Mühe erreichen würde. Nur eins mißfiel mir: nachdem sie sich entschuldigt hatte, daß sie mich schlecht bewirtet habe, bat die Charpillon mich, sie und die ganze Gesellschaft an einem Tage, den ich selbst bestimmen möchte, zum Abendessen einzuladen. Da ich mich nicht ausreden konnte, so bat ich sie, den Tag selber zu bestimmen, und sie tat dies, nachdem sie ihre würdigen Berater um ihre Meinung gefragt hatte.

Nach dem Kaffee spielten wir vier Robber Whist. Ich verlor. Gegen Mitternacht ging ich gelangweilt und unzufrieden mit mir selber nach Hause. Leider aber war ich nicht gebessert; denn das Frauenzimmer hatte mich völlig behext.

Immerhin besaß ich die Kraft, zwei Tage vergehen zu lassen, ohne sie aufzusuchen. Am dritten – das war der, den sie für das verfluchte Abendessen bestimmt hatte – sah ich sie schon am Morgen um neun Uhr mit ihrer Tante eintreten.

»Ich bin gekommen,« sagte sie in liebenswürdigstem Ton, »um mit Ihnen zu frühstücken und mit Ihnen über ein Geschäft zu sprechen.«

»Sofort oder nach dem Frühstück?«

»Nachher; denn wir müssen allein sein.«

Wir frühstückten; hierauf ging die Tante in ein anderes Zimmer, und die Charpillon schilderte mir die Lage ihrer Familie und sagte dann, alle Not würde ein Ende haben, wenn ihre Tante hundert Guineen besäße.

»Was würde sie dann tun?«

»Sie würde Lebensbalsam machen. Sie hat das Rezept und würde gewiß ein Vermögen damit verdienen.«

Hierauf schilderte sie mit Behagen die wunderbaren Eigenschaften dieses Balsams, den wahrscheinlichen Absatz in einer Stadt wie London und die Vorteile, die ich selber davon haben würde; denn ich würde natürlich am Gewinn beteiligt sein. Außerdem würden ihre Mutter und ihre Tante sich schriftlich verpflichten, mir die hundert Guineen nach sechs Jahren zurückzuzahlen.

»Ich werde Ihnen nach dem Abendessen eine bestimmte Antwort geben.«

Hierauf nahm ich die schmeichelnde und unternehmende Miene eines Verliebten an, der den höchsten Genuß sucht. Aber alle meine Anstrengungen waren vergebens, obgleich es mir gelungen war, sie auf mein breites Sofa auszustrecken. Geschmeidig wie eine Schlange entschlüpfte die Charpillon mir und lief lachend zu ihrer Tante. Ich folgte ihr und mußte ebenfalls lachen, als sie mir die Hand hinstreckte und mir sagte: »Leben Sie wohl! Auf heute Abend!«

Als ich allein war, fand ich diesen Anfang ganz natürlich, und er erschien mir durchaus nicht von schlechter Vorbedeutung, besonders, wenn ich an die hundert Guineen dachte, die sie brauchte und von mir erbeten hatte. Ich sah wohl, daß ich nicht daran denken konnte, mich um die Huld eines Mädchens von ihrem Charakter zu bewerben, ohne diese Summe zu zahlen. Ich dachte daher auch nicht daran, zu feilschen, aber sie mußte ihrerseits wissen, daß sie die hundert Guineen nicht bekommen würde, wenn sie es sich einfallen lassen sollte, die Zimperliche zu spielen. Meine Sache war es, mich so einzurichten, daß ich nicht zu befürchten brauchte, von ihr geprellt zu werden.

Als am Abend die Gesellschaft da war, forderte die Schöne mich auf, bis zum Essen eine kleine Bank zu legen; ich antwortete aber nur mit einem lauten Lachen, das sie nicht erwartet hatte.

»Dann wollen wir doch wenigstens eine Partie Whist spielen!«

»Mir scheint,« antwortete ich ihr, »Sie haben es nicht eilig, Ihre Antwort betreffs der schwebenden Angelegenheit zu erhalten.«

»Ach so! Sie haben sich wohl entschlossen, nicht wahr?«

»Ja. Kommen Sie!«

Sie folgte mir ins Nebenzimmer. Ich ließ sie auf dem Sofa Platz nehmen und sagte ihr: »Die hundert Guineen stehen zu Ihrer Verfügung.«

»Geben Sie sie meiner Tante; denn sonst würden die Herren sich einbilden, ich hätte sie durch eine schimpfliche Gefälligkeit erlangt.«

»Sie können sich darauf verlassen.«

Nach dieser Versicherung wollte ich mich ihrer bemächtigen; aber alle meine Anstrengungen waren wiederum vergeblich, und ich gab sie schließlich auf, als sie zu mir sagte: »Sie werden niemals, weder durch Geld noch durch Gewalt, etwas von mir erlangen; aber Sie können alles von meiner Freundschaft erhoffen, wenn ich Sie unter vier Augen vollkommen sanft finde.«

Ich ging in den Salon zurück. Ich fühlte eine teuflische Wut in allen meinen Adern, und um diese zu verbergen, beteiligte ich mich an einer Whistpartie, die während unserer Abwesenheit zustande gekommen war. Die Charpillon war von sprühender Heiterkeit, aber sie langweilte mich. Beim Abendessen saß sie mir zur Rechten; sie ärgerte mich durch hundert Ausgelassenheiten, die mich in den siebenten Himmel versetzt haben würden, wenn sie mich nicht zweimal an einem Tage abgewiesen hätte.

Nach dem Essen nahm sie mich auf die Seite und sagte mir: wenn ich die hundert Guineen geben wollte, würde sie die Tante ins Nebenzimmer rufen. Ich sagte: »Es müßte ja schriftlich gemacht werden, und das würde zeitraubend sein; wir wollen die Sache auf einen anderen Tag verschieben.«

»Wollen Sie den Zeitpunkt bestimmen?«

Ich zog meine Börse voll Gold aus der Tasche, zeigte sie ihr und sagte: »Der Zeitpunkt wird da sein, sobald Sie ihn kommen lassen wollen.«

Als meine abscheulichen Gäste fort waren, wurde ich mir darüber klar, daß die junge Intrigantin es auf mich abgesehen hatte, um mich zu prellen und mir mein Geld zu entlocken, ohne mir dafür etwas zu bewilligen. Ich beschloß daher, auf sie zu verzichten. Der Kampf hatte mich gedemütigt; trotzdem fühlte ich mich von der Schönheit dieses Mädchens stark angezogen, obgleich alles andere an ihr mich abstieß.

Ich fühlte das Bedürfnis, mich zu zerstreuen und meine Gedanken durch andere Gegenstände abzulenken. In dieser Absicht fuhr ich am nächsten Tage, mit einem riesigen Korb voll Zuckerzeug versehen, zu meiner Tochter.

Ich machte die ganze jugendliche Gesellschaft glücklich; denn Sophie strahlte vor Freude, alle diese Leckereien unter ihre Kameradinnen verteilen zu können, die sie dankbar annahmen. Kinder sind ja so leicht glücklich zu machen und sind so dankbar für alle Freundschaft.

Ich fand den Tag so köstlich, daß ich eine Zeitlang sehr oft wieder hinging. Ich brachte ihnen eine Menge Kinkerlitzchen, von denen sie entzückt waren. Die Vorsteherin überhäufte mich mit höflichen Aufmerksamkeiten, und meine Tochter, die mich nur ihren lieben Papa nannte, überzeugte mich jeden Tag mehr, daß ich die zärtlichsten Vatergefühle für sie empfand.

Es waren noch keine drei Wochen vergangen, da konnte ich mir schon Glück wünschen, die Charpillon vergessen und durch eine unschuldige Liebe ersetzt zu haben. Allerdings gefiel eine von den Freundinnen meiner Tochter mir ein bißchen zu sehr, um mich ganz wunschlos zu lassen.

In diesem Zustand befand sich meine Seele, als ich eines Morgens um acht Uhr die Lieblingstante der Charpillon bei mir eintreten sah. Sie sagte mir, ihre Nichte und die ganze Familie seien tief betrübt, daß sie mich seit jener Abendgesellschaft, die ich ihnen gegeben hätte, nicht wiedergesehen hätten; besonders sie bedauere es, da ihre Nichte ihr Hoffnung gemacht habe, ich werde ihr die Mittel zur Bereitung des Lebensbalsams geben.

»Allerdings, Madame, würde ich Ihnen hundert Guineen gegeben haben, wenn Ihre Nichte mich wie einen Freund behandelt hätte; aber sie hat mir sogar die Gunstbeweise verweigert, die eine Vestalin bewilligt haben würde, und Sie wissen wohl, daß sie das nicht ist.«

»Verzeihen Sie, wenn ich lache! Das liebe Kind ist ein bißchen unbesonnen und manchmal etwas rappelköpfig; sie gibt sich nur hin, wenn sie überzeugt ist, geliebt zu werden. Sie hat mir alles erzählt. Sie liebt Sie, aber sie befürchtet, Ihre Liebe sei nur eine Laune. Diesen Augenblick liegt sie wegen einer starken Erkältung zu Bett; sie glaubt ein wenig Fieber zu haben. Suchen Sie sie auf; ich bin gewiß, Sie werden sie nicht unzufrieden verlassen.«

Diese wohlberechnete Rede, die mir nur Verachtung hätte einflößen sollen, erweckte in mir die heftigste Begierde. Ich stimmte in das Lachen der Alten ein und fragte sie schließlich, zu welcher Stunde ich hingehen solle, um die Schöne ganz bestimmt im Bett zu finden.

»Kommen Sie sofort und klopfen Sie nur einmal.«

»Gehen Sie voraus und erwarten Sie mich!«

Ich wünschte mir Glück, am Ziel zu sein und keinen Betrug zu fürchten zu haben; denn da ich mich mit der Tante auseinandergesetzt hatte und diese für mich war, so hatte ich keinen Zweifel mehr.

Ich zog meinen Überrock an, und es war noch keine Viertelstunde vergangen, da klopfte ich schon in der verabredeten Weise an die Tür der Charpillon. Die Tante kam auf den Fußspitzen herangeschlichen, öffnete mir und sagte: »Kommen Sie in einer halben Stunde wieder! Ihr ist ein Bad verordnet worden, und sie hat sich gerade eben in die Wanne gelegt.«

»Das ist wieder eine gemeine Betrügerei! Sie sind eine Lügnerin, wie Ihre Nichte eine infame Intrigantin ist.«

»Sie sind hart und ungerecht; aber wenn Sie mir versprechen wollen, vernünftig zu sein, will ich Sie in den dritten Stock führen, wo sie ihr Bad nimmt. Sie kann dann sagen, was sie will; jedenfalls werden Sie die Überzeugung haben, daß ich Sie nicht betrüge.«

»Wenn Sie die Wahrheit sagen, so wollen wir gehen!«

Sie geht die Treppe hinauf; ich folge ihr leise; sie öffnet eine Tür und schiebt mich in ein Zimmer hinein, dessen Tür sie hinter mir schließt. Die Charpillon lag in einer großen Badewanne, mit dem Kopfende nach der Tür. Die niederträchtige Kokette tat, wie wenn sie mich für ihre Tante hielte, machte keine Bewegung und sagte: »Geben Sie mir Handtücher, Tante!«

Sie lag in der verführerischsten Stellung da, und da die Wanne nur halb voll war, konnte ich mich an allen Schönheiten des Körpers einer Venus weiden, ohne daß die Flüssigkeit, die sie wie eine leichte Gaze bedeckte, meinen gierigen Blicken etwas entzog.

Sobald sie mich erblickte, stieß sie einen Schrei aus, kauerte sich zusammen und rief mit erheucheltem Zorn: »Gehen Sie!«

»Schreien Sie nicht, meine Schöne! Ich lasse mich nicht mehr anführen.«

»Gehen Sie!«

»Nein; lassen Sie mich erst wieder zu mir kommen!«

»Ich sage Ihnen noch einmal: gehen Sie!«

»Nein. Aber seien Sie ruhig und fürchten Sie keine Vergewaltigung. Die würde Ihnen nur zu gut in Ihre Pläne passen.«

»Meine Tante soll mir das bezahlen! Darauf kann sie sich verlassen.«

»Wie Sie wollen; aber sie wird in mir einen Freund finden. Ich werde Sie nicht anrühren; aber bitte, entwickeln Sie sich!«

»Wie? Ich soll mich entwickeln?«

»Ja, legen Sie sich wieder so hin, wie Sie bei meinem Eintritt lagen!«

»O! das tue ich ganz gewiß nicht. Gehen Sie!«

»Ich habe Ihnen schon gesagt, ich gehe nicht. Aber Sie brauchen nichts zu befürchten … für Ihre Jungfräulichkeit.«

»Sie sind ein Ungeheuer!«

Sie kauerte sich noch mehr zusammen und bot dabei meinen Blicken ein Bild, das noch verführerischer war als das erste. Dann schlug sie auf einmal einen sanften Ton an und sagte: »Ich bitte Sie, lieber Freund, gehen Sie! Ich werde Ihnen später dafür erkenntlich sein.«

Da sie jedoch sah, daß ihr dies nichts nützte, und daß ich, ohne sie zu berühren, bereits dabei war, selber das Feuer zu löschen, das sie in meinen Sinnen entzündet hatte, drehte sie mir den Rücken zu, damit ich nicht denken sollte, sie fände Vergnügen daran, mir zuzusehen, und damit nicht etwa dieser Gedanke meinen brutalen Genuß vermehrte. Ich wußte das alles, aber für mich war es notwendig, meine Besinnung wiederzuerlangen, und ich mußte mich daher erniedrigen, um die mich fortreißende Glut meiner Sinne zu beschwichtigen, übrigens war es mir nicht unlieb, die Wirkung dieses Notbehelfs zu bemerken, denn diese brutale Befriedigung bewies mir, daß das Übel nicht tief saß, da es durch eine bloße tierische Betätigung zu beseitigen war.

Als ich eben fertig war, trat die Tante ein. Ohne ein Wort zu sagen, ging ich hinaus. Zu meiner Freude empfand ich nur Verachtung für einen so kalt berechnenden Charakter, der gar kein Gefühl kannte.

An der Haustür holte die Tante mich ein; sie fragte mich, ob ich zufrieden sei, und lud mich ein, in ihr Wohnzimmer zu treten.

»Jawohl, ich bin sehr zufrieden – zufrieden nämlich, daß ich euch alle beide jetzt kenne. Da ist die Belohnung!«

Mit diesen Worten zog ich eine Banknote von hundert Guineen hervor und warf sie ihr dummerweise zu, indem ich ihr sagte, sie könnte ihren Lebensbalsam anfertigen; aus ihrer Unterschrift mache ich mir nichts, denn ich wisse, was die wert sei. Ich besaß nicht die Kraft, fortzugehen, ohne ihr etwas zu geben, wie ich es hätte tun sollen, und die erfahrene Kupplerin war schlau genug, das sofort zu begreifen.

Als ich wieder nach Hause kam und reiflich über das Abenteuer nachdachte, erfüllte mich ein Gefühl von Freude und Befriedigung. So kehrte denn bald meine gute Laune zurück, und ich glaubte sicher zu sein, daß ich das Haus dieses elenden Gezüchtes niemals wieder betreten würde. Es waren sieben Weiber, darunter zwei Mägde; um ihren Unterhalt zu bestreiten, war ihnen jedes Mittel recht. Wenn sie bei ihren Beratungen die Notwendigkeit erkannten, sich der Hilfe von Männern zu bedienen, wandten sie sich an die drei Schufte, die ich vorhin nannte, und die ihrerseits, um existieren zu können, auf diese Weiber angewiesen waren.

Ich dachte nur noch daran, mich aufs beste zu amüsieren, und besuchte zu diesem Zwecke alle Orte, wo ich mich vergnügen konnte. Fünf oder sechs Tage nach der Badeszene traf ich in Vauxhall die Spitzbübin mit ihrer Tante und Goudar. Ich wich ihr aus; sie ging mir jedoch nach und warf mir mit einer Sirenenstimme mein schlechtes Betragen vor. Ich gab ihr eine schroffe Antwort; sie machte sich jedoch nichts daraus, sondern trat in eine Laube und lud mich ein, eine Tasse Tee mit ihr zu trinken.

»Ich will keinen Tee,« antwortete ich ihr; »ich will lieber zu Abend essen.«

»Ich bin bereit, mit Ihnen zu speisen. Sie werden mich nicht zurückweisen, wenn Sie nicht etwa noch einen Groll gegen mich haben.«

Ich befahl, vier Gedecke aufzulegen, und im nächsten Augenblick saßen wir beisammen, wie wenn wir die besten Freunde gewesen wären.

Ihre verführerischen Reden, ihre Heiterkeit, ihre Reize zwangen mich wieder unter ihren Bann. Der Wein trug dazu bei, meine Seele zu erniedrigen, und ich schlug ihr vor, einen Spaziergang in den dunklen Alleen zu machen, indem ich bemerkte, sie werde mich hoffentlich nicht so behandeln wie Lord Pembroke. Sie antwortete mir sanft und mit einem Schein von Aufrichtigkeit, der mich beinahe getäuscht hätte: sie wolle ganz und gar die Meine sein, aber bei hellem Licht und nur unter der Bedingung, daß sie die Genugtuung habe, mich jeden Tag wie einen wahren Freund des Hauses bei sich zu sehen.

»Ich verspreche es Ihnen; aber geben Sie mir sofort ein kleines Pröbchen Ihrer Zärtlichkeit.«

»Nein! Unter keinen Umständen!«

Ich stand auf, um die Rechnung zu bezahlen, und entfernte mich, ohne ein Wort zu sagen. Ihre Bitte, sie nach Hause zu bringen, schlug ich ab. Mein Kopf war ein wenig benebelt, als ich nach Haus kam; ich legte mich sofort zu Bett.

Als ich am andern Morgen erwachte, war mein erster Gedanke ein Gefühl des Glücks, daß sie mich nicht beim Wort genommen hatte; ich fühlte instinktmäßig, daß ich alle Beziehungen zwischen diesem Geschöpf und mir hätte abbrechen sollen. Ich fühlte, daß sie eine unüberwindliche Herrschaft über mich ausübte und daß es nur ein einziges Mittel gab, mich davor zu schützen, daß sie mich noch weiterhin betrog: ich mußte entweder beharrlich ihren Anblick meiden, oder ich mußte, wenn ich noch weiter mit ihr verkehrte, ohne jeden Hintergedanken auf den Genuß ihrer gefährlichen Reize völlig verzichten.

Da dieses Zweite mir unmöglich erschien, beschloß ich, mich standhaft an das erste Mittel zu halten; aber das unwürdige Geschöpf ging darauf aus, alle meine Vorsätze zuschanden zu machen. Die Art und Weise, wie sie ihre Absicht zu erreichen suchte, war offenbar das Ergebnis einer von ihrer ganzen Clique abgehaltenen Beratung.

Einige Tage nach dem Abendessen von Vauxhall erschien Goudar bei mir und sagte: »Ich wünsche Ihnen Glück zu Ihrem weisen Entschluß, nicht mehr zu den Anspergers zu gehen; denn wenn Sie noch weiter hingegangen wären, hätten Sie sich immer mehr in die Schöne verliebt, und diese würde Sie schließlich an den Bettelstab bringen.«

»Sie halten mich wohl für sehr dumm? Wenn ich sie gefällig gefunden hätte, so würde sie mich erkenntlich gefunden haben, ohne daß ich jedoch in den Beweisen dieser Erkenntlichkeit über meine Kräfte gegangen wäre. Hätte ich sie grausam gefunden, aber nicht so lächerlich, wie sie sich benommen hat, so hätte ich jeden Tag tun können, was ich bereits getan habe, und wäre darum doch noch nicht an den Bettelstab gekommen.«

»Ich wünsche Ihnen Glück dazu, denn das ist ein Beweis, daß Sie über solide Mittel verfügen. Sie sind also fest entschlossen, sie nicht wiederzusehen?«

»Sehr fest.«

»Sie sind also nicht in sie verliebt?«

»Ich war es, aber ich habe es mir abgewöhnt, und in einigen Tagen werde ich sie vollständig vergessen haben. Ich dachte schon nicht mehr an sie, als ich sie neulich mit Ihnen in Vauxhall traf.«

»Das beweist, daß Sie nicht geheilt sind. Glauben Sie mir, man wird von einer Liebe nicht geheilt, wenn man die Geliebte flieht; denn wenn man in derselben Stadt lebt, kann es zu leicht vorkommen, daß man sich wieder begegnet, und Pulver ist ein feuergefährlicher Stoff.«

»Kennen Sie ein besseres Mittel?«

»Gewiß! Man muß sich durch Genuß übersättigen. ES ist wohl möglich, daß die Charpillon Sie nicht liebt; aber Sie sind reich, und sie hat nichts. Für eine runde Summe hätten Sie sie haben können; Sie wären dann auf angenehme Weise geheilt worden, wenn Sie gefunden hätten, daß sie Ihrer Beständigkeit nicht würdig ist; denn schließlich wissen Sie doch, wer sie ist.«

»Ich würde dieses Mittel gern angewandt haben, wenn ich nicht klar und deutlich ihre Absicht entdeckt hätte.«

»Diese hätten Sie zuschanden machen können, wenn Sie eine vernünftige Abmachung getroffen hätten. Sie hätten niemals vorausbezahlen sollen. Ich weiß alles.«

»Was können Sie wissen?«

»Ich weiß, daß sie Ihnen hundert Guineen kostet und daß Sie nicht einmal einen Kuß von ihr bekommen haben. Nun, mein lieber Herr, für dieses Geld hätten Sie sie ganz bequem in Ihrem Bett haben können. Sie prahlt damit, sie habe Sie angeführt, so klug Sie sich auch dünken mögen.«

»Dieses Geld habe ich ihrer Tante aus Mitleid gegeben.«

»Ja, für die Anfertigung ihres Lebensbalsams; aber Sie werden zugeben,daß ohne die Nichte die Tante nichts bekommen haben würde.«

»Ich gebe es zu; aber sagen Sie mir: was bewegt Sie, heute in dieser Weise zu mir zu sprechen? Sie gehören doch zu ihrer Clique?«

»Nichts, das schwöre ich Ihnen, als ein freundschaftliches Gefühl für Sie. Wenn Sie meinen, daß ich zu ihrer Clique gehöre, so irren Sie sich. Das will ich Ihnen beweisen, indem ich Ihnen erzähle, wie ich das Mädchen, ihre Mutter, ihre Großmutter und ihre beiden Tanten kennen lernte: Vor sechzehn Monaten war ich eines Abends in Vauxhall. Da sah ich den venetianischen Prokurator, Herrn von Morosini, ganz allein spazieren gehen. Er war gerade eben in London eingetroffen, um im Namen seiner Republik dem König die Glückwünsche zur Thronbesteigung zu überbringen. Da ich sah, daß der hohe Herr ganz entzückt war und mit großem Vergnügen die Londoner Schönheiten musterte, hatte ich den Einfall, ihn anzureden und ihm zu sagen, daß alle diese Nymphen ihm zu Diensten stünden, und daß er nur der, die ihm am besten gefiele, sein Schnupftuch zuzuwerfen brauchte. Als er hierüber lachte, sagte ich ihm, es sei kein Scherz von mir. Hierauf bezeichnete er eine mit dem Auge und fragte mich, ob diese Dame ebenfalls zu seiner Verfügung stehe. Da ich sie nicht kannte, bat ich ihn, er möchte seinen Spaziergang fortsetzen, ich würde ihm sofort Bescheid bringen. Da ich keine Zeit zu verlieren hatte und außerdem an ihrem ganzen Benehmen sah, daß ich es nicht mit einer Vestalin zu tun haben würde, trat ich an das junge Mädchen, und ihre Begleiterin heran und sagte ihr, der Botschafter sei in sie verliebt, und wenn sie ihn empfangen wolle, werde ich ihn ihr zuführen. Die Tante sagte mir, die Bekanntschaft eines Herrn von so hohem Range könne für ihre Nichte nur eine große Ehre sein. Ich erhielt ihre Adresse und ging dem Botschafter nach. Unterwegs traf ich einen meiner Bekannten, der ein großer Kenner von dieser Art Ware ist. Ich zeigte ihm die Adresse, die ich noch in der Hand hielt und erfuhr von ihm, was für eine Sorte die Charpillon ist.«

»War sie es?«

»Ja. Mein Freund sagte mir, sie sei eine junge Schweizerin, die noch nicht auf das große Trottoir gekommen sei; das würde aber nicht lange mehr dauern, denn sie sei nicht reich und habe einen zahlreichen Anhang zu ernähren.

Ich ging zu meinem Venetianer, sagte ihm, daß die Sache in Ordnung sei, und bat ihn, mir anzugeben, zu welcher Stunde ich ihn am nächsten Tage vorstellen könne, indem ich ihn darauf aufmerksam machte, daß sie ihn nicht allein empfangen werde, da sie bei ihrer Mutter und ihren Tanten wohne.

›Das ist mir durchaus nicht unangenehm,‹ antwortete der Botschafter mir, ›es ist mir im Gegenteil lieb, daß sie nicht öffentlich ist.‹

Nachdem wir uns für den nächsten Tag verabredet hatten, trennten wir uns.

Ich sagte den Damen, wann wir kommen würden, und belehrte sie, wie sie sich dem hohen Herrn gegenüber zu verhalten hätten: sie müßten nämlich tun, wie wenn sie ihn nicht kennten. Hierauf ging ich nach Hause.

Am nächsten Tage ging ich zu Herrn von Morosini; wir nahmen einen Fiaker, und ich führte ihn inkognito zu den Damen, bei denen wir eine Stunde in allen Ehren verbrachten, und ohne daß irgend ein Vorschlag gemacht wurde; hierauf gingen wir wieder. Unterwegs sagte der Botschafter mir, er werde mir am nächsten Tage in seiner Wohnung seine Bedingungen schriftlich geben; zu diesen Bedingungen wünsche er das Mädchen zu besitzen, aber sonst nicht.

Die Bedingungen lauteten: Das Fräulein sollte allein in einem möblierten Häuschen wohnen, das ihr nichts kosten würde. Sie dürfte keinen Menschen dort empfangen. Seine Exzellenz würde ihr monatlich fünfzig Guineen geben und würde ihr das Abendessen bezahlen, so oft er Lust hätte, die Nacht mit ihr zu verbringen. Er beauftragte mich, ein Haus für sie ausfindig zu machen, wenn seine Bedingungen angenommen würden. Die Mutter sollte den Vertrag mit unterschreiben.

Da der Botschafter es eilig hatte, brachte ich die Angelegenheit in drei Tagen in Ordnung; ich verlangte jedoch von der Mutter ein Schriftstück, wodurch sie sich verpflichtete, mir ihre Tochter für eine Nacht zu überlassen, sobald der Botschafter wieder abgereist wäre; man wußte, daß er in London nur ein Jahr bleiben würde.«

Goudar zog dieses Schriftstück aus der Tasche und zeigte es mir; ich las es mehrere Male mit ebensogroßer Überraschung wie Freude; hierauf fuhr er in seiner Erzählung fort:

»Durch die Abreise des Botschafters wurde die Charpillon frei; sie hatte nun nacheinander Lord Baltimore, Lord Grosvenor, den portugiesischen Gesandten, Herrn de Saa und mehrere andere, jedoch keinen offiziellen Liebhaber. Ich habe von der Mutter verlangt, sie solle mir, laut ihrer Verpflichtung, meine Nacht verschaffen; aber sie führt mich an der Nase herum, und die Tochter, die mich nicht leiden kann, lacht mir ins Gesicht, wenn ich ein Wort davon sage. Ich kann sie nicht verhaften lassen, denn sie ist noch minderjährig; aber eines schönen Tages werde ich die Mutter ins Gefängnis bringen, und dann sollen Sie sehen, wie ganz London lachen wird. Jetzt wissen Sie, warum ich diese Frauenzimmer besuche; Sie haben unrecht, wenn Sie glauben, ich hätte irgend etwas mit ihren Anschlägen zu tun. Indessen kann ich Ihnen versichern, daß man auf Mittel und Wege sinnt, Sie zu prellen, und das wird ihnen gelingen, wenn Sie nicht sehr auf Ihrer Hut sind.«

»Sagen Sie der Mutter, ich stelle ihr noch hundert Guineen zur Verfügung, wenn sie mir eine einzige Nacht mit ihrer Tochter verschaffen kann.«

»Ist das Ihr Ernst?«

»Ganz gewiß; aber ich will erst nach der Operation bezahlen.«

»Das ist das wahre Mittel, um nicht angeführt zu werden. Ich übernehme den Auftrag mit Vergnügen.«

Ich behielt den Burschen zum Mittagessen bei mir; denn bei dem Lebenswandel, den ich in London führte, konnte er mir nur nützlich sein. Er wußte alles und erzählte mir eine Menge galanter Geschichten, die ich mit Vergnügen hörte. Obwohl ein richtiger Taugenichts, war Goudar übrigens doch nicht ohne einige gute Eigenschaften. Er war Verfasser mehrerer Werke, die zwar schlecht waren, aber doch einen gewissen Geist bekundeten. Er schrieb damals seinen »Chinesischen Spion« und verfaßte täglich fünf oder sechs Briefe in den verschiedenen Kaffeehäusern, in die der Zufall ihn führte. Ich schrieb auch einige für ihn, die ihm viel Vergnügen machten. Der Leser wird sehen, unter welchen Umständen ich ihn einige Jahre darauf in Neapel wiederfand.

Schon am nächsten Tage, in einem Augenblick, wo ich durchaus nicht daran dachte, sah ich die Charpillon bei mir eintreten. Mit einer ernsten Miene, die man bei einem anreren Mädchen für Bescheidenheit hätte halten können, sagte sie zu mir: »Ich bitte Sie nicht um ein Frühstück, sondern nur um eine Erklärung und möchte Ihnen Miß Lorenzi vorstellen.«

Ich machte ihr und ihrer Begleiterin eine Verbeugung und sagte:

»Was für eine Erklärung wünschen Sie, mein Fräulein?«

Bei diesen Worten glaubte Miß Lorenzi, die ich zum ersten Male sah, und die gewissermaßen die Stelle des obligaten Satyrs auf den Bildern der Venus vertrat, uns allein lassen zu müssen, und ich sagte Jarbe, ich sei für niemanden zu Hause. Damit die Begleiterin meiner Nymphe sich nicht langweilte, befahl ich, ihr ein Frühstück vorzusetzen.

»Mein Herr,« begann die Charpillon, »ist es wahr, daß Sie den Chevalier Goudar beauftragt haben, meiner Mitter zu sagen, Sie würden ihr hundert Guineen dafür geben, daß ich eine Nacht mit Ihnen verbringe?«

»Nicht dafür, daß Sie sie mit mir verbringen, sondern erst, wenn Sie sie mit mir verbracht haben werden. Ist es nicht genug?«

»Keine Scherze, bitte! Es handelt sich hier nicht um ein Feilschen um den Preis. Ich bin nicht gekommen, um um den Preis zu feilschen; ich will nur wissen, ob Sie das Recht zu haben glauben, mich zu beleidigen, und ob Sie sich einbilden, ich sei gegen eine solche Beschimpfung unempfindlich.«

»Wenn Sie sich beschimpft fühlen, so kann ich Ihnen den Gefallen tun, zu glauben, daß ich unrecht habe; aber ich gestehe, ich erwartete nicht, daß Sie sich für berechtigt hielten, mir einen solchen Vorwurf zu machen. Goudar ist ein intimer Bekannter von Ihnen, und der Vorschlag ist nicht der erste dieser Art, den der Chevalier Ihnen gemacht hat. Ich konnte mich nicht unmittelbar an Sie wenden, denn ich weiß jetzt, woran ich mit Ihnen bin, da Sie sich ja nur eine Ehre daraus machen, Ihr Wort zu brechen.«

»Ich kümmere mich nicht um die wenig schmeichelhaften Bemerkungen, die Sie sich gegen mich erlauben, aber ich will Sie daran erinnern, daß ich Ihnen gesagt habe, Sie werden mich niemals, weder durch Gewalt noch für Geld, bekommen, sondern nur, wenn Sie mich durch Ihr Benehmen in Sie verliebt machen. Beweisen Sie mir, daß ich Ihnen nicht Wort gehalten habe. Im Gegenteil, haben Sie Ihr Wort gebrochen: erstens, indem Sie mich im Bade überraschten, dann wieder gestern, indem Sie von meiner Mutter verlangten, mich Ihnen zur Befriedigung Ihrer tierischen Lust auszuliefern. Nur ein Halunke wie Goudar konnte solchen Auftrag von Ihnen übernehmen.«

»Goudar ein Halunke! Der ist ja Ihr allerbester Freund! Sie wissen doch, daß er Sie liebt, und daß er nur in der Hoffnung, Sie zu besitzen, Ihnen den Botschafter verschafft hat. Das Schriftstück, das er bei sich hat, beweist Ihr Unrecht. Sie sind seine Schuldnerin; kommen Sie daher dieser Verpflichtung nach, und dann nennen Sie ihn einen Halunken, wenn Sie sich selber unschuldig finden können. Weinen Sie nicht! Ich kenne die Quelle Ihrer Tränen; sie ist nicht von der Art, die man mit Stolz nennen kann. Sie ist unrein.«

»Sie kennen sie nicht. Ich liebe Sie, und es ist sehr hart für mich, daß ich mich so von Ihnen behandelt sehen muß.«

»Wenn Sie mich lieben, so haben Sie es sehr verkehrt angefangen, um mich davon zu überzeugen.«

»Ebenso verkehrt, wie Sie es angefangen haben, um mich von Ihrer Achtung zu überzeugen. Sie haben mich vom Anfang an wie eine ganz gemeine Prostituierte behandelt; gestern haben Sie mich behandelt wie ein willenloses Tier, wie eine erbärmliche Sklavin meiner Mutter. Mir scheint, wenn Sie nur ein wenig Gefühl für die einfachste Schicklichkeit gehabt hätten, so hätten Sie sich an mich selber wenden müssen; aber nicht so, wie Sie es getan haben, sondern schriftlich. Dazu hätten Sie nicht dieses elenden Boten bedurft; ich hätte Ihnen auf alle Fälle geantwortet, und Sie hätten nicht zu befürchten brauchen, von mir betrogen zu werden.«

»Nehmen Sie an, ich hätte an Sie geschrieben – was würden Sie mir geantwortet haben?«

»Ich will ganz offen sein: ich würde Ihnen, ohne etwas von den hundert Guineen zu sagen, versprochen haben. Sie zu befriedigen, unter der Bedingung, daß Sie mir vierzehn Tage lang den Hof machten, indem Sie mich in meiner Wohnung besuchten, ohne jemals auch nur die geringste Gefälligkeit zu verlangen. Wir hätten im Familienkreise miteinander gelebt, hätten gelacht und gescherzt; wir wären ins Theater gegangen, hätten Spaziergänge gemacht, und ich würde mich rasend in Sie verliebt haben. Dann hätten Sie mich bekommen, wie Sie’s verdient hätten, nicht aus Gefälligkeit, sondern aus Liebe. Ich kann immer noch gar nicht begreifen, daß ein Mann wie Sie sich damit begnügen kann, wenn eine Person, die er liebt, sich ihm nur aus Gefälligkeit oder aus Eigennutz hingibt. Finden Sie das nicht demütigend für beide Teile? Sie können mir’s glauben: ich schäme mich, wenn ich daran denke, daß ich stets nur aus Gefälligkeit geliebt habe. Ich Unglückliche! Ich fühle mich zur Liebe geschaffen und ich habe einen Augenblick geglaubt, Sie seien der Mann, den mein guter Stern nach England geführt habe, um mich durch wahre Liebe glücklich zu machen. Aber Sie haben im Gegenteil mein Unglück nur verschlimmert! Sie sind der erste Mann, der mich hat weinen sehen. Sie haben mir sogar mein Familienleben verbittert; denn meine Mutter wird niemals das Geld bekommen, das Sie ihr haben anbieten lassen, und wenn es mir nur einen einzigen Kuß kosten sollte.«

»Es tut mir leid, Ihnen wehgetan zu haben; denn das konnte niemals meine Absicht sein. Aber ich sehe kein Mittel dagegen.«

»Kommen Sie zu uns – das wird das rechte Mittel sein. Behalten Sie Ihr Geld, das ich verachte. Wenn Sie mich lieben, so erobern Sie mich wie ein rechter Liebhaber, aber nicht mit brutalen Mitteln. Ich werde Ihnen entgegenkommen; denn Sie können jetzt an meiner Liebe nicht mehr zweifeln.«

Diese Rede schien mir zu natürlich zu sein, um eine Falle enthalten zu können. So ließ ich mich denn fangen: ich versprach ihr, alles zu tun, was sie wünschte, aber nur während der von ihr festgesetzten zwei Wochen. Sie bestätigte ihr Versprechen, indem sie es noch einmal wiederholte, und ihre Stirn erheiterte sich wieder. Die Charpillon war zu einer ausgezeichneten Komödiantin geboren.

Sie stand auf, um zu gehen. Als ich sie um einen Kuß als Pfand unserer Versöhnung bat, sagte sie mir mit einem Lächeln, dem sie den größten Reiz zu verleihen wußte, wir dürften nicht damit anfangen, unsere Bedingungen zu verletzen. Sie ging. Ich war verliebt und folglich voll Reue über mein früheres Benehmen gegen sie.

Hätte die Sirene, anstatt mir mündlich ihre Predigt zu halten, mir ihre Auseinandersetzungen schriftlich geschickt, so würde das ganze Märchen mich wahrscheinlich kalt gelassen haben, und ich hätte darüber gelacht; denn in einem Brief hätte ich nicht ihre Tränen gesehen, nicht ihre entzückenden Gesichtszüge, nicht ihre Blicke, die so feurig zu einem Richter sprachen, der schon im voraus durch die Leidenschaft bestochen war. Ohne Zweifel hatte sie dies vorausgesehen, denn der Instinkt der Frau ist so fein, daß in Herzensangelegenheiten das bloße Gefühl sie in einer Minute mehr lehrt, als wir Männer unser ganzes Leben lang lernen.

Gleich an demselben Abend begann ich meine Besuche, und an dem Empfang, der mir zuteil wurde, glaubte ich den Triumph meiner heldenmütigen Entsagung zu erkennen:

Quel che l’uom vede, Amor gli fà invisibile,
E l’invisibil fà veder Amor.

Was einer sieht, die Liebe macht’s unsichtbar;
Und was unsichtbar ist, sie macht es sehn.

Ich verbrachte die vierzehn Tage, ohne ihr auch nur die Hand zu küssen, und ich betrat nicht ein einziges Mal ihr Haus, ohne ihr ein wertvolles Geschenk mitzubringen, das sie mit bezaubernder Anmut und mit anscheinend grenzenloser Dankbarkeit entgegennahm. Außerdem unternahmen wir, um die Zeit zu verkürzen, jeden Tag irgendeinen Ausflug in die Umgegend von London oder gingen ins Theater. Ich kann rechnen, daß diese vierzehn Tage mit ihren Dummheiten mir mindestens vierhundert Guineen kosteten.

Am letzten Tage der Frist fragte ich sie in Gegenwart ihrer Mutter, ob sie wünschte, daß wir die letzte Nacht in ihrem oder in meinem Hause verbrächten. Die Mutter sagte mir, wir würden darüber nach dem Abendessen entscheiden. Ich wandte nichts dagegen ein, obgleich ich ihr gern gesagt hätte, daß bei mir das Abendessen feiner und leckerer und daher eine bessere Vorbereitung für den bevorstenden Liebeskampf sein würde.

Nach dem Essen nahm die Mutter mich auf die Seite und sagte mir, ich möchte mich mit der übrigen Gesellschaft entfernen und später wiederkommen. Obgleich ich bei mir selber über diese überflüssige Geheimtuerei lachte, gehorchte ich. Als ich wieder kam, fand ich im Wohnzimmer Mutter und Tochter, und auf dem Fußboden war ein Bett zurecht gemacht.

Obgleich diese Zurichtung nicht eben nach meinem Geschmack war, war ich doch so verliebt, daß ich mich damit begnügte. Ich glaubte nun endlich, daß jede Gefahr einer Täuschung beseitigt wäre, war jedoch sehr erstaunt, als die Mutter mir gute Nacht wünschte und mich fragte, ob ich die hundert Guineen vorausbezahlen wollte.

»Pfui!« rief die Tochter, und die Mutter ging hinaus.

Wir schlossen uns ein.

Der Augenblick war da, wo meine Liebe, die ganz gegen meine sonstigen Gewohnheiten so lange im Zaum gehalten worden war, endlich der Knechtschaft entrinnen sollte. Ich ging also mit offenen Armen auf sie zu. Sie entzog sich jedoch meinen Liebkosungen, wenngleich mit sanftem Wesen, und bat mich, ich möchte mich zuerst hinlegen; sie würde sich zurecht machen und mir sogleich folgen.

Ich fügte mich ihrem Willen, kleidete mich aus und legte mich liebeglühend zu Bett. Voller Wonne sah ich sie sich ausziehen; aber als sie fertig war, löschte sie die Kerzen aus. Als ich mich hierüber beklagte, sagte sie mir, sie könne bei Licht nicht schlafen. Da ich wußte, daß dies von der Schönen eine reine Laune sein mußte, begann ich den Verdacht zu hegen, daß sie mir Schwierigkeiten machen wollte, um mich dadurch noch mehr anzustacheln; ich hoffte jedoch, auch diese zu besiegen, und faßte mich abermals in Geduld.

Sobald ich sie neben mir liegen fühlte, näherte ich mich ihr, um sie in meine Arme zu schließen; aber ich fand sie zusammengekauert und mit gekreuzten Armen und den Kopf auf die Brust gelegt in ihr langes Hemd eingewickelt. Soviel ich bat, schalt, fluchte – sie blieb in ihrer Lage, ohne ein Wort zu sagen.

Anfangs hielt ich es für einen Scherz; bald aber überzeugte ich mich, daß es keiner war, und merkte, daß ich wiederum angeführt war. So war ich denn in meinen eigenen Augen ein elender Dummkopf, um so mehr, da ich mich um einer abscheulichen Prostituierten willen erniedrigt hatte.

In einer solchen Lage schlägt die Liebe leicht in Wut um. Ich packte sie wie einen Sack, rollte sie hin und her, stieß sie; aber vergebens – sie leistete keinen Widerstand, sagte aber auch kein Wort. Ich sah, daß das Hemd ihr Hauptschutzmittel war, und es gelang mir, es auf dem Rücken zu zerreißen, aber es war mir nicht möglich, es vollständig von ihr abzustreifen. Mit den Schwierigkeiten wuchs meine Wut: Meine Hände wurden zu Klauen, und ich ersparte ihr nicht die grausamsten Mißhandlungen. Aber das alles nützte mir nichts. Ich entschloß mich endlich, von ihr abzulassen, als ich meine Hand an ihrer Kehle hatte und die Versuchung fühlte, sie zu erwürgen.

Grausame Nacht, entsetzliche Nacht! In allen Tonarten sprach ich zu dem Scheusal: mit Sanftmut, Zorn, Vernunftgründen, Vorstellungen, Drohungen, Wut, Verzweiflung, Tränen, Schimpfworten und den schrecklichsten Beleidigungen drang ich auf sie ein; sie widerstand mir drei volle Stunden, ohne eine einzige Antwort zu geben, ohne jemals trotz allen Mißhandlungen ihre unbequeme Lage aufzugeben.

Um drei Uhr morgens stand mein Kopf in Flammen; mein Körper war besudelt, ermattet, mein Geist wie betäubt. Ich faßte endlich den Entschluß, mich im Dunkeln anzuziehen. Ich öffnete die Zimmertür, fand aber die Haustür verschlossen; ich machte Lärm, und eine Magd öffnete mir. Ich ging nach Hause und legte mich zu Bett; aber die beleidigte Natur verweigerte mir die Ruhe, deren ich bedurfte. Ich trank eine Tasse Schokolade, aber ich konnte sie nicht verdauen. Bald darauf ergriff mich ein Fieberschauer, der erst am nächsten Tage aufhörte; dann aber war ich an allen Gliedern wie gelähmt.

Ich mußte einige Tage im Bett liegen bleiben, aber ich wußte, daß ich bald wieder meine volle Gesundheit erlangt haben würde. Wie Balsam ergoß es sich durch alle meine Adern, als ich die Gewißheit erlangte, endlich von meinem Wahnsinn geheilt zu sein. Dies erkannte ich daran, daß ich an keinen Racheplan dachte. Ich schämte mich so, daß ich mich selber verabscheute.

Als mich das Fieber befiel, hatte ich meinem Bedienten befohlen, alle Besucher abzuweisen, niemanden bei mir zu melden und alle ankommenden Briefe in meinen Schreibtisch zu legen. Ich wollte nichts hören und sehen, bevor ich gänzlich wiederhergestellt war.

Am nächsten Tage fühlte ich mich wieder wohl und befahl Jarbe, mir meine Briefe zu geben. Ich fand einen von Pauline, die mir von Madrid aus schrieb, Clairmont habe ihr beim Übergang über einen Fluß das Leben gerettet; da sie einen Diener wie ihn nicht finden zu können glaube, so habe sie beschlossen, ihn bis Lissabon zu behalten; sie werde ihn von dort aus zu Schiff nach England schicken. Damals freute ich mich über diesen Beschluß; aber er wurde meinem treuen Clairmont und infolgedessen auch mir verhängnisvoll. Vier Monate darauf erfuhr ich, daß das Schiff, mit welchem er gesegelt war, untergegangen war, und da ich ihn nicht wiedergesehen habe, so habe ich nicht daran zweifeln können, daß dieser ausgezeichnete Diener in den Wellen umgekommen ist.

Unter den Londoner Briefen fand ich zwei von der niederträchtigen Mutter der niederträchtigen Charpillon und einen von dieser selbst. Der erste war sofort am Morgen nach der schrecklichen Nacht geschrieben. Die Mutter, die nicht wußte, daß ich krank war, teilte mir mit, ihre Tochter liege mit einem starken Fieber zu Bett; sie sei infolge der von mir erhaltenen Schläge mit Wunden bedeckt; daher sei sie, die Mutter, genötigt, mich vor Gericht zu belangen. In dem zweiten, der vom nächsten Tage war, schrieb sie mir, sie habe gehört, daß auch ich krank sei wie ihre Tochter; sie bedauere dies, denn ihre Tochter habe ihr gestanden, ich könne vielleicht Gründe haben, mich über sie zu beklagen; aber sie werde sich bei unserer ersten Zusammenkunft rechtfertigen. Der Brief der Charpillon war ebenfalls am zweiten Tage geschrieben. Sie sagte mir, sie sehe ihr Unrecht vollkommen ein und sei nur erstaunt, daß ich sie nicht getötet hätte, als ich sie an der Gurgel packte; sie schwor mir, sie würde sich nicht gewehrt haben, denn in der entsetzlichen Zwangslage, in der sie sich befunden habe, sei es ihre Pflicht gewesen, alles hinzunehmen. Sie sei überzeugt, daß ich entschlossen sei, nicht wieder zu ihr zu gehen; darum bitte sie mich, sie nur ein einziges Mal in meinem Hause zu empfangen, denn sie müsse mir sofort etwas mitteilen, was für mich von Wichtigkeit sei; sie könne es mir aber nur mündlich sagen. Goudar hatte mir am Morgen geschrieben, er habe mir etwas zu sagen und werde um die Mittagsstunde kommen. Ich gab Befehl, ihn eintreten zu lassen.

Zu meinem Erstaunen erzählte der eigentümliche Mensch mir mit allen Einzelheiten den Auftritt, den ich mit der Charpillon gehabt hatte. »Ich habe die ganze Schilderung von der Mutter, der die Tochter alles erzählt hat. Die Charpillon hat kein Fieber gehabt, aber ihr ganzer Leib war mit schwarzen Flecken bedeckt, deutlichen Beweisstücken der empfangenen Schläge. Den größten Kummer aber machte der alten Kupplerin, daß sie die hundert Goldstücke nicht bekommen hat, die Sie ihr gewiß vorausbezahlt haben würden, wenn die Tochter es gewollt hätte.«

»Sie hätte sie am Morgen bekommen, wenn sie gefügig gewesen wäre.«

»Sie hatte ihrer Mutter unter Eid versprochen, es nicht zu sein. Geben Sie nur alle Hoffnung auf, sie zu besitzen, wenn die Mutter nicht ihre Einwilligung gibt.«

»Und warum gibt sie diese nicht?«

»Sie behauptet, Sie werden sie verlassen, sobald Sie sie genossen haben.«

»Das könnte wohl sein; aber bevor ich sie verlassen hätte, würde ich sie mit Geschenken überhäuft haben. Jetzt ist sie ebenfalls verlassen und hat keine Hoffnung, irgend etwas zu bekommen.«

»Sind Sie fest entschlossen, bei Ihrem Vorsatz zu bleiben?«

«Ganz fest.«

»Das ist der vernünftigste Entschluß, den Sie fassen können; ich rate Ihnen sehr, bleiben Sie dabei. Indessen möchte ich Ihnen etwas zeigen, was Sie überraschen wird. Ich komme in wenigen Augenblicken wieder.«

Als er wiederkam, hatte er einen Packträger bei sich, der einen mit einer Schürze überzogenen Lehnstuhl in mein Zimmer brachte. Sobald wir allein waren, nahm Goudar den Überzug ab und fragte mich, ob ich den Stuhl kaufen wolle.

»Was soll ich denn damit? Das Möbel sieht überdies nicht verlockend aus.«

»Trotzdem verlangt man hundert Guineen dafür.«

»Ich würde keine drei dafür geben.«

»Der Lehnstuhl hat fünf Federn, die sich gleichzeitig lösen, sobald ein Mensch sich hineinsetzt. Der Vorgang vollzieht sich sehr schnell: zwei Federn umgreifen die Arme und halten sie fest umklammert; zwei andere bemächtigen sich der Knie und spreizen die Schenkel soweit wie möglich; die fünfte Feder hebt den Sitz in die Höhe, so daß die gefangen gehaltene Person eine gekrümmte Stellung einnehmen muß.«

Nachdem er diese Beschreibung gegeben hatte, setzte Goudar sich auf die gewöhnliche Art in den Stuhl; sofort spielten die Federn, und ich sah ihn in der Stellung einer Frau, die ein Kind gebärt.

»Lassen Sie die schöne Charpillon sich auf diesen Stuhl setzen, und die Sache ist erledigt.«

Ich mußte unwillkürlich über die Erfindung lachen, die ich ebenso sinnreich wie teuflisch fand; es widerstrebte mir jedoch, mich eines solchen Mittels zu bedienen.

»Ich werde den Stuhl nicht kaufen,« sagte ich zu ihm; »aber Sie tun mir einen Gefallen, wenn Sie ihn mir bis morgen hier lassen.«

»Nicht einmal eine Stunde, wenn Sie ihn nicht etwa kaufen; denn der Besitzer wartet hier ganz in der Nähe auf mich.«

»Dann lassen Sie ihm also den Stuhl zurückbringen und kommen Sie zum Essen wieder.«

Er zeigte mir, was ich zu tun hatte, um ihm seine Freiheit wiederzugeben. Hierauf zog er die Schutzdecke über den Stuhl, ließ den Packträger hereinkommen und ging.

Die Wirkung des Mechanismus war unfehlbar, und es war durchaus nicht Geiz, was mich davon abhielt, den Stuhl zu kaufen. Wie ich bereits sagte, fand ich die Erfindung teuflisch und auf den ersten Blick abstoßend; außerdem aber bedurfte es nur geringer Überlegung, um mir zu sagen, daß die Anwendung mich an den Galgen bringen könnte, da ich mich in einem Lande befand, dessen Richter mehr über die bei einem Verbrechen bekundete moralische Gesinnung, als über das Verbrechen selbst urteilen, überhaupt hätte ich mich bei kaltem Blut niemals entschließen können, mich der Charpillon gewaltsam zu bemächtigen, noch weniger mit Hilfe dieser schrecklichen Maschine, bei deren Anwendung sie vor Furcht hätte sterben können.

Beim Essen sagte ich Goudar, die Charpillon habe an mich geschrieben und mich um eine Unterredung in meinem Hause gebeten. Ich hätte daher den Lehnstuhl gern behalten, um ihr zu zeigen, daß ich mich ihrer hätte bemächtigen können, wenn ich gewollt hätte. Ich zeigte ihm den Brief, und er riet mir, auf ihren Vorschlag einzugehen, wäre es auch nur aus Neugier.

Ich hatte es nicht eilig, dies Geschöpf mit blauen Flecken an Gesicht und Brust wiederzusehen; denn diese Flecken hätte sie mir gewiß gezeigt, um mich zu rühren und wegen meiner Roheit zu beschämen. Ich ließ daher acht oder zehn Tage vergehen, ohne sie zu empfangen. Goudar kam jeden Tag und unterrichtete mich über die Beratungen dieser Weiberbande, die darauf ausging, nur von Gaunereien zu leben.

Ich erfuhr von ihm, daß die Großmutter eine Bernerin war, die sich ohne jedes Recht den Namen Ansperger angemaßt hatte; denn sie war nur die Geliebte eines ehrenwerten Bürgers dieses Namens gewesen, dem sie vier Mädchen geboren hatte; die Mutter der Charpillon war die jüngste von diesen, und da sie ziemlich hübsch war und einen ausschweifenden Lebenswandel führte, hatte die Regierung sie samt ihrer Mutter und ihren Schwestern ausgewiesen. Sie hatte sich hierauf in der Freigrafschaft niedergelassen, wo sie eine Zeitlang vom Verkauf des Lebensbalsams lebten. Dort kam die Charpillon zur Welt; nach der Behauptung der Mutter soll ein Graf de Coutainvilliers der Vater sein. Da das Mädchen hübsch wurde, glaubte die Mutter, sie müsse in Paris ihr Glück machen. Sie ließ sich dort nieder; da aber ihr Lebensbalsam trotz aller Güte nicht für ihren Unterhalt ausreichte, und da die Charpillon, weil sie noch zu jung war, niemanden fand, der sie unterhalten wollte, da ihr endlich wegen ihrer Schulden das Gefängnis drohte, so faßte sie auf den Rat ihres damaligen Liebhabers Rostaing den Beschluß, nach London zu ziehen.

Goudar schilderte mir dann den ganzen Schwindelbetrieb, wovon die Familie lebte; mich interessierte dies damals, aber den Leser könnte es nicht interessieren; er wird mir daher wohl Dank wissen, wenn ich darüber hinweggehe.

Da ich die Sprache des Landes nicht kannte und durchaus nichts zu tun hatte, so schätzte ich mich beinahe glücklich, über Goudar verfügen zu können. Er machte mich mit den berühmtesten Londoner Kurtisanen bekannt, besonders auch mit der vielgefeierten Kitty Fisher, die damals schon anfing, aus der Mode zu kommen. Ferner zeigte er mir in einem Bierausschank, wo wir eine Flasche »Strongbeer« – das besser ist als Wein – tranken, eine Aufwärterin, die sechzehn Jahre alt und ein wahres Wunder von Schönheit war. Sie war eine katholische Irländerin und hieß Sarah. Ich wollte sie erobern oder kaufen, aber Goudar hatte seine bestimmten Absichten mit ihr und entführte sie auch wirklich das Jahr darauf.

Schließlich heiratete er sie, und sie ist eben jene Sarah Goudar, die in Neapel, Florenz, Venedig und an anderen Orten glänzte und die wir vier oder fünf Jahre später, immer mit ihrem Gemahl, wiederfinden werden. Goudar hatte die Absicht, sie als die Geliebte Ludwigs des Fünfzehnten an die Stelle der Dubarry zu bringen; aber eine lettre de cachet nötigte ihn, anderswo sein Glück zu versuchen. Glückliche Zeiten der lettres de cachet, ach, ihr seid nicht mehr!

Der Charpillon wurde es schließlich zu langweilig, auf eine Antwort zu warten; als vierzehn Tage verstrichen waren, ohne daß sie ein Wort von mir gehört hatte, beschloß sie, den Angriff zu erneuern. Ohne Zweifel war dies das Ergebnis einer sehr geheimen Beratung; denn Goudar hatte mir nichts davon gesagt.

Sie kam allein in einer Sänfte zu mir, und dies bestimmte mich, sie zu empfangen. Ich trank gerade meine Schokolade und empfing sie, ohne aufzustehen und ohne ihr ein Frühstück anzubieten. Sie bat mich in bescheidenem Tone selber darum und setzte sich neben mich, indem sie mir ihr Gesicht zum Kuß hinhielt; dies hatte sie früher niemals getan. Ich wandte den Kopf ab, aber selbst diese unerhörte Zurückweisung brachte sie nicht aus der Fassung, sondern sie sagte: »Ohne Zweifel sind es die noch allzu sichtbaren Spuren Ihrer Schläge, die Ihnen mein Gesicht abschreckend erscheinen lassen.«

»Sie lügen! Ich habe Sie nicht geschlagen.«

»Einerlei; Ihre Tigerklauen haben Male an meinem ganzen Körper hinterlassen. Sehen Sie her! Sie laufen ja keine Gefahr, daß das, was ich Ihnen zeige, Sie verführen könnte. Übrigens ist es Ihnen ja nichts Neues.«

Mit diesen Worten entblößte das schurkische Weib sich und zeigte meinen Blicken die ganze Oberfläche ihres Körpers, worauf wirklich trotz der seither verstrichenen Zeit noch einige fahle Flecke zu sehen waren.

Ich Feigling! Warum habe ich nicht meine Augen abgewandt. Warum? Ich will es dir sagen, Leser: weil sie schön war, weil ich ihre Reize liebte und weil die »Reize« nicht ihren Namen verdienten, wenn sie nicht die Macht hätten, die Vernunft zum Schweigen zu bringen. Ich tat, wie wenn ich nicht hinsähe; aber wie lächerlich mußte ich dabei aussehen! Ich errötete über mich selber. Ein unwissendes kleines Mädchen, das nicht, wie ich, in staubigen alten Büchern studiert hatte, wußte mehr als ich. Ja, sie wußte, daß das Gift durch alle meine Poren drang. Plötzlich, als sie annahm, ich sei vom Gift glühender Begierden genügend durchseucht, brachte sie ihre Kleidung wieder in Ordnung und setzte sich wieder an meine Seite. Offenbar war sie überzeugt, daß es mir lieb gewesen wäre, wenn sie mit diesem berauschenden Schauspiel noch nicht aufgehört hätte.

Ich nahm mich jedoch, so gut ich konnte, zusammen und sagte ihr, es sei ihre eigene Schuld, wenn ich ihr so weh getan habe; denn ich könnte nicht einmal darauf schwören, daß diese Quetschungen von mir herrührten.

»Ich weiß,« antwortete sie, »daß alles meine eigene Schuld gewesen ist; denn wenn ich gefügig gewesen wäre, wie ich es hätte sein sollen, wären Sie nicht grausam, sondern zärtlich gewesen. Aber Reue macht begangenes Unrecht gut, und ich bin hier, um Sie um Verzeihung zu bitten. Kann ich darauf hoffen?«

»Ich kann Ihnen diese Bitte nicht abschlagen. Ich trage Ihnen nichts mehr nach, und es tut mir nur leid, nicht mir selber vergeben zu können. Jetzt aber können Sie gehen, denn Sie brauchen auf mich nicht mehr zu rechnen; ich hoffe, Sie werden in Zukunft nicht mehr versuchen, meine Ruhe zu stören.«

»Es geschehe, wie Sie wünschen. Aber Sie wissen nicht alles, und ich bitte Sie, mich einen Augenblick anzuhören.«

»Da ich nichts zu tun habe, so können Sie bleiben und sprechen; ich werde Ihnen zuhören.«

Vernunft und Ehre zwangen mich, den Stolzen und Kalten zu spielen; in Wirklichkeit aber war ich tief bewegt, und was das Schlimmste war: ich fühlte mich geneigt, zu glauben, daß das Mädchen nur deshalb wieder zu mir gekommen war, weil sie endlich zu verdienen wünschte, daß ich ihr Freund und Liebhaber würde.

Was sie mir zu sagen hatte, hätte in einer Viertelstunde gesagt werden können, aber allerlei Abschweifungen, geschickte Wiederholungen, Tränenergüsse brachten es dahin, daß sie zwei Stunden dazu brauchte, mir zu sagen, ihre Mutter habe sie bei ihrer Seele schwören lassen, die Nacht so mit ihr zu verbringen, wie sie es getan habe. Zum Schluß sagte sie mir, sie wolle endlich keine Sklavin mehr sein, und sei daher bereit, mir unter denselben Bedingungen anzugehören wie dem Herrn von Morosini. Sie wolle bei mir wohnen, weder ihre Mutter noch ihre anderen Verwandten sehen und werde mit mir nur dahin gehen, wohin ich wünsche; aber ich müsse ihr monatlich eine gewisse Summe aussetzen, die sie ihrer Mutter geben werde, damit diese sie nicht durch die Gerichte beunruhige; denn sie sei noch nicht in dem Alter, sich für unabhängig erklären zu dürfen. Sie aß mit mir zu Mittag; diesen Vorschlag machte sie mir jedoch erst am Abend, als ich wieder ruhig geworden und nach ihrer Meinung in der richtigen Stimmung war, mich von neuem betören zu lassen. Ich sagte ihr, wir könnten miteinander leben, wie sie es vorschlüge; ich wollte jedoch den Vertrag mit ihrer Mutter abschließen, und sie würde mich daher schon am nächsten Tage in ihrer Wohnung sehen. Diese Erklärung schien sie zu überraschen.

Wahrscheinlich würde die Charpillon mir an diesem Tage alles bewilligt haben, was ich nur hätte wünschen können, und dann wäre in Zukunft von Widerstand und Täuschung nicht mehr die Rede gewesen. Warum habe ich also nicht alles von ihr verlangt? Weil die Liebe, die geschickt macht, zuweilen auch das Gegenteil bewirkt; weil ich mir einbildete, ich sitze an diesem Tage gewissermaßen über die Verbrecherin zu Gericht und es würde daher eine niedrige Handlung sein, wenn ich mich an ihr rächte, indem ich meine Liebesbegierden befriedigte; und vielleicht auch, lieber Leser, weil ich in diesem Augenblick ein Dummkopf war, wie ich es in meinem Leben manchesmal gewesen bin.

Die Charpillon mußte wütend sein, als sie von mir ging; ohne Zweifel war sie entschlossen, sich dafür zu rächen, daß ich an diesem Tage gewissermaßen ihre Person verachtet hatte.

Goudar war sehr überrascht, als ich ihm am nächsten Tage von dem Besuch erzählte und ihm sagte, wie kläglich ich den Tag verwandt hatte. Ich bat ihn, mir ein möbliertes Häuschen zu besorgen, wie Morosini es gehabt hatte. Am Abend suchte ich das hinterlistige Weib in ihrer Wohnung auf; ich war immer noch auf den ernsten Ton gestimmt, dessen Lächerlichkeit ihr ohne Zweifel nicht entgehen konnte.

Da ich sie mit ihrer Mutter allein fand, setzte ich ihnen sofort meinen Plan auseinander. »Ihre Tochter«, sagte ich zur Mutter, »bekommt in Chelsea ein Haus, worin ich Herr bin; außerdem erhält sie monatlich fünfzig Guineen, womit sie anfangen kann, was sie will.«

»Wieviel Sie ihr monatlich geben, ist mir einerlei; ich will davon nichts wissen. Aber wenn sie von mir fortgeht, um anderswo zu wohnen, soll sie mir die hundert Guineen geben, die sie eigentlich von Ihnen dafür bekommen sollte, daß Sie die Nacht mit ihr zubrachten.«

»Eigentlich ist es ja Ihre Schuld, wenn sie sie nicht bekommen hat. Aber wir wollen die Sache kurz machen: Sie wird Ihnen das Geld geben.«

»Bis Sie das Haus gefunden haben,« sagte die Tochter, »werden Sie mich, hoffe ich, besuchen.«

»Ja.«

Schon am nächsten Tage fuhr Goudar mit mir nach Chelsea und zeigte mir ein hübsches Haus; ich mietete es und zahlte zehn Guineen für einen Monat voraus, nachdem ich meine Bedingungen gemacht und mir eine Quittung hatte geben lassen. Am Nachmittag ging ich zu der Mutter und schloß mit ihr den Handel ab; die Tochter war dabei zugegen und bereit, mir zu folgen. Die Mutter verlangte von mir die hundert Guineen, und ich gab sie ihr. Ich fürchtete nicht mehr, betrogen zu werden, denn die ganze kleine Ausrüstung ihrer Tochter war bereits in meiner Wohnung.

Wir fuhren ab und waren bald in Chelsea. Die Charpillon fand das Haus vollkommen nach ihrem Geschmack; wir machten einen Spaziergang und speisten dann fröhlich zu Abend. Nach dem Essen legten wir uns zu Bett, und sie bewilligte mir Liebkosungen und das Vorspiel; als ich aber zum Hauptangriff schritt, fand ich einen Widerstand, den ich nicht erwartet hatte. Sie schützte gewisse natürliche Gründe vor. Ich war nicht der Mann, mir aus einer solchen Kleinigkeit etwas zu machen; aber alle meine Anstrengungen waren vergeblich: sie widerstand mir, aber sie tat dies so sanft und liebenswürdig, daß ich schließlich von ihr abließ und einschlief.

Da ich vor ihr erwachte, wollte ich mich überzeugen, ob sie die Wahrheit gesagt hatte. Vorsichtig hob ich die Decke auf, schob ihr Hemd zur Seite und sah, daß sie mich wiederum angeführt hatte. Sie wachte auf und wollte sich mir widersetzen; aber es war zu spät. Ich machte ihr wegen der neuen Täuschung nur sanfte Vorwürfe, und bereit, alles zu verzeihen, schickte ich mich an, die verlorene Zeit wieder einzuholen. Sie schlug jedoch einen hohen Ton an und schimpfte, daß ich sie überrascht hätte. Ich suchte ihren Zorn zu besänftigen, indem ich sie bat, sich mir zu ergeben; das unwillige Geschöpf aber machte sich meine Sanftmut zunutze, verdoppelte den Widerstand und wollte mir nichts erlauben. Ich durchschaute ihre Absicht und beschloß, sie in Ruhe zu lassen, machte jedoch meiner Entrüstung in Worten Luft, wie ihr Benehmen sie verdient hatte, Anfangs lächelte die freche Person nur verächtlich; sie richtete sich im Bett auf und begann sich anzukleiden; dann aber erlaubte sie sich die unverschämtesten Antworten. Außer mir über den gemeinen Ton, den sie anschlug, gab ich ihr eine kräftige Ohrfeige und versetzte ihr einen Fußtritt, daß sie der Länge nach auf die Diele fiel. Sie fing an zu schreien, stampfte mit den Füßen und machte einen fürchterlichen Lärm. Der Wirt kam herauf, und sie sprach mit ihm englisch, während ihr das Blut aus der Nase strömte.

Zu meinem Glück sprach der Wirt italienisch. Er sagte mir, sie wolle gehen, und riet mir, mich dem nicht zu widersetzen, denn sonst könnte sie mir eine sehr unangenehme Geschichte an den Hals hängen und er würde genötigt sein, gegen mich auszusagen. Ich antwortete ihm: »Lassen Sie sie so schnell wie möglich verschwinden; hoffentlich sehe ich sie niemals wieder.«

Sie stillte die Blutung, zog sich fertig an und entfernte sich in einem Tragstuhl. Ich blieb stumm und gleichsam versteinert zurück; ich fühlte mich unwürdig, noch weiter zu leben, und fand das Benehmen des unglücklichen Mädchens unbegreiflich und unglaublich.

Als nach etwa einer Stunde die dumpfe Betäubung von mir gewichen war, entschloß ich mich, ihr ihren Koffer durch einen Fiaker zuzuschicken; hierauf ging ich nach Hause, befahl, keinen Menschen vorzulassen, und legte mich zu Bett.

Ich verbrachte vierundzwanzig Stunden mit bitteren Gedanken. Als schließlich die Vernunft sich geltend machte, sah ich ein, daß ich ihr unrecht getan hatte, und fand mich in meinen eigenen Augen verächtlich. Von dem Gefühl, das mich damals beherrschte, ist nur ein Schritt zum Selbstmord. Glücklicherweise und mit Recht tat ich diesen Schritt nicht.

Am nächsten Tage wollte ich gerade ausgehen, als Goudar kam. Er bat mich, mit ihm wieder hineinzugehen, da er mir etwas Wichtiges mitzuteilen habe. Er sagte mir, die Charpillon sei zu Hause und habe eine so stark geschwollene Wange, daß sie sich nicht sehen lassen könne. Er riet mir, alle meine Ansprüche gegen sie oder ihre Mutter aufzugeben; sonst sei sie entschlossen, mich durch eine Verleumdung, die mir das Leben kosten könne, zugrunde zu richten. Denen, die England und besonders London kennen, brauche ich nicht zu sagen, welcher Art diese Verleumdung sein sollte, die bei den Engländern so leicht glaubhaft zu machen ist und sich auf die Greuel bezieht, die einst Sodoms Untergang veranlaßten. Goudar sagte mir: »Die Mutter hat mich gebeten, die Sache zu vermitteln; sie will Ihnen durchaus nichts zuleide tun, wenn Sie sie in Ruhe lassen.«

Nachdem ich den Tag mit diesem Vermittler verbracht und mich stundenlang in dummen Klagen ergangen hatte, sagte ich ihm, er könne der Mutter mitteilen, daß ich meine Ansprüche aufgeben wolle; ich möchte jedoch gern wissen, ob sie und ihre Tochter den Mut haben würden, diese Zusicherung aus meinem eigenen Munde zu empfangen.

»Ich will es ausrichten,« antwortete er mir; »aber ich bedauere Sie, denn Sie werden wieder in ihre Netze geraten, und sie werden Sie zugrunde richten, ohne Ihre Wünsche zu befriedigen. Sie tun mir leid.«

Ich bildete mir ein, die beiden Geschöpfe würden nicht den Mut haben, mich zu empfangen. Aber wie wenig kannte ich sie! Goudar kam und sagte mir lachend, die Mutter hoffe, ich werde stets ein Freund des Hauses bleiben. Es wäre mir, glaube ich, angenehm gewesen, eine abschlägige Antwort zu erhalten; denn ich wünschte, diese Elende, die mir soviel innerliche Unruhe bereitete, nicht wiederzusehen; aber ich hatte nicht die Kraft, wie ein Mann zu handeln und mir den einzigen Vorteil zunutze zu machen, den ihre Habsucht mir bot. Gegen Abend ging ich zu ihnen und saß eine Stunde lang, ohne eine Silbe zu sprechen, der Charpillon gegenüber, die ihre Blicke auf eine Stickerei gesenkt hielt. Von Zeit zu Zeit tat sie, wie wenn sie eine Träne trocknete, und ab und zu enthüllte sie ihr Gesicht, um mir zu zeigen, wie ich ihre Wange zugerichtet hatte.

Jeden Tag ging ich zu ihr und saß schweigend da, bis endlich die Spur der bösen Ohrfeige gänzlich verschwunden war. Während dieser törichten Besuche durchdrang das Gift heißer Begierde mich so ganz und gar, daß sie mir alles, was ich besaß, für eine einzige Gunstbezeigung hätte abnehmen können, wenn sie meinen Zustand geahnt hätte.

Als sie wieder schön war, starb ich vor Begier, sie wieder in meinen Armen zu sehen, wie ich sie sanft und liebkosend bereits einmal, wenn auch nur unvollkommen, besessen hatte. Ich kaufte einen prachtvollen Stehspiegel und ein herrliches Frühstücksgeschirr von Meißener Porzellan und sandte ihr diese Geschenke mit einem Liebesbrief, der mich in ihren Augen entweder als den größten Verschwender oder als den erbärmlichsten Menschen erscheinen lassen mußte. Sie antwortete mir, sie erwarte mich in ihrem Zimmer zum Abendessen unter vier Augen, um mir, wie ich es verdiene, die zärtlichsten Beweise ihrer Dankbarkeit zu geben.

Dieser Brief raubte mir so völlig die Besinnung, daß ich in einem Wahnsinnsanfalle von Begeisterung den Entschluß faßte, ihr die beiden Wechsel über sechstausend Franken anzuvertrauen, die Bolomé mir ausgestellt hatte, und die mir das Recht gaben, ihre Mutter und ihre Tante ins Gefängnis bringen zu lassen.

Beseligt von dem Glück, das meiner wartete, und von dem Gedanken, daß ich es durch die heroische Handlung verdiente, die ich der Charpillon gegenüber begehen wollte, ging ich zum Abendessen zu ihr. Sie empfing mich mit ihrer Mutter im Wohnzimmer, und ich sah voller Freude den Spiegel über dem Kamin angebracht und das Porzellangeschirr auf einem Tischchen stehen. Nachdem sie mich hundertmal ihrer Zärtlichkeit versichert hatte, lud sie mich ein, auf ihr Zimmer zu gehen, und ihre Mutter wünschte uns eine gute Nacht.

Ich war freudetrunken. Nachdem wir eine leckere kleine Mahlzeit zu uns genommen hatten, zog ich aus meiner Brieftasche die beiden Wechsel, deren Geschichte ich ihr erzählte. Dann übergab ich sie ihr und sagte, ich würde sie an ihre Ordre indossieren, sobald sie mich als bevorzugten Liebhaber behandelt hätte; ich wollte ihr dadurch beweisen, daß ich nicht im geringsten daran dächte, mich an ihrer Mutter und an ihren Tanten rächen zu wollen. Ich ließ mir von ihr versprechen, die Wechsel nicht aus den Händen zu geben. Sie nahm sie dankbar an, pries mein edles Benehmen und schloß endlich die Wechsel sorgfältig in ihre Kassette ein, nachdem sie mir alles versprochen hatte.

Nun glaubte ich ihr Beweise meiner Leidenschaft geben zu können. Ich fand sie sanft; als ich aber die Frucht pflücken wollte, umschlang sie mich fest mit ihren Armen, kreuzte ihre Beine und weinte heiße Tränen.

Ich zwang mich zur Ruhe und fragte sie, ob sie ihr Benehmen ändern würde, wenn wir beieinander im Bett lägen. Sie seufzte, schwieg einen Augenblick und sagte dann: »Nein.«

Diese Antwort versteinerte mich. Länger als eine Viertelstunde saß ich da, ohne mich zu rühren, ohne ein Wort zu sprechen. Dann stand ich mit scheinbarer Ruhe auf und nahm meinen Mantel und meinen Degen.

»Wie?« rief sie, »Sie wollen nicht die Nacht mit mir verbringen?«

»Nein.«

»Werden wir uns morgen sehen?«

»Ich hoffe es. Leben Sie wohl!«

Ich verließ diese Hölle, ging nach Hause und legte mich zu Bett.

Zehntes Kapitel


Die Gesellschaft bei der Cornelis. – Erlebnis in Ranelagh-House. – Ich bin der englischen Kurtisanen überdrüssig. – Die Portugiesin Paulina.

Ich begab mich nach dem Gesellschaftssaal; der Sekretär, der neben der Türe saß, nahm mir meine Eintrittskarte ab und schrieb meinen Namen ein. Sobald die Cornelis mich bemerkte, kam sie auf mich zu und sagte mir, es freue sie sehr, daß ich mit einer Eintrittskarte gekommen sei; sie habe sich aber schon gedacht, daß ich kommen werde.

»Das war nicht schwer zu erraten,« antwortete ich ihr, »denn sobald Sie wußten, daß ich bei Hof empfangen war, mußten Sie auch wissen, daß ein Eintrittsgeld von zwei Guineen mich nicht abhalten würde, hierher zu kommen. Um unserer alten Freundschaft willen tut es mir leid, daß ich diese beiden Guineen nicht Ihnen selber gegeben habe; denn Sie mußten doch wissen, daß ich niemals die allzubescheidene Rolle angenommen haben würde, die Sie mir bestimmt hatten.«

Diese ironischen Worte brachten die Cornelis in Verlegenheit. Lady Harrington, die eine ihrer eifrigsten Beschützerinnen war, kam ihr zu Hilfe. Sie sagte: »Ich habe Ihnen, meine liebe Cornelis, eine Anzahl Guineen zu übergeben, darunter auch zwei von Herrn von Seingalt, von dem ich mir gleich dachte, daß er ein alter Bekannter von Ihnen sei. Ich habe jedoch nicht gewagt, ihm das zu sagen«, fuhr sie fort, indem sie einen boshaften Blick auf mich warf.

»Warum denn nicht, Mylady? Ich habe schon seit langer Zeit die Ehre, Madame Cornelis zu kennen.«

»Das glaube ich«, rief sie lachend, »und ich mache Ihnen beiden mein Kompliment. Ich vermute auch, Chevalier, daß Sie die liebenswürdige Miß Sophie kennen.«

»Mylady, die Sache ist ganz einfach: wer die Mutter kennt, muß auch die Tochter kennen.«

«Ja, ja.«

Mylady umarmte zärtlich Sophie, die neben mir stand, und sagte dann zu mir: »Wenn Sie sich selber lieben, müssen Sie auch sie lieben, denn sie ist Ihr Ebenbild.«

»Das ist eins von den tausend Spielen der Natur.«

»Gewiß; aber diesmal hat sie mit Sachkenntnis gespielt.«

Mit diesen Worten nahm die Lady Sophie bei der Hand und führte uns, indem sie sich auf meinen Arm stützte, in das Gewimmel hinein. Geduldig mußte ich eine Menge Fragen mit anhören, welche von Leuten, die mich noch nicht kannten, an sie gerichtet wurden:

Das ist wohl der Mann von Madame Cornelis?

Ganz gewiß ist Herr Cornelis angekommen!

Ah! Das ist natürlich Herr Cornelis!

Ei sieh! Das ist ganz gewiß der Gemahl von Madame Cornelis!

»Nein, nein, nein!« sagt Lady Harrington den Neugierigen. Die Sache wurde mir langweilig, denn alle diese Fragen wurden nur deswegen fortwährend wiederholt, weil man der Kleinen ihre Abstammung am Gesicht ansah, und weil ein jeder erriet, daß ich ihr Vater war. Ich wünschte, Mylady sollte die Kleine gehen lassen; aber sie fand an der Sache zu viel Spaß, um mir diesen Gefallen zu tun.

»Bleiben Sie bei mir«, sagte sie zu mir, »wenn Sie die ganze Gesellschaft kennen lernen wollen.«

Sie setzte sich, ließ mich einen Platz neben ihr einnehmen und behielt die Kleine an ihrer Seite. Die Mutter kam heran, um der Lady ihre Aufwartung zu machen. Als ein jeder dieselben Fragen auch an sie richtete, die mich schon so lange langweilten, faßte sie ihren Entschluß und sagte ganz tapfer, ich sei ihr bester, ihr ältester Freund, und nicht ohne Grund staunte man über die vollkommene Ähnlichkeit ihrer Tochter mit mir. Jeder lachte und sagte, dabei sei nichts Erstaunliches, sondern es sei im Gegenteil höchst natürlich. Um die Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken, sagte die Cornelis schließlich, die kleine Sophie habe das Menuett gelernt und tanze es ausgezeichnet.

»Das müssen wir sehen!« rief Lady Harrington. »Lassen Sie einen Geiger kommen, damit wir die hübsche Virtuosa bewundern können!«

Wir befanden uns in einem Zimmer neben dem Saal, und der Ball hatte noch nicht begonnen. Ich wünschte, daß die Kleine allgemeinen Beifall ernten sollte; sobald daher der Geiger gekommen war, nahm ich sie bei der Hand, und das Menuett wurde zur großen Zufriedenheit des uns umgebenden, auserlesenen Zuschauerkreises getanzt.

Hierauf begann der Ball. Er dauerte die ganze Nacht ohne Unterbrechung, denn die Gäste aßen abteilungsweise und zu jeder Stunde, die ihnen beliebte: es war eine Verschwendung, die eines fürstlichen Hauses würdig war. Ich machte an diesem Abend die Bekanntschaft des ganzen Adels und der ganzen königlichen Familie; denn alle Prinzen und Prinzessinnen waren erschienen mit Ausnahme Ihrer Majestäten und des Prinzen von Wales. Die Cornelis hatte mehr als zwölfhundert Guineen eingenommen; aber die Ausgaben waren ungeheuer; denn es herrschte keine vernünftige Einteilung, und es war keine einzige von den Vorsichtsmaßregeln getroffen worden, die notwendig gewesen wären, um zu verhindern, daß an allen Ecken und Enden gestohlen wurde. Unermüdlich stellte sie ihren Sohn allen möglichen Leuten vor; aber der arme Junge sah wie ein Opfer aus und wußte nur tiefe Verbeugungen zu machen, was in England einen vollkommen linkischen Eindruck macht. Er tat mir leid.

Den ganzen nächsten Tag verbrachte ich im Bett; am Tage darauf ging ich zum Mittagessen in die Staven-Tavern, wo man die hübschesten, nicht jedermann zugänglichen Mädchen von London finden sollte. Ich hatte diese Nachricht vom Lord Pembroke erhalten, der sehr oft dorthin ging. Ich verlangte ein Zimmer für mich; als der Wirt bemerkte, daß ich nicht englisch sprach, redete er mich französisch an und leistete mir Gesellschaft; er bestellte alles, was ich wollte, und setzte mich durch sein vornehmes, ernstes und anständiges Benehmen dermaßen in Erstaunen, daß ich nicht den Mut fand, ihm zu sagen, daß ich mit einer hübschen Engländerin zu speisen wünschte. Schließlich sagte ich ihm mit einer respektvollen Umschweifung: ich wüßte nicht, ob Lord Pembroke mich getäuscht hätte – aber er hätte mir gesagt, ich könnte bei ihm die hübschesten Mädchen von ganz London finden.

»Er hat Sie durchaus nicht getäuscht, mein Herr, und wenn Sie es wünschen, können Sie eine nach Ihrem Belieben haben.«

»Ich bin in dieser Absicht hierher gekommen.«

Er rief. Ein sehr sauberer Kellner trat ein, und in demselben Ton, wie wenn er etwa gesagt hätte, man solle mir eine Flasche Champagner bringen, befahl der Wirt ihm, ein Mädchen für mich kommen zu lassen. Der junge Mann ging hinaus, und einige Minuten darauf sah ich ein Mädchen von herkulischen Körperformen eintreten.

Mein Herr«, sagte ich zum Wirt, »das Äußere dieses Mädchens gefällt mir nicht.«

»Geben Sie einen Schilling für die Sänftenträger und schicken Sie sie wieder fort; in London macht man keine Umstände, mein Herr.«

Diese Bemerkung versetzte mich in eine behagliche Stimmung; ich befahl, den Leuten einen Schilling zu geben und mir eine andere, hübschere zu bringen. Die zweite kam, sie war noch schlimmer als die erste, und ich schickte sie ebenfalls wieder fort. So ging es noch zehnmal nach der Reihe. Ich freute mich, daß mein wählerischer Geschmack dem Wirt, der mir während der ganzen Zeit Gesellschaft leistete, offenbar Spaß machte. Schließlich sagte ich zu ihm: »Ich will kein Mädchen mehr, sondern wünsche nur noch gut zu Mittag zu essen. Ich bin überzeugt, der Bordellwirt hat sich über mich lustig gemacht, um den Sänftenträgem einen Verdienst zuzuwenden.«

»Das ist sehr leicht möglich, mein Herr; sie machen es oft so, wenn man ihnen nicht Namen und Wohnung des Mädchens angibt, das man haben will.«

Am Abend machte ich einen Spaziergang im St. James-Park; plötzlich fiel mir ein, daß ein Fest in Ranelagh gefeiert wurde. Da ich diesen Ort kennen zu lernen wünschte, nahm ich einen Wagen und fuhr allein, ohne Bedienten, dorthin, um mich bis Mittemacht zu belustigen und mir irgend eine Schönheit nach meinem Geschmack zu suchen.

Die Rotunde von Ranelagh gefiel mir; ich ließ mir Tee geben und tanzte einige Menuetts. Ich sah jedoch keine Bekannten, und obwohl ich mehrere sehr hübsche Mädchen und Frauen bemerkte, wagte ich doch nicht, so aufs Geratewohl eine anzureden. Schließlich wurde es mir langweilig, und ich beschloß, nach Hause zu fahren. Es war fast schon Mitternacht, und ich ging nach dem Eingang, wo ich meinen Wagen zu finden glaubte, den ich noch nicht bezahlt hatte. Der Kutscher war jedoch nicht mehr da, und so befand ich mich in großer Verlegenheit. Eine sehr hübsche Frau, die vor der Tür auf ihren Wagen wartete, bemerkte meine Verlegenheit und sagte mir auf Französisch: wenn ich nicht weit von Whitehall wohne, könne sie mich an meiner Tür absetzen. Ich sagte ihr meine Wohnung und nahm ihr Anerbieten mit Dankbarkeit an. Ihr Wagen fährt vor; ein Lakai öffnet den Schlag; sie nimmt meinen Arm, steigt ein, fordert mich auf, neben ihr Platz zu nehmen, und gibt Befehl, vor meinem Hause zu halten.

Sobald ich im Wagen bin, danke ich ihr in den überschwenglichsten Ausdrücken, sage ihr meinen Namen und spreche mein Bedauern aus, sie nicht auf dem letzten Gesellschaftsabend am Soho-Square gesehen zu haben.

»Ich war nicht in London«, sagte sie; »ich bin erst heute von Bath zurückgekommen.«

Ich preise mein Glück, sie getroffen zu haben, bedecke ihre Hände mit Küssen und wage es, ihr einen Kuß auf die Wange zu geben; da ich keinen Widerstand, sondern nur sanfte, lächelnde Liebe finde, so presse ich meine Lippen auf ihren Mund; da ich meinen Kuß erwidert fühle, werde ich kühn und bald habe ich ihr den deutlichsten Beweis der Glut gegeben, die sie mir eingeflößt hat.

Ich hatte sie so sanft und hingebend gefunden, daß ich mir schmeichelte, ihr nicht mißfallen zu haben. Ich bat sie daher, mir zu sagen, wo ich sie treffen könnte, um ihr während der ganzen Zeit, die ich in London zu verbringen gedächte, meine eifrigen Huldigungen darzubringen; sie antwortete mir jedoch nur: »Wir werden uns noch wiedersehen, seien Sie verschwiegen!«

Ich schwor ihr dies und drang nicht weiter in sie; einen Augenblick später hielt der Wagen. Ich küßte ihr die Hand und ging, sehr befriedigt von diesem hübschen Abenteuer, in mein Haus.

Es vergingen vierzehn Tage, ohne daß ich sie wiedersah. Endlich traf ich sie in einem Hause, das ich auf Wunsch der Lady Harrington aufsuchte, um mich mit einer Empfehlung von ihr der Besitzerin vorzustellen. Es war eine Lady Betty German, eine berühmte alte Dame. Sie war nicht zu Hause; da sie jedoch binnen kurzem zurückkommen sollte, bat man mich zu warten und führte mich in den Salon. Zu meiner angenehmen Überraschung sah ich meine schöne Dame von Ranelagh, die eine Zeitung las. Ich hatte den Einfall, sie zu bitten, mich der übrigen Gesellschaft vorzustellen. Ich ging auf sie zu und fragte sie, ob sie die Güte haben wolle, mich vorzustellen. Sie antwortete mir höflich, sie könne dies nicht, da sie nicht die Ehre habe, mich zu kennen.

»Ich habe Ihnen meinen Namen gesagt, Madame. Erinnern Sie sich meiner nicht?«

»Ich erinnere mich Ihrer sehr gut; aber ein toller Streich gibt keinen Anspruch auf Bekanntschaft.«

Ich war ganz starr ob dieser eigentümlichen Antwort. Sie las ruhig ihre Zeitung weiter und sprach mit mir kein Wort mehr, bis Mylady German kam.

Die schöne Philosophin nahm zwei volle Stunden lang am Gespräch teil, ohne im geringsten zu verraten, daß sie mich kannte; doch antwortete sie mir mit großer Höflichkeit, wenn die Gelegenheit es mir erlaubte, das Wort an sie zu richten. Sie war eine Dame von hohem Range, die in London in bestem Rufe stand.

Eines Tages ging ich zu Martinelli, um ihm meinen ersten Besuch zu machen. Eine schöne junge Dame warf mir von einem gegenüberliegenden Hause Kußhändchen zu. Ich fragte ihn, wer sie sei, und war sehr angenehm überrascht, als ich hörte, es sei eine Tänzerin, Madame Binetti. Sie hatte mir vor etwa vier Jahren in Stuttgart den großen Dienst geleistet, wie meine Leser sich vielleicht noch erinnern. Ich wußte nicht, daß sie in London war. Sofort verabschiedete ich mich von Martinelli, um sie aufzusuchen, und ich tat dies um so lieber, da mein Freund mir sagte, sie lebe nicht mit ihrem Mann zusammen, obgleich dieser mit ihr im Theater am Haymarket tanze.

Sie empfing mich mit offenen Armen und rief: »Ich habe Sie auf den ersten Blick erkannt! Ich bin überrascht, Sie in London zu sehen, mein lieber Doyen.«

Sie nannte mich ihren Doyen, weil ich der älteste von ihren Bekannten war.

»Ich wußte nicht, daß Sie hier waren, meine Liebe. Ich habe Sie nicht tanzen sehen, weil ich erst nach dem Schluß der Oper hier angekommen bin. Wie kommt es, daß Sie nicht mehr mit Ihrem Gatten zusammenleben?«

»Weil er spielt, verliert und mich von allem entblößt. Außerdem kann eine Frau meines Berufes nicht erwarten, daß ein reicher Liebhaber ihr Besuche macht, wenn sie mit ihrem Gatten zusammenlebt; lebt sie dagegen für sich allein, so kann sie alle ihre Freunde empfangen, ohne sich irgendwelchen Zwang aufzuerlegen.«

»Was hätte denn solch ein Herr von Binetti zu befürchten? Er war doch sonst niemals eifersüchtig oder unbequem.«

»Das ist er auch jetzt nicht; aber, mein lieber Doyen, du mußt wissen, daß es in England ein Gesetz gibt, das einen Ehegatten ermächtigt, den Liebhaber seiner Frau verhaften zu lassen, wenn er ihn auf frischer Tat bei ihr ertappt. Er braucht nur zwei Zeugen zu haben. Es genügt sogar, daß er ihn auf ihrem Bett sitzend findet; dazu hat nach hiesigen Anschauungen nur ein Ehemann das Recht. Der Liebhaber wird verurteilt, dem Ehemann, der die Schande seiner Gattin offenbart, die Hälfte seines ganzen Vermögens zu bezahlen. Mehrere reiche Engländer sind auf diesen Leim gegangen, und infolgedessen geht niemand mehr zu einer verheirateten Frau, besonders wenn sie eine Italienerin ist.«

»Dann hast du also über die Gefälligkeit deines Gatten dich nicht zu beklagen, sondern mußt ihm im Gegenteil dankbar dafür sein; denn da du deine volle Freiheit hast, so kannst du jeden empfangen, der dir gefällt, und kannst reich werden.«

»Leider weißt du nicht alles, mein lieber Freund. Sobald er glaubt, ich habe von irgendeinem Besuche ein Geschenk erhalten – und das erfährt er sofort durch seine Spione – kommt er nachts in einer Sänfte und droht mir, mich auf die Straße zu werfen, wenn ich ihm nicht all mein Geld gebe. Du kennst diesen niederträchtigen Halunken nicht!«

Ich gab der armen Frau meine Adresse und lud sie ein, zu mir zum Essen zu kommen, so oft sie Lust hätte, bat sie jedoch zugleich, mir einen Tag vorher Bescheid sagen zu lassen. Ich hatte bei ihr in bezug auf Besuche bei Damen wieder einmal etwas Neues gelernt. England hat sehr gute Gesetze; aber sie sind im allgemeinen so, daß leicht Mißbrauch mit ihnen getrieben werden kann. Da die Geschworenen einen Eid leisten, nach dem Buchstaben des Gesetzes zu erkennen, so werden manche, die nicht klar genug abgefaßt sind, auf eine Weise ausgelegt, die den Absichten der Gesetzgebung vollkommen widerspricht, so daß dadurch die Richter oft in die größte Verlegenheit kommen. Infolgedessen ist man genötigt, unaufhörlich neue Gesetze zu erlassen und die alten durch neue Auslegungen zu erläutern.

Eines Tages sah Lord Pembroke mich am Fenster stehen und kam zu mir herein. Nachdem er mein Haus und meine Küche, wo der Koch am Werke war, besichtigt hatte, machte er mir das Kompliment: kein Lord, wenigstens niemand von denen, die in London regelmäßig einen Teil des Jahres verbrächten, hielte ein so gut eingerichtetes Haus wie das meinige. Er machte einen Überschlag der Kosten und sagte zu mir: »Wenn Sie Freunde empfangen und bewirten wollen, 27Z brauchen Sie monatlich dreihundert Pfund. Aber Sie können hier nicht leben, Seingalt, ohne ein hübsches Mädchen bei sich zu haben. Wenn Sie dies tun, wird ein jeder Sie als vernünftig loben; denn Sie gehen auf diese Weise sicher und sparen viel Geld.«

»Haben Sie ein Mädchen bei sich, Mylord?«

»Nein; mich ekelt leider jedes Weib an, sobald ich es einen einzigen Tag in meinem Besitz gehabt habe.«

»Da brauchen Sie also jeden Tag eine neue?«

»Ja, und infolgedessen gebe ich viermal so viel aus als Sie, obgleich ich nicht annähernd so gut eingerichtet bin. Ich bin eben Junggeselle, lebe in London als Fremder und esse niemals zu Hause. Ich wundere mich, daß Sie allein essen.«

»Ich spreche nicht englisch, ich liebe die Suppe und ich trinke gern guten Wein. Dies sind Gründe genug, um Ihre Wirtshäuser zu meiden.«

»Bei Ihrer Vorliebe für französische Lebensweise begreife ich das.«

»Geben Sie zu, daß diese Vorliebe nicht schlecht ist?«

»Ich kann das nicht bestreiten; denn obgleich ich ein guter Engländer bin, gefällt mir doch das Pariser Leben sehr.«

Er lachte laut auf, als ich ihm sagte, ich hätte in Staven-Tavern zwanzig Mädchen fortgeschickt, ohne mich einer einzigen zu bedienen, und an meiner Enttäuschung wäre er schuld.

»Ich habe Ihnen nicht die Namen der Mädchen genannt, die ich für mich holen lasse, und das war unrecht von mir.«

»Ja, Sie hätten mir dies sagen sollen.«

»Aber da sie Sie nicht kennen, wären sie nicht gekommen; denn sie sind durch Kuppler nicht zu haben. Versprechen Sie mir, dasselbe zu bezahlen wie ich, und ich werde Ihnen Briefe geben; daraufhin werden die Mädchen kommen.«

»Kann ich sie auch hier haben?«

»Ganz nach Ihrem Belieben.«

»Das paßt mir besser. Schreiben Sie mir die Briefchen und suchen Sie vor allem solche Mädchen aus, die französisch sprechen.«

»Das ist gerade der Übelstand: die schönsten sprechen nur englisch.«

»Schreiben Sie nur auch an diese! In bezug auf das, was ich von ihnen will, werden wir uns schon verständigen.«

Er schrieb an mehrere Mädchen zu vier und für sechs Guineen; eine einzige war mit dem Preise von zwölf Guineen bezeichnet.

»Diese ist doppelt so schön?«

»Eigentlich nicht; aber sie macht einen Herzog und Pair von England zum Hahnrei. Er hält sie aus, besucht sie aber jeden Monat nur ein- oder zweimal.«

»Wollen Sie, Mylord, mir zuweilen die Ehre erweisen, die Kunst meines Kochs auf die Probe zu stellen?«

»Gern; aber nur, wenn ich zufällig einmal vorbeikomme.«

»Und wenn Sie mich nicht finden?«

»Das schadet dann nicht; da werde ich eben ins Wirtshaus gehen.«

Da ich an diesem Tage nichts anderes vorhatte, schickte ich Jarbe zu einer von den Schönen, die Pembroke auf vier Guineen taxiert hatte, und ließ sie einladen, mit mir allein zu speisen. Sie kam; aber obgleich ich den besten Willen hatte, sie liebenswürdig zu finden, schien sie mir doch nur wert, nach Tisch einen Augenblick mit ihr zu schäkern. Sie konnte keine vier Guineen von mir erwarten, denn sie hatte einen solchen Lohn nicht verdient; daher war sie denn hocherfreut, als ich ihr zum Schluß trotzdem die vier Goldstücke in die Hand drückte. Die zweite, die ebenfalls vier Guineen kosten sollte, aß am nächsten Tage mit mir zu Abend. Sie war einmal sehr hübsch gewesen und war es noch; ich fand sie jedoch traurig und zu gleichgültig, so daß ich mich nicht entschließen konnte, sie sich ausziehen zu lassen.

Am dritten Tage hatte ich keine Lust, noch ein drittes Briefchen zu versuchen; ich ging daher nach Covent-Garden. Ein junges Mädchen fand ich so anziehend, daß ich sie ansprach und auf französisch fragte, ob sie mit mir zu Abend speisen wolle.

»Was werden Sie mir zum Nachtisch schenken?«

»Drei Guineen.«

»Ich stehe Ihnen zur Verfügung.«

Nach dem Theater ließ ich mir ein gutes Abendessen für zwei auftragen, und sie bot mir die Spitze mit einem guten Appetit, wie ich ihn liebte. Nach dem Essen fragte ich sie nach ihrer Adresse und war sehr überrascht, als ich fand, daß sie eine von denen war, für die Lord Pembroke sechs Guineen bezahlte. Ich sah, daß ich meine Angelegenheiten selber besorgen mußte oder jedenfalls mich keines großen Herrn als Vermittler bedienen durfte. Die anderen Briefchen verschafften mir nur Personen, die höchstens einer flüchtigen Bekanntschaft wüidig waren. Die letzte, die zu zwölf Guineen, die ich mir als besonderen Leckerbissen aufgespart hatte, gefiel mir am allerwenigsten. Ich fand sie nicht einmal eines Opfers würdig und verzichtete darauf, dem edlen Lord, der sie aushielt, Hörner aufzusetzen.

Lord Pembroke war jung, schön, reich und geistvoll. Als ich ihn eines Tages besuchte, war er gerade eben aufgestanden. Wir beschlossen zusammen einen Spaziergang zu machen, und er befahl seinem Kammerdiener, ihn zu rasieren,

»Aber Sie haben ja nicht einmal einen Anflug von Bart im Gesicht!« rief ich.

»Einen solchen werden Sie niemals bei mir sehen, lieber Freund; denn ich lasse mich dreimal täglich rasieren.«

»Dreimal täglich?«

»Ja. Wenn ich das Hemd wechsele, wasche ich mir die Hände; wenn ich mir die Hände wasche, muß ich mir auch das Gesicht waschen, und das Gesicht eines Mannes darf nur mit einem Rasiermesser gewaschen werden.«

»Wann nehmen Sie denn diese drei Reinigungen vor?«

»Wenn ich aufstehe, wenn ich mich ankleide, um zum Mittagessen oder in die Oper zu gehen, und unmittelbar bevor ich mich zu Bett lege; denn das Weib, das die Nacht mit mir verbringt, darf meinen Bart nicht fühlen.«

Wir machten einen kleinen Spaziergang, worauf ich mich von ihm trennte, um zu Hause Briefe zu schreiben. Beim Abschied fragte er mich, ob ich zu Hause essen würde. Ich sagte ja, und da ich voraussah, daß er mir Gesellschaft leisten würde, machte ich es wie Lukullus und befahl meinem Koch, uns gut zu bedienen, dabei aber jeden Anschein zu vermeiden, als ob ich einen vornehmen Gast erwartete. Die Eitelkeit hat mehr als eine Sehne an ihrem Bogen.

Kaum war ich zu Hause, so ließ die Binetti sich melden; sie sagte mir, wenn sie mir nicht ungelegen komme, wolle sie sich zum Essen einladen. Ich nahm sie freundschaftlich auf, und sie versicherte mir, ich mache sie glücklich, denn sie sei überzeugt, ihr Mann werde sich den Kopf zerbrechen, um herauszubringen, wo sie gespeist habe.

Sie gefiel mir immer noch; denn obgleich sie damals schon fünfunddreißig Jahre zählte, hätte kein Mensch sie für älter als fünfundzwanzig gehalten. Sie war in jeder Beziehung anmutig. Ihr Mund war etwas zu groß, aber er war mit zwei Reihen Perlen von schönstem Schmelz geschmückt, und ihre Lippen waren frisch wie Rosenblätter. Eine zarte glatte Haut, Augen von unbeschreiblichem Glanz und eine Stirn, auf der die Unschuld selber hätte thronen können – mit einem Wort, ihr Kopf war wirklich zum Entzücken. Dazu hatte sie einen vollendet schönen Busen und eine unverwüstliche, fröhliche Laune; so wird der Leser leicht begreifen, daß selbst ein wählerischerer Geschmack als der meinige sie wohl reizend finden konnte.

Sie war kaum eine halbe Stunde bei mir, als Lord Pembroke eintrat. Beide schrieen vor Überraschung laut auf, und der Lord sagte mir, er sei schon seit sechs Monaten in sie verliebt und habe ihr feurige Briefe geschrieben. Sie sei jedoch nicht darauf eingegangen.

»Ich habe ihn nicht erhören wollen,« rief sie, »weil er der größte Wüstling in ganz England ist; und das ist recht schade, denn er ist der liebenswürdigste Kavalier.«

Dieser Auseinandersetzung folgte ein Dutzend Küsse, und ich sah, daß sie einig waren.

Wir hielten eine ausgezeichnete Mahlzeit nach französischer Art, und Lord Pembroke versicherte mir: »Ich habe seit Jahr und Tag nicht so gut gegessen. Es tut mir nur leid, daß Sie nicht jeden Tag Gesellschaft bei sich haben.«

Die Binetti war ebenfalls Feinschmeckerin; wir standen daher in sehr fröhlicher Stimmung von Tisch auf und hatten große Lust, vom Kultus des Comus zu dem der Cypris überzugehen; aber unsere Schöne war zu gewitzigt, um dem Engländer etwas anderes zu bewilligen als Küsse ohne Bedeutung.

Ich blätterte in meinen Büchern, die ich am Tage vorher gekauft hatte, und ließ sie sich unter vier Augen unterhalten, so viel sie wollten; damit sie sich jedoch nicht für einen anderen Tag zusammen zum Essen einlüden, beeilte ich mich ihnen zu sagen, ich hoffe, der Zufall werde mir die Gunst eines so schönen Festes gelegentlich wieder einmal verschaffen.

Um sechs Uhr gingen meine beiden Gäste fort, und ich kleidete mich an, um nach Vauxhall zu gehen. Ich traf dort den französischen Offizier Mallingan, dem ich in Aachen meine Börse geöffnet hatte. Da er mir sagte, er müsse mit mir sprechen, so gab ich ihm meine Adresse. Ich fand dort auch den nur zu gut bekannten Chevalier Goudar, der mir von Spiel und Mädchen erzählte. Mallingacm stellte mir als etwas ganz Besonderes einen Herrn vor, der mir nach seiner Behauptung in London sehr nützlich werden konnte. Es war ein Mann von vierzig Jahren, mit kritischen Gesichtszügen; er nannte sich Friedrich und war der Sohn des verstorbenen sogenannten Königs Theodor von Korsika, der vierzig Jahre vor dieser Zeit zu London im größten Elend gestorben war, einen Monat nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis, worin unbarmherzige Gläubiger ihn sechs oder sieben Jahre lang eingesperrt gehalten hatten. Ich hätte besser getan, an diesem Tage nicht nach Vauxhall zu gehen.

Das Eintrittsgeld kostet für Vauxhall nur die Hälfte von dem, was man in Ranelagh bezahlen mußte. Trotzdem konnte man sich die größte Abwechslung von Genüssen verschaffen: gutes Essen, Musik, Spaziergänge auf dunklen und einsamen Gartenwegen oder in Alleen, die von tausend Lämpchen beleuchtet waren. Außerdem fand man dort im bunten Gewimmel die berühmtesten Schönheiten Londons vom höchsten bis zum niedrigsten Range.

Trotz allen diesen Vergnügungen langweilte ich mich, weil ich meine gute Tafel und mein reizendes Heim nicht mit einer lieben Freundin teilte. Ich war nun doch schon seit sechs Wochen in London. So etwas war mir noch niemals vorgekommen, und die Sache erschien mir selber unerklärlich.

Meine Wohnung schien geradezu gemacht zu sein, um in der anständigsten Weise eine Freundin aufzunehmen; da ich die Tugend der Beständigkeit besaß, so brauchte ich weiter nichts, um glücklich zu sein. Aber wie sollte ich in London eine Frau finden, die zu mir paßte und an Charakter einer von denen ähnelte, die ich so innig geliebt hatte? Ich hatte bereits etwa fünfzig Mädchen gesehen, die alle Welt als hübsch bezeichnete, und die ich selber nicht einmal leidlich gefunden hatte. Indem ich unaufhörlich hierüber nachdachte, hatte ich schließlich einen sonderbaren Einfall. Ich führte diesen aus.

Ich rief meine alte Housekeeper und ließ ihr durch das Mädchen, das uns als Dolmetscherin diente, folgendes sagen: »Ich will das zweite ober dritte Stockwerk vermieten, um Gesellschaft zu haben; obgleich ich hierzu ohne weiteres berechtigt bin, will ich Ihnen doch für die Bedienung wöchentlich eine halbe Guinee schenken. Lassen Sie sofort dieses Plakat am Fenster aushängen:

Zu vermieten: zweites oder drittes Stockwerk, möbliert, an ein alleinstehendes und unabhängiges junges Fräulein, das englisch und französisch spricht, und weder bei Tage noch bei Nacht Besuche empfängt.«

Das Mädchen übersetzte der Alten das Plakat, und diese, die früher selber flott gelebt hatte, lachte darüber so sehr, daß ich glaubte, sie würde ersticken.

»Warum lachen Sie denn so sehr, meine gute Dame?«

»über diesen Zettel muß man wohl lachen!«

»Sie glauben gewiß, es wird keine kommen, um die Wohnung zu mieten?«

»Oh, ganz im Gegenteil. Ich werde vom Morgen bis zum Abend im Hause Neugierige haben; aber mit denen mag Fanny fertig werden. Sagen Sie mir bitte nur, wieviel ich verlangen soll.«

»Den Preis will ich selber festsetzen, nachdem ich mit dem Fräulein gesprochen habe. Ich glaube nicht, daß so sehr viele Mädchen kommen werden; denn ich verlange, daß die Mieterin jung ist, daß sie englisch und französisch spricht und daß sie außerdem noch ein anständiges Mädchen ist; denn sie darf durchaus keinen Besuch empfangen, nicht einmal von ihren Eltern, wenn sie welche hat.«

»Aber es werden eine Menge Leute stehen bleiben, um den Zettel zu lesen.«

»Um so besser. Wenn er auffällt, so schadet das nichts.«

Wie die Alte gesagt hatte, blieb ein jeder stehen, um die Anzeige zu lesen. Jeder machte seine Glossen darüber und ging dann lachend weiter. Schon am zweiten Tage teilte mein Neger Jarbe mir mit, meine Anzeige sei wörtlich in St. James-Chronicle abgedruckt, mit einem scherzhaften Kommentar. Ich ließ mir die Zeitung bringen, und Fanny übersetzte mir den Artikel, der folgendermaßen lautete:

»Der Herr des zweiten und dritten Stockwerks bewohnt wahrscheinlich selber das erste. Er muß ein Mann von Geschmack sein, der das Vergnügen liebt; denn er verlangt eine Mieterin, die allein steht, unabhängig und natürlich auch jung ist: und da sie keinen Besuch empfangen kann, so muß er wohl bereit sein, ihr gute Gesellschaft zu leisten.

»Zu befürchten ist nur, daß der Besitzer der Wohnung bei diesem Handel angeführt wird; denn es ist leicht möglich, daß irgend ein hübsches Mädchen die Wohnung mietet, um dort nur zu schlafen oder gar nur von Zeit zu Zeit dorthin zu gehen; außerdem könnte dieses hübsche Mädchen, wenn es ihr so paßt, ganz einfach sich den Besuch des Hausherrn verbitten.«

Diese sehr vernünftige Glosse machte mir Spaß und gefiel mir, weil sie mich vor Überraschungen warnte.

Diese Artikel machen die englischen Zeitungen so angenehm. Alle Vorgänge werden in voller Unabhängigkeit besprochen, und die Zeitungsschreiber wissen die einfachsten Kleinigkeiten des Alltagslebens interessant zu machen. Glücklich die Völker, bei denen man alles sagen und alles schreiben darf.

Lord Pembroke war der erste, der zu mir kam und mir zu meiner Erfindung Glück wünschte. Später kam Martinelli, der jedoch befürchtete, ich könnte leicht zu Schaden kommen; »denn«, sagte er, »in London gibt es viele Mädchen, die eine große Erfahrung besitzen und vielleicht nur zu dem Zweck kommen würden, Ihnen den Kopf zu verdrehen.«

»Da gilt es dann eben List gegen List,« antwortete ich ihm; »wir werden ja sehen. Sollte ich angeführt werden, so wird man freilich das Recht haben, auf meine Kosten zu lachen; denn ich hätte ja auf meiner Hut sein können.«

Ich will meine Leser nicht mit einer Beschreibung von etwa hundert Mädchen langweilen, die während der ersten neun oder zehn Tage kamen. Ihnen allen schlug ich unter verschiedenen Vorwänden die Wohnung ab, obgleich einige von ihnen recht anmutig und schön waren. Endlich aber, am elften oder zwölften Tage erschien ein junges Mädchen von zwanzig bis vierundzwanzig Jahren, als ich gerade bei Tisch saß. Sie war mehr als mittelgroß, ihre Kleidung war nett und sauber, jedoch ohne Luxus, ihr Gesicht edel und von sanftem Ausdruck, obgleich ernst. Sie hatte regelmäßige Züge, eine etwas blasse Farbe, schwarze Haare und war in jeder Beziehung schön. Sie machte mir eine vornehme und zugleich ehrerbietige Verbeugung, die ich erwidern mußte, indem ich mich erhob. Als ich stehen blieb, bat sie mich im Tone der guten Gesellschaft, ich möchte mich nicht stören lassen, sondern ruhig weiter essen. Ich bat sie, Platz zu nehmen. Sie tat es. Hierauf bot ich ihr Süßigkeiten an, denn sie hatte bereits Eindruck auf mich gemacht; sie lehnte jedoch dankend ab und zwar in einem bescheidenen Tone, der mich entzückte.

Hierauf sogte das schöne Fräulein, nicht in dem tadellosen Französisch, wie sie begonnen hatte, sondern in einem Italienisch, das ohne den geringsten fremden Akzent und daher einer Senesin würdig war: sie würde ein Zimmer im dritten Stock nehmen, und gebe sich der Hoffnung hin, daß ich ihr dies nicht abschlagen würde, denn sie glaubte, noch jung zu sein; den anderen Bedingungen, die in meiner Ankündigung erwähnt wären, unterwürfe sie sich gern.

»Mein Fräulein, es steht Ihnen frei, sich nur des einen Zimmerzu bedienen, doch wird die ganze Wohnung Ihnen gehören.«

»Mein Herr, der Zettel besagt allerdings, die Wohnung sei billig: trotzdem würde die ganze Wohnung zu teuer für mich sein, denn ich kann für meine Unterkunft nur zwei Schillinge in der Woche ausgeben.«

»Das ist gerade der Preis, den ich für die ganze Wohnung verlange. Sie können also, wie Sie sehen, darüber verfügen, mein Fräulein, Die Magd wird Sie bedienen und Ihnen das Essen besorgen, das Sie brauchen; außerdem wird sie für Sie waschen. Sie können auch Ihre Besorgungen von ihr machen lassen, damit Sie nicht wegen jeder Kleinigkeit auszugehen brauchen.«

»Dann werde ich also meine Magd entlassen, und das ist mir nicht unlieb; denn sie bestiehlt mich. Allerdings stiehlt sie mir wenig, aber das ist trotzdem viel zu viel für meine Verhältnisse. Ich werde Ihrem Mädchen sagen, was sie mir jeden Tag zu essen holen soll; die kleine Summe, die ich hierfür aussetze, darf niemals überschritten werden. Ich werde ihr für ihre Mühe wöchentlich zehn Pence geben.«

»Sie wird damit sehr zufrieden sein. Ich kann Ihnen sogar empfehlen, sich an die Frau meines Koches zu wenden; denn diese kann Ihnen Mittag- und Abendessen für dasselbe Geld liefern, das Sie ausgeben würden, wenn Sie es sich von draußen holen ließen.«

»Das halte ich kaum für möglich; denn ich schäme mich, Ihnen zu sagen, wie wenig ich ausgebe.«

»Wenn Sie auch nur einen Penny täglich ausgeben könnten, so würde ich der Frau sagen, sie soll Ihnen nicht mehr liefern, als für diesen Preis zu haben ist. Ich rate Ihnen, nehmen Sie ruhig das Essen, das Sie in der Küche bekommen können, und machen Sie sich wegen der Billigkeit keine Gedanken; denn ich habe die Gewohnheit, für vier Personen reichlich kochen zu lassen, obgleich ich fast immer allein speise; was übrig bleibt, gehört dem Koch. Ich werde nichts weiter tun, als daß ich Sie ihm empfehle, damit Sie gut bedient werden, und ich hoffe. Sie werden es mir nicht übel nehmen, daß ich mich für Sie interessiere.«

»Mein Herr, Ihr Anerbieten ist überraschend; Sie sind sehr großmütig.«

»Warten Sie einen Augenblick, mein Fräulein! Sie werden sofort sehen, daß es auf die allernatürlichste Art von der Welt zugeht.«

Ich befahl Clairmont, die Magd und die Frau des Kochs zu rufen, und sagte zu dieser letzteren: »Wieviel verlangen Sie täglich für Mittag- und Abendessen für diese junge Dame, die nicht reich ist und nicht mehr essen will, als sie zum Leben braucht?«

»Ich werde ihr das Essen sehr billig liefern, denn der gnädige Herr speist fast immer allein und läßt für vier Personen kochen.«

»Schön; infolgedessen hoffe ich, können Sie die Dame sehr gut für den Preis beköstigen, den sie Ihnen bezahlen will.«

»Ich kann täglich nur fünf Pence ausgeben.«

»Für fünf Pence, mein Fräulein, werden wir Sie verköstigen.«

Ich befahl sofort, das Aushängeschild zu entfernen und das Zimmer, das die junge Dame wählen würde, mit allen Bequemlichkeiten zu versehen. Als die Küchin und die Magd sich entfernt hatten, sagte die junge Dame mir, sie werde nur am Sonntag ausgehen, um in der Kapelle des bayrischen Gesandten die Messe zu hören; außerdem gehe sie einmal monatlich zu einer Person, die ihr drei Guineen für ihren Lebensunterhalt auszahle.

»Sie können ausgehen, wann Sie wollen, mein Fräulein, und brauchen darüber keinem Menschen Rechenschaft zu geben.«

Schließlich bat sie mich, niemals Besuche zu ihr zu führen und der Hausbesorgerin zu befehlen, sie solle jedem, der sich nach ihr erkundige, antworten, sie kenne sie nicht. Ich versprach ihr, daß alles nach ihren Wünschen geschehen solle, und sie entfernte sich, indem sie mir sagte, sie werde ihren Koffer bringen lassen.

Sobald sie gegangen war, befahl ich allen meinen Leuten, ihr mit der größten erdenklichen Rücksicht zu begegnen. Die alte Hausmeisterin sagte mir, sie habe für die erste Woche vorausbezahlt und sich darüber eine Quittung geben lassen; hierauf habe sie sich in einer Sänfte entfernt, wie sie gekommen sei. Zum Schluß faßte die gute Alte sich Mut und ließ mir durch unsere Dolmetscherin sagen, ich möchte mich vor Fallen hüten.

»Vor was für einer Falle? Ich sehe keine. Wenn sie vernünftig ist und ich mich in sie verliebe – nun, um so besser; das wünsche ich ja gerade. Ich brauche nur acht Tage, um sie kennen zu lernen. Welchen Namen hat sie Ihnen angegeben?«

»Mistreß Pauline; als sie ankam, war sie ganz blaß; aber als sie wieder fort ging, war sie feuerrot.«

Ich war schon voller Hoffnung; dieser Glücksfund erfüllte mich mit inniger Freude. Um mein Temperament zu befriedigen, brauchte ich keine Frau – denn das findet man überall; aber ich brauchte eine, um sie zu lieben. Es war für mich eine Notwendigkeit, an dem Gegenstand meiner Zärtlichkeit Schönheit des Leibes und der Seele zu finden, und meine Liebe wuchs im Verhältnis zu den Schwierigkeiten, die sich meiner Voraussicht nach dem Erfolge entgegenstellten. Ich gestehe, daß ich einen Mißerfolg als unmöglich ansah; denn ich wußte, daß es keine Frau gibt, die der ausdauernden Bewerbung und den Aufmerksamkeiten eines Mannes widerstehen könnte, der sie verliebt machen will, besonders wenn dieser Mann sich in den Verhältnissen befindet, große Opfer bringen zu können.

Als ich am Abend nach dem Theater nach Hause kam, sagte die Magd mir, Madame habe ein bescheidenes Hinterstübchen gewählt, das nur einem Dienstboten genügen könne. Sie habe bescheiden zu Abend gegessen und dazu nur Wasser getrunken; als sie die Frau des Kochs gebeten habe, ihr nur einen Teller Suppe und ein Gericht zu liefern, habe diese ihr geantwortet: sie müsse annehmen, was man ihr vorsetze; was sie nicht wolle, werde die Magd essen. Nach dem Essen habe sie ihr sehr gütig gute Nacht gesagt und sich dann eingeschlossen, um zu schreiben.

»Was nimmt sie morgen« zum Frühstück?«

»Ich habe sie danach gefragt, und sie hat mir geantwortet, sie esse nur ein wenig Brot.«

»Du wirst ihr morgen früh sagen: es sei im Hause Brauch, daß der Koch zum Frühstück Kaffee, Tee, Schokolade oder Fleischbrühe liefere, wie es einem jeden beliebe; wenn sie es zurückweise, werde sie mich vielleicht verletzen. Laß dir aber nicht einfallen, ihr zu sagen, daß ich mit dir hierüber gesprochen habe. Da hast du eine Krone; du sollst jede Woche eine bekommen, wenn du sie auf das freundlichste bedienst.

Bevor ich zu Bett ging, schrieb ich ihr ein sehr höfliches Briefchen, worin ich sie bat, das erwählte Kämmerchen mit einem anderen Zimmer zu vertauschen. Sie tat dies, aber sie ließ ihre Sachen in ein Zimmer bringen, das ebenfalls nach hinten hinaus lag. Fannys Vorstellungen brachten sie dahin, zum Frühstück Kaffee anzunehmen. Ich wünschte, sie zu veranlassen, daß sie mit mir zu Mittag und zu Abend äße. Darum kleidete ich mich an, um ihr einen Besuch zu machen, und sie auf eine Art darum zu bitten, daß sie sich nicht gut weigern konnte. In diesem Augenblick meldete Clairmont mir den jungen Cornelis. Ich empfing ihn lachend, indem ich ihm dafür dankte, daß er mich seit sechs Wochen zum ersten Male besuche.

»Mama hat mir niemals erlaubt, zu Ihnen zu gehen. Ich kann es nicht mehr aushalten; zwanzigmal war ich in Versuchung, trotz ihrem Verbot zu kommen. Bitte, lesen Sie diesen Brief; Sie werden darin etwas finden, was Sie überraschen wird.«

Ich öffnete den Brief; er lautete:

»Ein Gerichtsbote benutzte gestern einen Augenblick, wo meine Türe offenstand, trat in mein Zimmer ein und verhaftete mich. Ich war gezwungen, ihm zu folgen, und befinde ich mich jetzt bei ihm im Gefängnis; wenn ich nicht im Lauf des Tages Bürgschaft stelle, wird er mich heute Abend in das Kings-Bench-Gefängnis bringen. Diese Bürgschaft beträgt zweihundert Pfund Sterling für einen bereits verfallenen Wechsel, den ich nicht habe zahlen können. Ich flehe Sie an, mein wohltätiger Freund: befreien Sie mich sogleich aus diesem Ort! Sonst könnte ich das Unglück haben, daß schon morgen eine Menge Gläubiger erscheinen und mich einsperren lassen würden; dadurch würde mein Zusammenbruch unvermeidlich werden. Verhindern Sie diesen, ich bitte Sie flehentlich, und damit auch das Unglück meiner unschuldigen Familie. Als Ausländer können Sie nicht für mich Bürgschaft leisten; aber Sie brauchen nur einem Hausbesitzer ein Wort zu sagen, und Sie werden zehn für einen bereit finden. Wenn Sie Zeit haben, bei mir vorzusprechen, so kommen Sie! Sie werden dann erfahren, daß ich den letzten Ball nicht hätte geben können, wenn ich nicht diesen unglückseligen Wechsel unterschrieben hätte; denn ich hatte mein ganzes Silbergeschirr und Porzellan versetzt.«

Empört über dieses unverschämte Weib, das sich mir gegenüber soweit vergessen hatte, schrieb ich ihr, ich könne sie nur bedauern, ich habe keine Zeit, sie zu besuchen, und schäme mich außerdem, irgend jemanden zu bitten, für sie Bürgschaft zu leisten.

Nachdem der kleine Cornelis sehr traurig fortgegangen war, befahl ich Clairmont, zu Pauline hinaufzugehen und sie zu fragen, ob sie mir gestatten wolle, ihr guten Tag zu wünschen. Sie ließ mir sagen, es stehe bei mir, sie aufzusuchen. Ich ging zu ihr hinein und fand auf dem Tische mehrere Bücher liegen; außerdem sah ich auf einer Kommode Kleidungsstücke, die nicht auf Bedürftigkeit schließen ließen.

»Ich bin Ihnen für Ihre Freundlichkeiten unendlich dankbar«, sagte sie zu mir.

»Sprechen wir nicht davon, Madame; glauben Sie mir, daß ich im Gegenteil Ihnen dankbar sein muß.«

»Was kann ich tun, mein Herr, Ihnen meine Erkenntlichkeit zu zeigen?«

»Sie können dies tun, Madame, indem Sie sich den Zwang auferlegen und mir die Ehre erweisen, mir bei Tisch Gesellschaft zu leisten, so oft niemand bei mir speist; denn wenn ich allein bin, esse ich wie ein Oger, und darunter leidet meine Gesundheit; wenn Sie sich nicht geneigt fühlen, mir dieses Vergnügen zu machen, werden Sie mir verzeihen, Sie darum gebeten zu haben; selbst wenn Sie sich weigern, werden die Vorteile, die ich Ihnen in meinem Hause verschafft habe, sich nicht vermindern.«

»Ich werde die Ehre haben, mein Herr, mit Ihnen zu speisen, so oft Sie allein sind und mir Bescheid sagen lassen. Es tut mir nur leid, daß ich nicht sicher bin, ob meine Gesellschaft Ihnen nützlich sein und Sie erheitern kann.«

»Ich bin Ihnen sehr dankbar, Madame, und verspreche Ihnen, daß Ihre Gefälligkeit Sie niemals gereuen soll. Ich werde mir alle Mühe geben, Sie aufzuheitern, und werde glücklich sein, wenn mir das gelingt; denn Sie haben mir die lebhafteste Teilnahme eingeflößt. Um ein Uhr essen wir zu Mittag.«

Ich setzte mich nicht, sah mir nicht ihre Bücher an und fragte sie nicht einmal, ob sie gut geschlafen habe. Ich bemerkte nur soviel, daß sie bei meinem Eintritt blaß und sorgenvoll aussah, und daß ihre Wangen scharlachrot waren, als ich hinausging.

Ich machte hierauf einen Spaziergang im Park. Ich war bereits in das reizende Mädchen heftig verliebt und war fest entschlossen, alles aufzubieten, damit sie mich lieben mußte; denn ich wollte ihrer Gefälligkeit nichts zu verdanken haben. Ich war außerordentlich neugierig, wer sie wohl sein möchte. Ich vermutete in ihr eine Italienerin; aber ich nahm mir vor, sie durch keine Frage zu belästigen, denn ich fürchtete, ihr dadurch zu mißfallen. Dieser Gedanke war etwas romantisch; aber er paßte zu dem überspannten Gefühl, das man Liebe nennt. Als ich wieder zu Hause war, kam Pauline hinunter, ohne daß ich sie hatte bitten lassen. Die Aufmerksamkeit gefiel mir außerordentlich, denn ich sah darin ein gutes Vorzeichen. Ich dankte ihr deshalb lebhaft dafür. Da wir noch eine halbe Stunde vor uns hatten, fragte ich sie, ob sie mit ihrer Gesundheit zufrieden sei.

»Die Natur«, antwortete sie mir, »hat mich mit einer so glücklichen Leibesbeschaffenheit begabt, daß ich nie in meinem Leben auch nur im geringsten unwohl gewesen bin, außer auf dem Meere; denn dieses Element ist mir feindlich gesinnt.« »Sie sind also über das Meer gereist?« »Das mußte ich wohl, um nach England zu gelangen.« »Ich konnte vielleicht annehmen, daß Sie Engländerin seien.« »Das ist wohl möglich; denn die englische Sprache ist mir seit meiner zartesten Kindheit vertraut.«

Wir saßen auf einem Sofa. Auf dem Tische vor uns stand ein Schachspiel. Pauline schob die Figuren hin und her; das veranlaßte mich zu der Frage, ob sie Schach spielen könne. »Ja; man hat mir sogar gesagt, ich spiele gut.« »Ich spiele schlecht; aber lassen Sie uns eine Partie machen. Meine Niederlagen werden Ihnen Spaß bereiten.«

Wir beginnen. Pauline zieht an, und mit dem vierten Zuge bin ich schach und matt. Sie lacht; ich bewundere sie. Wir fangen wieder an: beim fünften Zuge bin ich wieder matt. Hierüber lacht meine liebenswürdige Besucherin von ganzem Herzen. Während dieses Lachens berausche ich mich vor Liebe, als ich ihre herrlichen Zähne und ihre entzückende Aufregung sehe, besonders aber als ich bemerkte, welch einen innigen Ausdruck von Glück die Heiterkeit ihr verleiht. Wir beginnen die dritte Partie; Pauline ist unaufmerksam, und ich bringe sie in Verlegenheit.

»Ich glaube,« ruft sie, »Sie können mich besiegen!«

»Welch ein Glück wäre das für mich!«

Man meldet uns, daß das Essen angerichtet sei.

»Unterbrechungen sind oft lästig«, sagte ich zu ihr, indem ich aufstand und ihr meinen Arm bot. Ich war fest überzeugt, daß die Bedeutung der letzten Worte ihr nicht entgangen war; denn die Frauen lassen eine Anspielung niemals unbemerkt.

Als wir uns eben zu Tisch gefetzt hatten, meldete Clairmont mir die kleine Cornelis mit Frau Rancour.

»Sagen Sie ihnen, ich sei beim Essen und werde nicht vor drei Stunden fertig sein.«

Als Clairmont hinausging, um meine Antwort zu überbringen, schlüpfte die kleine Sophie ins Zimmer, lief auf mich zu und warf sich vor mir auf die Knie. Dann weinte sie so heftig, daß sie vor Schluchzen nicht sprechen konnte.

Ganz gerührt von diesem Anblick, beeile ich mich sie aufzuheben; ich setze sie auf meine Knie, trockne ihre Tränen und beruhige sie, indem ich ihr sage: ich wisse schon, was sie wünsche, und wolle aus Liebe zu ihr ihren Wunsch erfüllen.

Plötzlich von der Verzweiflung zur Freude übergehend, umarmt das liebe Kind mich und nennt mich ihren lieben Vater, so daß ich schließlich ebenfalls zu weinen anfange.

»Iß mit uns, liebes Kind; das wird es mir leichter machen, dir deinen Wunsch zu erfüllen.«

Sophie entwand sich meinen Armen und lief zu Paulinen, die ebenfalls aus Sympathie mitweinte. Dann begannen wir voller Glück zu essen. Sophie sagte zu mir: »Bitte, lassen Sie doch auch der Rancour etwas zu essen geben. Mama hat ihr verboten, mit hinaufzukommen.«

»Es soll nach deinem Wunsche geschehen, liebes Kind – aber nur dir zuliebe; denn diese Rancoul verdiente wohl, daß ich sie vor der Türe stehen ließe, um sie für die Rücksichtslosigkeit zu bestrafen, womit sie mich bei meiner Ankunft behandelte.«

Während der ganzen Mahlzeit unterhielt das Kind uns auf eine erstaunliche Weise. Pauline war ganz Ohr und sagte kein Wort vor lauter Erstaunen, ein solches Kind mit einem Verstande sprechen zu hören, den man an einem Mädchen von zwanzig Jahren bewundert haben würde. Ohne jemals die Schranken der Ehrfurcht zu überschreiten, verdammte sie das Betragen ihrer Mutter.

»Wie unglücklich bin ich,« rief sie, »daß meine Pflicht mich zwingt, mich ihr zu fügen und blindlings ihrem Willen zu gehorchen!«

»Ich möchte wetten, du liebst sie nicht?«

»Ich achte sie, aber ich kann sie nicht lieben; denn sie macht mir immer Angst. Ich sehe sie niemals ohne Furcht.«

»Warum weintest du denn so?«

»Aus Mitleid mit ihr und unserer ganzen Familie, besonders aber wegen der Worte, die sie mir sagte, als sie mir befahl, zu Ihnen zu gehen.«

»Was waren das für Worte?«

»Geh!« sagte sie mir. »Wirf dich vor ihm auf die Knie! Nur du kannst ihn rühren, und ich setze meine ganze Hoffnung nur auf dich allein!«

»Du hast dich also nur darum auf die Knie geworfen, weil sie es dir gesagt hat?«

»Ja! Denn wenn ich meinem eigenen Antriebe gefolgt wäre, hätte ich mich in Ihre Arme geworfen.«

»Du hast recht. Aber warst du sicher, daß du mich überreden würdest?«

»Nein; denn sicher ist man überhaupt niemals. Aber ich hoffte es; denn ich erinnerte mich der Worte, die Sie zu mir im Haag sagten. Meine Mutter sagt, ich sei damals erst drei Jahre alt gewesen; ich weiß jedoch, daß ich schon fünf Jahre alt war. Sie hatte mir auch befohlen, mit Ihnen zu sprechen, ohne Sie anzusehen. Zum Glück wußten Sie sie zu nötigen, ihr Verbot zu widerrufen. Alle Leute sagen zu ihr, Sie seien mein Vater, und im Haag hat sie selber mir dies gesagt. Hier aber wiederholt sie mir fortwährend, ich sei die Tochter des Herrn de Montpernis.«

»Aber, liebe Sophie, deine Mutter schadet dir, indem sie dich für eine natürliche Tochter ausgibt, während du doch die rechtmäßige Tochter des Tänzers Pompeati bist, der sich in Wien selber tötete. Er lebte aber noch, als du zur Welt kamst.«

»Wenn ich Pompeatis Tochter bin, sind Sie also nicht mein Vater?«

»Nein, ganz gewiß nicht, denn du kannst doch nicht die Tochter zweier Väter sein.«

»Aber wie kommt es denn, daß ich Ihnen sprechend ähnlich sehe?«

»Das ist ein Spiel des Zufalls.«

»Sie rauben mir eine Illusion, die mir Freude machte.«

Auf Paulinen machte Sophiens Beredsamkeit großen Eindruck; sie sagte beinahe kein Wort, aber sie bedeckte sie mit Küssen, die die Kleine ihr reichlich zurückgab. Diese fragte mich, ob Madame meine Gemahlin sei; als ich diese Frage bejahte, nannte sie sie ihre liebe Mama, worüber Pauline herzlich lachte.

Beim Nachtisch zog ich vier Banknoten von je fünfzig Pfund Sterling aus meiner Brieftasche, gab sie Sophien und sagte ihr, sie könne sie ihrer Mutter schenken; aber ich gäbe sie ihr und nicht ihrer Mutter.

»Wenn du ihr das Geschenk bringst, liebe Tocbter, kann deine Mutter heute abend in ihrem schönen Hause schlafen, wo sie mich so unwürdig empfangen hat.«

»Es tut mir leid; aber verzeihen Sie ihr!«

»Ja, Sophie, das will ich; aber ich tue es nur dir zuliebe.«

»Schreiben Sie ihr, daß Sie mir die zweihundert Pfund schenken; denn ich wage es nicht, ihr dies selber zu sagen.«

»Du fühlst wohl, mein Kind, daß ich ihr das nicht schreiben kann; denn ich würde damit ihren Schmerz beleidigen. Begreifst du das?«

»Oh, vollkommen!«

»Du kannst ihr sagen, sie werde mir ein großes Vergnügen bereiten, so oft sie dich mittags oder abends schicke, um mit mir zu essen.«

»Oh! Das können Sie ihr aber doch schreiben, ohne ihren Schmerz zu kränken, nicht wahr? Oh, tun Sie es doch bitte. Meine liebe Mama,« – dabei sah sie Pauline an – »bitten Sie doch meinen Papa, das zu schreiben; dann werde ich manchmal mit Ihnen speisen.«

Pauline lachte herzlich, nannte mich ihren Mann und bat mich, ich möchte doch ein paar Worte auf einen Zettel schreiben. Daran würde die Mutter erkennen, daß ich Sophie lieb hätte, und das würde nur die Liebe vermehren, die sie zu einer solchen Tochter hegen müßte. Ich gab nach, indem ich ihr sagte, ich könne der anbetungswürdigen Frau, die mich mit dem Namen ihres Mannes geehrt hätte, keinen Wunsch abschlagen. Sophie entfernte sich glückstrahlend, nachdem sie uns viele zärtliche Küsse gegeben hatte.

»Ich habe seit langer Zeit nicht soviel gelacht« sagte Pauline zu mir, »und ich glaube, ich habe in meinem ganzen Leben noch nicht so angenehm gespeist. Diese Kleine ist ein kostbares Juwel. Das arme Kind fühlt sich unglücklich! Sie wäre es nicht, wenn ich ihre Mutter wäre.«

Hierauf erzählte ich ihr im Vertrauen, wer Sophie war und welche Gründe ich hatte, ihre Mutter zu verachten.

»Ich möchte lachen, wenn ich daran denke, was sie sagen wird, wenn Sophie ihr erzählt, sie habe Sie mit Ihrer Frau bei Tisch gefunden.«

»Sie wird es nicht glauben; denn sie weiß, daß die Heirat ein Sakrament ist, das ich verabscheue.«

»Warum?«

»Weil sie das Grab der Liebe ist.«

»Nicht immer.«

Pauline seufzte, schlug ihre schönen Augen nieder und sprach von etwas anderem. Sie fragte mich, ob ich mich lange in London aufzuhalten gedächte. Ich antwortete ihr, ich werde wahrscheinlich neun oder zehn Monate hier verbringen; hierauf glaubte ich, an sie dieselbe Frage stellen zu dürfen.

»Ich weiß es nicht«, antwortete sie mir; »denn meine Rückkehr in die Heimat hängt von einem Briefe ab.«

»Dürfte ich Sie fragen, was Ihre Heimat ist?«

»Ich sehe voraus, daß ich vor Ihnen keine Geheimnisse haben werde, wenn Ihnen etwas daran liegen sollte, diese kennen zu lernen; aber lassen Sie bitte noch einige Tage vergehen. Ich habe erst heute begonnen, Sie näher kennen zu lernen, und zwar auf eine Art, die Sie in meinen Augen sehr achtungswert macht.«

»Ich werde glücklich sein, wenn ich Ihren Beifall gewinnen und Sie in der guten Meinung bestärken kann, die Sie von meinem Charakter gefaßt haben.«

»Sie haben sich bis jetzt von einer Seite gezeigt, die meine höchste Ehrfurcht verdient.«

»Schenken Sie mir Ihre Achtung; auf diese lege ich den größten Wert; aber verschonen Sie mich mit Ihrer Ehrfurcht, denn diese schließt, wie mir scheint, die Freundschaft aus. Ich strebe aber nach Ihrer Freundschaft, und ich glaube, Sie darauf aufmerksam machen zu müssen, daß ich Ihnen alle möglichen Fallen stellen werde, um diese Freundschaft zu gewinnen.«

»Ich glaube, Sie sind sehr geschickt in solcher Jagd; aber ich halte Sie auch für großmütig und bin überzeugt, daß Sie mich schonen werden. Sollte ich eine zu innige Freundschaft für Sie fassen, so würde die Trennung zu schmerzlich für mich sein; diese Trennung kann aber jeden Augenblick eintreten – ich muß das sogar wünschen.«

Unsere Unterhaltung wurde gefühlvoll. Pauline brachte daher mit jener Gewandtheit, die der Verkehr in der vornehmen Welt verleiht, das Gespräch auf gleichgültige Dinge. Nach einiger Zeit bat sie mich um Erlaubnis, auf ihr Zimmer gehen zu dürfen. Ich hätte gern den ganzen Tag mit ihr verbracht; denn ich hatte selten ein Weib gefunden, das so liebenswürdige und zugleich so vornehme Manieren hatte.

Als ich allein war, verspürte ich ein gewisses Gefühl von Leere. Ich ging daher zur Binetti, die mich mit der Frage empfing, wie es dem Lord Pembroke gehe. Sie war ärgerlich auf ihn.

»Er ist ein abscheulicher Mensch!« rief sie, »er braucht jeden Tag eine neue Frau. Wie findest du das?«

»Ich beneide ihn, daß er so glücklich ist, sich das verschaffen zu können.«

»Er kann es, weil die Weiber dumm sind. Mich hat er angeführt, weil er mich bei dir überrumpelt hat; sonst würde er mich niemals gehabt haben. Du lachst?«

»Ja, ich lache. Denn wenn er dich gehabt hat, so hast du ihn ebenfalls gehabt. Also seid ihr quitt.«

»Du weißt nicht, was du sagst.«

Um acht Uhr kam ich nach Hause. Pauline kam herunter, sobald sie erfuhr, daß ich da sei; denn Fanny hatte ihr auf ihren Befehl meine Rückkunft mitgeteilt. Ich glaubte in diesem Benehmen die Absicht zu sehen, mich durch Aufmerksamkeiten zu fesseln, und da ich dieselben Gefühle hegte, die ich gerne bei ihr vorausgesetzt hätte, so konnte es nicht lange dauern, bis wir zu einer Verständigung gelangten.

Das Abendessen wurde aufgetragen; wir setzten uns zu Tisch und blieben bis Mitternacht sitzen. Wir plauderten über allerlei Nichtigkeiten, aber so angenehm, daß die Stunden uns verstrichen, ohne daß wir es merkten. Zum Schluß wünschte sie mir gute Nacht und sagte mir, sie vergesse über meiner Unterhaltung zu sehr ihr Unglück.

Am nächsten Tage lud Pembroke sich bei mir zum Frühstück ein und beglückwünschte mich zum Verschwinden meines Aushängezettels.

»Ich wäre recht neugierig, Ihre Mieterin kennen zu lernen.«

»Ich glaube es, Mylord; aber im Augenblick kann ich Ihre Neugierde nicht befriedigen; denn sie hat einsiedlerische Neigungen und duldet mich nur aus Notwendigkeit.«

Er sprach nicht mehr davon, und um seine Gedanken von diesem Gegenstande abzulenken, sagte ich ihm, die Binetti verabscheue seine Unbeständigkeit, und dies spreche zu seinen Gunsten. Er lachte darüber, antwortete mir aber nicht, sondern fragte mich: »Speisen Sie heute zu Hause?«

»Nein, Mylord, heute nicht.«

»Ich verstehe; das ist auch ganz natürlich. Leben Sie wohl; machen Sie die Sache gut!«

»Ich arbeite daran.«

Martinelli hatte im Advertiser drei oder vier Parodien meiner Anzeige gefunden. Er brachte mir die Zeitung, und ich mußte lachen, als er sie mir übersetzte; es waren aber weiter nichts als Übertreibungen, die darauf berechnet waren, das Publikum zum Lachen zu bringen und eine Spalte der Zeitung zu füllen. Die Artikel waren durchweg unanständig; dies war kein Wunder; denn in London wird mit dem Recht, alles sagen zu dürfen, ein großer Mißbrauch getrieben.

Martinelli war zu vorsichtig und zu zartfühlend, um überhaupt von meiner Mieterin zu sprechen. Da Sonntag war, bat ich ihn, mit mir zur Messe beim bayrischen Gesandten zu gehen; es geschah, das gestehe ich hier in aller Demut, nicht aus Frömmigkeit, sondern in der Hoffnung, Pauline zu sehen. Meine Erwartung wurde betrogen; denn sie hatte sich, wie ich später erfuhr, in einen Winkel gesetzt, wo niemand sie beobachten konnte. Die Kapelle war voll von Menschen, und Martinelli zeigte mir Lords, Ladies und andere hervorragende Persönlichkeiten, die katholisch waren und dieses nicht verbargen. Im Augenblick, wo ich nach Hause kam, übergab ein Bedienter der Cornelis mir einen Brief von dieser Dame. Sie schrieb mir: da sie am Sonntag frei ausgehen könne, wünsche sie, daß ich ihr erlauben möge, bei mir zu speisen. Ich ging sofort zu Pauline hinauf und fragte sie, ob sie etwas dagegen einzuwenden habe, wenn die Cornelis mit uns esse. Das liebenswürdige Mädchen antwortete mir, sie würde gerne mit ihr speisen, vorausgesetzt, daß sie keinen Mann mitbrächte. Ich ließ ihr daher sagen, ich würde sie mit Vergnügen empfangen, wenn sie mit meiner Tochter käme. Sie kam, und Sophie ging nicht einen Augenblick von meiner Seite. Die Cornelis fühlte sich durch Paulinens Gegenwart verlegen; sie nahm mich daher auf die Seite, um mir mehrere chimärische Pläne mitzuteilen, die sie in kurzer Zeit reich machen müßten.

Meine kleine Sophie war die Seele unserer Mahlzeit. Als ich aber der Cornelis sagte, Pauline sei eine ausländische Dame, an die ich eine Wohnung vermietet habe, rief Sophie: »Sie ist also nicht Ihre Frau?«

»Nein, so glücklich bin ich nicht. Ich habe es nur zum Scherz gesagt, und Madame hat sich über deine Leichtgläubigkeit belustigt.«

»Wißt ihr was, ich will bei ihr schlafen.«

»So? Wann denn.«

»Sobald Mama es mir erlaubt.«

»Man müßte doch erst sehen, ob Madame damit einverstanden wäre.«

»Sie hat keine abschlägige Antwort zu befürchten«, rief Pauline, indem sie sie umarmte.

»Nun, Madame, ich lasse sie Ihnen mit Vergnügen hier; ich werde sie morgen von der Gouvernante abholen lassen.«

»Es genügt,« sagte ich, »wenn sie morgen um drei Uhr kommt, denn Sophie muß erst mit uns zu Mittag essen.«

Als Sophie sah, daß ihre Mutter stillschweigend zustimmte, eilte sie zu dieser und gab ihr Küsse, die diese sich kalt gefallen ließ. Sie kannte nicht das Glück, sich lieben zu lassen.

Als die Mutter fort war, fragte ich Pauline, ob es ihr recht sei, mit der Kleinen und mir eine Spazierfahrt in der Umgegend von London zu machen, wo kein Mensch uns sehen werde.

»Ich darf aus Vorsicht nur allein ausgehen.«

»So werden wir also hier bleiben?«

»Ja; wir könnten auch nirgend besser aufgehoben sein.«

Pauline und Sophie sangen englische, italienische, französische Duette, und ich fand dieses Konzert entzückend. Fröhlich aßen wir zu Abend, und gegen Mitternacht führte ich sie in das dritte Stockwerk hinauf, wo ich zu Sophie sagte, ich würde am Morgen hinaufkommen und mit ihr frühstücken, aber ich wollte sie im Bett finden. Ich hegte den Wunsch, zu sehen, ob ihr Körper ebenso schön sei wie ihr Gesicht. Gerne hätte ich Pauline gebeten, mir dieselbe Gunst zu gewähren, aber ich war noch nicht weit genug vorgeschritten, um mir eine solche Kühnheit erlauben zu können. Ich fand sie denn auch am anderen Morgen bereits aufgestanden und in einem sehr anständigen Morgen- kleide.

Als sie mich sah, fing Sophie zu lachen an und versteckte sich unter der Bettdecke; als sie mich aber an ihrer Seite fühlte, zeigte sie mir ihr hübsches Gcsichtchen, das ich mit Küssen bedeckte.

Nachdem sie aufgestanden war, frühstückten wir sehr heiter; hierauf vertrieben wir uns auf das angenehmste die Zeit, bis die Rancour kam, um die Kleine abzuholen. Diese ging traurig mit ihr fort, und ich blieb allein mit meiner großen Pauline, die mich dermaßen zu quälen begann, daß es jeden Augenblick zu einem Ausbruch meiner Leidenschaft kommen konnte; trotzdem hatte ich ihr noch nicht einmal die Hand geküßt.

Als Sophie fortgegangen war, bat ich sie, sich neben mich zu setzen, ergriff ihre Hand, küßte sie leidenschaftlich und fragte: »Sind Sie verheiratet, liebe Pauline?«

»Kennen Sie die Mutterliebe?«

»Nein. Aber es bedarf für mich keiner großen Anstrengung, um mir eine richtige Vorstellung von ihr zu machen.«

»Sind Sie von Ihrem Gatten getrennt?«

»Ja, durch die Gewalt der Umstände und gegen unseren Willen. Man hat uns getrennt, bevor wir die Ehe vollzogen hatten.«

»Ist er in London?«

»Nein, er ist sehr weit von hier; aber bitte, lassen Sie uns nicht mehr davon sprechen.«

»Sagen Sie mir nur noch: werden Sie alsdann zu ihm gehen, wenn ich Sie einmal verlieren muß?«

»Ja, und ich verspreche Ihnen: wenn Sie mich nicht etwa fortschicken, werde ich nur von Ihnen gehen, um England zu verlassen; ich werde aber diese glückliche Insel nur verlassen, um mit dem Gatten meiner Wahl glücklich zu sein.«

»Reizende Pauline! Ich werde unglücklich hier zurückbleiben; denn ich liebe Sie, und ich fürchte Ihnen zu mißfallen, wenn ich Ihnen Beweise meiner Liebe gäbe.«

»Seien Sie großmütig, mäßigen Sie sich! Ich bin nicht meine eigene Herrin, um mich der Liebe hingeben zu können, und vielleicht würde ich nicht die Kraft haben, Ihnen Widerstand zu leisten, wenn Sie meiner nicht schonten.«

»Ich werde Ihnen gehorchen, aber ich werde vor Sehnsucht vergehen; doch wie könnte ich wohl unglücklich sein, wenn ich nicht das Unglück habe, Ihnen zu mißfallen.«

»Ich habe Pflichten zu erfüllen, lieber Freund, und ich würde mich verächtlich machen, wenn ich diese verletzte.«

»Ich würde mich für den unwürdigsten aller Menschen halten, wenn ich meine Achtung einer Frau versagen könnte, weil sie mich glücklich gemacht hätte, indem sie einer ihr von mir eingeflößten Neigung nachgegeben hätte.«

»Ich habe allerdings zu große Achtung vor Ihnen, um Sie einer solchen Handlung fähig zu glauben; aber mäßigen wir uns und denken wir daran, daß wir schon morgen uns genötigt sehen können, uns zu trennen; gestehen Sie: wenn wir den Begierden der Liebe nachgäben, würde unsere Trennung viel bitterer sein, als wenn wir ihnen Widerstand leisten. Wenn Sie das nicht zugeben, ist Ihre Liebe von anderer Natur als die meinige.«

»Von welcher Natur ist denn die Liebe, die ich das Glück gehabt habe Ihnen einzuflößen?«

»Sie ist von solcher Art, daß der Genuß sie nur steigern könnte; trotzdem scheint dieser mir nur eine fast überflüssige Zugabe zu meiner Liebe zu sein.«

»Welches ist denn nach Ihrer Meinung das wesentliche Gefühl jeder Liebe?«

»Daß man in einer durch nichts zu störenden Eintracht beisammen lebt.«

»Dies ist ein Glück, das uns vom Morgen bis zum Abend beschert ist; aber warum sollten wir nicht jenes Zubehör hinzufügen, das uns nur wenige Augenblicke beschäftigen und das unseren liebenden Herzen die Ruhe und den Frieden geben wird, den wir bedürfe»? Außerdem, göttliche Pauline, werden Sie zugeben, daß dieses Zubehör der eigentlichen Liebe als Nahrung dient.«

»Ich gebe es zu; aber geben auch Sie Ihrerseits zu, daß diese Nahrung ihr fast immer tödlich wird.«

»Dies ist, glaube ich, nicht der Fall, wenn man wirklich liebt; und dies gilt von mir. Können Sie glauben. Sie werden mich weniger lieben, wenn Sie mich mit der vollen Glut der Zärtlichkeit besessen haben?«

»Nein, das glaube ich nicht; und weil ich vom Gegenteil überzeugt bin, gerade deshalb fürchte ich, der Augenblick der Trennung würde mich zur Verzweiflung bringen.«

»Ich muß vor Ihrer unwiderstehlichen Dialektik die Segel streichen, reizende Pauline. Ich möchte wohl sehen, womit Sie Ihren erhabenen Geist nähren; ich möchte also Ihre Bücher sehen. Sollen wir hinaufgehen? Ich werde nicht ausgehen.«

»Mit Vergnügen; aber Sie werden angeführt sein.«

»Auf welche Weise denn?«

»Kommen Sie nur!«

Wir gehen in ihr Zimmer, ich sehe mir ihre Bücher an und finde lauter portugiesische, mit Ausnahme des Milton in englischer, des Ariosto in italienischer und der Charaktere des Labruyère in französischer Sprache.

»Dies alles, meine liebe Pauline, gibt mir einen sehr hohen Begriff von Ihnen; aber woher diese Vorliebe für Camoens und alle diese anderen Portugiesen?«

»Aus einem sehr natürlichen Grunde: Ich bin Portugiesin.«

»Sie Portugiesin? Ich habe Sie für eine Italienerin gehalten. In Ihrem jugendlichen Alter sprechen Sie fünf Sprachen – denn Sie müssen auch spanisch können.«

»Allerdings, obgleich das nicht durchaus notwendig ist.«

»Welche Erziehung!«

»Ich bin zweiundzwanzig Jahre alt, aber ich beherrschte diese Sprachen schon mit achtzehn.«

»Sagen Sie mir, wer Sie sind! Sagen Sie mir alles! Ich verdiene Ihr Vertrauen.«

»Ich glaube es, und ich werde es Ihnen beweisen, indem ich mich Ihnen ohne Furcht und ohne Rückhalt anvertraue; denn da Sie mich lieben, so können Sie mir nur wohlwollen.«

»Und was bedeuten alle diese beschriebenen Blätter?«

»Meine Geschichte, die ich hier niedergeschrieben habe. Setzen wir uns!«