Vierzehntes Kapitel


Fortsetzung des Vorhergehenden, aber noch seltsamer.

Am anderen Morgen gegen acht Uhr meldete Jarbe mir die Charpillon und sagte mir, sie habe ihre Sänftenträger fortgeschickt.

»Sag‘ ihr, ich will sie nicht empfangen.«

Aber in dem Augenblick, wo ich diese Worte sprach, trat sie ein, und Jarbe ging hinaus.

»Ich bitte Sie,« sagte ich so ruhig, wie es mir nur möglich war, »mir die beiden Wechsel zurückzugeben, die ich Ihnen gestern Abend anvertraut habe.«

»Ich habe sie nicht bei mir, aber warum soll ich sie Ihnen denn zurückgeben?«

Bei dieser Antwort lief mir die Galle über; meine Wut durchbrach den Damm meiner Zurückhaltung und ergoß sich in einer Flut von Schimpfworten. Meine Natur bedurfte dieses Ausbruches, um ihr Gleichgewicht wieder zu finden. Er endete mit einem unfreiwilligen Tränenerguß, dessen meine Vernunft sich schämte. Die niederträchtige Verführerin blieb ruhig wie die Unschuld; sie benutzte einen Augenblick, wo ich, von Schluchzen erstickt, kein Wort hervorbringen konnte, und sagte mir, sie sei nur so grausam gewesen, weil sie ihrer Mutter geschworen habe, sich keinem Manne in ihrem eigenen Hause hinzugeben. Nun sei sie zu mir gekommen, um mich von ihrer Zärtlichkeit zu überzeugen, indem sie sich rückhaltlos hingebe, und um mich niemals wieder zu verlassen, wenn ich sie behalten wolle.

Wenn ein Leser sich einbildet, bei dieser Erklärung habe mein ganzer Zorn sich verflüchtigt, und ich habe mich nun unverzüglich in den Besitz eines so heiß begehrten Gutes gesetzt, so kennt er die Natur der Leidenschaft nicht so gut, wie das unwürdige Geschöpf, dessen Spielball ich war, sie kannte. Er weiß nicht, daß die Liebe schnell in schwarzen Zorn übergehen kann, daß aber der umgekehrte Übergang sich langsam und schwer vollzieht. Und wenn es sich nur um Zorn allein handelt, so kann dieser durch Sanftmut, Tränen, Unterwürfigkeit und sogar durch bloße Schwäche besänftigt werden; aber wenn zum Zorn noch Entrüstung kommt, und wenn in dieses doppelte Gefühl sich noch der Schmerz einer bitteren Enttäuschung mischt, dann wird der Mann unfähig, plötzlich zur Zärtlichkeit und Wollust überzugehen. Es ist ein wütender Haß, dessen Dauer genau der Reizbarkeit des Temperamentes entspricht; er weicht erst, wenn er von selber aufgehört hat. Bei mir ist einfacher Zorn immer nur von kurzer Dauer gewesen; aber wenn Entrüstung hinzugekommen ist, dann hat meine stolze Vernunft mich stets unbeugsam gemacht, bis ich meinen Zorn vergessen und dadurch wieder meinen natürlichen Zustand erlangt hatte.

Wenn nun die Charpillon in einem solchen Augenblick sich mir zur Verfügung stellte, so wußte sie wohl, daß mein Zorn oder mein verletzter Stolz mich abhalten würde, sie beim Wort zu nehmen, und diese Wissenschaft, die bei dir, lieber Leser, vielleicht eine Tochter der Philosophie ist, war in der Seele einer liederlichen Kokette eine Tochter der Natur. Der Instinkt belehrt die Frauen besser, als Wissenschaft und Erfahrung einen Mann belehren können.

Gegen Abend verließ das junge Scheusal mich. Sie tat, wie wenn sie gekränkt, traurig, niedergeschlagen wäre, und sagte nur: »Ich hoffe, Sie werden wieder zu mir kommen, sobald Sie zur Besinnung gelangt sind.« Sie hatte acht Stunden bei mir verbracht und mich während dieser ganzen Zeit nur einige Male unterbrochen, um Beschuldigungen abzustreiten, die zwar wahr waren, die sie aber nicht zugeben durfte. Ich hatte den ganzen Tag nichts gegessen, um nicht genötigt zu sein, ihr etwas anzubieten und mit ihr zu essen.

Als sie fort war, trank ich eine Tasse Fleischbrühe; hierauf legte ich mich wieder zu Bett und hatte einen sehr ruhigen Schlaf. Beim Erwachen fühlte ich mich völlig wiederhergestellt. Indem ich nun über den Auftritt vom vorigen Tage nachdachte, glaubte ich, daß die Charpillon ihr Benehmen bereue, aber ich fühlte mich vollkommen gleichgültig gegen alles, was sie betraf.

Ich bekenne hier in aller Demut die Veränderung, die in London in meinem achtunddreißigsten Jahre die Liebe an mir bewirkte. Es war der Schluß des ersten Aktes meines Lebens. Der zweite Akt schloß mit meiner Abreise aus Venedig im Jahre 1783, und der dritte Akt wird offenbar hier in Dux schließen, wo ich mich damit unterhalte, diese Erinnerungen niederzuschreiben. Dann wird meine Komödie in drei Akten beendigt sein, und wenn man sie auspfeift, was ja wohl der Fall sein kann, so hoffe ich, dieses Pfeifen nicht zu hören, und dies ist eine Befriedigung, die noch mancher andere Autor sich gleich mir vorbehalten sollte. Aber ich habe dem Leser noch nicht die letzte Szene dieses ersten Aktes vorgeführt, und ich halte diese für die interessanteste.

Auf einem Spaziergang, den ich im Green-Park machte, wurde ich von Goudar angesprochen. Ich sah ihn mit Vergnügen, denn ich brauchte diesen in allen Lebenslagen erfahrenen Menschen. Er sagte zu mir: »Ich komme eben von der Charpillon; man ist dort in sehr fröhlicher Stimmung. Vergebens habe ich das Gespräch auf Sie zu bringen gesucht; ich konnte kein Wort aus den Weibern herausbringen.«

»Ich verachte sie und alles, was nah oder fern mit ihr zusammenhängt.«

Er lobte mich und forderte mich auf, bei dieser Meinung zu bleiben. Ich nahm ihn mit mir zum Essen, und wir gingen dann zur Kupplerin Walsh, wo wir die berühmte Kurtisane Kitty Fisher sahen, die dort auf den Herzog von *** wartete, um mit ihm auf den Ball zu gehen. Die Phryne war prachtvoll geschmückt, und es ist keine Übertreibung, wenn ich die Diamanten, die sie in diesem Augenblick auf dem Leibe trug, auf fünfhunderttausend Franken schätze; Goudar sagte mir, ich könnte die Gelegenheit benutzen und mich, bevor der Herzog käme, für zehn Guineen mit ihr amüsieren. Ich wollte jedoch nicht, denn sie war zwar reizend, aber sie sprach nur englisch. Da ich nun gewöhnt war, mit allen Sinnen zugleich zu genießen, so konnte ich mich nicht entschließen, mich der Liebe hinzugeben, ohne auch mein Ohr zu befriedigen. Als das Mädchen fort war, sagte die Walsh uns, Kitty habe eines Tages eine Banknote von tausend Guineen auf einem Butterbrot verzehrt. Es sei ein Geschenk gewesen, das der Ritter Atkins, der Bruder der schönen Lady Pitt, ihr gemacht habe. Ich weiß nicht, ob die Bank ihr für dieses Geschenk ihren Dank aussprechen ließ.

Ich verbrachte eine Stunde mit einer schönen Irländerin, namens Kennedy, die etwas Französisch radebrechte. Vom Champagner belebt, machte sie tausend tolle Sachen; aber das Bild der Charpillon verfolgte mich, mir selber unbewußt, und ich fand den Genuß abgeschmackt. Traurig und unzufrieden ging ich nach Hause. Die Vernunft sagte mir, daß ich mich besiegen und das hinterlistige Weib aus meinen Gedanken verjagen müßte; aber ein anderes Gefühl, das ich für Ehrgefühl hielt, sagte mir, ich dürfe ihr nicht den Triumph lassen, mir umsonst die beiden Wechsel abgenommen zu haben. Ich entschloß mich daher, mir die Papiere mit Güte oder mit Gewalt zurückzuverschaffen. Sicherlich würde ich ein Mittel dazu finden.

Herr von Malingan, bei dem ich die unglückselige Bekanntschaft des höllischen Geschöpfes gemacht hatte, lud mich zum Essen ein. Er hatte mich schon mehrere Male eingeladen, und ich glaubte, nicht immer ablehnen zu können. Doch nahm ich erst an, nachdem ich mir die Namen der Eingeladenen hatte sagen lassen; da keine Bekannte von mir dabei war, so hatte ich nichts einzuwenden.

Ich fand bei ihm zwei junge Lütticherinnen, von denen die eine mich auf den ersten Blick interessierte; sie machte mich mit ihrem Mann bekannt, den Malingan mir nicht vorgestellt hatte, sowie mit einem anderen jungen Mann, der der anderen Dame den Hof zu machen schien.

Da die Gesellschaft nach meinem Geschmack war, so hoffte ich schon einen schönen Tag zu verleben, als mein böser Geist die Charpillon zu uns führte. Sie trat mit lachendem Gesicht ein und sagte sofort zu Malingan: »Ich würde mich nicht bei Ihnen zum Essen eingeladen haben, wenn ich gewußt hatte, daß Sie so zahlreiche Gesellschaft haben; sollte ich Ihnen etwa lästig sein, so werde ich sofort gehen.«

Alle Welt begrüßte sie auf das freundlichste; nur ich stand Folterqualen aus. Um das Ärgernis voll zu machen, gab man ihr den Platz zu meiner Linken. Wäre sie gekommen, bevor wir bei Tisch saßen, so hätte ich leicht einen Vorwand gefunden, um mich zu entfernen; da ich aber bereits begonnen hatte, meine Suppe zu essen, so hätte ich mich lächerlich gemacht, wenn ich gegangen wäre. So beschloß ich denn, sie nicht anzusehen und meine ganze Aufmerksamkeit nur meiner Dame zur Rechten zu widmen. Als wir von Tisch aufgestanden waren, gab Malingan mir sein Ehrenwort, daß er die Charpillon nicht eingeladen habe; sein Schwur überzeugte mich jedoch nicht, obgleich ich aus Höflichkeit so tat, wie wenn ich ihm glaubte.

Die beiden Lütticherinnen und ihre Kavaliere sollten in drei oder vier Tagen nach Ostende segeln. Indem wir von ihrer Abreise sprachen, sagte die eine Dame, die mich interessiert hatte, sie bedaure, England verlassen zu müssen, ohne Richmond gesehen zu haben. Ich bat sie, mir die Ehre zu bewilligen, es ihr am nächsten Tage zeigen zu dürfen. Ohne ihre Antwort abzuwarten, lud ich ihren Gemahl und so nach und nach die ganze Gesellschaft ein, außer der Charpillon, die ich nicht ansah.

Als die Einladung angenommen war, sagte ich: »Zwei Wagen zu vier Sitzen werden um acht Uhr bereit sein; wir sind ja gerade acht.«

»Wir sind neun, denn ich werde mitfahren!« rief die Charpillon, indem sie mich mit der frechsten Miene ansah; »ich hoffe, mein Herr, Sie werden mich nicht fortschicken.«

»Nein; denn das wäre unhöflich. Ich werde vorausreiten.«

»Oh! Das ist durchaus nicht nötig; denn ich werde Fräulein Emilie auf meinen Schoß nehmen.«

Emilie war Malingans Tochter. Da alle Welt den Vorschlag reizend fand, so hatte ich nicht den Mut, mich dagegen zu sträuben. Einige Augenblicke darauf mußte ich mal hinausgehen; als ich zurückkam, fand ich das freche Geschöpf auf dem Treppenabsatz. Sie redete mich an und sagte: ich hätte ihr einen blutigen Schimpf angetan. Ich wäre ihr dafür eine Genugtuung schuldig, oder sie würde sich auf eine Weise rächen, die mir sehr schmerzlich sein sollte.

»Geben Sie mir zuerst meine Wechsel zurück!« antwortete ich.

»Sie werden sie morgen bekommen, aber denken Sie daran, Ihre Beleidigung wieder gut zu machen.«

Ich verließ die Gesellschaft gegen Abend, nachdem wir verabredet hatten, daß wir am anderen Morgen bei mir frühstücken wollten.

Um acht Uhr waren die beiden Wagen bereit. Malingan, seine Frau, seine Tochter und die beiden Herren stiegen in den ersten Wagen, und ich mußte mich mit den beiden Lütticherinnen und der Charpillon, die sich mit diesen innig befreundet zu haben schien, in den zweiten setzen. Dies ärgerte mich, und ich war während der ganzen fünf Viertelstunden dauernden Fahrt verdrießlich. Ich bestellte zunächst ein gutes Mittagessen; hierauf besichtigten wir das Schloß und den Park. Das Wetter war herrlich, obgleich wir schon tief im Herbst waren.

Während des Spazierganges machte die Charpillon sich an mich heran und sagte mir, sie wolle mir meine Wechsel an demselben Orte wiedergeben, wo sie sie von mir erhalten habe. Da wir von der übrigen Gesellschaft ziemlich weit entfernt waren, überhäufte ich sie mit Beleidigungen. Ich warf ihr ihre Hinterlist vor, ihre tiefe Verderbtheit in einem Alter, wo man noch einige natürliche Unschuld bei ihr hätte voraussetzen dürfen. Ich gab ihr den Namen, den sie verdiente, und zählte ihr die Herren auf, mit denen sie sich prostituiert hatte. Zum Schluß drohte ich ihr mit meiner Rache, wenn sie mich aufs äußerste treiben sollte. Sie blieb aber eiskalt und ließ in vollkommener Ruhe das Gewitter über sich ergehen, das auf sie herniederstürzte. Nur als die Gesellschaft uns so nahe kam, um uns hören zu können, bat sie mich, leiser zu sprechen. Man hörte mich aber doch, und das war mir angenehm.

Endlich gingen wir zum Essen. Das gemeine Geschöpf setzte sich neben mich; sie machte und sagte tausend Ausgelassenheiten, die den Glauben erwecken sollten, daß wir auf dem vertrautesten Fuß miteinander stünden, oder daß sie zum mindesten verliebt in mich sei und sich wenig daraus mache, ob man sie für unglücklich halte, weil ihr Entgegenkommen mich offenbar sehr kalt ließ. Ich ärgerte mich darüber sehr; denn die Gesellschaft mußte mich für einen Dummkopf halten oder glauben, daß sie sich ganz offen über mich lustig machte.

Nach dem Essen gingen wir wieder in den Garten. Die Charpillon wollte durchaus den Sieg davontragen und hängte sich an meinen Arm. Sie führte mich nach einigen Umwegen zum Labyrinth und stellte dort einen neuen Versuch an, welche Macht ihre Reize hätten. Sie zog mich auf das Gras nieder und griff mich mit den liebevollsten Worten, mit den zärtlichsten und leidenschaftlichsten Liebkosungen an. Indem sie meinen Augen den interessantesten Teil ihrer Reize darbot, gelang es ihr, mich zu verführen; doch kann ich nicht genau sagen, ob Liebe oder Rachbegier mich bestimmte, ihren Wünschen nachzugeben; vielleicht wurde ich, mir selber unbewußt, von beiden Gefühlen getrieben.

Übrigens erschien sie in diesem Augenblick so hingebend! Ihr glühendes, feuchtes Auge, ihre entflammten Wangen, ihre wollüstigen Küsse, ihr wogender Busen, ihr fliegender Atem – dies alles mußte in mir den Glauben erwecken, daß sie ebensosehr der Niederlage bedurfte wie ich des Triumphes. Ganz gewiß konnte ich nicht an Widerstand denken, geschweige denn an einen im voraus berechneten Widerstand.

So wurde ich denn sanft und zärtlich; ich tat ihr Abbitte, indem ich meine Wut und das von mir begangene Unrecht auf das Übermaß meiner Liebe schob. Ihre glühenden Küsse erwiderten die meinigen und besiegelten die Versöhnung, und ich glaubte mich durch ihre Blicke und das sanfte Anschmiegen ihres Leibes von ihr aufgefordert, mich der süßesten Gunst zu bemächtigen – – aber in dem Augenblick, wo meine Hand die Pforte des Heiligtums öffnete, schleuderte eine Bewegung mich weit vom Ziel zurück.

»Wie? Willst du mich schon wieder betrügen?«

»Nein, aber für jetzt ist es genug, mein lieber Freund. Ich verspreche dir, die Nacht bei dir und ohne jeden Rückhalt in deinen Armen zu verbringen.«

Meine aufgeregten Sinne hatten mich der Vernunft beraubt, und ich war meiner selber nicht mehr mächtig. Ich sah nur das treulose Weib, das sich schon so oft über meine dumme Leichtgläubigkeit lustig gemacht hatte. Ich wollte den Augenblick benutzen und mich befriedigen oder mich rächen. So hielt ich sie denn mit meinem linken Arm unbeweglich unter mir fest, zog aus meiner Tasche ein kleines Messer, das ich mit meinen Zähnen öffnete, setzte ihr die Spitze an den Hals und bedrohte sie mit dem Tode, wenn sie mir den geringsten Widerstand leisten würde.

»Machen Sie nur, was Sie wollen,« sagte sie im ruhigsten Ton zu mir; »ich bitte Sie nur um mein Leben. Aber wenn Sie sich befriedigt haben, werde ich nicht von hier fortgehen; man kann mich mit Gewalt in den Wagen tragen, aber nichts wird mich abhalten, den Grund meines Benehmens zu sagen.«

Diese Drohung war überflüssig; denn ich hatte schon meine Vernunft wiedererlangt, und ich fand mich selber kläglich, daß ich mich so weit erniedrigen konnte, und zwar wegen eines Geschöpfes, das ich im höchsten Grade verachtete, obgleich sie dank den rasenden Begierden, die sie mir einzuflößen wußte, eine fast zauberhafte Herrschaft über mich ausübte. Ich stand auf, ohne ein einziges Wort zu sagen, nahm meinen Hut und Stock und verließ schnell einen Ort, wo die zügelloseste Leidenschaft mich an den Rand des Abgrundes gebracht hatte.

Der Leser wird es nicht glauben, und doch ist es die volle Wahrheit: die Schamlose kam mir sofort nach und hängte sich mit ganz natürlicher Miene an meinen Arm, wie wenn zwischen uns nichts vorgefallen wäre. Unmöglich kann ein Mädchen von siebzehn Jahren in so niederträchtigem Benehmen so gewandt sein, ohne vorher in hundert ähnlichen Kämpfen ihre Kräfte erprobt zu haben. Ist einmal das Gefühl der Scham überwunden, so sieht sie sogar einen Ruhm in dem, was sie eigentlich mit Schande bedecken müßte.

Als wir zur Gesellschaft zurückkamen, fragte man mich, ob mir unwohl geworden sei, aber auf ihren Zügen bemerkte niemand auch nur die geringste Veränderung.

Wir fuhren nach London zurück; ich schützte ein heftiges Kopfweh vor, grüßte die Gesellschaft und ging nach Hause.

Dieses Abenteuer hatte einen schrecklichen Eindruck auf meinen Geist gemacht. Ich erkannte klar und deutlich, daß ich ein verlorener Mann war, wenn ich nicht jede Gelegenheit floh, mit dem Mädchen zusammenzukommen. Ihr haftete in meinen Augen etwas Wunderbares an, dem ich nicht widerstehen konnte. Ich faßte also den Beschluß, sie nicht wiederzusehen; zugleich aber schämte ich mich meiner Schwäche, daß ich ihr meine beiden Wechsel anvertraut und mich selbst von ihr hatte betrügen lassen, und schrieb daher der Mutter ein Briefchen, worin ich ihr riet, die Tochter zur Rückgabe zu veranlassen; sonst würde ich gegen sie Schritte tun, die ihr sehr unangenehm sein würden.

Am Nachmittag erhielt ich folgende Antwort:

»Ich bin sehr überrascht, mein Herr, daß Sie sich an mich wenden, um die beiden Wechsel von sechstausend Franken zurückzuerhalten, die Sie meiner Tochter anvertraut haben. Sie sagt mir soeben, sie werde sie Ihnen persönlich übergeben, wenn Sie vernünftiger geworden seien und sie zu achten gelernt haben.«

Dieser unverschämte Brief trieb mir das Blut in den Kopf, und ich vergaß meinen Entschluß vom Morgen. Ich steckte zwei Pistolen in die Tasche und ging nach dem Hause des unwürdigen Frauenzimmers, um es mit Stockschlägen zur Herausgabe meiner Wechsel zu zwingen.

Meine Pistolen hatte ich nur mitgenommen, um die beiden Gauner, die jeden Abend bei ihr aßen, in Schach zu halten. Wütend kam ich vor dem Hause an, aber ich ging an ihrer Tür vorüber, als ich einen jungen Friseur bei ihr eintreten sah, einen ziemlich schönen, jungen Menschen, der ihr jeden Samstag Abend die Haare wickelte.

Ich wollte nicht, daß bei der von mir geplanten Szene ein Fremder anwesend sei, und ging daher bis an die Straßenecke, wo ich stehen blieb, um das Herauskommen des Friseurs abzuwarten. Als ich etwa eine halbe Stunde gewartet hatte, sah ich die beiden Zuhälter des Hauses, Rostaing und Caumon, herauskommen. Dies war mir sehr angenehm. Ich wartete und wartete; es schlug elf Uhr, und der schöne Friseur kam immer noch nicht. Kurz vor Mitternacht sah ich, wie die Tür sich öffnete und wie eine Magd mit einem Licht in der Hand herauskam, um etwas zu suchen, was aus einem Fenster gefallen zu sein schien. Geräuschlos gehe ich an das Haus, trete ein, öffne die Tür zum Wohnzimmer, die sich unmittelbar neben der Haustüre befindet, und sehe die Charpillon und den Friseur auf dem Kanapee liegen und, wie Shakespeare sagt, das Tier mit den zwei Rücken machen.

Bei meinem Anblick stößt die Spitzbübin höchst erschrocken einen Schrei aus und wirft den Burschen aus dem Sattel. Er bringt schnell seine Kleider in Ordnung, während ich meinen Stock, so schnell ich kann, auf ihn niedersausen lasse, bis der Lärm Mägde, Tanten und Mutter herbeigelockt hat, und er die Verwirrung benützt, um sich aus dem Staube zu machen.

Während dieses Spektakels hockte die Charpillon zitternd und halbnackt hinter dem Kanapee; sie wagte kaum zu atmen, weil der Hagelschauer jeden Augenblick über sie so gut niedergehen konnte wie über ihren Liebsten. Unterdessen gingen die drei alten Weiber wie Furien auf mich los; aber ihre Schimpfereien erregten meinen Zorn nur noch heftiger, und ich zertrümmerte Spiegel, Porzellan, Möbel. Als sie fortwährend weiterschrien, drohte ich ihnen, ich würde ihnen den Schädel einschlagen, wenn sie nicht endlich still wären. Infolge dieser Drohungen wurde es endlich ruhig. Völlig erschöpft warf ich mich auf das verhängnisvolle Kanapee und befahl der Mutter, mir die Wechsel zurückzugeben. In diesem Augenblick erschien die Nachtwache auf der Bildfläche.

Diese Nachtwache besteht nur aus einem einzigen Mann, der die ganze Nacht hindurch, in der einen Hand eine Laterne, in der anderen einen langen Stock, sein Viertel durchwandert. Auf diesem einzigen Mann ruht der Friede des Viertels und die Ruhe der großen Stadt. Diese Wächter trifft man überall, und niemand wagt sich gegen sie aufzulehnen. Ich drückte ihm drei oder vier Kronen in die Hand und sagte: Go away – gehen Sie! Damit schob ich ihn zur Tür hinaus. Ich setzte mich wieder auf das Kanapee und verlangte abermals meine Wechsel von der Mutter. Sie sagte mir: »Ach, ich hab‘ sie nicht; meine Tochter hat sie in Verwahrung.«

»Lassen Sie sie rufen!«

Hierauf sagten die beiden Mägde, die Charpillon sei, wahrend ich das Porzellan zertrümmert habe, aus der Straßentür gelaufen, und sie wüßten nicht, wohin sie gegangen sei. Als sie dies hörten, fingen Mutter und Tante zu schreien und zu weinen an: »Meine arme Tochter! Um Mitternacht allein in den Straßen von London! Meine liebe Nichte, das arme Kind, und in dem Zustand! Sie ist ja verloren! Verflucht sei der Augenblick, wo Sie nach England gekommen sind, um uns alle unglücklich zu machen!«

Da meine Wut sich hatte austoben können, so hatte sie Zeit gehabt, sich zu beruhigen. Mit der Ruhe kam auch die Überlegung, und ich schauderte bei der Vorstellung, daß das geängstigte junge Mädchen zu dieser Stunde allein durch die Straßen der Riesenstadt irrte. »Geht,« sagte ich zu den beiden Mädchen, »und sucht sie bei den Nachbarn; ihr werdet sie ganz gewiß finden. Wenn ihr mir meldet, daß sie in Sicherheit ist, soll jede von euch eine Guinee bekommen.«

Als die drei Gorgonen sahen, daß mir daran gelegen war, die Charpillon wieder aufzufinden, fingen sie von neuem an zu jammern, zu schimpfen, mir Vorwürfe zu machen; ich saß stumm und unbeweglich da, wie wenn ich ihnen zugeben wollte, daß sie recht hatten und daß das ganze Unrecht auf meiner Seite wäre. Ungeduldig wartete ich auf die Rückkehr der Mädchen. Nach ein Uhr kamen sie endlich, ganz außer Atem und mit verzweifelten Gebärden. Sie sagten: »Wir haben sie überall gesucht, aber vergeblich, wir haben sie nirgends finden können.« Ich gab ihnen zwei Guineen, wie wenn sie sie wirklich gebracht hatten. Unbeweglich blieb ich sitzen; mich erschreckte der Gedanke, welche entsetzlichen Folgen für das junge Mädchen die fürchterliche Angst haben konnte, in die meine Wut sie versetzt haben mußte. Wie schwach und dumm ist der Mensch, wenn er verliebt ist!

In meiner Aufregung über dies schreckliche Ereignis war ich so einfältig, diesen Spitzbübinnen meine Reue auszudrücken. Ich beschwor sie, sie sofort nach Tagesanbruch überall suchen zu lassen und mir ihre Heimkehr sofort mitzuteilen; ich wolle mich ihr zu Füßen stürzen, sie um Verzeihung bitten und sie dann niemals wiedersehen. Außerdem versprach ich ihnen, alles von mir Zerschlagene zu bezahlen, die Wechsel mit meinem Namen zu quittieren und ihnen zu überlassen. Nachdem ich zur ewigen Schande meiner Vernunft diese Torheiten begangen und diesen Kupplerinnen, denen die Ehre und meine Person zum Gespött waren, Abbitte geleistet hatte, entfernte ich mich, indem ich der Magd, die mir die Wiederauffindung ihrer jungen Herrin melden würde, zwei Guineen versprach.

Vor der Haustür fand ich den Wachtmann, der auf mich wartete, um mich nach Hause zu bringen. Es war zwei Uhr. Ich warf mich auf mein Bett, und ein sechsstündiger Schlummer bewahrte mich wahrscheinlich vor dem Verlust meiner Vernunft, obwohl mein Schlaf von bösen Träumen beunruhigt wurde.

Um acht Uhr morgens hörte ich an die Haustür klopfen. Ich eilte an mein Fenster und bemerkte eine von den Mägden meiner Feindinnen. Mit heftigem Herzklopfen rief ich meinen Leuten zu, man solle sie eintreten lassen, und ich atmete erleichtert auf, als ich vernahm, daß Miß Charpillon soeben in einer Sänfte nach Hause gekommen sei; sie befinde sich jedoch in einem kläglichen Zustande, und man habe sie sofort zu Bett gebracht. »Ich bin schnell hergelaufen, um Ihnen dies zu sagen,« sagte das abgefeimte Weib zu mir, »nicht wegen Ihrer zwei Guineen, sondern weil ich Sie so unglücklich gesehen habe.«

Sofort ging ich auf den Leim, als ich diesen Ausdruck von Teilnahme hörte. Ich gab ihr die zwei Guineen, ließ sie neben meinem Bett Platz nehmen und bat sie, mir alle Umstände der Rückkehr ihres Fräuleins ganz genau zu erzählen. Ich dachte gar nicht daran, daß das Mädchen von seiner Herrin abgerichtet sein könnte. Ich befand mich eben in einer Periode von Dummheit und Selbsttäuschung.

Die Spitzbübin begann damit, daß sie mir sagte, ihre junge Herrin liebe mich und habe mich nur betrogen, weil ihre Mutter es verlangt habe.

»Das weiß ich, aber wo hat sie diese Nacht verbracht?«

»Bei einer Modistin, deren Laden sie offen fand, und die sie kennt, weil sie verschiedenes bei ihr gekauft hat. Sie hat sich mit heftigem Fieber zu Bett gelegt, und ich fürchte, die Sache wird böse Folgen haben, denn sie befindet sich in ihrer kritischen Periode.«

»Das ist nicht wahr; denn ich habe sie mit ihrem Friseur auf frischer Tat ertappt.«

»Oh! Das beweist nichts! Der arme junge Mann nimmt das nicht so genau.«

»Aber sie ist in ihn verliebt.«

»Das glaube ich nicht, obgleich sie oft ganze Stunden mit ihm verbringt.«

»Und du sagst, sie liebt mich!«

»Aber dem steht doch nichts im Wege! Was sie mit ihm treibt, ist bloß eine flüchtige Laune.«

»Sage ihr, ich will den ganzen Tag an ihrem Bette sitzen, und bringe mir die Antwort!«

»Ich werde das andere Mädchen schicken, wenn es Ihnen recht ist.«

»Nein; die spricht ja nur englisch.«

Sie ging. Als sie um drei Uhr noch nicht wiedergekommen war, konnte ich es vor Ungeduld nicht länger aushalten und entschloß mich, zur Charpillon zu gehen und nach ihrem Befinden zu fragen. Ich klopfte; eine von den Tanten erschien und bat mich, lieber nicht einzutreten; denn die beiden Freunde seien wütend auf mich, und ihre Nichte liege im Fieberdelirium; sie schreie unaufhörlich: ›Da ist Seingalt, mein Henker! Er will mich töten! Rettet mich!‹ »Um Gottes willen, mein Herr, gehen Sie.«

Verzweifelt ging ich nach Hause. Daß man mich belogen hätte, fiel mir nicht ein. Meine Traurigkeit war so groß, daß ich den ganzen Tag nichts essen konnte; denn ich war nicht imstande, etwas hinunterzubringen. Die ganze Nacht tat ich kein Auge zu; ich hatte Fieber. Vergeblich trank ich mehrere starke Liköre, in der Hoffnung, mich zu betäuben und dann einschlafen zu können.

Am nächsten Morgen um neun Uhr stand ich wieder vor der Tür der Charpillon; wie am Tage vorher wurde nur ein schmaler Spalt geöffnet. Dieselbe alte Tante verbot mir einzutreten und sagte mir, die Kranke habe zwei Rückfälle gehabt; sie liege im Delirium und rufe fortwährend entsetzt meinen Namen; der Arzt habe erklärt, wenn es sich verschlimmere, habe sie keine vierundzwanzig Stunden mehr zu leben. »Infolge des Schrecks hat die Menstruation gestockt; sie ist in einem schrecklichen Zustande.«

»Verdammter Friseur!«

»Jugendschwäche! Sie hätten tun sollen, wie wenn Sie nichts sähen.«

»Bei allen Göttern! Halten Sie das wirklich für möglich, alte Hexe? Lassen Sie es ihr an nichts fehlen. Da!«

Mit diesen Worten gab ich ihr eine Banknote von zehn Guineen und rannte wie ein Wahnsinniger davon. Unterwegs begegnete ich Goudar, der über mein Aussehen erschrak. Ich bat ihn nachzusehen, wie die Charpillon sich befinde, und dann den ganzen Tag bei mir zu verbringen. Eine Stunde darauf kam er wieder zu mir und sagte mir, er habe das ganze Haus in Verzweiflung gefunden, und das Mädchen liege in den letzten Zügen.

»Haben Sie sie gesehen?«

»Nein; man hat mir gesagt, sie sei nicht sichtbar.«

»Glauben Sie, daß es wahr ist?«

»Ich weiß nicht, was ich davon denken soll; aber die eine Magd, die mir sonst gewöhnlich die Wahrheit sagte, hat mir versichert, die Charpillon sei wahnsinnig geworden, weil ihre Menstruation unterbrochen worden sei; sie habe beständig Fieber und Krämpfe. Das alles ist wohl glaublich; denn dies sind die gewöhnlichen Folgen eines großen Schrecks, wenn eine Frau ihre kritische Periode hat. Sie hat mir gesagt, Sie seien an dem ganzen Unglück schuld.«

Ich erzählte ihm nun die ganze Geschichte. Er konnte weiter nichts tun als mich bedauern; als er aber hörte, daß ich seit achtundvierzig Stunden nicht mehr hätte essen noch schlafen können, da sagte er mir sehr richtig, dieser Kummer könne mir das Leben oder den Verstand kosten. Das wußte ich; aber ich sah kein Mittel dagegen. Goudar verbrachte den ganzen Tag bei mir, und das war gut für mich. Da ich nicht essen konnte, so trank ich sehr viel, und da ich nicht schlafen konnte, so ging ich mit großen Schritten in meinem Zimmer auf und ab und sprach mit mir selber, wie ein Mensch, der einen Sparren im Kopfe hat.

Als ich am dritten Tage immer noch nichts Bestimmtes über das Befinden der Charpillon hatte erfahren können, ging ich morgens um sieben Uhr nach ihrem Hause. Nachdem ich eine Viertelstunde auf der Straße gewartet hatte, wurde die Tür wiederum nur ein bißchen geöffnet; die Mutter erschien und sagte mir mit strömenden Tränen, ihre Tochter liege im Todeskampfe, und sie könne mir nicht erlauben, das Haus zu betreten.

Im selben Augenblick kam ein magerer, kleiner alter Mann mit blassem Gesicht heraus und sagte ihr auf Schweizerdeutsch, sie müsse sich in Gottes Willen schicken. Ich fragte die niederträchtige Kupplerin, ob das der Arzt sei.

»Von einem Arzt ist hier nicht mehr die Rede,« sagte die Heuchlerin, indem sie noch heftiger weinte; »es ist ein Diener des Heiligen Evangeliums, und ein zweiter ist noch oben. Mein armes Mädchen! Spätestens in einer Stunde wird sie nicht mehr sein!«

Ich hatte in diesem Augenblick ein Gefühl, wie wenn eine eisige Hand mein Herz zusammenpreßte. Ich ging, indem ich zu der weinenden Frau sagte: »Ich bin allerdings die letzte Ursache dieses Todes; aber Sie, Unglückselige, haben sie getötet.«

Ich fühlte meine Beine unter mir wanken und ging nach Hause mit dem festen Entschluß, mir auf die sicherste Art das Leben zu nehmen.

Um diesen Plan mit der größten Kaltblütigkeit auszuführen, befahl ich, alle Besuche abzuweisen; sobald ich in meinem Zimmer war, legte ich Uhren, Ringe, Tabaksdosen, Börse und Brieftasche in meine Kassette, die ich in mein Schreibpult verschloß. Hierauf schrieb ich einen Brief an den venetianischen Gesandten und teilte ihm mit, daß nach meinem Tode alle meine Habe Herrn von Bragadino gehören solle. Ich versiegelte den Brief und legte ihn in dasselbe Schreibpult, worin ich meine Kassette, meine Diamanten und meine Schmucksachen hatte. Den Schlüssel nebst einigen Guineen in Silbergeld steckte ich in die Tasche. Dann nahm ich meine guten Pistolen und verließ mein Haus in der festen Absicht, mich beim Tower in der Themse zu ertränken.

Ich hatte diesen Entschluß nicht im Zorn oder aus Liebe gefaßt, sondern bei kältester Überlegung. Ich ging zu einem Kaufmann und kaufte soviele Bleikugeln, wie meine Taschen tragen konnten, und wie ich glaubte, bis zum Tower schleppen zu können; denn ich mußte dorthin zu Fuß gehen. Unterwegs bestärkten alle meine Gedanken mich immer mehr bei meinem Plan; denn ich sagte mir: wenn ich weiter lebte, würde ich jeden Tag tausendmal alle Qualen der Hölle erdulden, indem ich das Bild der Charpillon vor mir sähe, die mir mit Recht ihren Tod vorwerfen würde. Ich freute mich sogar, daß ich keiner Selbstüberwindung bedurfte, einen Entschluß auszuführen, der mir aus der strengsten Vernunft hervorgegangen zu sein schien. Außerdem fühlte ich einen geheimen Stolz, daß ich den Mut hätte, mich selber für das Verbrechen zu bestrafen, dessen ich mich schuldig glaubte.

Ich ging mit langsamen Schritten wegen des ungeheuren Gewichtes, das ich in meinen Taschen trug und das mir die Sicherheit gab, daß ich sofort untersinken und sterben würde, bevor man mich an die Oberfläche bringen könnte.

Mitten auf der Westminster-Brücke führte mein guter Geist mir den Chevalier Edgar in den Weg. Das war ein liebenswürdiger, weiser, junger Engländer, der sein Leben genoß, indem er seinen Leidenschaften folgte. Ich hatte ihn bei Lord Pembroke kennen gelernt, und er hatte einige Male bei mir gespeist. Wir gefielen einander; er wußte angenehm zu plaudern, und wir hatten in fröhlichen Unterhaltungen angenehme Augenblicke verbracht. Ich wollte ihm ausweichen; aber er hatte mich bereits gesehen und nahm freundschaftlich meinen Arm.

»Wo wollen Sie hin? Kommen Sie mit mir, das heißt, wenn Sie nicht irgend jemand aus dem Gefängnis befreien wollten. Kommen Sie, wir werden einen Spaß haben!«

»Ich kann nicht, mein Lieber! Lassen Sie mich, bitte.«

»Ich erkenne Sie ja gar nicht wieder mit Ihrer düsteren Miene. Was haben Sie denn?«

»Ich? Nichts.«

»Sie haben nichts? Sie wissen nur nicht, wie Sie aussehen. Ich bin überzeugt, Sie haben irgend etwas Böses vor.«

»Sie irren sich.«

»Leugnen hat keinen Zweck.«

»Ich sage Ihnen ja: ich habe nichts. Leben Sie wohl, ein anderes Mal werde ich mit Ihnen gehen.«

»Ei, mein lieber Seingalt, Sie sehen ja ganz düster aus. Die Farbe steht Ihnen nicht. Ich gehe nicht von Ihrer Seite. Lassen Sie mich mitkommen!«

Gleichzeitig fiel sein Blick auf meine Hosentasche, und er bemerkte den Kolben der einen Pistole. Ohne weitere Umstände griff er nach der andern Tasche, fühlte die Pistole und sagte: »Natürlich wollen Sie sich schlagen! Da will ich dabei sein. Ich werde mich dem Kampf nicht widersetzen, aber ich verlasse Sie nicht.«

Ich zwang mich zu lächeln und versicherte ihm, daß ich mich nicht schlagen wollte; ohne mir etwas dabei zu denken, sagte ich ihm: »Ich mache nur einen Spaziergang, um mich zu zerstreuen.«

»Sehr schön,« rief Edgar; »in diesem Fall, hoffe ich, wird meine Gesellschaft Ihnen ebenso angenehm sein wie mir die Ihrige. Ich gehe nicht von Ihnen. Nach dem Spaziergang werden wir in der Kanone zu Mittag essen. Ich werde einem jungen Mädchen, das dort mit mir speisen sollte, Bescheid sagen lassen, daß sie eine reizende junge Französin mitbringen soll, und wir machen eine Partie zu Vieren.«

»Mein lieber Freund, entbinden Sie mich von der Teilnahme! Ich bin traurig und muß allein sein, um meinen Verdruß los zu werden.«

»Das können Sie morgen tun, wenn Sie es dann noch nötig haben; aber ich bin überzeugt, binnen drei Stunden ist Ihre schwarze Laune verflogen. Wenn nicht, so werde ich mich eben mit Ihnen zusammen langweilen. Wo gedachten Sie denn am anderen Ufer zu speisen?«

»Nirgends. Ich brauche nicht zu essen, denn ich habe keinen Appetit. Ich habe seit drei Tagen nichts gegessen; ich kann nur trinken.«

»Das alles ist unnatürlich; aber die Sache wird mir schon klar: Ihnen ist wegen irgend eines Ärgers die Galle übergelaufen; Sie könnten darüber verrückt werden, ja sogar sterben, wie es einem meiner Brüder passiert ist. Da muß ich aufpassen!«

Da Edgar hartnäckig blieb und da seine scherzhaften Bemerkungen sehr richtig waren, so sagte ich zu mir selber: »Auf einen Tag mehr kommt es schließlich auch nicht an. Ich kann meine Absicht ausführen, wenn ich wieder allein bin. Ich wage dabei weiter nichts, als daß ich ein paar Stunden länger lebe.«

Ich bin überzeugt, daß Menschen, die sich infolge eines großen Kummers das Leben genommen haben, damit nur dem Verlust ihrer Vernunft zuvorgekommen sind, wie es andererseits unbestritten ist, daß diejenigen, die wahnsinnig werden, diesem Unglück nur dadurch ausweichen können, daß sie sich den Tod geben. Erst in dem Augenblick beschloß ich mich zu töten, als der Wahnsinn meine Vernunft zerstört haben würde, wenn ich noch einen Tag länger gezögert hätte, diesen Entschluß zu fassen. Aber man muß noch einen Zusatz machen: Der Mensch darf sich niemals töten, denn es ist möglich, daß die Ursache seines Kummers aufhört, bevor der Wahnsinn eintritt. Das will sagen, daß diejenigen glücklich sind, die eine so starke Seele haben, um niemals zu verzweifeln. Meine Seele hatte in diesem Augenblick nicht Kraft genug; ich hatte alle Hoffnung verloren, und daß ich mich töten wollte, war vernünftig, was auch der Leser davon denken mag. Nur einem Zufall verdankte ich Leben und neue Hoffnung.

Als Edgar hörte, daß ich nur zu meinem Vergnügen nach der anderen Stadtseite gehen wollte, sagte er nur, wir könnten ebenso gut umkehren. Ich ließ mich überreden. Aber eine halbe Stunde darauf konnte ich mich wegen des Bleis, womit meine Taschen angefüllt waren, nicht weiterschleppen und bat ihn daher, er möchte mich irgendwohin führen, wo ich auf ihn warten könnte, denn ich könnte vor Schwäche nicht mehr gehen. Ich gab ihm mein Wort, ich würde ihn in der Kanone erwarten.

Sobald ich allein war, leerte ich meine Taschen und legte die Kugeln in einen Schrank. Als ich mich hierauf ein wenig ausruhte, überlegte ich mir, daß möglicherweise der liebenswürdige junge Mann meinen Selbstmord verhindert habe; denn durch die Verzögerung war die Ausführung bereits ungewiß geworden.

Indem ich diese Betrachtungen anstellte, gab ich mich keinen Hoffnungen hin, sondern ich sah eben nur voraus, daß vielleicht Edgar vom Schicksal dazu bestimmt sein könnte, mich von einem Angriff auf mein Leben zurückzuhalten. Es fragte sich nur noch, ob er mir damit etwas Gutes oder Böses tat. Ich zog den Schluß, daß wir bei allen entscheidenden Handlungen nur bis zu einem bestimmten Grade unsere eigenen Herren sind. Indem ich in dieser Schenke saß, glaubte ich, von einer höheren Macht gezwungen zu sein, auf die Rückkehr des jungen Engländers zu warten.

Bald kam Edgar. Er freute sich, mich vorzufinden, und sagte: »Ich habe auf Ihr Versprechen gerechnet.«

»Sie konnten doch nicht annehmen, daß ich mein Ehrenwort brechen würde.«

»Es beruhigt mich, Sie so sprechen zu hören; die düstere Laune wird verfliegen.«

Die vernünftige, scherzhafte und immer herzlich wohlwollende Unterhaltung des jungen Mannes tat mir wohl; ich begann bereits tiefe Wirkung zu spüren, als die beiden jungen Mädchen ankamen, von denen die eine eine Französin war. Fröhlichkeit strahlte von ihren reizenden Gesichtern; sie waren zum Vergnügen geschaffen, und die Natur hatte sie reichlich mit allem begabt, was in den kältesten Männern Begierden entzündet. Ich ließ ihnen volle Gerechtigkeit widerfahren, empfing sie aber doch nicht so, wie sie es gewöhnt waren. Offenbar sahen sie in mir einen sauertöpfischen Hypochonder; obwohl ich mich todkrank fühlte, ärgerte dies doch gewissermaßen meine Eitelkeit, und ich zwang mich, den Gefühlvollen zu spielen. Ich gab ihnen einige Küsse, aber diese waren ohne Seele, ohne Feuer; hierauf bat ich Edgar, seiner Landsmännin zu sagen, wenn ich nicht dreiviertel tot wäre, würde ich ihr beweisen, daß ich sie reizend fände. Sie beklagten mich. Ein Mensch, der dreimal vierundzwanzig Stunden lang nicht gegessen und nicht geschlafen hat, ist wenig empfänglich für die Reizungen der Liebe; aber Worte würden auf die beiden Priesterinnen keinen großen Eindruck gemacht haben, wenn Edgar ihnen nicht meinen Namen genannt hätte. Ich hatte einen Ruf, und sobald sie hörten, wer ich sei, sah ich sie von Ehrfurcht durchdrungen. Alle drei hofften, Bacchus und Comus würden Amor zu Hilfe kommen; ich ließ sie reden, aber ich wußte wohl, daß ihre Hoffnungen eitel sein würden.

Wir hatten ein Essen nach englischer Art, das heißt ohne das Wesentlichste: die Suppe. Ich nahm daher nur einige Austern mit einem köstlichen Graves zu mir; aber ich fühlte mich wohl, denn es machte mir Vergnügen, wie geschickt Edgar die beiden Nymphen beschäftigte.

Als die Freude auf ihrem Höhepunkt war, schlug der junge Tollkopf den Engländerinnen vor, den Hornpipe im Kostüm unserer Mutter Eva zu tanzen. Sie erklärten sich bereit unter der Bedingung, daß wir im Kostüm unseres Vaters Adam aufträten, und daß man blinde Musikanten kommen ließe. Ich erklärte, ich würde mich, um ihnen einen Gefallen zu tun, ebenfalls auskleiden; man dürfe jedoch bei meinem Schwächezustand nicht von mir erwarten, daß ich die Versucherin, die Schlange, nachahmen würde. Man erließ mir die Mühe des Auskleidens, unter der Bedingung, daß ich wie die anderen mich ausziehen solle, sobald ich den Stachel der Wollust verspüre. Dies versprach ich. Man holte die Blinden und schloß die Türen. Während die Instrumente gestimmt wurden, hatten die drei Toilette gemacht, und die Orgie begann.

Dies war einer jener Augenblicke, die mich viele Wahrheiten gelehrt haben. Bei dieser Gelegenheit erkannte ich, daß die Freuden der Liebe eine Wirkung und nicht eine Ursache der Fröhlichkeit sind. Ich hatte vor meinen Augen drei herrliche Menschenleiber von wundervoller Frische und regelmäßiger Schönheit; ihre Bewegungen, ihre anmutigen Gebärden, dazu die Musik – alles war entzückend, verführerisch; und trotzdem regte sich in mir nichts. Der Tänzer behielt die Miene des Eroberers auch während des Tanzes, und ich wunderte mich, daß ich selber niemals ein gleiches versucht hatte. Nach dem Tanze feierte er die beiden Schönen, indem er von der einen zur anderen ging, bis die natürliche Wirkung ihn zur Ruhe zwang.

Die Französin kam zu mir, um sich zu überzeugen, ob ich nicht irgendein Lebenszeichen gäbe; sie fühlte jedoch meine Nichtigkeit und erklärte mich für invalide.

Als die Orgie zu Ende war, bat ich Edgar, der Französin vier Guineen zu geben und die Zeche zu bezahlen; denn ich hatte nur wenig Geld bei mir. Hätte ich am Morgen ahnen können, daß ich, anstatt mich zu ertränken, einer so hübschen Partie beiwohnen würde?

Da ich bei dem jungen Engländer diese Schuld gemacht hatte, so verschob ich meinen Selbstmord auf den nächsten Tag. Als die Nymphen fortgegangen waren, wollte ich mich von Edgar verabschieden. Aber das war mir unmöglich; er sagte mir, ich sähe schon viel besser aus als am Morgen; daß ich die Austern, die ich gegessen, nicht wieder von mir gegeben habe, sei ein Beweis, daß ich nur nötig habe, mich etwas zu zerstreuen, um mich am nächsten Tage wieder ganz wohl befinden und herzhaft essen zu können. Ich solle daher mit ihm die Nacht in Ranelagh verbringen. Aus Müdigkeit und auch aus Gleichgültigkeit gab ich nach. Ich stieg mit Edgar in einen Fiaker, um den Grundsatz der Stoiker zu befolgen, den man mir in meiner kindlichen Jugend eingeprägt hatte: Sequere deum – folge Gott!

Mit heruntergekrempten Hüten traten wir in die schöne Rotunde ein. Es waren viele Leute anwesend, und wir gingen unter ihnen, die Hände auf den Rücken gekreuzt, auf und ab, wie es bei den Engländern Mode ist oder wenigstens damals war.

Es wurde ein Menuett getanzt. Eine Dame, die mir den Rücken zudrehte, tanzte sehr gut, und ich blieb daher stehen, um abzuwarten, daß sie sich umdrehte. Ich wollte gern ihr Gesicht sehen, weil ihr Kleid und ihr Hut genau denen glichen, die ich ein paar Tage vorher der Charpillon geschenkt hatte. Sie glich dieser auch an Wuchs und Haltung; da ich aber die Unglückliche für tot oder sterbend hielt, so flößte diese Ähnlichkeit mir keinen Verdacht ein. Plötzlich drehte die Tänzerin sich um, hob das Gesicht, und ich sah – die Charpillon in eigener Person!

Edgar sagte mir später, er habe in diesem Augenblick geglaubt, ich würde Krämpfe bekommen, so fühlbar hätte ich gezittert.

Ich war indessen von der Krankheit des Mädchens so fest überzeugt, daß ich meinen Augen nicht traute. Der Zweifel trug dazu bei, mich wieder zur Besinnung zu bringen. Es ist nicht möglich, sagte ich zu mir, daß es die Charpillon ist. Eine andere kann ihr ähnlich sehen, oder meine geschwächten Sinne können mich getäuscht haben.

Die Tänzerin war ganz und gar mit ihrem Tänzer beschäftigt und sah sich nicht nach den Zuschauern um; aber ich konnte warten. In diesem Augenblick erhob sie die Arme, um die Verbeugung am Schluß des Menuetts zu machen. Unwillkürlich trat ich auf sie zu, wie wenn ich sie zum nächsten Tanz hätte auffordern wollen. Sie sah mich an und lief fort.

Ich beherrschte mich. Aber als ich nun Gewißheit hatte, erneuerte sich mein Zittern, und ich mußte mich schnell hinsetzen. In einem Augenblick überströmte ein kalter Schweiß mein Gesicht und meinen ganzen Körper. Als Edgar diese Krisis sah, riet ei mir, Tee zu trinken; ich bat ihn jedoch, mich einige Augenblicke mir selber zu überlassen und sich auf eigene Hand zu amüsieren.

Die Revolution, die in mir vorging, ließ mich böse Folgen befürchten, denn ich zitterte an allen Gliedern, und das Herz klopfte mir so stark, daß ich mich nicht hätte aufrecht halten können, wenn ich hätte aufstehen wollen. Da die Krisis mich nicht hatte töten können, so gab sie mir neues Leben. Welch wunderbare Veränderung! Ich fühlte allmählich alle meine Sinne sich beruhigen, und konnte mit Vergnügen den Glanz der vielen Kerzen auf mich wirken lassen. Anfangs allerdings rief dieses Licht, das meine Netzhaut traf, eine Art Schamgefühl in mir hervor; aber dieses war nur ein Zeichen, daß ich geheilt war, und darum war es mir angenehm. Ich machte nach und nach, sozusagen, alle Zwischengefühle von der Verzweiflung bis zur Begeisterung durch. Ich empfand ein solches Erstaunen über meine neue Lage, daß ich, als Edgar nicht wiederkam, schon zu glauben begann, ich würde ihn überhaupt nicht wiedersehen. Dieser Jüngling, sagte ich bei mir selber, ist mein Genius, mein Schutzengel, mein guter Geist, der Edgars irdische Formen angenommen hat, um mich wieder zur Vernunft zu bringen. Und ich würde bei diesem Gedanken steif und fest geblieben sein, hätte ich ihn nicht nach einiger Zeit wiedererscheinen sehen.

Der Zufall hätte wohl Edgar eines jener verführerischen Geschöpfe zuführen können, die uns für einen Augenblick, für eine Nacht alles vergessen lassen. Er hätte Ranelagh verlassen können, ohne soviel Zeit zu haben, um mir Bescheid zu sagen; dann wäre ich allein nach London zurückgefahren und wäre überzeugt gewesen, nur seine menschliche Form gesehen zu haben. Würde ich mich von meinem Irrtum überzeugt haben, wenn ich ihn einige Tage später wieder gesehen hätte? Das ist wohl möglich, aber fest behaupten kann ich das nicht. In mir war stets ein Keim von Aberglauben, eine Neigung zum Spiritismus. Ich bin weit entfernt, mich dessen zu rühmen; aber diese Erinnerungen sind meine Beichte, und der Leser hat ein Recht darauf, daß ich mich ganz und gar enthülle und nichts vor ihm verberge.

Edgar kam endlich wieder, Er war sehr lustig, aber auch unruhig um mich. Darum war er sehr überrascht, als ich lebhaft allerlei scherzhafte Bemerkungen über das Treiben in diesem schönen Kuppelsaal machte.

»Mein lieber Freund,« rief er, »du lachst ja! Du bist also nicht mehr traurig?«

»Nein, mein guter Genius! Aber hungrig bin ich, und ich möchte dich um eine große Gefälligkeit bitten, wenn du nicht etwa morgen eine dringende Abhaltung hast.«

»Ich bin bis übermorgen frei und stehe dir vollkommen zur Verfügung.«

»Ich verdanke dir das Leben – das Leben, verstehst du wohl? Aber damit dieses Geschenk vollständig sei, mußt du mit mir diese Nacht und den ganzen nächsten Tag verbringen.«

»Ich stehe dir zu Diensten.«

»Laß uns nach meiner Wohnung fahren!«

»Gern.«

Ich sagte ihm unterwegs nichts. Als ich nach Hause kam, fand ich weiter nichts Neues als einen Brief von Goudar. Ich steckte diesen in die Tasche, da ich alle Geschäfte auf den nächsten Tag verschieben wollte.

Es war ein Uhr in der Nacht. Man setzte uns ein gutes Abendessen vor, und ich aß oder vielmehr: ich verschlang die Speisen. Edgar wünschte mir Glück zu meinem Appetit. Dann gingen wir zu Bett, und ich schlief fest und ruhig bis zum Mittag. Als ich aufgestanden war, ging ich in Edgars Zimmer, um mit ihm zu frühstücken. Ich erzählte ihm meine Geschichte, deren Ende mein Tod gewesen wäre, wenn ich ihm nicht zufällig auf der Westminster- Brücke begegnet wäre, und wenn nicht sein kluger Blick an meinen verstörten Zügen meinen Seelenzustand erraten hätte. Dann führte ich ihn in mein Zimmer und zeigte ihm mein Schreibpult, meine Kassette und mein Testament. Hierauf öffnete ich Goudars Brief; er enthielt nur die Worte: »Ich bin sicher, daß das betreffende Mädchen durchaus nicht im Sterbcn liegt, sondern mit Lord Grosvenor nach Ranelagh gegangen ist.«

Edgar, der trotz seinem ausgelassenen Lebenswandel sehr vernünftige Gedanken hatte, war wütend über das Benehmen der Charpillon. Überzeugt, mir das Leben gerettet zu haben, umarmte er mich und sagte, er werde den Tag, wo er mich verhindert habe, mir wegen eines so unwürdigen Geschöpfes den Tod zu geben, stets als den schönsten seines Lebens betrachten. Er konnte den niederträchtigen Charakter der Charpillon und ihrer unwürdigen Mutter kaum begreifen. Er sagte mir, ich hätte das Recht, die Mutter verhaften zu lassen, obgleich die Tochter mir die Wechsel nicht wiedergegeben hätte; denn in ihrem Brief an mich gestehe die Mutter die Schuld zu und erkenne an, daß die Tochter meine Wechsel nur in Verwahrung habe.

Ohne ihm etwas von meinen Absichten zu sagen, beschloß ich augenblicklich, sie verhaften zu lassen. Bevor wir uns am Abend trennten, schworen wir uns ewige Freundschaft, und gewiß hatte er von meiner Seite Anspruch darauf. Man wird bald sehen, wie schlecht es dem liebenswürdigen Engländer erging, weil er mir so gut gedient hatte.

Stolz wie ein Mensch, der einen großen Sieg errungen hat, ging ich am nächsten Morgen zu dem Sachwalter, der mich in der Angelegenheit mit dem Grafen Schwerin vertreten hatte. Nachdem er meinen Bericht gehört hatte, sagte er mir, mein Recht sei unbestreitbar und ich könne die drei Schwestern, das heißt die Mutter und die beiden Tanten des schurkischen Frauenzimmers verhaften lassen. Unverzüglich ging ich zu dem Richter, der mich schwören ließ und mir sodann den Wahrspruch einhändigte. Derselbe Gerichtsbote, der den Grafen Schwerin verhaftet hatte, übernahm auch diese Sache; aber er kannte die Weibsbilder nicht, und es war notwendig, daß er sie genau kannte; er war sicher, daß er in ihr Haus gelangen und sie überraschen würde; aber er durfte natürlich nur die verhaften, die in dem Haftbefehl bezeichnet waren, und es war möglich, daß mehrere andere Frauen sich im Hause befanden.

Ich konnte den heiklen Auftrag, ihm die gesuchten Personen zu bezeichnen, keinem Menschen anvertrauen; denn Goudar würde ihn nicht übernommen haben. Ich entschloß mich daher, den Gerichtsboten zu einer Stunde, wo die drei Megären bestimmt im Wohnzimmer beisammen sein würden, in das Haus zu führen.

Ich bestellte ihn auf acht Uhr nach der Denmark-Street, an deren Ecke ich meinen Fiaker zu seiner Verfügung halten ließ, und sagte ihm, er solle in das Haus eintreten, sobald man ihm die Tür geöffnet haben werde. In demselben Augenblick würde auch ich eintreten, und er könnte dann in aller Sicherheit die drei Frauen festnehmen, die ich ihm bezeichnen würde. Die Gerichtsbeamten sind in England sehr pünktlich; alles verlief daher, wie ich es angeordnet hatte. Der Gerichtsdiener betrat mit einem Unterbeamten das Wohnzimmer, und ich folgte ihm auf dem Fuße. Ich bezeichnete ihm die Mutter und die beiden Schwestern und entfernte mich dann eiligst, denn der Anblick der Charpillon machte mich schaudern, obwohl ich nur einen flüchtigen Blick auf sie warf. Sie saß schwarz gekleidet am Kamin und drehte mir den Rücken zu. Ich glaubte geheilt zu sein und fühlte auch, daß ich es wirklich war; aber die tiefe Wunde, die die Treulose mir geschlagen hatte, war kaum vernarbt, und ich weiß nicht, wie es hätte kommen können, wenn in diesem Augenblick die Circe die Geistesgegenwart besessen hätte, mir um den Hals zu fallen und für ihre Mutter und ihre Tanten um Gnade zu bitten.

Sobald ich sah, daß der Stab die drei Weiber berührte, entfernte ich mich schnell. Ich kostete die ganze Wonne der Rache – eine ungeheuere Lust, die den, der die Rache übt, glücklich macht. Leider aber sind die Rachedürstigen nur glücklich, solange sie auf die Rache warten oder sie wünschen. Wirklich glücklich ist nur der Gefühllose, der nicht hassen kann und darum niemals den Wunsch nach Rache verspürt. Der gereizte Eifer, womit ich die drei Kupplerinnen und Betrügerinnen verhaften ließ, und mein Erschrecken beim Anblick der Hinterlistigen, die mich bis zum Selbstmord getrieben hatte, waren ein Beweis, daß ich noch nicht frei war. Um ganz frei zu werden, mußte ich sie fliehen und vergessen.

Am nächsten Morgen kam Goudar sehr vergnügt zu mir und sagte mir, er wünsche mir Glück zu dem Mut, den ich am Abend vorher bewiesen habe; denn dieser bürge dafür, daß ich entweder von meiner Leidenschaft geheilt oder daß ich verliebter sei denn je. »Ich komme eben von der Charpillon und fand im Hause nur die Großmutter, die bitterlich weinte, und einen Advokaten, von dem sie ohne Zweifel sich Rat holen wollte.«

»Sie wissen also schon von der Geschichte?«

»Ja; ich kam eine Minute, nachdem Sie fort waren, und ich blieb solange, bis die drei alten Vetteln sich entschlossen hatten, dem Konstabler zu folgen. Anfangs leisteten sie Widerstand; sie behaupteten, er müsse ihnen bis zum Morgen Aufschub geben; gleich nach Tagesanbruch würden sie Leute finden, die für sie Bürgschaft leisten würden. Unterdessen waren auch die beiden Klopffechter gekommen; sie mischten sich in die Sache ein und zogen sogar blank, um dem Gerichtsboten zu verhindern, daß er die Weiber mit Gewalt fortführte; aber der Mann, der die Konstabler mitgebracht hatte, entwaffnete sie alle beide, führte hierauf die drei Gefangenen fort und nahm auch die Degen mit. Die Charpillon wollte sie begleiten, hielt es aber dann für besser, sich sofort auf den Weg zu machen, um sie möglichst bald wieder in Freiheit setzen zu können.«

Zum Schluß sagte Goudar mir, er werde sie als Freund des Hauses im Gefängnis besuchen, und wenn ich zu einem Vergleich bereit sei, wolle er gern vermitteln. Ich dankte ihm und sagte, ich würde mich mit den elenden drei Weibern nur einigen, wenn sie mir meine sechstausend Franken zahlten, und sie müßten sich noch sehr glücklich schätzen, daß ich nicht auch noch Zinsen verlangte, um mich wenigstens zum Teil für die mir abgegaunerten Summen schadlos zu halten.

Vierzehn Tage vergingen, ohne daß ich etwas von der Geschichte hörte. Die Charpillon ging jeden Tag zum Essen zu den Gefangenen, die auf ihre Kosten lebten. Dies mußte ihr viel Geld kosten, denn sie hatten zwei Zimmer, und ihr Wirt, ein wahrer Charon, erlaubte ihnen nicht, sich das Essen von draußen kommen zu lassen. Goudar sagte mir, die Charpillon habe ihrer Mutter erklärt, sie würde sich niemals dazu entschließen, mich um ihre Freilassung zu bitten, selbst wenn sie sicher wäre, daß sie alles erreichen würde, wenn sie zu mir ginge. Ich war in ihren Augen das abscheulichste Ungeheuer. Wenn ich ihr auch nicht zugeben kann, daß sie ein geringeres Ungeheuer war als ich, so muß ich allerdings eingestehen, daß sie bei dieser Gelegenheit mehr Charakter zeigte als ich. Aber wir befanden uns in einer völlig entgegengesetzten Lage: Ich hatte mich nur in der Erregung der Leidenschaft gegen sie so benommen, wie ich es tat, sie hatte nur aus Eigennutz so gehandelt und vielleicht auch aus Launenhaftigkeit. Vergebens hatte ich während dieser vierzehn Tage Edgar gesucht. Da sah ich ihn zu meiner großen Freude eines Morgens mit lachendem Gesicht bei mir eintreten und mich freundschaftlich begrüßen.

»Wo hast du denn während dieser ganzen Zeit gesteckt? Ich habe dich überall gesucht.«

»Die Liebe, Freund, hat mich während dieser zwei Wochen in ihren unzugänglichen Gefängnissen verborgen gehalten. Ich bringe dir Geld.«

»Mir? Von wem denn?«

»Von den Damen Ansperger. Gib mir eine Quittung und die erforderliche Abstandserklärung; denn ich muß dich selber in die Arme der armen Charpillon führen, die seit vierzehn Tagen fortwährend weint.«

»Ich begreife ihre Tränen und bewundere sie, daß sie gerade den, der mir die unschätzbarsten Dienste geleistet und mich aus ihren Banden befreit hat, zu ihrem Beschützer gewählt hat. Weiß sie, daß ich dir mein Leben verdanke?«

»Sie weiß nichts weiter, als daß wir zusammen in Ranelagh waren, als du sie tanzen sahst, und daß du sie für tot oder sterbend gehalten hattest; ich habe ihr aber alles erzählt, seitdem ich ihre Bekanntschaft machte.«

»Ohne Zweifel hat sie dich gebeten, dich bei mir zu ihren Gunsten zu verwenden?«

»Durchaus nicht. Sie hat nur gesagt, du seiest ein undankbares Scheusal, denn sie habe dich geliebt und dir wirkliche Beweise ihrer Zärtlichkeit gegeben; jetzt aber verabscheut sie dich.«

»Gott sei Dank! Das unwürdige Geschöpf! Aber es ist eigentümlich, daß sie dich zu gewinnen gewußt hat, um ihre Rache an mir auszuüben. Sie betrügt dich, mein lieber Freund, und dich trifft ihre Strafe.«

»Das ist nicht unmöglich; aber jedenfalls ist es eine sehr süße Strafe.«

»Ich wünsche dir alles Glück; aber nimm dich in acht! Die Spitzbübin ist eine gewohnheitsmäßige Betrügerin.«

Edgar zählte mir zweihundertfünfzig Guineen auf, und ich gab ihm dafür Quittung und Abstandserklärung, womit er sich zufrieden entfernte.

Mußte ich nun nicht glauben, daß endlich alles zwischen uns zu Ende sei? Meine Hoffnung war vergeblich.

In jenen Tagen vermählte sich der Erbprinz von Braunschweig, der jetzige regierende Herzog, mit der Schwester des Königs von England. Der Gemeinderat erklärte ihn zum englischen Bürger mit allen Rechten eines solchen, und die Londoner Goldschmiedszunft ernannte ihn zu ihrem Mitglied und ließ ihm durch den Lordmayor und die Aldermen die Ernennungsurkunde in einem prachtvollen goldenen Kasten überreichen. Der Prinz war der erste Edelmann Europas und verschmähte trotzdem nicht, den Glanz seines vierzehn Jahrhunderte alten Hauses durch diese neue Würde zu erhöhen.

Bei dieser Gelegenheit verschaffte Lady Harrington der Cornelis einen Verdienst von zweihundert Guineen; sie vermietete ihr Haus 41g am Soho-Square an einen Koch, der gegen ein Eintrittsgeld von drei Guineen tausend Personen Ball und Abendessen gab. Die Neuvermählten und das ganze königliche Haus mit Ausnahme des Königs und der Königin waren anwesend. Auch ich war für meine drei Guineen unter den Gästen, mußte aber mit noch sechshundert anderen stehen; denn an den Tischen war nur für vierhundert Personen Platz, und es gab sogar Damen, die nicht sitzen konnten.

Ich sah an diesem Abend Lady Grafton neben dem Herzog von Cumberland sitzen. Sie trug ihr Haar ohne Puder und bis zur Mitte der Stirn ins Gesicht gekämmt. Die anderen Damen sprachen sich entrüstet dagegen aus, denn diese Frisur machte häßlich. Sie wußten gar nicht, was sie alles gegen die Neuerung sagen sollten, und in weniger als sechs Monaten wurde die Frisur á la Grafton in ganz England allgemein angenommen, drang über das Meer und verbreitere sich in ganz Europa, wo sie ungerechterweise einen anderen Namen erhielt. Diese Mode dauert noch heute und ist die einzige, die sich eines Alters von dreißig Jahren rühmen kann, obgleich sie bei der Entstehung ausgezischt wurde.

Bei diesem Abendessen, für das der Gastgeber dreitausend Guineen oder fünfundsiebzigtausend Franken erhalten hatte, fand man alles, was der verwöhnteste Geschmack nur wünschen konnte. Da ich jedoch nicht tanzte und in keine von den Schönen verliebt war, die das Fest zierten, so entfernte ich mich um ein Uhr. Es war ein Sonntag, und an diesem Tage brauchte in England kein Mensch, mit Ausnahme der Verbrecher, eine Verhaftung zu befürchten. Trotzdem widerfuhr mir folgendes:

Ich fuhr in meinem prachtvollen Galakleide nach Hause; mein Neger Jarbe und ein anderer Bedienter standen hinten auf meinem Wagen. Kaum waren wir in meine Straße eingefahren, so hörte ich eine Stimme, die mir zurief: »Gute Nacht, Seingalt!« Als ich meinen Kopf zum Schlage hinausbeugte, um zu antworten, sah ich meinen Wagen von Leuten umringt, die mit Pistolen bewaffnet waren, und einer von ihnen rief mir zu: »Im Namen des Königs!«

Meine Bedienten fragten sie, was sie von mir wollten. Sie antworteten: »Ihn ins Newgate-Gefängnis bringen; denn der Sonntag schützt nicht die Verbrecher.«

»Und was ist denn mein Verbrechen?«

»Das werden Sie im Gefängnis erfahren.«

»Mein Herr hat das Recht, dies zu wissen, bevor er ins Gefängnis geht!« rief Jarbe.

»Aber der Richter schläft.«

Jarbe bestand auf seinem Verlangen, und die Vorübergehenden, die von dem Vorgang in Kenntnis gesetzt wurden, riefen einstimmig, ich hätte recht.

Schließlich fügte der Anführer sich und sagte mir, er würde mich nach seinem Hause in der City bringen.

»Gut,« sagte ich, »fahren wir in die City, damit die Sache mal ein Ende nimmt.«

Wir hielten vor einem Hause, und man führte mich in ein großes Zimmer zu ebener Erde, worin sich nur Bänke und einige Tische befanden. Meine Bedienten schickten den Wagen fort und kamen herein, um mir Gesellschaft zu leisten. Die sechs Sbirren, die mir nicht von der Seite weichen durften, ließen mir sagen, ich solle ihnen etwas zu essen und zu trinken geben lassen. Ich befahl Jarbe, ihren Wunsch zu erfüllen und freundlich und höflich gegen sie zu sein.

Da ich kein Verbrechen begangen hatte, so war ich sehr ruhig; ich konnte nur infolge einer Verleumdung verhaftet worden sein, und da ich wußte, daß in London die Rechtspflege gut und schnell ist, so konnte mein Unglück nur vorübergehend sein. Ich machte mir nur den Vorwurf, nicht den guten Grundsatz befolgt zu haben, daß man bei Nacht niemals antworten soll; denn sonst würde ich diese Unannehmlichkeit vermieden haben. Da ich aber den Fehler einmal begangen hatte, so blieb mir nichts weiter übrig, als mich in Geduld zu fassen. Ich stellte einige scherzhafte Betrachtungen an über meinen plötzlichen Übergang aus einer glänzenden Festversammlung zu der niederträchtigen Gesellschaft, in der ich mich, wie ein Fürst gekleidet, in diesem Augenblick befand.

Endlich wurde es Tag, und der Besitzer der Schenke, worin ich mich befand, erkundigte sich, wer der Verbrecher sei, der bei ihm die Nacht zugebracht habe. Ich mußte unwillkürlich lachen, als er bei meinem Anblick auf die Sbirren schimpfte, die ihn nicht geweckt hätten, um mir ein Zimmer zu geben; denn ihm entging dadurch mindestens eine Guinee, die er mir dafür würde abgenommen haben. Endlich meldete man mir, daß der Richter seine Sitzung halte, und daß es Zeit sei, mich vor ihn zu führen.

Man ließ eine Sänfte kommen, denn der Pöbel würde mich mit Kot beworfen haben, wenn ich in meinem Galakleide es gewagt hätte, zu Fuß die Straßen zu betreten.

Im Gerichtssaal bemerkte ich etwa sechzig Personen, die alle erstaunt auf den Barbaren sahen, der es wagte, mit einem so unverschämten Luxus sich in einer Gerichtssitzung zu zeigen.

Am Ende des Saales bemerkte ich auf einem erhöhten Lehnstuhl einen Mann, der mein Richter zu sein schien. Er war es in der Tat, und er war blind. Eine breite Binde bedeckte seine Augen; denn da er nichts sah, so konnte ihm nichts daran liegen, die Augen offen zu haben. Ein Herr, der neben mir stand und erriet, daß ich ein Fremder war, sagte mir auf Französisch: »Seien Sie nur ruhig, Herr Fielding ist ein gerechter und vernünftiger Richter.«

Ich dankte dem wohlwollenden Unbekannten und freute mich, einen liebenswürdigen und geistvollen Mann vor mir zu sehen, den Verfasser mehrerer ausgezeichneter Werke, auf die England stolz ist.

Als ich an der Reihe war, sagte der Schreiber, der an seiner Seite saß, ihm meinen Namen, wie mir schien.

»Signor Casanova,« sagt Herr Fielding in sehr gutem Italienisch zu mir, »haben Sie die Güte näher zu treten; ich habe mit Ihnen zu sprechen.«

Hocherfreut, daß er mich in meiner Muttersprache angeredet, drängte ich mich durch die Menge, trat an die Schranke vor und rief: »Eccomi, signore.«

Er fuhr dann fort und sagte mir, immer auf Italienisch: »Herr von Casanova aus Venedig, Sie sind zu lebenslänglicher Haft in den Gefängnissen des Königs von Großbritannien verurteilt.«

»Mein Herr, ich bin neugierig, zu erfahren, wegen welchen Verbrechens ich verurteilt bin. Würden Sie wohl die Güte haben, es mir zu nennen?«

»Ihre Neugier ist berechtigt und sehr natürlich; denn bei uns in England hält die Justiz sich nicht für berechtigt, irgendeinen Menschen zu verdammen, ohne ihm den Grund seiner Verurteilung mitzuteilen. Sie sind angeklagt – und die Anklage wird durch zwei Zeugen unterstützt –, daß Sie ein hübsches Mädchen entstellen wollten. Dieses junge Mädchen verlangt nun von der Justiz Schutz gegen solche Verunstaltung, und die Justiz findet kein besseres Mittel, als Sie in vitam aeternam im Gefängnis zu halten. Schicken Sie sich also an, ins Gefängnis zu gehen.«

»Mein Herr, die Anklage ist durchaus verleumderisch; das beschwöre ich. Es kann wohl sein, daß das Mädchen, wenn es sein eigenes Verhalten prüft, Anlaß zu der Befürchtung hat, daß ich Lust zu einer solchen Handlungsweise haben könnte, aber ich kann Ihnen versichern, daß ich eine solche Lust bis jetzt noch nicht gehabt habe, und ich glaube, dafür bürgen zu können, daß solche Lust mir niemals kommen wird.«

»Sie hat zwei Zeugen.«

»Diese sind falsch. Aber, hochwürdigster Richter, dürfte ich es wagen. Sie um den Namen meiner Anklägerin zu bitten?«

»Es ist Miß Charpillon.«

»Ich kenne sie; aber ich habe ihr stets nur Beweise meiner Zärtlichkeit gegeben.«

»Es ist also nicht wahr, daß Sie sie entstellen wollten?«

»Nein, ganz gewiß nicht.«

»Nun, dann wünsche ich Ihnen Glück. Sie können in Ihrem Hause zu Mittag speisen, aber Sie müssen zwei Bürgen stellen; zwei Hausbesitzer müssen uns dafür bürgen, daß Sie niemals ein solches Verbrechen begehen werden.«

»Wer wird es wagen, das Versprechen zu geben, daß ich eine gewisse Tat nicht begehen werde?«

»Zwei angesehene Engländer, deren Achtung Sie gewonnen haben und die wissen, daß Sie kein Schurke sind. Lassen Sie sie holen! Wenn sie ankommen, bevor ich zu Tisch gehe, werde ich Sie sofort in Freiheit setzen lassen.«

Die Sbirren führten mich wieder an den Ort, wo ich die Nacht verbracht hatte. Schnell schrieb ich meinem Bedienten die Namen aller Hausbesitzer auf, die mir einfielen. Ich beauftragte sie, ihnen den Grund zu sagen, warum ich mich genötigt sähe, sie zu belästigen. Ich empfahl ihnen Eile. Sie sollten vor Mittag wiederkommen; aber London ist ja so groß. Sie kamen nicht, und der Richter ging zum Essen. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, daß er am Nachmittag wieder Sitzung hielte. Aber auf einmal kam der Anführer der Sbirren mit einem Dolmetscher zu mir und sagte mir, er wolle mich nach Newgate bringen. Das ist das Londoner Gefängnis, in das man nur die elendesten und verruchtesten Verbrecher bringt.

Ich ließ ihm sagen, ich erwarte Bürgen und er könne mich gegen Abend nach dem Gefängnis schaffen, falls diese nicht kommen sollten. Er war jedoch schwerhörig und ließ mir sagen, sobald meine Bürgen da wären, würde man mich aus dem Gefängnis holen. Es müßte mir also gleichgültig sein. Der Dolmetscher sagte mir leise, der Mensch sei sicherlich von meinen Gegnern bezahlt, um mir Verdruß zu bereiten; aber es stehe nur bei mir, an diesem Ort zu bleiben, denn ich brauche ihm nur Geld zu geben.

»Und wieviel muß ich ihm geben?«

Der Dolmetscher sprach mit dem Mann und sagte mir, zehn Guineen würden ihn dazu bestimmen, mich bis zum Abend bei sich zu behalten.

»Sagen Sie ihm, ich sei neugierig, das Gefängnis zu sehen.«

Man ließ einen Fiaker kommen, und wir fuhren hin.

Als ich diesen Ort der Verzweiflung betrat, eine wahre Hölle, die der Phantasie eines Dante würdig ist, feierte eine Menge Unglücklicher, von denen einige im Laufe dieser Woche gehenkt werden sollten, meine Ankunft mit Spottreden auf meinen glänzenden Anzug. Als sie sahen, daß ich nicht mit ihnen sprach, wurden sie ärgerlich und fingen an zu schimpfen. Der, Kerkermeister beschwichtigte sie, indem er ihnen sagte, ich sei ein Fremder und könne kein Wort Englisch; hierauf führte er mich in ein Zimmer, sagte mir, was es kostete, und teilte mir die Gefängnisregeln mit, wie wenn es gewiß gewesen wäre, daß ich für längere Zeit bei ihm bleiben würde. Aber schon eine halbe Stunde darauf kam derselbe Kerl, der mich um die zehn Guineen hatte prellen wollen, und sagte mir, meine Bürgen warteten beim Richter, und mein Wagen stände vor der Tür.

Ich dankte dem lieben Gott von ganzem Herzen, ging hinaus und stand bald darauf wieder vor dem Manne mit den verbundenen Augen. Ich sah meinen Schneider Pégu und meinen Weinhändler Maisonneuve, die mir sagten, sie schätzten sich glücklich, mir diesen geringen Dienst erweisen zu können. Einige Schritte davon bemerkte ich die elende Charpillon und den niederträchtigen Rostaing mit einem Anwalt und Goudar. Der Anblick regte mich nicht weiter auf und ich begnügte mich damit, ihnen einen Blick tiefer Verachtung zuzuwerfen.

Als meine beiden Bürgen erfahren hatten, für welchen Betrag sie gutsagen sollten, unterzeichneten sie mit Vergnügen; hierauf sagte der Richter in liebenswürdigstem Tone zu mir: »Signor de Casanova, unterschreiben Sie für die doppelte Bürgschaftssumme! Sodann erkläre ich Sie vollkommen frei!«

Ich trat an den Tisch des Schreibers, fragte nach der Höhe der Sicherstellung und erfuhr, daß diese vierzig Guineen betrug, daß also jeder der Bürgen für zwanzig einzustehen hatte. Indem ich unterschrieb, sagte ich zu Goudar: »Die Schönheit der Charpillon wäre vielleicht auf zehntausend Guineen bewertet worden, wenn der Richter sie hätte sehen können.«

Als ich hierauf die Namen der beiden Zeugen zu erfahren verlangte, nannte man mir Rostaing und Bottarelli. Ich warf einen verächtlichen Blick auf Rostaing, der bleich wie der Tod dastand, sah aber aus einem Gefühl des Mitleids die Charpillon nicht an und sagte laut: »Die Zeugen sind der Anklage würdig!«

Hierauf grüßte ich den Richter ehrfurchtsvoll, obgleich er mich nicht sehen konnte, und fragte den Protokollführer, ob ich etwas für die Kosten zu bezahlen hätte. Seine verneinende Antwort rief einen Wortwechsel zwischen ihm und dem Anwalt der Schönen hervor, die zu ihrem tödlichen Ärger sich nicht entfernen durfte, bevor sie die Kosten meiner Verhaftung bezahlt hatte.

Als ich eben gehen wollte, sah ich fünf oder sechs angesehene Engländer erscheinen, die für mich bürgen wollten und die nun ihr tiefes Bedauern aussprachen, daß sie zu spät gekommen seien. Sie baten mich um Verzeihung für die englischen Gesetze, die nur zu oft für Ausländer sehr lästig seien.

Nachdem ich einen der langweiligsten Tage meines Lebens verbracht hatte, sah ich mich endlich wieder in meinem Heim. Ich war glücklich, mich zu Bett legen zu können, und mußte doch über mein Mißgeschick lachen.

Fünfzehntes Kapitel


Bottarelli – Ich erhalte durch Herrn de Saa einen Brief von Pauline. – Der rächende Papagei. – Pocchini. – Der Venetianer Guerra. – Ich finde Sarah wieder und beschließe, sie zu heiraten und ihr nach der Schweiz zu folgen. – Die Hannoveranerinnen.

So war also der erste Akt der Komödie meines Lebens beendigt; der zweite begann am nächsten Morgen. Als ich gerade eben mein Bett verließ, hörte ich Lärm an meiner Tür; ich sah zum Fenster hinaus und erblickte Pocchini, den niederträchtigen Halunken, der mich in Stuttgart auf so gemeine Weise bestohlen hatte, wie der Leser sich vielleicht noch erinnern wird. Er verlangte Einlaß und wollte nicht so lange warten, bis man ihn mir gemeldet hätte. Sein Anblick empörte mich; ich rief ihm zu, ich könne ihn nicht empfangen, und schloß mein Fenster.

Einige Augenblicke darauf sah ich Goudar eintreten. Er brachte mir die »St. James Chronicle,« worin in aller Kürze die Geschichte meiner Verhaftung und Wiederentlassung gegen eine Sicherheit von achtzig Guineen erzählt war. Mein Name und der der Schönen waren nicht genannt; dagegen lobte der Zeitungsschreiber die Herren Rostaing und Bottarelli, die er mit ihren vollen Namen anfühlte. Ich bekam Lust, diesen Bottarelli kennen zu lernen, und bat Goudar, mich zu ihm zu führen. Martinelli, der inzwischen ebenfalls gekommen war, schloß sich uns an.

In einem armseligen Zimmer des dritten Stockwerkes eines armseligen Hauses bot sich ein Bild des tiefsten Elends meinen Augen: ich erblickte ein Weib und vier zerlumpte Kinder; an einem armseligen Tisch, der an Philemon und Baucis erinnerte, saß, in einen schlechten Schlafrock gehüllt, ein armer Mann und schrieb. Es war Bottarelli. Bei unserem Anblick stand er auf. Ich hatte Mitleid mit ihm und fragte ihn ganz ruhig: »Mein Herr, kennen Sie mich?«

»Nein, mein Herr.«

»Ich bin jener Casanova, den Sie ins Gefängnis Newgate werfen wollten, indem Sie eine Verleumdung durch ein falsches Zeugnis unterstützten.«

»Mein Herr, es tut mit leid; aber um Gottes willen, sehen Sie meine Familie: ich konnte ihr kein Brot geben. Gerne stehe ich Ihnen ein anderes Mal umsonst zu Diensten.«

»Aber fürchten Sie denn nicht den Galgen?«

»Nein; denn ein falscher Zeuge wird nicht zum Galgen verurteilt. Außerdem ist nichts schwieriger, als in London ein falsches Zeugnis nachzuweisen.«

»Man hat mir gesagt, Sie seien Dichter.«

»Ja, ich habe die Dido verlängert und den Demetrius abgekürzt.«

»Das sind allerdings schöne Ruhmestitel.«

Der Gauner flößte mir mehr Verachtung als Haß ein. Ich drehte ihm den Rücken zu und gab aus Mitleid seiner Frau eine Guinee; sie schenkte mir dafür ein elendes Machwerk ihres Mannes: Das enthüllte Geheimnis der Freimaurer. Dieser Bottarelli war in seiner Vaterstadt Pisa Mönch gewesen; er hatte von dort eine Nonne entführt und diese in London geheiratet.

Einige Tage darauf bereitete Herr de Saa mir eine große Überraschung, indem er mir persönlich einen Brief von meiner schönen Portugiesin überbrachte. Sie bestätigte mir das Unglück meines armen Clairmont und schrieb mir, sie sei bereits mit dem Grafen Al…. vermählt. Es war für mich eine eigentümliche Überraschung, als Herr de Saa mir versicherte, er habe sofort nach Paulinens Ankunft in London gewußt, wer sie sei. Das ist die Marotte aller Diplomaten; man soll glauben, daß ihnen nichts entgehe und daß es für sie kein Geheimnis gebe. Saa war allerdings nicht nur ein tadelloser Ehrenmann, sondern auch ein tüchtiger Diplomat, und man konnte ihm daher diese Schwäche, die gewissermaßen zu seinem Beruf gehörte, wohl hingehen lassen; die meisten aber, für die diese Entschuldigung nicht gilt, machen sich nur lächerlich.

Herr de Saa war von der Charpillon ziemlich ebenso schlecht behandelt worden wie ich, und wir hätten uns gegenseitig trösten können; aber wir sprachen nicht von dem Frauenzimmer.

Als ich einige Tage darauf müßig durch die Stadt streifte, kam ich an einen Ort, den man den Papageienmarkt nannte. Ich unterhielt mich damit, diese interessanten Tierchen anzusehen, und bemerkte ein ganz junges in einem schönen Käfig. Auf meine Frage, welche Sprache er spreche, antwortete man mir, er sei noch ganz jung und spreche keine. Ich kaufte ihn für zehn Guineen. Ich hatte den Einfall, ihm einen boshaften Witz beizubringen, ließ seinen Käfig neben mein Bett stellen und sprach ihm hundertmal am Tage die Worte vor: La Charpillon est plus putain que sa mère – Die Charpillon ist eine noch größere Hure als ihre Mutter.

Ich hatte hierbei gewiß keine andere Absicht als mich innerlich daran zu ergötzen. Nach vierzehn Tagen wiederholte das Tierchen diesen Satz mit einer burlesken Genauigkeit, indem es zum Schluß jedesmal ein lautes Gelächter erschallen ließ; dieses hatte ich ihm nicht beigebracht, aber es wirkte so komisch, daß ich selber darüber lachen mußte.

Goudar hörte meinen Papagei eines Tages voll Entzücken und sagte mir, wenn ich das Tierchen auf die Börse schickte, könnte ich es gewiss für fünfzig Guineen verkaufen. Wir begrüßte diesen Gedanken als eine Rache an dem gemeinen Geschöpf, das mir so übel mitgespielt hatte. Nachdem ich mich vergewissert hatte, auf welche Weise ich mich gegen das Gesetz schützen könnte, das in Bezug auf diesen Punkt in England sehr streng ist, beauftragte ich Jarbe mit dem Verkauf; denn da er aus Westindien stammte, so paßte die Ware vortrefflich zu ihm.

Da mein Papagei französisch sprach, zog er in den ersten zwei oder drei Tagen nicht viele Zuhörer an; sobald aber einer, der die Heldin kannte, die Aufmerksamkeit auf den Lobspruch des indiskreten Geflügels gelenkt hatte, wurde der Kreis von Neugierigen immer größer, und man begann nach dem Preise zu fragen: Fünfzig Guineen schienen ein bißchen viel zu sein, und mein Neger wünschte, dass ich den Papagei billiger verkaufen möchte. Davon wollte ich aber nichts wissen, denn ich hatte meinen Rächer liebgewonnen.

Nach sieben oder acht Tagen erzählte Goudar mir zu meiner größten Belustigung, welche Wirkung mein Papagei in der Familie der Charpillon hervorgebracht hatte. Da der Verkäufer mein Neger war, so konnte man nicht daran zweifeln, dass der Vogel mir gehörte und dass ich sein Sprachlehrer gewesen war. Goudar sagte mir, die Charpillon finde die Rache sehr geistreich, aber die Mutter und die Tanten seien wütend. Sie hätten bereits mehrere Advokaten befragt; aber alle hätten erklärt, es gebe kein Gesetz, auf Grund dessen man eine Verleumdung bestrafen könne, die von einem Papagei ausgestoßen werde; wohl aber könnte sie mich den Spaß teuer bezahlen lassen, wenn sie beweisen könnte, daß der Papagei mein Schüler wäre. Goudar riet mir daher, mich nicht zu rühmen, daß der Vogel seinen Witz von mir habe; denn zwei Zeugen seien genügend, um mich zugrunde zu richten.

Die Leichtigkeit, womit man in London falsche Zeugen findet, ist entsetzlich und eine Schande für die englische Nation. Ich habe mit meinen eigenen Augen etwas Unglaubliches gesehen: an einem Fenster hing ein Zettel, der in großen Buchstaben nur das Wort Zeuge trug. Dies wollte besagen, daß man in dem Hause für Geld einen falschen Zeugen bekommen konnte.

Die St. James Chronicle brachte einen Artikel, worin gesagt wurde: die von dem Papagei auf der Börse beschimpften Damen müßten sehr arm und freundlos sein, sonst hätten sie den hübschen Frechling kaufen lassen und das Publikum würde fast nichts erfahren haben. Zum Schluß hieß es: »Derjenige, der den Papagei abgerichtet hatte, wollte ohne Zweifel eine Rache ausüben; er hat dabei sehr guten Geschmack bewiesen: er verdient, Engländer zu sein.«

Als ich eines Tages meinen Freund Edgar traf, fragte ich ihn, warum er den kleinen Beleidiger nicht gekauft habe. Er antwortete: »Weil er allen denen Spaß macht, die den Gegenstand der Beleidigung kennen.«

Jarbe fand endlich einen Käufer, der die fünfzig Guineen zahlte, und Goudar berichtete mir, Lord Grosvenor habe das Geld gegeben, um der Charpillon, die ihm zuweilen zum Zeitvertreib diente, einen Gefallen zu tun.

Mit diesem Eulenspiegelstreich endeten meine Beziehungen zu dem Mädchen, das ich seitdem mit vollkommener Gleichgültigkeit sah; ihr Anblick erweckte in mir nicht mehr die geringste Erinnerung an die Leiden, die sie mir zugefügt hatte.

Als ich eines Tages in den St.-James-Park eintrat, sah ich zwei Mädchen, die in einem Zimmer zu ebener Erde Milch tranken. Sie riefen mich; da ich sie aber nicht kannte, so ging ich weiter. Ein junger Offizier, mit dem ich zuweilen verkehrte, sagte mir, sie seien Italienerinnen. Hierdurch bekam ich Lust, sie mir näher anzusehen, und kehrte wieder um. Als ich das verdammte Zimmer betrat, sah ich den Halunken Pocchini, mit einer Uniform bekleidet. Er sagte mir, er habe die Ehre, mir seine Töchter vorzustellen.

»Ich erinnere mich,« sagte ich kalt, »meiner Tabaksdose und meiner beiden Uhren, die zwei andere Töchter von Ihnen mir in Stuttgart gestohlen haben.«

»Sie lügen!« rief der Unverschämte.

Ohne ihm zu antworten, nahm ich dem einen von den Mädchen ihr Milchglas weg und goß ihm den Rest ins Gesicht. Hierauf ging ich hinaus.

Ich hatte meinen Degen nicht bei mir. Der erwähnte junge Offizier, der nach mir in das Zimmer eingetreten war, folgte mir und sagte, ich dürfte mich nicht entfernen, ohne seinem von mir entehrten Freund Genugtuung zu geben.

»Sagen Sie ihm, er solle herauskommen, und kommen Sie mit ihm nach dem Green-Park; ich verspreche Ihnen, ihm in Ihrer Gegenwart Stockschläge zu geben. Sollten Sie sich aber für ihn schlagen wollen, so gewähren Sie mir die Zeit, um meinen Degen zu holen. Aber kennen Sie denn diesen Menschen, den Sie Ihren Freund nennen?«

»Nein, aber er ist Offizier, und ich habe ihn hierhergebracht.«

»Schön. Um Ihnen Genugtuung zu leisten, will ich mich auf Leben und Tod schlagen, aber ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Ihr Freund ein Dieb ist. Kommen Sie nur, ich erwarte Sie.«

Nach einer Viertelstunde verließen alle vier das Haus, doch folgten mir nur Pocchini und der Engländer. Da überall Leute waren, führte ich sie bis zum Hyde-Park. Als ich dort stehen blieb, begann Pocchini mir etwas zu sagen. Anstatt ihm zu antworten, erhob ich meinen Stock und rief: »Kanaille, zieh deinen Degen, oder ich bläue dich durch!«

»Niemals werde ich meinen Degen gegen einen Menschen ziehen, der sich nicht mit der gleichen Waffe verteidigen kann.«

Ein Stockhieb war meine Antwort. Anstatt sich zu rächen, erhob der Feigling ein lautes Geschrei und nannte mich einen Provocateur. Der Engländer lachte laut auf, bat mich, ihn zu entschuldigen, nahm meinen Arm und sagte: »Kommen Sie, mein Herr, ich sehe, Sie kannten den Menschen.«

Der Feigling entfernte sich brummend nach der anderen Richtung.

Unterwegs teilte ich dem Offizier die Gründe mit, warum ich ihn als einen Halunken behandelt hatte. Er sagte: »Ich gebe Ihnen zu, daß Sie vollkommen recht getan haben; unglücklicherweise bin ich in eins von seinen Mädchen verliebt.«

Mitten im St.-James-Park bemerkten wir sie, und ich mußte unwillkürlich laut auflachen, als ich Goudar in der Mitte der beiden Fräuleins sah.

»Woher kennen Sie denn diese Schönen?« fragte ich ihn.

»Ihr Vater, der Kapitän, hat mir Schmucksachen verkauft und hat sie mir bei dieser Gelegenheit vorgestellt.«

»Wo haben Sie ihn denn gelassen?« fragte die eine mich.

»Im Hyde-Park, nachdem ich ihm Stockprügel gegeben habe.«

»Da haben Sie sehr recht getan.«

Der junge Engländer war entrüstet, eine solche Äußerung der Billigung aus ihrem Munde zu vernehmen; er zog mich beiseite, gab mir die Hand, schwor mir, ich würde ihn niemals wieder mit diesen Weibern zusammen sehen, und ging.

Eine Laune Goudars, der ich leider nachzugeben schwach genug war, veranlaßte mich, mit den unglücklichen Geschöpfen in einer Schenke vor London zu Mittag zu speisen. Der Wüstling Goudar machte sie gehörig betrunken und veranlaßte sie, in ihrem Zustande tausend Greuel von ihrem angeblichen Vater zu erzählen. Der Halunke wohnte nicht mit ihnen zusammen, aber er machte ihnen nächtliche Besuche und nahm ihnen alles Geld ab, das sie verdienten. Er war ihr Zuführer und veranlaßte sie, ihre Besucher zu bestehlen und die Sache als einen Liebesscherz darzustellen, wenn der Diebstahl entdeckt wurde. Sie gaben ihm die Gegenstände, deren sie sich auf diese Weise bemächtigten, und er sagte ihnen niemals, was er damit machte. Als ich diese nicht ganz freiwillige Beichte hörte, mußte ich lachen, denn ich erinnerte mich, daß Goudar mir gesagt hatte, Kapitän Pocchini habe ihm Schmucksachen verkauft.

Nach diesem schlechten Mittagsmahl ging ich nach Hause, indem ich es Goudar überließ, die Frauenzimmer nach der Stadt zurückzubringen. Am andern Morgen kam er zu mir und erzählte mir: »Als die beiden Mädchen gestern ihre Wohnung betraten, wurden sie verhaftet und sofort ins Gefängnis geführt. Ich komme soeben von Pocchini, aber der Hauswirt hat mit gesagt, er sei seit gestern nicht nach Hause gekommen.«

Der ehrenwerte und gewissenhafte Goudar schloß mit der Bemerkung, es würde ihm leid tun, wenn er den unglücklichen Menschen nicht wiedersähe, denn er wäre ihm zehn Guineen für eine Uhr schuldig, die die Mädchen vielleicht gestohlen hätten und die den doppelten Wert besäße.

Vier Tage darauf sagte er mir, der Gauner habe London mit einer englischen Magd verlassen. »Diese hat er an einem Ort gefunden, wo stets mehrere Hundert versammelt sind, die sich dem ersten Besten vermieten. Der Geschäftsführer verbürgt sich für ihre Ehrlichkeit. Das Mädchen, das er gemietet hat, ist schön, wie mir der Geschäftsführer gesagt hat, und Pocchini ist mit ihr auf der Themse zu Schiff gegangen. Ich bewundere diese Spekulation, aber ich bedauere sehr, daß er abgereist ist, ohne daß ich ihm die Uhr habe bezahlen können, denn ich zittere, weil ich jeden Augenblick dem Herrn begegnen kann, dem sie wahrscheinlich gestohlen worden ist.«

Ich habe niemals erfahren können, was aus den Mädchen geworden ist; Pocchini aber werden wir in einigen Jahren wiederfinden.

Ich führte ein ruhiges und regelmäßiges Leben, woran ich wohl hätte Geschmack finden können, wenn nicht Umstände eingetreten wären, die ohne Zweifel mir vom Schicksal bestimmt waren, gegen das ein Philosoph und Christ niemals murren darf. Jeden Tag besuchte ich entweder meine Tochter in ihrer Pension oder ich verbrachte einige Stunden im Britischen Museum mit dem Doktor Matti. Bei diesem traf ich eines Tages einen anglikanischen Geistlichen, den ich fragte, wieviel verschiedene Sekten es in England gebe.

»Dies, mein Herr,« antwortete mir der Gelehrte in ziemlich gutem Italienisch, »kann kein Mensch genau wissen; denn jeden Sonntag sieht man einige entstehen und vergehen. Es genügt, daß ein gläubiger Mensch oder auch ein Gauner, dem es um Geld oder Ruhm zu tun ist, sich auf einem Platz aufstellt und eine Ansprache an das Publikum hält; sofort umringen ihn einige Neugierige. Er legt irgendeine Bibelstelle auf seine Art aus, und wenn er einigen von den Maulaffen gefällt, laden sie ihn ein, am nächsten Sonntag zu predigen; oft wird als Versammlungsort irgendein Wirtshaus bestimmt. Pünktlich erscheint er und vertritt mit kräftigem Eifer seine Lehre. Man spricht von ihm; er stellt Thesen auf; seine Anhänger vermehren sich, je mehr seine Beredsamkeit wächst; sie legen sich einen Namen bei, und so ist eine Sekte entstanden, die im Anfang der Regierung unbekannt bleibt und dieser erst bekannt wird, wenn sie politischen Einfluß auszuüben beginnt. Auf diese Art sind so ziemlich alle Sekten entstanden, die in so reicher Zahl aus dem Boden unseres Vaterlandes hervorschießen.«

Um jene Zeit war in London der edle Venetianer Steffano Guerra, der mit Erlaubnis der Staatsinquisitoren reiste; er war ein großes Original und kam von seiner Reise dümmer, als er ausgezogen war, in unsere Heimat zurück. Er verlor in London einen Prozeß gegen einen englischen Maler, der auf seine Bestellung das Miniaturporträt einer der schönsten Londoner Damen angefertigt hatte. Guerra hatte sich schriftlich verpflichtet, dem Maler fünfundzwanzig Guineen zu bezahlen. Als das Porträt fertig war, fand Guerra es nicht nach seinem Geschmack, wollte es nicht abnehmen und weigerte sich, die Summe zu bezahlen. Nach Landesbrauch ließ der Engländer ihn zunächst verhaften; der Venetianer ließ jedoch Sicherheit bestellen und brachte den Handel vor den Richter, der ihn verurteilte, die fünfundzwanzig Guineen zu bezahlen. Er legte Berufung ein, verlor abermals und sah sich schließlich zur Zahlung gezwungen. Guerra sagte, er habe ein Porträt bestellt; ein Bild ohne Ähnlichkeit sei kein Porträt; folglich dürfe er nicht zur Zahlung verurteilt werden. Der Maler behauptete, sein Bild sei ein Porträt, denn er habe es nach dem Modell gemacht, das von der Herzogin selbst ihm geliefert worden sei. Der Richter sagte in seinem Urteilsspruch: der Maler müsse von seiner Arbeit leben; da Guerra den Maler habe arbeiten lassen, so müsse er ihm auch seinen Lebensunterhalt geben, denn der Maler schwöre, daß er sein ganzes Talent aufgeboten habe, um die Ähnlichkeit herauszubringen. Ganz England fand diesen Spruch gerecht. Auch ich; aber ich gestehe, daß viele sehr vernünftige Leute ihn für barbarisch ansehen könnten. Zu diesen gehörte auch Guerra, und auch er hatte recht; denn das Porträt, gut oder schlecht, und der Prozeß kosteten ihm mehr als hundert Guineen.

Malingans Tochter starb an den Pocken. Zur selben Zeit erhielt ihr Vater in Bath eine Ohrfeige von einem Lord, der das Pikettspiel liebte, aber nicht die Spieler liebte, die das Glück verbessern. Ich gab dem Unglücklichen das nötige Geld, um seine Tochter zu begraben und die Insel verlassen zu können. Er starb gleich nach seiner Ankunft in Lüttich, und seine Witwe schrieb mir, es habe ihm noch auf dem Totenbette Kummer gemacht, daß er seine Schulden nicht habe bezahlen können.

Herr von F. kam aus Bern als Geschäftsträger seines Kantons. Ich suchte ihn auf, wurde aber nicht vorgelassen. Ich dachte mir, er möchte wohl gewisse Vertraulichkeiten erfahren haben, die ich mir in Bern mit der niedlichen Sarah erlaubt hatte, und wollte mich nicht in die Lage setzen, diese in London zu erneuern. Da der Mann eigentlich ein bißchen verrückt war, so nahm ich sein Benehmen weiter nicht übel und hatte es schon längst vergessen, als eine Laune mich eines Abends in das Marylebone-Theater führte. Als Eintrittsgeld bezahlte man in diesem Theater, wo man an kleinen Tischen sitzen mußte, nur ein Schilling; aber man mußte irgend etwas verzehren, wäre es auch nur ein Krug Bier gewesen.

Zufällig setzte ich mich neben ein junges Mädchen, das ich anfangs gar nicht ansah. Als ich aber nach einigen Minuten mich zu ihr wandte, bemerkte ich ein entzückendes Profil, das mir nicht fremd vorkam; dies schrieb ich jedoch dem Umstand zu, daß die Schönheit dem Menschen, dem ihr göttliches Wesen sich in die Seele eingegraben hat, niemals fremd erscheinen kann. Je länger ich dieses köstliche Profil betrachtete, desto mehr war ich überzeugt, daß ich das schöne Mädchen doch zum ersten Male sehe, obgleich ich auf ihren Lippen ein unbeschreiblich feines Lächeln bemerkte. Als einer ihrer Handschuhe zu Boden fiel, beeilte ich mich, ihn aufzuheben und ihr zu überreichen. Sie dankte mir in sehr gutem Französisch und in sehr gewählten Ausdrücken.

»Madame ist also nicht Engländerin?« sagte ich in ehrerbietigstem Tone zu ihr.

»Nein, mein Herr, ich bin Schweizerin, und Sie kennen mich.«

Ich drehte mich um und sah zu meiner Rechten Frau von F., neben dieser ihre ältere Tochter und weiterhin ihren Gemahl. Ich stand auf, machte der Dame, die ich sehr hoch schätzte, meine Verbeugung und grüßte auch ihren Mann, der mir nur durch ein kaltes Kopfnicken antwortete. Ich fragte die Dame, was wohl ihr Mann gegen mich haben könne, um mich auf solche Weise zu behandeln; sie antwortete mir, Passano habe ihm böse Dinge über mich geschrieben.

Da ich in diesem Augenblick kein Gespräch mit ihm führen konnte, um ihn aufzuklären, so bot ich meine ganze Beredsamkeit auf, um mich vor seiner Tochter zu rechtfertigen, die in den drei Jahren eine so vollendete Schönheit geworden war, daß es mir unmöglich gewesen wäre, sie wiederzuerkennen. Sie wußte es, und ihr Erröten, als ich mit ihr sprach, zeigte mir, daß sie sich noch dessen erinnerte, was in Gegenwart meiner Haushälterin zwischen uns vorgefallen war. Ich wollte gern sofort wissen, ob sie dies zugeben würde, oder ob sie das Recht zu haben glaubte, alles abzuleugnen und das Vergangene auf Rechnung ihrer Unschuld zu setzen. Hätte Sarah dies beabsichtigt, so würde ich sie verachtet haben; denn geistvoll, wie sie war, konnte sie unmöglich ihren Geist dazu benutzen wollen, um ihr Temperament zu besiegen. Sie war, als ich sie in Bern kennen lernte, noch eine Knospe; jetzt sah ich sie als Blume wieder, die um so verführerischer war, da sie sich eben erst entfaltet hatte.

»Reizende Sarah,« sagte ich zu ihr, »Sie haben mich so geblendet, daß ich dem Drange nicht widerstehen kann, zwei Fragen an Sie zu richten, deren Beantwortung für meine Herzensruhe notwendig ist. Sagen Sie mir, ob Sie sich unserer Schäkereien von Bern erinnern?«

»Ja.«

»Sagen Sie mir geschwind, ob Sie böse sind, daß ich mich in diesem Augenblick mit außerordentlichem Vergnügen derselben erinnere?«

»Nein.«

Welcher Verliebter hätte es wohl gewagt, möglicherweise ihr Zartgefühl zu verletzen und die dritte Frage zu stellen. Ich war gewiß, daß Sarah mich glücklich machen würde; ich schmeichelte mir sogar mit der Hoffnung, daß sie selber den Augenblick des Glückes herbeisehnte. So überließ ich mich denn der ganzen Glut meiner Wünsche und beschloß, sie zu überzeugen, daß ich ihre Liebe verdiente.

Da der Kellner in unserer Nähe herumlungerte, bat ich Frau von F. um Erlaubnis, ihr grüne Austern anbieten zu dürfen. Nachdem sie sich anstandshalber ein wenig gesträubt hatte, willigte sie ein, und ich machte mir ihre Erlaubnis zunutze, um alle leckeren Sachen kommen zu lassen, die auf der Speisekarte standen, unter anderm auch einen jungen Hasen, in London eine große Delikatesse, die für gewöhnlich nur auf die Tafel vornehmer Herren kommt, die ihre eigene Jagd besitzen und ein solches Wild nicht gerne hergeben. Champagner und westindische Liköre flossen in Strömen; es gab Lerchen, Krammetsvögel, Trüffeln, eingemachte Früchte. Es war nichts gespart worden, und ich war nicht erstaunt, als der Kellner mir die Rechnung brachte, und ich sah, daß wir für zehn Guineen verzehrt hatten; aber sehr erstaunt war ich, als ich Herrn von F., der ohne ein Wort zu sagen, wie ein Türke gegessen und wie ein Schweizer getrunken hatte, mit einem Eifer, wie wenn er die Sparsamkeit erfunden hätte, schimpfen hörte, es sei zu teuer.

Ich bat ihn freundlich, sich zu mäßigen, und bezahlte. Um ihm zu zeigen, daß ich seine Meinung nicht teilte, gab ich eine halbe Guinee Trinkgeld dem Kellner, der nur zu wünschen schien, daß er öfters ein solches unverhofftes Glück hätte. Mein ehrenwerter Schweizer, der vor einer Stunde blaß und ernst gewesen war, strahlte in rötlichem Glänze und war höchst liebenswürdig geworden. Sarah warf einen Blick auf ihn und drückte mir die Hand. Ich triumphierte.

Nach der Vorstellung fragte Herr von F. mich, ob ich ihm wohl erlauben wollte, mir seinen Besuch zu machen. Ohne ihm ein Wort zu erwidern, umarmte ich ihn. Es regnete in Strömen, und sein Bedienter kam und sagte ihm, es sei kein Fiaker da, man müsse daher warten. Ich war ein wenig überrascht, daß ein Mann seines Ranges mit seiner ganzen Familie an einen solchen Ort kam, ohne sich seines Wagens zu bedienen. Sofort bat ich ihn, den meinigen zu benutzen, indem ich zugleich meinem Neger befahl, mir einen Tragstuhl zu holen.

»Ich nehme mit Vergnügen an,« sagt Herr von F. zu mir, »aber unter der Bedingung, daß ich die Sänfte benütze.«

Ich mußte nachgeben und fuhr daher in meinem Wagen mit der Mutter und ihren beiden Töchtern.

Unterwegs sagte Frau von F. mir die größten Freundlichkeiten, indem sie zugleich, allerdings in milden Ausdrücken, die Unhöflichkeiten ihres Gatten mißbilligte, über die ich mich zu beklagen hatte. Ich sagte ihr, ich würde mich dafür rächen, indem ich in Zukunft ihr recht fleißig den Hof machen würde. Sie durchbohrte mir das Herz, als sie mir antwortete, ihre Abreise stehe nahe bevor. »Wir wollten übermorgen abreisen und müssen schon morgen unsere Wohnung räumen, da die neuen Mieter übermorgen einziehen wollen. Ein Geschäft, das mein Mann nicht hat zu Ende bringen können, nötigt uns, noch etwa acht Tage hier zu bleiben; wir werden uns also morgen in der doppelten Verlegenheit befinden, aus unserer Wohnung ausziehen und irgendwo eine neue Wohnung finden zu müssen.«

»Sie haben also noch keine Wohnung?«

»Nein; aber mein Mann glaubt morgen früh ganz bestimmt eine zu bekommen.«

»Wahrscheinlich eine möblierte; denn da Sie abreisen wollen, werden Sie wohl Ihre Möbel verkauft haben.«

»Jawohl, denn wir müssen sie auf unsere Kosten dem Käufer bringen lassen.«

Als ich hörte, daß Herr von F. einer Wohnung sicher sei, glaubte ich die meinige nicht anbieten zu dürfen; ich befürchtete nämlich, die Dame könnte glauben, daß ich sie nur darum anböte, weil ich sicher wäre, sie würde nicht angenommen werden.

Als wir vor ihrem Hause angekommen waren, stiegen wir aus, und die Mutter bat mich, hereinzukommen. Sie wohnte mit ihrem Mann im zweiten Stockwerk, und die beiden Mädchen hatten das dritte für sich. In der Wohnung stand alles drunter und drüber, und da Frau von F. mit der Wirtin zu sprechen hatte, bat sie mich zu ihren Töchtern zu gehen.

Es war kalt, und wir fanden ein Zimmer ohne Feuer. Die Schwester ging in das Nebenzimmer, und so blieb ich mit Sarah allein. Ohne jede besondere Absicht schloß ich sie in meine Arme; als ich aber an der Glut ihrer Küsse merkte, daß sie meine Wünsche erwiderte, sank ich mit ihr auf das Kanapee, worauf wir saßen, und ohne auch nur einen Augenblick über dieses erste Geschenk, das uns die Liebe machte, nachdenken zu können, kosteten wir die höchste Wollust, indem wir ineinander verschmolzen. Aber dieses Glück dauerte kaum einen Augenblick; schnell wie der Blitz war es vorbei; denn kaum war das Werk vollzogen, so hörten wir jemanden die Treppe hinaufkommen. Es war der Vater. Indessen – es war vollbracht.

Hätte Herr F. Augen im Kopf gehabt, so würde er ganz gewiß entdeckt haben, was wir getan hatten; denn mein Gesicht mußte eine Verwirrung verraten, deren Art man sich leicht denken kann.

Nachdem ich eine Flut von Komplimenten über mich hatte ergehen lassen müssen, die in diesem Augenblick langweiliger waren denn je, schüttelte ich ihm die Hand und verschwand wie ein Schatten. Als ich in meiner Wohnung ankam, befand ich mich in einer solchen Aufregung, daß ich den Beschluß faßte, England zu verlassen und Sarah in ihre Heimat zu folgen. Die ganze Nacht hindurch überlegte ich reiflich alle Anordnungen, die ich für diese Reise zu treffen hatte. Ich beschloß, der Familie für die Zeit, die wir noch in London bleiben würden, meine Wohnung anzubieten, und mein Anerbieten nötigenfalls so dringlich zu machen, daß sie es nicht ablehnen könnten.

In aller Frühe eilte ich zu Herrn von F., dem ich auf seiner Schwelle begegnete. Er sagte zu mir: »Ich will versuchen, ein paar Zimmer zu finden, worin wir etwa eine Woche hausen können.«

»Die Zimmer sind gefunden; meine Wohnung ist groß, und ich verlange, daß Sie mir den Vorzug geben. Gehen wir ins Haus!«

»Meine ganze Familie liegt noch zu Bett.«

»Kommen Sie nur herein.«

Wir gingen ins Haus. Frau von F. machte wortreiche Entschuldigungen. Als ihr Gemahl ihr sagte, ich wolle ihm eine Wohnung vermieten, lachte ich und rief, ich verlangte, daß er eine Wohnung annähme, die ihm freundschaftlich angeboten würde. Nachdem er viele Umstände gemacht hatte, nahm er endlich an, und wir vereinbarten, daß die ganze Familie schon am Abend einziehen solle.

Ich ging nach Hause, um die notwendigen Anordnungen zu treffen. Während ich damit beschäftigt war, meldete man mir zwei junge Damen. Da ich sie nicht empfangen wollte, ging ich selber an die Tür, um mich zu entschuldigen. Zu meiner angenehmsten Überraschung aber sah ich Sarah und ihre Schwester. Sofort ließ ich sie eintreten. Sarah sagte mir mit bescheidenen Worten, ihre Hauswirtin wolle nicht erlauben, daß die Möbel fortgeschafft würden, bevor sie vierzig Guineen erhalten hätte, die ihr Vater ihr schuldig wäre. Sie weigerte sich, obgleich ein Geschäftsmann aus der City ihr versichert hätte, daß der Betrag im Laufe der Woche bezahlt werden würde. Ihr Vater schicke mir nun eine Anweisung, die auf den Inhaber lautete, und lasse mich bitten, ob ich ihm diesen Dienst erweisen könne.

Ich nahm die Anweisung und gab ihr eine Banknote von fünfzig Pfund Sterling, indem ich ihr sagte, sie könne mir den Rest herausgeben. Sie dankte mir ohne allen Überschwang und ging. Ich war entzückt, daß sie solches Vertrauen zu mir gehabt hatte.

Das augenblickliche Bedürfnis, sich vierzig Guineen zu verschaffen, schien mir noch kein Beweis zu sein, daß Herr von F. sich in Bedrängnis befände. Ich sah in meiner damaligen Stimmung alles in dem schönsten Licht und wünschte mir Glück, daß ich ihm hatte nützlich sein können, indem ich ihm dadurch bewies, daß er unrecht getan hatte, mich so geringschätzig zu behandeln.

Ich nahm nur ein leichtes Mittagessen zu mir, um desto angenehmer mit meinem helvetischen Engel zu Abend speisen zu können, und brachte den Nachmittag damit zu, mehrere Briefe zu schreiben. Gegen Abend kam der Bediente des Herrn von F. mit drei großen Koffern und vielen Schachteln und sagte mir, die Familie werde bald kommen; vergebens wartete ich jedoch bis neun Uhr. Unruhig über diese Verzögerung, begab ich mich zu Herrn von F. und fand dort alle in der größten Bestürzung. Der Anblick von zwei ziemlich übel aussehenden Männern, die sich im Zimmer befanden, ließ mich erraten, was wohl vorgegangen sein mochte. Mit lachendem Gesicht rief ich aus: »Ich wette, irgendein ungebärdiger Gläubiger bereitet Ihnen diese Verlegenheit!«

»Das ist wahr,« sagte der Vater; »aber ich bin sicher, in fünf oder sechs Tagen meine Schuld begleichen zu können; aus diesem Grunde habe ich meine Abreise aufgeschoben.«

»Man hat Sie also verhaftet, nachdem Sie mir Ihren Koffer geschickt hatten?«

»Einen Augenblick nachher.«

»Was haben Sie seitdem getan?«

»Ich habe um Bürgen schicken lassen.«

»Und warum haben Sie nicht zu mir geschickt?«

»Ich bin Ihnen dankbar, mein großmütiger Freund; aber Sie sind Ausländer, und man nimmt nur Hausbesitzer als Bürgen an.«

»Sie hätten mir auf alle Fälle immerhin Bescheid geben sollen; denn ich habe Ihnen ein ausgezeichnetes Abendessen zurecht machen lassen, und ich sterbe vor Hunger.«

Da die Schuld meine Mittel übersteigen konnte, so wollte ich mich nicht zu weit vorwagen. Ich nahm Sarah beiseite und erfuhr von ihr, daß dieser ganze Wirrwarr um eine Schuld von hundertundfünfzig Pfund Sterling stattfand. Infolgedessen ließ ich den Inhaber des Haftbefehls fragen, ob wir nach unserem Belieben zum Essen gehen könnten, wenn dieser Betrag bezahlt wäre.

»Selbstverständlich!« ließ er mir antworten; zugleich zeigte er mir den Wechsel.

Ich nahm drei Banknoten von fünfzig Pfund aus meiner Brieftasche, gab sie dem Gerichtsvollzieher, nahm dafür den Wechsel und sagte zu dem betrübten armen Herrn von F.: »Sie können den Betrag an mich bezahlen, bevor Sie England verlassen.«

Hierauf umarmte ich die ganze Familie, die vor Freuden weinte, und rief: »Nun zu Tisch und weg mit den Sorgen des Lebens!«

Wir fuhren zu mir und speisten heiter und vergnügt. Nur die brave Mutter konnte ihre Traurigkeit nicht überwinden.

Nach dem Abendessen führte ich sie alle in die Zimmer, die ich für sie hatte zurecht machen lassen und von denen sie entzückt waren; ich wünschte ihnen wohl zu ruhen und sagte ihnen, ich würde sie bis zu ihrer Abreise aufs beste bewirten und hoffte, sie nach der Schweiz begleiten zu können.

Nach dem Erwachen warf ich einen Blick auf meinen körperlichen und seelischen Zustand und fand mich glücklich. Meine Empfindungen waren derart, daß es mir unmöglich gewesen wäre, sie zu beherrschen; aber daran dachte ich auch gar nicht. Eine starke Empfindsamkeit, die ich als reinen Ausfluß meiner Seele erkannte, machte mich damals, wie noch jetzt, sehr nachsichtig gegen eine Sinnlichkeit, deren Opfer ich oft gewesen bin. Ich liebte Sarah und war so sicher, ihr Herz zu besitzen, daß ich alle Begierden weit von mir wies. Begierden entstehen aus den Bedürfnissen und sind lästig, weil sie unzertrennlich vom Zweifel sind, und Zweifel ist eine Folter für den Geist. Sarah war mein; sie hatte sich in reiner Hingebung mir geschenkt, als kein Schatten von Eigennutz die Quelle ihrer Leidenschaft verdächtig machen konnte.

Ich ging zu dem Vater hinauf, den ich damit beschäftigt fand, seine Koffer zu öffnen. Da ich die Mutter traurig sah, so fragte ich sie, ob sie sich wohl befinde. Sie antwortete mir, ihre Gesundheit sei ausgezeichnet, aber sie habe große Furcht vor dem Meere, und der Gedanke, daß sie binnen kurzem sich einschiffen solle, mache sie unglücklich. Der Vater bat mich, ihn zu entschuldigen, daß er nicht zum Frühstück bleiben könne; er müsse wegen einiger Geschäfte ausgehen. Nachdem die beiden jungen Damen heruntergekommen waren, frühstückten wir, und ich fragte die Mutter, warum sie ihre Koffer auspackte, da wir doch so bald schon abreisen sollten. Sie antwortete mir lächelnd, ein einziger Koffer würde bald genügen, um alle Sachen der ganzen Familie aufzunehmen; denn sie wäre entschlossen, alles überflüssige zu verkaufen. Da ich prachtvolle Kleider, sehr schöne Wäsche und kostbare Spitzen sah, so konnte ich mich nicht enthalten, ihr zu sagen, es würde sehr schade sein, um einen jämmerlichen Preis Gegenstände zu veräußern, die sie sehr teuer wieder ersetzen müßten.

»Sie haben vollkommen recht; aber obgleich alle diese Sachen sehr schön sind, so ist doch die Befriedigung, seine Schulden zu bezahlen, noch viel schöner.«

»Sie dürfen nichts verkaufen!« rief ich lebhaft; »denn da ich mich entschlossen habe, mit Ihnen nach der Schweiz zu reisen, so werde ich Ihre Schulden bezahlen, und Sie werden mir das Geld zurückgeben, sobald Sie dazu imstande sind.«

Zu diesen Worten machten alle drei sehr erstaunte Gesichter. »Ich glaubte nicht,« sagte die Mutter, »daß Sie im Ernst gesprochen hätten.«

»In vollem Ernst, Madame, und dies ist der Gegenstand meiner Wünsche.«

Zugleich ergriff ich Sarahs Hand und bedeckte sie mit Küssen.

Sarah errötete und sagte nichts; die Mutter sah uns mit gütigem Blick an, aber nach einem kurzen Schweigen richtete sie an mich eine lange Rede voller Aufrichtigkeit und Vernunft. Sie schilderte mir ausführlich die Lage ihrer Familie und die Geringfügigkeit der Mittel ihres Gatten, den sie damit entschuldigte, daß er in London hätte Schulden machen müssen, um auf eine bescheidene und doch anständige Weise dort leben zu können; sie tadelte jedoch, daß er seine ganze Familie mitgenommen hätte. »Er hätte allein hier leben können und würde dann nur einen Bedienten gebraucht haben; für die ganze Familie aber waren die zweitausend Taler, die die Berner Regierung ihm jährlich gab, durchaus ungenügend. Mein alter Vater hat durch seinen Einfluß die Regierung bewogen, die Schulden zu bezahlen, die mein Mann hier gemacht hat; zugleich aber hat sie beschlossen, hier keinen Geschäftsträger mehr zu halten, um auf diese Weise die Extraausgaben wieder zu decken; ein gewöhnlicher Bankier, der den Titel Agent erhält, wird genügen, um die Zinsen der Kapitalien einzuziehen, die die Republik in England besitzt. Ich schätze Sarah glücklich, daß es ihr gelungen ist, Ihnen zu gefallen, doch bin ich nicht sicher, daß mein Mann seine Einwilligung zu dieser Heirat geben wird.«

Beim Wort Heirat, das mir selber ganz unerwartet kam, sah ich Sarah erröten. Dies gefiel mir, aber ich sah voraus, daß es Schwierigkeiten geben würde.

Herr von F. kam zurück und sagte seiner Frau, im Laufe des Nachmittage würden zwei Trödler kommen, um die Sachen zu kaufen. Als ich ihm jedoch meinen Plan mitteilte, sie nach der Schweiz zu begleiten, überzeugte ich ihn mit ziemlich leichter Mühe, daß es besser wäre, alle seine Sachen zu behalten und von mir zweihundert Guineen als Darlehen anzunehmen, für die er mir Zinsen zahlen würde, bis er sie zurückgeben könnte. Wir schlossen sofort einen Vertrag in aller Form. Von der Heirat sprachen wir nicht, da seine Frau mir gesagt hatte, sie würde unter vier Augen mit ihm reden.

Am dritten Tage kam er allein zu mir, um mit mir über die Angelegenheit zu sprechen. »Meine Gemahlin,« sagte er, »hat mir Mitteilung von Ihren für mich ehrenvollen Absichten gemacht; ich kann Ihnen jedoch meine Sarah nicht geben, denn vor meiner Abreise von Bern habe ich sie Herrn von W. versprochen, und Familieninteressen verbieten es mir, mein Wort zurückzunehmen. Außerdem würde mein alter Vater niemals seine Einwilligung geben, da nach seinen strengen Ansichten bei einer solchen Verbindung der Religionsunterschied keine Sicherheit für das Glück seiner Lieblingsenkelin geben würde.«

Im Grunde war diese Erklärung mir nicht unangenehm, denn trotz meiner Liebe zu Sarah erschreckte mich das Wort Heirat. Ich antwortete ihm, Zeit und Umstände könnten sich ändern, inzwischen würde es mir genügen, wenn er mir seine ganze Freundschaft schenkte und es mir allein überließe, alle Vorbereitungen für die bevorstehende Reise zu treffen. Er versprach mir alles und versicherte mir, er sei entzückt, daß seine Tochter verstanden habe, meine Neigung zu gewinnen.

Nach dieser Auseinandersetzung gab ich Sarah in Gegenwart ihrer Eltern alle Beweise von Zärtlichkeit, die der Anstand mir erlaubte, und alles sprach dafür, daß das junge Mädchen mich innig liebte.

Am fünften Tage ging ich in ihr Zimmer, und da ich sie noch im Bett fand, bemächtigte sich meiner die ganze Glut der Wollust; denn seit jenem Augenblick, da ich mich so schnell ihres Einverständnisses versichert hatte, war ich nicht mehr mit ihr allein zusammen gewesen. Ich stürzte mich auf sie und bedeckte sie mit Küssen; sie zeigte sich zärtlich, aber zurückhaltend. Meine Glut stieg, ich wollte sie löschen; aber vergeblich: sie setzte mir einen sanften Widerstand entgegen und verhinderte mich, ans Ziel zu gelangen, obgleich sie meine Liebkosungen erwiderte.

»Warum, göttliche Sarah, widersetzen Sie sich den Ausbrüchen meiner Zärtlichkeit?«

»Ich bitte Sie, mein süßer Freund, verlangen Sie von mir nichts weiter, als was ich Ihnen bewillige.«

»Sie lieben mich also nicht mehr?«

»Undankbarer! Ich bete Sie an.«

»Aber warum denn jetzt diese Weigerung, nachdem Sie sich doch ganz und gar mir schon hingegeben haben?«

»Ich habe mich Ihnen hingegeben, und ich bin glücklich, daß ich es tat; ich habe Sie ebenso glücklich gesehen wie mich, und dies, mein lieber Freund, muß uns genügen.«

»Es ist unmöglich, daß diese Veränderung nicht irgendeinen Grund hat. Wenn Sie mich lieben, teure Sarah, muß dieser Verzicht Ihnen schwer werden.«

»Ich gestehe es, zärtlicher Freund; aber ich muß mich mit dieser schmerzlichen Entsagung abfinden. Nicht eine Schwäche zwingt mich, meine Leidenschaft zu bekämpfen, sondern nur die Pflicht, die ich gegen mich selber habe. Ich habe gegen Sie Verpflichtungen, und ich würde mich in meinen eigenen Augen erniedrigen, wenn ich mit meiner Person dafür einstehen wollte. Als ich mich Ihnen hingab, und Sie sich mir hingaben, da herrschte vollige Gleichheit zwischen uns; wir standen nicht im Verhältnis von Gläubiger und Schuldner zueinander. Durch die Verpflichtungen, die ich eingegangen bin, ist mein Herz jetzt in Knechtschaft geraten, und es sträubt sich gegen Opfer, die es der Liebe so gern darbrachte.«

»Was für eine seltsame Metaphysik, meine liebe Sarah! Eine solche Philosophie täuscht Sie und ist ihre Feindin so gut wie die meinige. Sie überlassen sich Sophismen, die Sie betrügen und mir das Herz zerreißen. Erkennen Sie doch ein bißchen mein Zartgefühl an und beruhigen Sie sich; denn, mein Engel, Sie schulden mir nichts!«

»Geben Sie zu, daß Sie für meinen Vater nichts getan haben würden, wenn Sie mich nicht liebten.«

»Das werde ich ganz gewiß nicht zugeben, denn die Achtung, die Ihre würdige Mutter mir eingeflößt hat, hätte mich mit Leichtigkeit veranlaßt, für Ihre Eltern zu tun, was ich getan habe, und vielleicht noch mehr. Es ist sogar möglich, daß ich überhaupt gar nicht an Sie gedacht habe, indem ich Ihrem Vater diesen kleinen Dienst erwies.«

»Das kann wohl sein, denn Sie sind überhaupt hilfsbereit; aber ich kann mich nicht enthalten, das Gegenteil zu glauben. Verzeihen Sie mir, lieber Freund; aber ich kann mich nicht entschließen, auf Kosten meines Herzens derartige Schulden zu bezahlen.«

»Mir scheint, das Gefühl müßte im Gegenteil Ihre Liebe noch heißer machen.«

»Sie kann nicht heißer sein, als sie gewesen ist.«

»Ich bin recht unglücklich; so soll ich also für das, was ich getan habe, die grausamste Strafe erleiden? Sie fühlen doch, liebe Sarah, daß Sie mich bestrafen?«

»Ach, vielleicht bestrafe ich mich selber! Aber ersparen Sie mir diesen grausamen Vorwurf und erhalten Sie mir unvermindert Ihre Zärtlichkeit. Wir wollen uns auch in Zukunft lieben!«

Dieses Gespräch ist nicht der hundertste Teil von der Unterhaltung, die wir bis zum Mittagessen miteinander führten. Schließlich kam die Mutter; als sie mich am Fußende des Bettes sitzen sah, fragte sie mich lachend, warum ich ihre Tochter nicht aufstehen lasse. Ich antwortete ihr mit heiterem und vollkommen ruhigem Gesicht: eine für uns sehr interessante Unterhaltung habe uns wirklich nicht bemerken lassen, daß es schon so spät sei.

Ich verließ sie, um mich anzukleiden. Indem ich über die erstaunliche Veränderung nachdachte, die sich in dem reizenden Geschöpf vollzogen hatte, glaubte ich darauf rechnen zu dürfen, daß ihr Entschluß nicht von langer Dauer sein werde. Ein solcher Glaube war für mich eine Notwendigkeit, denn sonst hätte ich nicht die Kraft gehabt, auf ihre Laune einzugehen, die mir eigentlich ziemlich romanhaft erschien.

Wir speisten sehr fröhlich zu Mittag, und Sarah und ich bekundeten ganz offen vor ihren Eltern in allen Bemerkungen unsere gegenseitige Liebe und eine innige Zuneigung. Am Abend führte ich sie in die italienische Oper; hierauf verzehrten wir ein ausgezeichnetes Abendessen und gingen dann in vollkommener Eintracht zu Bett.

Den ganzen nächsten Morgen verbrachte ich in der City, um mit den Bankiers abzurechnen, bei denen ich noch Geld ausstehen hatte. Ich nahm Wechsel auf Genf, denn meine Abreise war beschlossene Sache; ich glaubte nur noch fünf oder sechs Tage in London bleiben zu müssen und nahm herzlichen Abschied von dem braven Herrn Bosanquet. Am Nachmittag besorgte ich einen Wagen für Frau von F., die ihre Abschiedsbesuche machen wollte; ich selber fuhr in der gleichen Absicht nach der Pension meiner Tochter hinaus. Die liebe Kleine zerfloß in Tränen; sie sagte mir, sie verliere alles, und bat mich, sie nicht zu vergessen. Ich war tief gerührt. Auf Sophiens Bitten entschloß ich mich, vor meiner Abreise ihrer Mutter noch einen Besuch zu machen.

Beim Abendessen sprachen wir von unserer Reise. Ich sollte für alles sorgen, und Herr von F. gab mir zu, daß wir statt über Ostende besser über Dünkirchen reisen würden. Er hatte nur noch einige unbedeutende Geschäfte zu erledigen und sagte mir, er könne nach Bezahlung seiner Schulden und der Reisekosten darauf rechnen, mit etwa fünfzig Guineen in Bern anzukommen. Er wollte zwei Drittel von allen Reisekosten bezahlen; ich hatte mich damit einverstanden erklären müssen, obgleich ich fest entschlossen war, ihm niemals Rechnung abzulegen. Ich hoffte, daß es mir in Bern auf irgend eine Weise gelingen würde, Sarah zur Frau zu erhalten.

Am nächsten Morgen nach dem Frühstück, als ihr Vater ausgegangen war, ergriff ich in Gegenwart ihrer Mutter ihre Hand und fragte sie im Ton der innigsten Liebe, ob ich sicher sein könnte, daß sie mir ihr Herz schenken würde, wenn es mir in Bern gelänge, die Einwilligung ihres Vaters zu erhalten. Ihre Mama war so gütig, mir zu versprechen, daß ich auf ihre Einwilligung bestimmt rechnen könne, sobald ich die ihres Gatten erhalten habe.

Bevor Sarah antworten konnte, stand die Mutter auf und sagte uns auf das freundlichste: »Ihre Auseinandersetzungen könnten vielleicht lange dauern; ich will Sie daher bis zum Mittag allein lassen.« Sie ging hinaus und nahm ihre ältere Tochter mit, um Besuche zu machen.

Als wir allein waren, sagte Sarah mir im zärtlichsten Tone: »Ich kann nicht begreifen, daß Sie an meiner Zustimmung zu unserer Verbindung zweifeln, die doch mein innigster Wunsch ist. Ich habe Ihnen meine Liebe bewiesen, lieber Freund, und ich bin überzeugt, ich werde vollkommen glücklich sein, wenn ich Ihre Frau werde. Sie können sich darauf verlassen, daß ich keinen anderen Willen haben werde als den Ihrigen, und wohin ich auch Ihnen folgen muß, in der Schweiz ist nichts, was ich mit Bedauern zu verlassen brauchte.«

Diese sanften Worte rührten mir Herz und Seele; ich drückte die liebende Sarah an meine Brust und sah, daß sie mein Entzücken teilte; aber sie beschwor mich, mich zu mäßigen, als sie sah, daß ich mich anschickte, ihr meine Liebe ohne Rückhalt zu beweisen. Sie umklammerte mich mit ihren Armen und flehte mich an, nichts von ihr zu verlangen; denn sie sei entschlossen, mir nichts mehr zu bewilligen, bevor sie mir in rechtmäßiger Ehe angehören würde.

»Wie? Sie wollen mich zur Verzweiflung bringen? Haben Sie auch bedacht, Sarah, daß Ihr Widerstand mir das Leben kosten kann? Ist es möglich, daß Sie mich lieben und doch nicht das traurige Vorurteil verabscheuen, das Sie unserer gegenseitigen Liebe entgegensetzen? Ich kann doch weder an Ihrer Liebe zu mir noch an Ihrer Neigung zu den Freuden der Wollust zweifeln!«

»Ja, mein lieber zärtlicher Freund, ich bete Sie an und würde mich gern mit Ihnen allen Wonnen hingeben; aber Sie müssen mich schonen und Rücksicht auf mein Zartgefühl nehmen.«

Als sie aber Tränen in meinen Augen sah, ging ihr dies so zu Herzen, daß sie ohnmächtig wurde. Ich fing sie in meinen Armen auf und legte sie sanft auf ein Bett, das dicht daneben stand. Sie verlor nicht vollständig die Besinnung, aber ihre Blässe beunruhigte mich. Ich hielt ihr Riechsalz unter die Nase und rieb ihre Schläfen mit Savoyer Tropfen, die ich bei mir trug. Bald schlug sie die Augen wieder auf, reichte mir ihren Mund zum Kuß und schien glücklich zu sein über die Ruhe meiner Sinne, die ihr durch meinen zärtlichen Kuß bestätigt wurde. Der Gedanke, mir ihre Lage zunutze zu machen, würde mich mit Abscheu erfüllt haben.

Sie richtete sich auf und sagte: »Jetzt haben Sie mich von der Aufrichtigkeit Ihrer Gefühle überzeugt.«

»Hättest du glauben können, göttliche Freundin, daß ich so niedrig sein könnte, deine Ohnmacht zu mißbrauchen? Wäre es für mich ein Genuß, wenn du ihn nicht teiltest?«

»Ich glaube es nicht; aber ich würde mich Ihnen nicht widersetzt haben. Doch ist es wohl möglich, daß ich Sie dann nicht mehr geliebt haben würde.«

»Sarah, Sie üben, ohne es zu wissen, einen Zauber über mich aus, der mich zugrunde richtet!«

Nach diesen Worten setzte ich mich traurig an das Kopfende ihres Bettes und überließ mich den trübsten Gedanken. Sarah erriet vielleicht, was in mir vorging, und suchte mich nicht davon abzulenken.

Ihre Mutter kam nach Hause und fragte sie, warum sie zu Bett liege; aber in ihrer Frage lag kein Verdacht, der übrigens durch meine Stellung neben dem Bett und meine traurige Miene vollkommen widerlegt worden wäre. Sarah sagte ihr die Wahrheit.

Gleich darauf kam Herr von F. nach Hause, und wir aßen zu Mittag; aber es war eine stille Mahlzeit. Was mir widerfahren war und was ich von diesem Mädchen mit reinem Herzen und glühender Leidenschaft hatte hören müssen, hatte mich in eine ganz niedergeschlagene Stimmung versetzt. Ich sah klar und deutlich, daß ich nichts mehr zu hoffen hatte, und da ich mein Temperament kannte, so fühlte ich, daß ich an mich selber denken mußte. Erst vor sechs Wochen hatte Gott mir geholfen, mich aus den Fesseln einer Charpillon zu befreien, deren niederträchtigen Charakter ich kannte, und nun sah ich mich in Gefahr, in leidenschaftlicher Liebe zu einem Engel zu entbrennen, dessen Tugenden ich nicht verkennen konnte. Die Gefahr war tausendmal größer; – da ich nun einmal keine Aussicht hatte, sie als Ehegattin zu erhalten, so mußte ich fürchten, meine Vernunft oder gar mein Leben zu verlieren. Daran wäre sie schuld gewesen, und ich hätte nicht einmal den traurigen Trost gehabt, mich über sie beklagen zu können.

Dies sind etwa die Betrachtungen, die ich während Sarahs Ohnmacht angestellt hatte; diese Gedanken mußten erst ausreifen.

In der City fand ein Verkauf kostbarer Gegenstände in Gestalt einer Lotterie statt. Sarah hatte die Anzeige gelesen, und ich lud sie nebst ihrer Schwester und Mutter ein, mit mir hinzufahren. Es kostete mir keine Mühe, ihre Zustimmung zu erlangen. Wir fanden dort viele vornehme Personen, unter anderen die Gräfin Harrington, Lady Emilie Stanhope und ihre Tochter. Die Mutter hatte damals eine eigentümliche Geschichte auf dem Halse: sie ließ durch Polizeikommissäre in ihrem Hause Nachforschungen anstellen, um den Dieb von sechstausend Pfund Sterling zu entdecken, die man ihrem Manne gestohlen hatte, während in London kein Mensch daran zweifelte, daß sie selber diese Summe auf die Seite gebracht hatte.

Frau von F. spielte nicht, aber sie hatte nichts dagegen, daß ihre Töchter einige Lose von mir annahmen. Sie waren glücklich, denn sie erhielten für zehn oder zwölf Guineen Gegenstände im Werte von mehr als sechzig.

Da ich mich mit jedem Tage mehr in Sarah verliebte, aber überzeugt war, daß ich nur noch sehr unbedeutende Gunstbezeigungen von ihr erlangen würde, so glaubte ich eine Erklärung nicht mehr hinausschieben zu dürfen. Ich sagte ihnen nach dem Abendessen, während wir noch bei Tische saßen: da ich nicht sicher wäre, daß die entzückende Sarah mein Weib werden könnte, so hätte ich mich entschlossen, meine Reise nach Bern noch aufzuschieben. Der Vater billigte meinen Entschluß und sagte mir, ich könnte mit seiner Tochter einen Briefwechsel unterhalten. Sarah wußte sich zu beherrschen und schien mit dieser Anordnung einverstanden zu sein; aber es war leicht zu sehen, daß sie sich Gewalt antat.

Ich verbrachte eine grausame Nacht. Zum ersten Male in meinem Leben sah ich mich geliebt und doch unglücklich wegen einer Laune seltsamster Art. Ich erwog noch einmal die Gründe, die Sarah mir angeführt hatte, und da ich sie nicht triftig finden konnte, so zog ich den Schluß, daß meine Liebkosungen ihr nicht gefallen hätten.

Während der letzten drei Tage befand ich mich mehrere Male mit ihr unter vier Augen; aber ich mäßigte stets die Erregung, in die ihre Gegenwart mich versetzte; sie ihrerseits erwies mir tausend anständige Liebkosungen, die ich als bedeutsame Gunstbeweise hätte ansehen können, wenn ich nicht eben den höchsten Gunstbeweis schon erhalten hätte. Ich machte dadurch eine Erfahrung, die ich noch nicht kannte und die ich nicht für möglich gehalten hätte, weil ich bis jetzt stets das Gegenteil erfahren hatte: nämlich daß Enthaltsamkeit, die im allgemeinen eine Liebe nur noch mehr anstachelt, zuweilen auch die entgegengesetzte Wirkung hervorbringt. Sarah würde mir mit der Zeit noch völlig gleichgültig geworden sein; denn ich hätte sie niemals meiner Freundschaft unwert finden können. Ein ganz anderer Charakter dagegen, eine Charpillon, die mich betrog und mich wütend machte, eine kokette Freudendirne, die immer Hoffnungen zu erregen weiß und niemals sich finden läßt, – eine solche bringt einen Mann durch Erregung zur Verzweiflung und flößt ihm schließlich durch die Enttäuschung Verachtung und oft Haß ein.

Die Familie reiste nach Ostende ab, und ich begleitete sie bis zur Themsemündung. Ich gab Sarah einen Brief für Frau von W., dies war die gelehrte Hedwig, die sie nicht kannte. Zwei Jahre später wurde Sarah ihre Schwägerin, indem sie einen Bruder des Herrn von W. heiratete, mit dem sie glücklich wurde.

Wenn ich heute mich nach meinen alten Bekannten erkundige, höre ich die Nachrichten aufmerksam, ja sogar mit Vergnügen an; aber die Teilnahme, die sie in mir erregen, ist geringer als mein Interesse an einer weltgeschichtlichen Begebenheit, an einer Anekdote, die vor fünf oder sechs Jahrhunderten vorgefallen ist und bis dahin allen Gelehrten unbekannt war. Wir empfinden für unsere Zeitgenossen, ja sogar für gewisse Teilnehmer an den tollen Streichen unserer Vergangenheit eine Art von Verachtung oder zum mindesten eine Gleichgültigkeit, die vielleicht der Verachtung entspringt, die wir ingewissen Augenblicken vor uns selber haben.

Vor vier Jahren schrieb ich nach Hamburg an Madame G. Mein Brief begann mit den Worten: »Nach einem neunundzwanzigjährigen Schweigen –« Sie würdigte mich keiner Antwort und ich nahm ihr dies nicht übel. Ich denke, wir Menschen machen uns gar nichts auseinander, und das ist vollkommen natürlich.

Wenn der Leser erfährt, wer diese Frau G. ist, so wird er lachen, und mit Recht. Vor zwei Jahren war ich schon unterwegs nach Hamburg. Was wollte ich dort? Mein guter Genius führte mich nach Dux zurück.

Nach der Abreise meiner Gäste empfand ich eine Leere und ein Gefühl von Traurigkeit. Ich ging in die Oper im Covent-Garden und fand dort Goudar, der mich fragte, ob ich in das Konzert der Sartori gehen wolle. Ich würde dort eine junge Engländerin sehen, die ein wahres Juwel wäre und italienisch spräche.

Da ich eben erst Sarah verloren hatte, fühlte ich mich nicht in der Stimmung, so bald eine neue Bekanntschaft zu machen; aber ich war neugierig, dies Wunder zu sehen. Ich folgte meiner Laune und fand nur Langeweile. Darüber freute ich mich. Und doch war die junge Engländerin hübsch. Ein junger Livländer, der sich Baron von Stenau nennen ließ und ein sehr angenehmes Gesicht hatte, schien sehr verliebt in sie zu sein. Als sie nach dem Abendessen uns Eintrittskarten für ein neues Konzert anbot, nahm ich eine für mich und eine für Goudar und gab ihr zwei Guineen; der livländische Baron nahm aber gleich fünfzig und gab ihr für den Betrag eine Fünfzig-Pfund-Note. Ich sah daran, daß er sie im Sturm erobern wollte, und dies gefiel mir. Ich hielt ihn für reich, ohne mir jedoch Mühe zu geben, mich davon zu überzeugen. Er kam mir freundlich entgegen, und wir wurden Freunde. Bald werde ich erzählen, welche Folgen diese verhängnisvolle Bekanntschaft hatte.

Als ich eines Tages mit Goudar im Hyde-Park spazieren ging, verließ er mich, um mit zwei jungen Damen zu sprechen, die mir in ihren großen Hüten hübsch zu sein schienen. Wenige Augenblicke darauf kam er wieder zu mir und sagte: »Eine Dame aus Hannover, Witwe und Mutter von fünf Töchtern, ist vor zwei Monaten mit ihrer ganzen Nachkommenschaft nach London gekommen. Sie wohnt in einem Hause hier in der Nähe. Sie bemüht sich bei der Regierung um Ersatz für den Schaden, den sie durch den Durchmarsch der Armee des Herzogs von Cumberland erlitten hat. Die Mutter soll angeblich krank sein; sie liegt immer zu Bett und läßt sich von keinem Menschen sehen. Sie schickt ihre beiden ältesten Töchter aus, um die erwartete Entschädigung zu erbitten; dies sind die beiden jungen Mädchen, die Sie eben gesehen haben. Sie können nichts erreichen. Die älteste ist zweiundzwanzig Jahre alt, und ihre jüngste Schwester ist vierzehn, sie sind alle fünf hübsch, sprechen gleich gut englisch, französisch und deutsch und empfangen sehr liebenswürdig jeden Besucher, sind aber dabei immer alle zusammen. Ich habe sie aus Neugier besucht und bin von ihnen gut aufgenommen worden; da ich ihnen aber nichts gegeben habe, so wage ich es nicht, allein wieder zu ihnen zu gehen. Wenn Sie neugierig auf sie sind, können wir hingehen.«

»Wie sollte man nicht neugierig sein, wenn man eine solche Geschichte hört! Wir wollen hingehen; aber wenn die, die mir gefällt, nicht gefällig ist, bekommt sie nichts.«

»Sie werden nichts geben, denn sie lassen sich nicht einmal die Hand berühren.«

»Es sind wohl Charpillons?«

»Es scheint so. Aber Sie werden keine Männer bei ihnen sehen.«

Wir gingen hin und betraten einen großen Saal, wo ich drei hübsche Mädchen und einen Mann von üblem Aussehen erblickte. Ich machte ihnen die üblichen Komplimente; sie antworteten darauf nur durch eine höfliche Verbeugung, aber mit sehr traurigen Gesichtern.

Goudar hatte unterdessen mit dem Mann gesprochen; er trat auf mich zu und sagte achselzuckend: »Wir sind in einem schlechten Augenblick gekommen. Der Mann ist ein Gerichtsbeamter; er will die Mutter ins Gefängnis führen, wenn sie nicht dem Wirt zwanzig Guineen bezahlt, die sie für Miete schuldet; sie haben aber keinen Heller. Sobald die Mutter im Gefängnis ist, wird der Hauseigentümer natürlich die Mädchen auf die Straße setzen.«

»Sie können ja bei ihrer Mutter wohnen; das wird ihnen nichts kosten.«

»Sie irren sich. Sie können ins Gefängnis gehen und dort für ihr Geld essen; weiter aber auch nichts, denn wohnen dürfen im Gefängnis nur die Gefangenen.«

Ich fragte eine von ihnen, wo ihre Schwestern seien.

»Sie sind ausgegangen und wollen versuchen, Geld aufzutreiben; denn der Wirt will sich mit einer Bürgschaft nicht begnügen. Er verlangt bares Geld, und wir haben nichts mehr zu verkaufen.«

»Das ist sehr traurig, mein Fräulein. Und was sagt denn Ihre Mutter dazu?«

»Sie weint. Krank und bettlägerig, wie sie ist, will man sie ins Gefängnis bringen! Um sie zu trösten, hat der Hauswirt ihr sagen lassen, er werde sie tragen lassen.«

»Das ist barbarisch. Aber ich finde Sie hübsch, mein Fräulein, und ich könnte Sie aus der Verlegenheit befreien, wenn Sie gut sein wollten.«

»Ich ahne nicht, von welcher Güte Sie sprechen wollen.«

»Ihre Mama wird Ihnen sagen können, worum es sich handelt. Fragen Sie sie um Rat!«

»Mein Herr, Sie kennen uns nicht; wir sind anständige Mädchen und sind von Stande!«

Mit diesen Worten drehte das Persönchen mir den Rücken zu und fing wieder an zu weinen. Die beiden anderen, die ebenso hübsch waren wie sie, standen dabei und sagten kein Wort. Goudar sagte mir auf italienisch: wenn wir die Betrübten nicht auf eine tatkräftige Weise trösten wollten, spielten wir eine sehr traurige Figur. Ich war unmenschlich genug, hinauszugehen, ohne etwas zu erwidern.

Sechzehntes Kapitel


Die Hannoveranerinnen.

Auf der Schwelle trafen wir die beiden älteren, die mit traurigem Gesicht nach Hause kamen. Ich war überrascht von ihrer Schönheit und noch mehr, als eine von ihnen mich mit den Worten begrüßte: »Ah! Der Herr Chevalier de Seingalt.«

»Er selber, mein Fräulein, und sehr betrübt über ihr Unglück.«

»Würden Sie, mein Herr, mir die Ehre erweisen, mit mir einen Augenblick wieder hineinzugehen?«

»Ein dringendes Geschäft verhindert mich daran.«

»Ich bitte Sie nur um eine Viertelstunde.«

Ich konnte ihr diese Bitte nicht abschlagen, und sie verwandte die Viertelstunde darauf, mir zu erzählen, wie ihre Familie im Hannoverschen vom Unglück getroffen worden sei. Sie seien nach London gereist, um eine Entschädigung zu erlangen. Alle ihre Schritte seien erfolglos gewesen; ihre Mutter habe Schulden machen müssen, um nur leben zu können; ihrer Krankheit wegen könne sie selber nichts unternehmen. Der barbarische Hauswirt drohe ihrer Mutter mit dem Gefängnis und werde sie selber auf die Straße setzen; alle ihre Bekannten seien so hartherzig gewesen, ihr jede Unterstützung zu verweigern. »Wir haben nichts zu verkaufen, mein Herr, und unsere ganzen Mittel bestehen in zwei Schillingen, um uns Brot zu kaufen, die einzige Nahrung, die wir uns erlauben können.«

»Was sind denn das für Bekannte von Ihnen, mein Fräulein, die den traurigen Mut haben können, Sie in einem solchen Elend in Stich zu lassen?«

Sie nannte mir mehrere Personen, darunter auch Lord Baltimore, den neapolitanischen Gesandten Marchese Caraccioli und Lord Pembroke.

»Das ist unglaublich,« sagte ich, »denn diese drei letztgenannten Herren kenne ich als edel, reich und freigebig. Da muß eine gerechte Ursache vorhanden sein; denn Sie sind alle schön, und Schönheit ist für diese Herren ein Wechsel auf Sicht.«

»Ja, mein Herr, es ist ein Grund vorhanden. Diese edlen und reichen Herren lassen uns in Stich und verachten uns. Unsere Lage erregt nicht ihr Mitleid, weil wir nicht bereit sind, Wünsche zu befriedigen, die gegen unsere Pflicht verstoßen.«

»Das heißt also: sie finden Sie liebenswürdig und wünschen, daß Sie die Begierden befriedigen, die Sie ihnen einflößen; wenn nun Sie kein Mitleid mit ihnen haben, so wollen sie auch kein Mitleid mit Ihnen haben. Ist es so?«

»Ganz genau so.«

»Ich finde, sie haben recht.«

»Recht?«

»Ganz gewiß, und ich denke ganz genau wie sie. Wir lassen Sie bei ihrer Pflicht und behalten unser Geld, um uns Genüsse zu verschaffen, die Sie uns verweigern. Ihr Unglück ist in diesem Augenblick, daß Sie hübsch sind; denn wenn Sie häßlich wären, würden Sie leicht zwanzig Guineen finden. Ich selber würde sie Ihnen geben; denn dann würde man dies Geschenk meiner Wohltätigkeit zuschreiben; da Sie aber schön und dazu geschaffen sind, glühende Begierden zu erregen, so würde man meine Handlung nur der Hoffnung zuschreiben, eine Belohnung dafür zu erhalten, und würde sich mit Recht über mich lustig machen; denn man würde wissen, daß ich gefoppt würde.«

So mußte ich mit diesem Mädchen sprechen, das von einer wahrhaft hinreißenden Beredsamkeit war. Als ich sah, daß sie nichts zu antworten wußte, fragte ich sie, woher sie mich kenne.

»Ich habe Sie in Richmond mit der Charpillon gesehen.«

»Sie hat mir zweitausend Guineen gekostet, ohne daß ich etwas von ihr erlangt habe, aber diese Lehre ist nicht umsonst gewesen: denn ich habe mir vorgenommen, Liebesgunst niemals zu bezahlen, bevor ich mich ihrer versichert habe.«

In diesem Augenblick wurde sie von ihrer Mutter gerufen. Sie bat mich, einen Augenblick zu warten, kam gleich darauf wieder herein und sagte mir, die Kranke bitte mich, einen Augenblick zu ihr zu kommen.

Ich fand in ihrem Bette aufrecht sitzend eine Frau von etwa fünfundvierzig Jahren, deren Züge noch verrieten, daß sie einstmals schön gewesen sei; sie sah traurig, aber durchaus nicht krank aus. Lebhafte, ausdrucksvolle Augen, ein geistreiches, kluges Gesicht mußten mir den Rat geben, auf meiner Hut zu sein: sie hatte, trotz ihren vornehmen Manieren, einen falschen Gesichtsausdruck, wie die Mutter der Charpillon. Das war für mich ein Grund mehr, mich gegen alle Empfindsamkeit abzustumpfen.

»Madame,« begann ich, »was wünschen Sie von mir?«

»Mein Herr, ich habe alles gehört, was Sie zu meinen Töchtern gesagt haben. Geben Sie zu, daß Sie nicht eben wie ein Vater mit ihnen gesprochen haben.«

»Ich gebe es zu, Madame, aber eine väterliche Sprache hätte durchaus nicht zu der Rolle eines Liebhabers gepaßt, der einzigen, die ich bei ihnen spielen will. Wenn ich Töchter hätte, meine Gnädige, so glaube ich, daß ein Prediger zwecklos für sie sein würde; ich habe Ihren jungen Damen gesagt, was ich fühle und was ich ihnen sagen mußte, um die Zwecke zu erreichen, die ich im Auge habe. Ich mache keine Ansprüche auf Tugend und bin Verehrer des schönen Geschlechts. Wenn sie meiner bedürfen, so wissen, nach dieser offenen Erklärung, sie und auch Sie, welcher Weg zu meiner Börse führt. Wenn sie nach ihrer Art tugendhaft sein wollen, so werde ich sie nicht mehr quälen; sie müssen aber auch nicht die Männer quälen. Leben Sie wohl, Madame; Sie können sich darauf verlassen, ich werde nicht mehr mit Ihren Töchtern sprechen.«

»Noch eine Minute, mein Herr. Mein Mann war der Graf von ***; Sie sehen also, meine Töchter haben durch ihre Geburt Anspruch auf Achtung.«

»Ich kann ihnen meine Achtung nicht besser beweisen, als indem ich sie nicht mehr sehe.«

»Erregt denn unsere Lage nicht Ihr Mitleid?«

»Sehr. Ich würde sofort ohne jeden Anspruch auf Vergütung eingreifen, wenn sie mir nichts zu geben hätten, wenn Ihre Mädchen häßlich wären; aber, meine Gnädige, sie sind hübsch, und das ändert die Sachlage.«

»Was für eine Folgerung!«

»In meinen Augen eine sehr triftige, und über ihre Bedeutung kann ich, soweit ich selber in Betracht komme, nur allein urteilen. Sie brauchen zwanzig Guineen, um nicht ins Gefängnis zu gehen; sie stehen zu Ihrer Verfügung, sobald eine von Ihren fünf jungen Gräfinnen eine fröhliche Nacht mit mir verbracht hat.«

»Was für eine Sprache gegenüber einer Frau von meinem Range! Niemals hat man mir etwas Derartiges gesagt.«

»Entschuldigen Sie meine Aufrichtigkeit; aber was heißt Rang, wenn man bettelarm ist? Gestatten Sie mir, mich zu entfernen.«

»Wir befinden uns in der traurigen Lage, heute nur Brot essen zu können.«

»Das ist für Gräfinnen gewiß hart.«

»Sie scheinen sich über diesen Titel lustig zu machen?«

»Ich gebe es zu; aber ich will Sie nicht beleidigen. Wenn es Ihnen übrigens recht ist, will ich hier bleiben und mit Ihren jungen Damen essen; ich werde für alle bezahlen, auch für Sie.«

»Sie sind ein seltsamer Mensch. Meine Töchter werden traurig sein, denn man wird mich ins Gefängnis bringen; Sie werden sich langweilen.«

»Das ist meine Sache.«

»Geben Sie ihnen lieber das Geld, das Sie dafür ausgeben würden.«

»Nein, Madame: ich will für mein Geld wenigstens mit Augen und Ohren genießen. Ich werde Ihre Verhaftung bis morgen aufschieben lassen, und bis dahin wird die Vorsehung sich vielleicht Ihrer annehmen. Lassen Sie mich nur machen.«

Ich beauftragte Goudar, den Wirt zu fragen, was er dafür verlange, wenn er den Büttel auf vierundzwanzig Stunden fortschicke. Der Chevalier meldete mir, der Wirt verlange eine Guinee und Bürgschaft, daß ihm die zwanzig Guineen bezahlt werden müßten, wenn seine Mieterinnen sich innerhalb der vierundzwanzig Stunden entfernten.

Mein Weinhändler wohnte ganz in der Nähe. Ich sagte Goudar, er möchte auf mich warten, und die Sache war in einem Augenblick in Ordnung; ich kam mit einer Erklärung des Wirtes zurück und gab sie dem Büttel, der sich sofort entfernte; hierauf sagte ich den fünf Nymphen, sie könnten noch vierundzwanzig Stunden so lustig sein, wie sie wollten. Nachdem ich Goudar von den getroffenen Maßnahmen in Kenntnis gesetzt hatte, bat ich ihn, uns ein gutes Mittagessen für acht Personen kommen zu lassen. Er ging. Ich trat hierauf bei der Mutter ein und rief die Mädchen, die ganz fröhlich wurden, als sie hörten, daß wir bis zum anderen Tage prassen wollten. Sie waren sehr überrascht, wie schnell ich das alles in Ordnung gebracht hatte. Zur Mutter sagte ich: »Das, meine Gnädige, war alles, was ich für Sie tun konnte. Ihre Töchter sind reizend, ich empfinde für sie alle eine lebhafte Teilnahme; ich habe Ihnen für vierundzwanzig Stunden Ruhe verschafft, ohne etwas dafür zu verlangen. Ich werde mit ihnen zu Mittag und zu Abend essen und die Nacht mit ihnen verbringen, ohne auch nur einen einzigen Kuß von ihnen zu verlangen. Wenn Sie aber morgen noch nicht Ihr System geändert haben, sind Sie in derselben Lage wie heute, und ich werde Sie nicht mehr belästigen.«

»Was verstehen Sie unter dieser Änderung des Systems?«

»Das brauche ich Ihnen nicht zu sagen; Sie verstehen mich schon!«

»Meine Töchter werden sich niemals mit einem Manne prostituieren.«

»Ich werde sie in ganz London als keusche Susannen preisen und werde meine Guineen anderswo ausgeben.«

»Sie sind recht boshaft.«

»Sehr boshaft, das gebe ich zu; aber nur, wenn man nicht gut ist – was ich so unter gut verstehe.«

Da Goudar zurückgekehrt war, begaben wir uns wieder in das Zimmer, wo die jungen Damen sich aufhielten; denn die Mutter wollte sich vor meinem Freunde nicht sehen lassen. Sie sagte, seitdem sie sich in London aufhalte, sei ich der einzige, den sie in ihrer Lage zu empfangen sich habe entschließen können.

Unser Mittagessen von lauter englischen Gerichten war ziemlich gut; ich sah mit einer wahren Lust, wie die fünf unglücklichen Mädchen alles hinunterschlangen, was ich ihnen auf ihre Teller legte. Man hätte meinen mögen, es seien Wilde, die nach langem Fasten über eine Beute herfallen. Ich hatte einen Korb ausgezeichneten Weines kommen lassen und ließ jede von ihnen eine Flasche trinken; da sie an Wein nicht gewöhnt waren, so wurden sie betrunken. Ihre Mutter hatte alles verschlungen, was ich ihr zugeschickt hatte, und ich hatte ihr die Bissen nicht zugezählt; sie leerte ebenfalls eine Flasche Burgunder, die ihr sehr gut bekam.

Trotz ihrer Trunkenheit waren die jungen Bacchantinnen vor jedem Angriff sicher; ich hielt mein Wort, und Goudar erlaubte sich nicht die geringste Freiheit. Wir speisten fröhlich zu Abend, und nachdem wir noch eine große Bowle Punsch getrunken hatten, entfernte ich mich. Ich war in alle fünf verliebt, und es war mir sehr ungewiß, ob ich am nächsten Tage ebenso standhaft sein würde. Auf dem Heimweg sagte Goudar zu mir: »Sie tun sehr wohl daran, daß Sie zu Bett gehen. Sie behandeln diese zimperlichen Frauenzimmer geradeso, wie sie behandelt werden müssen; aber wenn Sie nicht standhaft bleiben, sind Sie verloren!«

Am nächsten Morgen war ich ungeduldig, das Ergebnis der Beratung zu erfahren, die die Mutter ohne Zweifel mit ihren Töchtern abgehalten hatte. Ich ging daher gegen zehn Uhr zu ihnen. Die beiden ältesten waren schon seit dem frühen Morgen unterwegs, um sich bei den Bekannten zu bemühen, mit denen sie am Tage vorher nicht hatten sprechen können. Die drei jüngsten stürzten auf mich zu wie junge Hunde, die ihren Herrn begrüßen, wenn er nach Hause kommt; aber sie erlaubten mir nicht, sie zu umarmen oder ihnen auch nur die Hand zu küssen. Ich sagte ihnen, das sei nicht recht von ihnen, und klopfte an die Tür der Mutter. Sie bat mich einzutreten und dankte mir für den schönen Tag, den ich ihnen bereitet hätte.

»Soll ich meine Bürgschaft zurückziehen, Frau Gräfin?«

»Das steht in Ihrem Belieben; aber ich glaube nicht, daß Sie dazu imstande sind.«

»Da irren Sie sich. Ich glaube, Sie kennen das menschliche Herz, Frau Gräfin. Aber Sie haben nicht den menschlichen Geist studiert, oder Sie bilden sich ein, mehr Geist zu haben als alle anderen Menschen. Alle Ihre Töchter haben mich gestern entflammt; aber sollte ich an dieser Liebe sterben: ich werde weder für Sie noch für Ihre Mädchen auch nur das Geringste tun, bevor Sie für mich das einzige getan haben, das in Ihrer Macht steht. Und nun überlasse ich Sie Ihren Gedanken und besonders Ihren Tugenden.«

Sie bat mich, zu bleiben; aber ohne auf sie zu hören, ohne die hübschen jungen Hexen auch nur anzusehen, entfernte ich mich und sagte meinem Weinhändler Maisonneuve, er solle seine Bürgschaft zurückziehen. Dann ging ich mit einem Tigerherzen zu Lord Pembroke, den ich seit drei Wochen nicht gesehen hatte. Als ich von den Hannoveranerinnen anfing, lachte er laut auf und sagte, man müsse diese falschen Gotteslämmer zwingen, ihren Beruf aufrichtig zu erfüllen.

»Gestern waren sie hier und sangen mir ihr Klagelied. Aber anstatt ihnen zu helfen, habe ich ihnen ins Gesicht gelacht. Sie hatten nichts zu essen, aber ich habe nicht einmal meiner Hand erlaubt, ihnen eine elende Guinee zu reichen; sie haben mir zu drei oder vier Malen im ganzen etwa ein Dutzend Guineen entlockt, indem sie mir Hoffnungen auf Erkenntlichkeit machten: aber sie haben mich jedesmal angeführt. Es sind Frauenzimmer von der Sorte der Charpillon.«

Ich sagte ihm, was ich am Tage vorher getan hätte, und was ich zu tun gedächte: zwanzig Guineen für die erste und ebensoviel für jede folgende, aber erst nach dem Genuß, – sonst nichts.

»Ich hatte denselben Gedanken, aber ich habe ihn wieder aufgegeben, und ich glaube auch nicht, daß es Ihnen gelingen wird, denn Baltimore hat ihnen zweihundert angeboten, also vierzig für jede, aber das Geschäft ist zu Wasser geworden, weil sie das Geld voraus haben wollten. Sie sind gestern auch bei ihm gewesen, haben ihn aber unerbittlich gefunden; denn sie hatten ihn mehrere Male betrogen.«

»Wir werden sehen, was sie machen werden, wenn die Mutter hinter Schloß und Riegel sitzt; ich wette, wir werden sie billig bekommen.«

Ich ging zum Mittagessen nach Hause. Goudar kam und sagte mir, er komme soeben von ihnen; der Gerichtsvollzieher habe ihnen erklärt, er werde nur bis vier Uhr warten; die beiden ältesten seien mit leeren Händen von ihrem Ausgang zurückgekommen; denn sie hätten lauter verschlossene Herzen gefunden. Da sie kein Stück Brot im Hause gehabt hätten, so hätten sie für ein paar Schillinge eins von ihren Kleidern verkauft. Ich fand das unbegreiflich.

Ich war überzeugt, daß sie sich noch einmal an mich wenden würden, und ich täuschte mich nicht. Als wir beim Nachtisch waren, erschienen sie. Ich ließ sie Platz nehmen, und die älteste bot ihre ganze Beredsamkeit auf, um mich zu bewegen, meine Bürgschaft noch um einen Tag zu verlängern.

»Sie werden mich unbarmherzig finden,« antwortete ich ihr, »es sei denn, Sie gehen auf den Plan ein, den ich Ihnen mitteilen werde, wenn Sie mit mir in ein anderes Zimmer kommen wollen.«

Sie ließ ihre Schwester bei Goudar und folgte mir. Ich ließ sie an meiner Seite auf einem Diwan Platz nehmen, legte zwanzig Guineen vor sie hin und sagte: »Diese gehören Ihnen, aber Sie wissen, um welchen Preis.«

Mein Anerbieten wurde verächtlich zurückgewiesen. Ich dachte, sie wollte vielleicht nur die Entschuldigung eines ernstlichen Angriffs haben und werde sich nur der Form wegen zur Wehr setzen. Ich wurde kühn, aber sie leistete ernstlichen Widerstand und drohte mir, sie werde schreien, wenn ich sie nicht in Ruhe lasse.

Da meine Glut nur berechnet war, machte es mir keine Mühe, mich zu bezähmen. Ich bat sie, mein Haus augenblicklich zu verlassen. Sie tat das und nahm ihre Schwester mit.

Als ich am Abend ins Theater ging, sprach ich bei Maisonneuve vor, um zu hören, was es Neues gäbe. Er sagte mir, der Büttel habe die Mutter ins Gefängnis schaffen lassen, und die jüngste sei mit ihr gegangen; was aus den anderen vier geworden sei, wisse er nicht.

Ich ging sehr traurig nach Hause, denn ich machte mir beinahe einen Vorwurf, kein Mitleid mit ihnen gehabt zu haben; aber im Augenblick, wo ich mich zum Abendessen niedersetzen wollte, standen sie auf einmal vor mir wie vier Magdalenen. Die älteste, die ihre Wortführerin war, sagte mir, ihre Mutter sei im Gefängnis, und sie müßten die Nacht auf der Straße verbringen, wenn ich nicht so menschlich wäre, ihnen ein Zimmer zu gönnen, wäre es auch eins ohne Bett.

»Sie sollen Zimmer, Bett und ein gutes Feuer haben! Aber ich will Sie essen sehen. Nur schnell, setzen Sie sich!«

Da leuchteten ihre Augen freudig auf. Ich ließ alles heraufbringen, was in der Küche fertig war; sie aßen viel, aber sie waren traurig und tranken nur Wasser.

»Ihre Traurigkeit und Ihre Enthaltsamkeit langweilen mich,« sagte ich zu der ältesten; »Sie können mit Ihren Schwestern nach dem zweiten Stock hinaufgehen; Sie werden dort alles finden, um die Nacht bequem zu verbringen; aber morgen früh um sieben Uhr müssen Sie gehen. Lassen Sie sich niemals wieder hier sehen!«

Sie gingen hinauf, ohne ein Wort zu sagen.

Als ich eine Stunde später zu Bett gehen wollte, trat die älteste in mein Zimmer und sagte zu mir, sie habe mit mir unter vier Augen zu sprechen. Ich schickte meinen Neger hinaus und forderte sie auf, sich zu erklären.

»Was werden Sie für uns tun, wenn ich Ihr Lager teile?«

»Ich werde Ihnen zwanzig Guineen geben und werde Sie alle bei mir wohnen und essen lassen, solange Sie gut sind.«

Ohne ein Wort zu sagen, begann sie sich auszuziehen. Sie stellte sich zu meiner Verfügung; aber ich fand nur Unterwürfigkeit, und sie beehrte mich nicht einmal mit einem einzigen Kuß. Angeekelt von einer Gefühllosigkeit, die beleidigend war, weil sie nur berechnet sein konnte, stand ich nach einer Viertelstunde auf, gab ihr eine Banknote von zwanzig Guineen und befahl ihr in schroffem Ton, sich wieder anzukleiden und auf ihr Zimmer zu gehen.

»Morgen früh werden Sie alle mein Haus verlassen, denn ich bin unzufrieden mit Ihnen. Sie haben sich erniedrigt, indem Sie sich prostituierten, anstatt sich der Liebe hinzugeben. Ich schäme mich für Sie!«

Sie gehorchte, ohne ein Wort zu sagen, und ich schlief sehr unzufrieden ein.

Am anderen Morgen um sieben Uhr fühlte ich eine leichte Hand, die mich leise rüttelte; ich schlug die Augen auf und sah zu meiner Überraschung, daß es die zweite war.

»Was wollen Sie?« fragte ich sie kalt und abwehrend.

»Ich wünsche Ihr Mitleid zu erregen und Sie zu veranlassen, daß Sie uns noch einige Tage behalten. Sie können auf meine Dankbarkeit rechnen. Meine Schwester hat mir alles gesagt. Sie sind unzufrieden mit ihr, aber verzeihen Sie ihr; sie hat nicht anders handeln können, denn ihr Herz ist schon gebunden. Sie liebt einen Italiener, der im Schuldgefängnis sitzt.«

»Ich denke mir, Sie sind ebenfalls in irgendeinen verliebt?«

»Nein, ich liebe noch keinen.«

»Und Sie würden mich lieben können?«

Sie schlug ihre Augen nieder und drückte leise meine Hand. Ich zog sie sanft an mich und umarmte sie. Als ich ihre Lippen meine Küsse erwidern fühlte, rief ich: »Sie haben gesiegt!«

»Ich heiße ja auch Victoria.«

»Der Name gefällt mir, und es wird mir Vergnügen machen, ihn zu bestätigen.«

Victoria war zärtlich und gefühlvoll, und ich verbrachte mit ihr zwei köstliche Stunden, die mich reichlich für die unangenehme Viertelstunde entschädigten, die ihre Schwester mir gewidmet hatte.

Nach unserer ersten Liebestat sagte ich zu ihr: »Meine liebe Victoria, ich bin ganz dein; laß deine Mutter hierher bringen, sobald sie frei ist. Hier sind zwanzig Guineen für dich.«

Sie hatte dies nicht erwartet. In ihrer angenehmen Überraschung schlug ihr freudig das Herz; ihre Augen waren feucht von Liebe und Dankbarkeit. Sie konnte nicht sprechen, aber ihr Gesicht strahlte vor Freude.

Ich war glücklich, und ich glaube, an meinem Glück hatte das Gefühl, eine gute Tat vollbracht zu haben, ebensoviel Anteil wie der gehabte Liebesgenuß. Der tugendhafteste Mensch wie der verderbteste ist ein Gemisch seltsamster Bestandteile!

Ich befahl sofort, in Zukunft regelmäßig für acht Personen zu kochen, und schloß meine Tür vor jedermann mit Ausnahme Goudars. Ich trieb eine tolle Verschwendung, und ich fühlte, daß meine Mittel sich ihrem Ende nahten; aber ich genoß und ich dachte, ich würde in Lissabon neue Mittel finden. Gegen Mittag kam die Mutter in einer Sänfte an; sie legte sich sofort zu Bett; ich machte ihr meinen Besuch und hörte, ohne mich zu wundern, die Lobsprüche an, die sie meinen Tugenden zollte. Ich sollte glauben, sie sei überzeugt, daß ich die vierzig Guineen ihrer Tochter nur aus Großmut gegeben habe, und daß diese nicht etwa der Preis für die Huld ihrer Mädchen seien. Ich ließ sie gern in ihrer heuchlerischen Selbstgefälligkeit.

Am Abend führte ich sie nach Covent-Garden, wo der Kastrat Tenducci mir zu meiner großen Überraschung seine Ehefrau vorstellte, von der er zwei Kinder hatte. Er lachte über die Leute, die behaupteten, er könne als Kastrat keine Nachkommenschaft haben. Die Natur hatte ihn als Mißgeburt geschaffen, damit er Mann bleiben könnte; er war triorchis, und da ihm bei der Operation nur zwei Hoden fortgenommen waren, so genügte ihm der verbleibende, um seine Manneskraft zu bestätigen.

In meinen kleinen Harem zurückgekehrt, hatte ich ein köstliches Abendessen mit den fünf Nymphen, die von einer reizenden Fröhlichkeit waren; hierauf verbrachte ich eine Nacht voller Liebe mit Victoria, die sich Glück wünschte, meine Eroberung gemacht zu haben. Sie erzählte mir, der Liebhaber ihrer Schwester sei ein neapolitanischer Marchese Petina; er werde sie heiraten, sobald er aus dem Gefängnis herauskomme; er erwarte Geld, und ihre Mutter sei entzückt über die Aussicht ihrer Tochter, eine Marchesa zu werden.

»Wieviel ist denn dieser Marchese schuldig?«

»Zwanzig Guineen.«

»Und wegen eines solchen Bettels läßt der neapolitanische Gesandte ihn im Gefängnis? Das ist sehr merkwürdig!«

»Er will ihn nicht empfangen, weil der Marchese Neapel ohne Erlaubnis seines Königs verlassen hat.«

»Sage deiner Schwester: wenn der neapolitanische Gesandte mir die Versicherung gäbe, daß Petinas Angabe in betreff seines Namens richtig sei, so würde ich ihn sofort aus dem Gefängnis erlösen.«

Ich ging aus, um meine Tochter und eine andere Pensionärin, die ich sehr gern hatte, zum Essen einzuladen. Unterwegs sprach ich bei dem sehr liebenswürdigen Marchese Caraccioli vor, dessen Bekanntschaft ich in Turin gemacht hatte. Ich fand bei ihm den berühmten Chevalier d’Eon und brauchte ihn nicht beiseite zu nehmen, um meine Erkundigungen über Petina einzuziehen.

»Der junge Mensch,« antwortete mir der Gesandte, »ist wirklich das, wofür er sich ausgibt. Aber ich werde ihn nicht empfangen und ihm kein Geld geben, bevor er mir nicht durch den Marchese Tanucci schreiben läßt, daß er Erlaubnis hat, auf Reisen zu gehen.«

Mehr wollte ich nicht von ihm wissen; aber ich blieb noch eine Stunde bei ihm und hörte mit großem Vergnügen den Chevalier d’Eon seinen Handel erzählen:

Er hatte die französische Botschaft verlassen, weil das Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten in Versailles ihm zehntausend Livres, auf die er Anspruch hatte, nicht auszahlen wollte. Er hatte sich unter den Schutz der englischen Gesetze gestellt und, nachdem er zweitausend Subskribenten zu einer Guinee gefunden hatte, einen großen Quartband in Druck gegeben, worin er alle Briefe, die er seit fünf oder sechs Jahren vom französischen Ministerium empfangen hatte, der Öffentlichkeit übergab.

Zu jener Zeit hatte ein Londoner Bankier zwanzigtausend Pfund in der Englischen Bank hinterlegt und diesen Betrag öffentlich zur Wette ausgeboten, daß der Chevalier d’Eon ein Weib sei. Eine Gesellschaft nahm die Wette an; aber man konnte sie nur zum Austrag bringen, wenn d’Eon sich in Gegenwart von Zeugen untersuchen lassen wollte. Man hatte ihm die Hälfte des Einsatzes angeboten, aber der Chevalier hatte die Wetter ausgelacht. Er sagte, eine solche Untersuchung würde ihn entehren, einerlei, ob er Mann oder Weib wäre. Caraccioli sagte ihm, die Untersuchung könne ihn nur entehren, falls er ein Weib sein sollte. Ich war gerade der entgegengesetzten Ansicht. Nach einem Jahre wurde die Wette für ungültig erklärt; aber drei Jahre darauf wurde er vom König von Frankreich begnadigt und erschien in weiblicher Kleidung und mit dem Ludwigskreuz geschmückt bei Hof.

Ludwig der Fünfzehnte hatte das Geheimnis seines Geschlechts von Anfang an gewußt; aber Kardinal Fleury hatte ihn gelehrt, daß Herrscher undurchdringlich sein müssen, und Ludwig war das sein ganzes Leben lang.

Ich ging nach Hause und gab der Hannoveranerin zwanzig Guineen indem ich ihr sagte, sie solle ihren Marchese holen und ihn zum Essen mitbringen, denn ich wolle ihn gern kennen lernen. Ich glaubte, sie würde vor Freude toll werden.

Im Einverständnis mit Victoria und ohne Zweifel auch mit ihrer Mutter entschloß die dritte sich ebenfalls, die zwanzig Guineen zu verdienen, und dies wurde ihr nicht schwer. Um sie hatte Lord Pembroke sich mit besonderer Vorliebe beworben.

Die fünf Mädchen waren gleichsam fünf leckere Gerichte, die ein Feinschmecker sich nach und nach leistet; meiner guten Natur verdankte ich es, daß das letzte Gericht mir immer am besten mundete. Diese dritte hieß Auguste.

Am nächsten Sonntag sah ich mich in zahlreicher Gesellschaft. Ich hatte meine Tochter und ihre reizende Freundin, die Cornelis mit ihrem Sohn zu Tisch. Sophie wurde von den Hannoveranerinnen mit Küssen überdeckt, und ich selber gab ihrer Freundin, Miß Nancy Stein, hundert Küsse. Sie war erst dreizehn Jahre alt; aber ihre frühen Reize und ihre vollkommene Schönheit regten alle meine Sinne auf. Man schrieb meine Zärtlichkeit einem verwandtschaftlichen Gefühl zu, einer väterlichen Liebe; aber, ach, sie war von sehr fleischlicher Natur. Diese Miß Nancy, die in meinen Augen etwas Göttliches hatte, war die Tochter eines reichen Kaufmanns. Ich sagte ihr, es sei mein sehnlicher Wunsch, ihren Vater kennen zu lernen, und sie antwortete mir, ihr Vater habe bereits das gleiche Bedürfnis empfunden und sich vorgenommen, mich gerade an diesem Sonntag aufzusuchen. Hocherfreut über dieses Zusammentreffen unserer Wünsche befahl ich, ihn einzulassen, sobald er kommen würde.

Der arme Marchese Petina war der einzige von uns, der eine traurige Rolle spielte. Er war ein ziemlich gut gewachsener junger Mann, aber mager, abstoßend häßlich und haarsträubend dumm. Er dankte mir mit den Worten, es sei sehr vernünftig von mir gewesen, daß ich die Gelegenheit benutzt habe, ihm gefällig zu sein; denn er sei überzeugt, es werde der Fall eintreten, daß er mir meine Güte hundertfach vergelten könnte.

Ich hatte meiner Tochter sechs Guineen gegeben, um sich einen Pelz zu kaufen. Sie führte mich in ein Zimmer, um ihn mir zu zeigen, und ihre Mutter folgte ihr und wünschte mir Glück zu dem schönen Harem, den ich mir zugelegt hätte.

Bei Tisch herrschte eine reizende Fröhlichkeit. Ich saß zwischen meiner Tochter und Miß Nancy Stein. Ich fühlte mich glücklich; als wir bei den Austern waren, kam Mister Stein. Er umarmte seine Tochter mit jener ausgesuchten Zärtlichkeit, die, wie ich glaube, gerade den englischen Eltern ganz besonders eigentümlich ist.

Mister Stein hatte bereits gespeist; trotzdem aß er vier Schüsseln mit etwa hundert Austern. In der Zubereitung dieses Gerichtes war mein Koch einzig in seiner Art. Auch meinem Champagner tat mein Gast alle Ehre an.

Wir verbrachten drei Stunden bei Tisch; hierauf gingen wir in den dritten Stock, wo Sophie entzückend Klavier spielte und die Lieder begleitete, die ihre Mutter sang. Der kleine Cornelis glänzte durch sein Flötenspiel. Mister Stein beteuerte mir, er habe sich in seinem Leben noch nicht so gut unterhalten; vielleicht komme das allerdings auch ein bißchen daher, daß in England an Sonn- und Festtagen das Vergnügen eine verbotene Frucht sei. Dieser kleine Hieb bewies mir, daß Stein Geist hatte, obwohl er sehr schlecht französisch sprach. Er entfernte sich um sieben Uhr, nachdem er meiner Tochter, die er nebst ihrer reizenden Nancy nach ihrer Pension zurückbrachte, einen sehr schönen Ring geschenkt hatte.

Marchese Petina sagte mir in tölpelhafter Weise, er wisse nicht, wo er ein Zimmer finden solle. Ich konnte mir natürlich leicht denken, was er wollte. Aber ich sagte ihm, für Geld würde er überall eines finden. Hierauf nahm ich seine Geliebte beiseite und gab ihr eine Guinee für ihn, bat sie aber zugleich, ihm zu sagen, er möchte nur wiederkommen, wenn ich ihn einlüde.

Als alle Fremden fort waren, ging ich mit den fünf Schwestern in das Zimmer ihrer Mutter; diese befand sich vortrefflich: sie aß, trank, schlief gut und viel und tat den ganzen Tag nichts, denn sie las und schrieb nicht einmal. Sie genoß in der vollen Bedeutung des Wortes den Genuß des dolce far niente. Indessen sagte sie mir, sie denke fortwährend an ihre Familie, die nur glücklich sei, wenn sie ihre Gebote befolge.

Ich konnte mich kaum des Lachens erwehren, begnügte mich jedoch damit, ihr zu sagen: »Wenn diese Gebote diejenigen sind, die Ihre reizenden Mädchen befolgen, so finde ich sie weiser als die des Solon.« Zugleich zog ich Auguste auf meinen Schoß und sagte zu ihr: »Frau Gräfin, gestatten Sie mir, Ihre reizende Tochter zu umarmen!«

Statt mir geradezu zu antworten, hielt die Heuchlerin mir eine lange Predigt, um die Berechtigung eines väterlichen Kusses zu beweisen. Unterdessen beglückte Auguste mich insgeheim mit den zärtlichsten Liebkosungen. H6H O Zeiten, o Sitten!

Als ich am andern Morgen an meinem Fenster stand, kam der Marchese Caraccioli vorbei und fragte mich, ob er eintreten dürfe. Selbstverständlich begrüßte ich ihn mit der größten Freude. Nach einigen Augenblicken ließ ich die älteste herunterkommen und sagte dem Gesandten, sie werde den Marchese Petina heiraten, sobald er das erwartete Geld erhalten habe.

Hierauf sagte Caraccioli zu ihr: »Mein Fräulein, Ihr Geliebter ist allerdings der Marchese Petina; aber er ist arm und wird niemals einen Heller erhalten. Wenn er nach Neapel zurückkehrt, wird der König ihn einsperren lassen, und wenn er wieder in Freiheit gesetzt wird, werden seine Gläubiger ihn sofort in das Schuldgefängnis der Vicaria bringen lassen.«

Dieser gutgemeinte Rat blieb ohne Wirkung.

Als der Minister fort war, zog ich Reitkleider an, da ich einen Spazierritt machen wollte. Auguste sagte mir: wenn ich wolle, werde ihre Schwester Hippolyta mich begleiten; denn sie reite wie ein Stallmeister.

»Das ist ja scherzhaft; laß sie doch mal herunterkommen.«

Hippolyta kam und bat mich, ich möge ihr doch dieses Vergnügen bereiten, denn ich werde Ehre mit ihr einlegen.

»Recht gern, aber haben Sie einen Männeranzug oder ein Reitkleid?«

»Nein.«

»Dann müssen wir also die Partie bis morgen verschieben.«

Noch an demselben Tag ließ ich ihr die Herrenkleider anfertigen, deren sie bedurfte, und ich verliebte mich in sie, als Pégu ihr das Maß zu den Hosen nahm. Am nächsten Tage war alles fertig, und unser Spazierritt war wirklich reizend, denn das Mädchen wußte ihr Pferd mit einer überraschenden Anmut und Geschicklichkeit zu lenken.

Nach einem ausgezeichneten Abendessen, wobei es an Wein so wenig fehlte wie an Heiterkeit, begleitete Hippolyta glückstrahlend Auguste in mein Zimmer und half ihr beim Auskleiden. Als sie ihr den Gutnacht- Kuß gab, bat ich sie, mir auch einen zu geben. Sie tat es sofort. Nachdem wir ein wenig gescherzt hatten, machte Auguste aus dem Scherz Ernst, indem sie zu ihr sagte, sie solle sich neben mich legen. Ohne mich zu fragen, ob es mir recht sei, tat sie es sofort; so sicher war sie, meinen eigenen Wünschen zu entsprechen. Die Nacht wurde aufs beste angewandt, und ich hatte mich über Mangel an Anregung nicht zu beklagen. Indessen war Auguste vernünftig und überließ den besten Teil unserer Neuen.

Am nächsten Nachmittag ritten wir wieder aus, immer von Jarbe begleitet, der ebenfalls sehr gut ritt. Hippolyta setzte mich im Richmond- Park durch ihre Geschicklichkeit in die größte Verwunderung; sie lenkte alle Blicke auf sich. Sehr zufrieden kamen wir von unserem Spazierritt nach Hause und setzten uns sofort zum Abendessen nieder; beim Essen bemerkte ich, daß Gabriele, die jüngste, traurig aussah und mit mir schmollte. Ich fragte sie nach dem Grunde, und sie sagte mir mit jenem etwas trotzigen Ausdruck, der einem Kinde so gut steht: »Ich reite doch ebensogut wie meine Schwester.«

»Gut! Übermorgen sollen Sie das Vergnügen haben.«

Sofort wurde sie wieder guter Laune. Ich lobte nun Hippolytas Geschicklichkeit und fragte sie, wo sie denn reiten gelernt habe. Sie lachte laut auf und sagte mir, als ich sie überrascht nach der Ursache ihres Lachens fragte: »Ich lache, weil ich niemals Unterricht gehabt habe; ich habe nur viel Mut und einige natürliche Geschicklichkeit.«

»Und hat deine Schwester reiten gelernt?«

»Nein,« sagte Gabriele, »aber ich werde es ebensogut machen wie sie.«

Dies erschien mir nicht glaublich; denn Hippolyta schwebte sozusagen auf ihrem Pferde und ritt wie ein Stallmeister. In der Hoffnung, daß ihre Schwester ihrem Beispiel folgen würde, sagte ich zu ihnen, ich würde sie alle beide mitnehmen, und als sie das Versprechen hörten, jauchzten sie vor Freude laut auf.

Gabriele war erst fünfzehn Jahre alt; ihre Formen waren üppig, aber noch nicht vollkommen entwickelt; sie versprachen jedoch eine vollkommene Schönheit, sobald sie reif sein würde. Mit einer anmutigen Naivität sagte sie zu ihrer Schwester, sie wolle mit mir in mein Zimmer gehen. Ich nahm dies gerne an, ohne mich darum zu bekümmern, ob vielleicht das ganze Komplott hinter meinem Rücken von ihnen verabredet wäre. Als wir allein waren, sagte sie mir sofort, sie habe noch nie einen Liebhaber gehabt. Sie erlaubte mir mit einer naiven Sanftmut, mich davon zu überzeugen. Gabriele war so schön, daß sie von den fünf Nymphen am leichtesten mich hätte dauernd fesseln können, wenn dies überhaupt möglich gewesen wäre. Ihretwegen bedauerte ich es, daß die Mutter sich wenige Tage später zur Abreise entschloß, die ich etwas überstürzt fand. Am Morgen gab ich ihr die ihr zukommenden zwanzig Guineen und außerdem einen schönen Ring zum Zeichen meiner ganz besonderen Liebe; hierauf verbrachten wir den Tag damit, ihren Anzug für den Spazierritt, den wir am nächsten Tage machen wollten, in Ordnung bringen zu lassen.

Gelehrig den Weisungen ihrer Schwester folgend, ritt Gabriele, wie wenn sie zwei Jahre Unterricht gehabt hätte. Wir ritten im Schritt zur Stadt hinaus; sobald wir aber draußen waren, sprengten wir in sausendem Galopp bis Bame (?), wo wir Halt machten, um zu frühstücken. Wir hatten diesen Ritt in fünfundzwanzig Minuten gemacht, obwohl die Entfernung zehn englische Meilen beträgt. Das wird denen, die die Schnelligkeit der englischen Renner nicht kennen, unglaublich erscheinen; wir waren aber ganz hervorragend gut beritten. Meine beiden Amazonen waren entzückend in ihrem Glückstaumel. Ich betete sie an und war selig, daß ich sie so glücklich machte.

Gerade als wir wieder zu Pferd steigen wollten, kam Pembroke, der nach St. Albans ritt. Er hielt an und bewunderte meine beiden Begleiterinnen, die mit großer Anmut ihre Pferde tanzen ließen. Da er sie nicht sofort erkannte, bat er mich um Erlaubnis, ihnen den Hof machen zu dürfen. Ich lachte bei mir selber. Endlich erkannte er sie und sprach mir seinen Glückwunsch aus, indem er mich zugleich fragte, ob ich Hippolyta liebte. Seine Absicht erratend, antwortete ich ihm, ich liebte nur Gabriele.

»Schön! Erlauben Sie mir, Sie zu besuchen?«

»Daran dürfen Sie doch nicht zweifeln!«

Nach einem freundschaftlichen shake-hands ließen wir unseren Pferden die Zügel schießen, und bald waren wir in London. Gabriele war so müde, daß sie sich sofort zu Bett legte. Sie schlief in einem Zuge bis zum nächsten Morgen, ohne daß ich ihren süßen Schlummer störte. Als sie sich beim Erwachen in meinen Armen fand, begann sie zu philosophieren:

»Wie leicht ist es doch, sich auf dieser Welt glücklich zu machen, wenn man reich ist! Aber wie schmerzlich ist es, das aus Mangel an Geld nicht zu können, wenn man schon das Glück vor sich sieht! Gestern war ich das glücklichste Geschöpf, und warum kann ich es nicht alle Tage meines Lebens sein? Ich wäre gern einverstanden, daß mein Leben nur noch ein paar Jahre dauern sollte, wenn ich das Recht hätte, es nach meinem Belieben auszufüllen.«

Ich stellte ebenfalls Betrachtungen an, aber diese waren recht trauriger Natur. Ich sah meine Mittel auf die Neige gehen und dachte an Lissabon. Wäre mein Vermögen unerschöpflich gewesen, so hätten diese jungen Hannoveranerinnen mich mit Leichtigkeit bis an das Ende meines Lebens in ihren zarten Banden halten können. Es war mir, wie wenn ich sie nicht wie ein Liebhaber, sondern wie ein Vater liebte, und daß ich mit ihnen schlief, erhöhte nur mein zärtliches Gefühl. Gabriele sprach mit ihren Augen zu mir, und ich las in diesen nur Liebe. War es möglich, daß ihre Liebe, losgelöst von allen jenen Vorurteilen, die unsere Erziehung tief in unsere Herzen prägt, keine Tugend war? Ich habe mir dieses nie vorstellen können.

Am nächsten Tage besuchte Pembroke uns und lud sich bei mir zum Essen ein. Auguste bezauberte ihn. Er machte ihr Vorschläge, über die sie nur lachte; denn er stellte immer die Bedingung, erst nachher bezahlen zu wollen, und von solcher Einschränkung wollte sie nichts wissen. Trotzdem gab er ihr beim Fortgehen eine Zehnpfundnote, die sie mit vieler Anmut entgegennahm. Am nächsten Tage schrieb er ihr einen Brief, auf den ich sofort zurückkommen werde.

Gleich nachdem der Lord gegangen war, ließ die Mutter mich bitten, zu ihr zu kommen. Nach einer sentimentalen Vorrede über meine Großmut, meine Tugenden und die Wohltaten, die ich unaufhörlich ihrer ganzen Familie angedeihen lasse, sagte sie mir folgendes: »Ich bin überzeugt, daß Sie für meine Töchter die Liebe eines zärtlichen Vaters hegen, und wünsche daher, daß sie wirklich Ihre Töchter werden, wie sie die meinigen sind. Ich biete Ihnen Herz und Hand an: werden Sie mein Gemahl: Sie werden ihr Vater, ihr Herr und der meinige sein. Was antworten Sie mir?«

Ich mußte mir heftig auf die Lippen beißen, um nicht mit einem Gelächter zu antworten, das trotz aller meiner Anstrengung loszubrechen drohte. Doch gaben mir Erstaunen, Verachtung und Entrüstung über ihre unbegreifliche Frechheit bald meine Kaltblütigkeit wieder. Ich sah klar und deutlich, daß die abgefeimte Heuchlerin sicherlich auf eine schroffe Abweisung gerechnet und daß sie mir diesen lächerlichen Vorschlag nur gemacht hatte, um mir vorzureden, sie glaube wirklich, daß ihre Töchter in meinen Händen Jungfrauen geblieben seien, und daß ich das viele Geld nur aus zärtlicher Liebe zu ihrer Unschuld ausgegeben haben. Ohne jeden Zweifel wußte sie das Gegenteil; aber sie wollte den äußeren Anschein erwecken, wie wenn sie sich durch diesen Schritt rechtfertigte. Sie wußte, daß ich in ihrem Antrag eine Beleidigung erblicken mußte, aber daraus machte sie sich sehr wenig. Um es nicht zu einem offenen Streit kommen zu lassen, sagte ich ihr: ihr Antrag sei natürlich eine große Ehre für mich; da er jedoch von so hoher Wichtigkeit sei, so bitte ich sie, mir gütigst einige Zeit zu lassen, um darüber nachzudenken.

Ich ging in mein Zimmer zurück und fand dort die Geliebte des elenden Marchese Petina. Sie sagte mir, ihr Glück hänge davon ab, daß der neapolitanische Gesandte durch ein Zeugnis bescheinige, daß ihr Liebhaber wirklich der Marchese Petina sei. Diese Bescheinigung brauche er, um sofort zweihundert Guineen zu erhalten; dieses Geld sei dazu bestimmt, um die Reisekosten nach Neapel für ihn und sie zu decken. Sie sei sicher, daß er sie sofort nach seiner Ankunft heiraten werde. »Dort wird er sehr leicht die Verzeihung des Königs erlangen. Nur Sie können mir unter diesen Umständen behilflich sein; ich empfehle mich daher Ihrer Güte.«

Ich versprach ihr, alles aufzubieten, was in meinen Kräften stehe. Wirklich begab ich mich sofort zum Gesandten, der durchaus keine Schwierigkeit machte, die Identität des Marchese zu bestätigen. Damit sah die sonst so kalte Schönheit ihre sehnlichsten Wünsche erfüllt, und sie war vor Dankbarkeit ganz gerührt; ich bekam jedoch keine Lust, eine Betätigung derselben von ihr zu verlangen.

Siebzehntes Kapitel


Auguste wird durch einen förmlichen Vertrag Geliebte des Lord Pembroke. – Der Sohn des Königs von Korsika. – Herr du Claude oder der Jesuit Lavalette. – Abreise der Hannoveranerinnen. – Meine Bilanz. – Der Baron von Stenau. – Die Engländerin und das Denkzeichen, das sie mir läßt. – Daturi. – Meine Flucht aus London. – Der Graf von Saint-Germain. – Wesel.

Lord Pembroke war in Auguste so verliebt, daß er ihr schriftlich folgendes Anerbieten machte: monatlich fünfzig Guineen auf drei Jahre, dazu Wohnung, Unterhalt, Dienerschaft, Wagen und Pferde in St. Albans, ohne die Geschenke zu rechnen, die sie von seiner zärtlichen Dankbarkeit erwarten dürfte, wenn sie die Liebe teilte, die sie ihm eingeflößt hätte.

Auguste übersetzte mir Mylords Brief und fragte mich um Rat. Ich antwortete ihr: »Ich kann Ihnen keinen Rat geben; Sie dürfen nur Ihrem Herzen und Ihrem eigenen Vorteil folgen.« Sie ging zu ihrer Mutter, die aber keinen Entschluß fassen wollte, ohne meinen Rat zu hören, da ich, wie sie sagte, der weiseste und tugendhafteste aller Menschen sei. Ich bezweifle sehr, daß mein Leser die Ansicht dieser Mutter teilt; aber ich bin ihm darum nicht böse, denn ich dachte und denke genau so wie mein Leser. Endlich wurde beschlossen, daß Auguste den Antrag annehmen sollte, sobald ein ehrbarer Kaufmann von der Londoner Börse die Bürgschaft für Lord Pembroke übernommen hätte; denn mit ihrer Schönheit, ihrem guten Charakter, ihrem ausgezeichneten Benehmen wäre es unmöglich, daß sie nicht bald Lady Pembroke würde. Nach der Meinung der Mutter konnte es nicht anders sein, denn wenn sie daran hätte zweifeln können, würde sie niemals ihre Einwilligung gegeben haben, da ihre Tochter als Gräfin nicht die Geliebte irgendeines Menschen werden könnte, und wäre er noch so vornehm.

Diesem Entschluß entsprechend schrieb Auguste an Mylord, der binnen drei Tagen die Angelegenheit in Ordnung brachte. Der Kaufmann unterzeichnete den Vertrag als Bürge, und ich selber hatte die ungeheure Ehre, das Schriftstück als Zeuge und Freund der Mutter zu unterschreiben; ich führte den Kaufmann zu ihr, und sie unterschrieb vor seinen Augen die Abredung ihrer Tochter, die er als Zeuge beglaubigte. Den Lord Pembroke wollte sie nicht sehen, aber sie umarmte ihre Tochter, mit der sie noch ein Gespräch hatte, das ich nicht hörte.

An demselben Tage, als Auguste mein Haus verließ, hatte ich ein eigentümliches Erlebnis, das ich berichten will:

Am Tage, nachdem ich der Braut des Marchese Petina die Bescheinigung des neapolitanischen Gesandten gegeben hatte, war ich mit meiner lieben Gabriele und mit ihrer Schwester Hippolyta spazieren geritten. Als ich nach Hause kam, hatte ich vor meiner Tür einen Herrn gefunden, der sich Sir Frederick nennen ließ; er war angeblich der Sohn des Königs von Korsika, Theodor Freiherrn von Neuhof, der, wie alle Welt weiß, in London gestorben war. Herr Frederick bat mich um eine geheime Unterredung; als wir allein waren, sagte er mir, er wisse, daß ich den Marchese Petina kenne, und da er im Begriff stehe, ihm einen Wechsel von zweihundert Guineen diskontieren zu lassen, so brauche er eine Auskunft, ob der Marchese in seiner Heimat in den Verhältnissen sei, um den Wechsel bei Verfall einzulösen. »Es ist für mich wichtig, dies zu wissen; denn die Geldgeber verlangen, daß ich den Wechsel giriere.«

»Mein Herr, ich kenne den Marchese seit einiger Zeit, weiß aber nicht, ob er Vermögen hat; ich weiß nur vom neapolitanischen Gesandten, daß er ohne jeden Zweifel wirklich der Marchese Petina ist.«

»Würden Sie, falls die Personen, mit denen ich in Unterhandlung stehe, von dem Geschäft zurücktreten sollten, selber geneigt sein, den Wechsel zu diskontieren? Sie würden ihn billig bekommen.«

»Ich mache keine Geschäfte, und es liegt mir durchaus nichts an Gewinnen dieser Art. Leben Sie wohl, Sir Frederick!«

Am nächsten Tage sagte Goudar mir, ein Herr du Claude wünsche mich zu sprechen.

»Was ist das für ein Herr du Claude?«

»Es ist der berühmte Jesuit Lavalette, der den berühmten Bankerott machte, durch den die Gesellschaft Jesu in Frankreich zugrunde gerichtet wurde. Er hat sich unter einem angenommenen Namen nach London zurückgezogen; er muß viel Geld besitzen, und ich würde Ihnen raten, ihn anzuhören.«

»Ein Jesuit und Bankerotteur, – das sind schlechte Empfehlungen!«

»Das macht nichts, ich habe ihn in einem guten Hause kennen gelernt, und er hat sich an mich gewandt, da er weiß, daß ich Sie kenne. Was sagen Sie dabei, wenn Sie ihn anhören?«

»Eigentlich nichts, aber …; nun gut, Sie können mich zu ihm führen; auf diese Weise wird es für mich leichter sein, einer engeren Verbindung auszuweichen, als wenn er zu mir käme.«

Goudar ging zu Lavalette, um sich mit ihm zu besprechen, und führte mich am Nachmittag zu ihm. Übrigens war es mir ganz angenehm, einmal das Gesicht dieses Mannes zu sehen, dessen Gaunerei ein so kunstreich ersonnenes Werk der Hölle vernichtet hatte. Er empfing mich sehr herzlich. Nachdem Goudar uns allein gelassen hatte, zeigte er mir einen Wechsel von Petina und sagte: »Der junge Mann wünscht, daß ich ihm das Papier diskontiere; er hat mir gesagt, ich könne von Ihnen Auskunft über seine Mittel erhalten.«

Ich antwortete dem hochwürdigen Vater Lavalette du Claude dasselbe, was ich dem Sohn des Königs von Korsika gesagt hatte, und entfernte mich, sehr ärgerlich auf diesen traurigen Bettel-Marchese, der mir solche dummen Belästigungen verursachte. Da ich sah, daß er ein Intrigant war, beschloß ich, der Sache ein Ende zu machen und ihm durch seine Hannoveranerin sagen zu lassen, daß er so etwas unterlassen solle; ich fand jedoch an diesem Tage keine Gelegenheit dazu.

Nachdem ich am nächsten Tage einen Spazierritt mit meinen beiden Nymphen gemacht hatte, speiste ich mit ihnen und Lord Pembroke, der sich bei mir einlud; vergeblich erwartete ich Petinas Geliebte, die gegen ihre sonstige Gewohnheit nicht nach Hause kam. Um neun Uhr erhielt ich von ihr einen Brief, dem ein deutsch geschriebener Brief für ihre Mutter beilag. Sie schrieb mir: sie sei überzeugt, daß sie niemals die Einwilligung ihrer Mutter erhalten werde, und sei daher mit ihrem Liebhaber abgereist, der eine genügende Summe Geldes aufgetrieben habe, um die Reisekosten bis Neapel zu bestreiten; dort werde er sie sofort nach seiner Ankunft heiraten. Sie bat mich, ihre Mutter zu trösten und mit der Versicherung zu beschwichtigen, daß sie nicht mit einem Abenteurer abgereist sei, sondern mit einem adligen Kavalier ihresgleichen. Ein mitleidiges und verächtliches Lächeln kräuselte meine Lippen und machte die drei jungen Schwestern neugierig. Ich zeigte ihnen den Brief der älteren und forderte sie auf, mich zu ihrer Mutter zu begleiten.

»Wir wollen lieber bis morgen warten,« sagte Victoria, »denn dieser schreckliche Brief würde ihr den Schlaf rauben.«

Ich gab ihr recht, und wir aßen ziemlich traurig zu Abend. Ich hielt das unglückliche Mädchen für verloren und machte mir den Vorwurf, die unfreiwillige Ursache zu sein: denn wenn ich den Marchese nicht aus dem Gefängnis ausgelöst hätte, wäre das Unglück nicht geschehen. Marchese Caraccioli hatte recht gehabt, als er mir sagte, ich hätte ein dummes gutes Werk getan. Ich tröstete mich in den Armen meiner lieben Gabriele.

Am Morgen hatte ich viel zu leiden, als ich die Verzweiflung der Mutter beschwichtigen mußte. Sie verfluchte die Tochter und den Verführer und machte mir Vorwürfe, daß ich ihn aus dem Gefängnis befreit hätte. Sie erging sich in den rührendsten und zugleich sonderbarsten Reden.

Man muß niemals einem trauernden Menschen beweisen wollen, daß er unrecht hat; denn er kann dadurch ärgerlich werden und großen Schaden davon haben; läßt man ihn dagegen sich von selber beruhigen, so sieht er sein Unrecht ein und fühlt sich dem Freunde verpflichtet, der ihn ohne Widerspruch hat ausreden und sich dadurch erleichtern lassen.

Nach diesem traurigen Ereignis verbrachte ich noch zwei sehr glückliche Wochen mit meiner Gabriele, die von Victoria und Hippolyta als meine Frau angesehen wurde. Wir machten uns gegenseitig auf jede mögliche Weise glücklich. Ich beglückte sie besonders durch meine Treue, denn ich behandelte ihre Schwestern, wie wenn sie meine eigenen gewesen wären und wie wenn ich die Gunst, die ich von ihnen erhalten hatte, völlig vergessen hätte. Niemals nahm ich mir Freiheiten mit ihnen heraus, die meiner Geliebten hätten mißfallen können; denn ich wußte, daß Freundschaft zwischen Frauen selten so weit geht, einander eine Nebenbuhlerschaft in der Liebe zu verzeihen. Übrigens hatte ich sie reichlich mit Kleidern und Wäsche ausgestattet; sie wohnten und aßen gut, ich ließ sie ins Theater gehen und machte Landpartien mit ihnen. Sie beteten mich an, wie wenn ich ein Gott gewesen wäre, und schienen zu glauben, dieses Glück müsse ewig dauern. Leider ging ich aber mit großen Schritten meiner völligen körperlichen und pekuniären Erschöpfung entgegen.

Ich hatte kein Geld mehr und hatte alle meine Diamanten und anderen Edelsteine verkauft. Mir blieben nur noch Tabaksdosen, Uhren, Bonbonnieren – Kleinigkeiten, die ich liebte, und die ich nicht den Mut hatte zu verkaufen, denn ich hätte dafür nicht den fünften Teil von dem gelöst, was sie mir gekostet hatten. Seit einem Monat bezahlte ich weder die Rechnungen meines Kochs noch die meines Weinhändlers, und ich gefiel mir darin, ihre Sicherheit zu teilen. Ganz in meine Liebe zu Gabriele versunken, fand ich mein Glück darin, ihre Zärtlichkeit durch tausend Gefälligkeiten zu belohnen.

In diesem glücklichen Zustande von Gleichgültigkeit befand ich mich, als eines Tages Victoria mir sehr traurig sagte, ihre Mutter habe sich entschlossen, nach Hannover zurückzukehren, da sie jede Hoffnung verloren habe, bei Hofe etwas zu erreichen.

»Und wann gedenkt sie abzureisen?«

»In drei oder vier Tagen.«

»Ohne mir ein Wort zu sagen, wie wenn sie einen Gasthof verließe, nachdem sie mit dem Wirt abgerechnet hat?«

»Oh nein, sie wünscht im Gegenteil mit Ihnen unter vier Augen zu sprechen.«

Ich ging zu ihr. Sie beklagte sich in liebenswürdigstem Tone, daß ich sie niemals besuchte, und sagte dann: »Da Sie meine Hand ausgeschlagen haben, so will ich den Leuten nicht länger Anlaß zu Verleumdung und böser Nachrede geben. Ich danke Ihnen für alles Gute, das Sie meinen Töchtern getan haben, und will mit den dreien, die mir noch bleiben, lieber abreisen; denn sonst fürchte ich sie zu verlieren, wie ich meine beiden ältesten verloren habe. Wenn Sie wollen, können Sie mit uns kommen und, solange Sie Lust haben, ein hübsches Landhaus bewohnen, das ich in der Nähe der Hauptstadt besitze.«

Ich konnte ihr nur antworten und ihr danken, meine Verhältnisse erlaubten mir nicht, ihr Anerbieten anzunehmen.

Drei Tage darauf kam Victoria zu mir, als ich gerade aufstand, und sagte mir, um drei Uhr würden sie abfahren. Hippolyta und Gabriele wollten trotzdem ausreiten, wie wir am Tage vorher verabredet hatten; die guten Mädchen amüsierten sich, während ich mich in untröstlicher Trauer befand, wie immer, wenn ich mich von einer Geliebten trennen mußte.

Als wir nach Hause kamen, legte ich mich sofort zu Bett, ohne Mittag zu essen; ich sah die drei Schwestern erst wieder, nachdem sie alle ihre Reisevorbereitungen getroffen hatten. Einen Augenblick vor ihrer Abfahrt stand ich auf, um nicht die Mutter in meinem Zimmer empfangen zu müssen. Ich betrat das ihrige in dem Augenblick, wo man sie in meinen Wagen tragen wollte, der vor meiner Tür auf sie wartete. Die Unverschämte dachte, ich würde ihr etwas für die Reise geben; als sie jedoch sah, daß ich durchaus nicht geneigt war, diese Hoffnung zu erfüllen, sagte sie mir mit einer Aufrichtigkeit, die ihr ohne Zweifel ganz unwillkürlich entschlüpfte: sie hätte in ihrer Börse hundertundfünfzig Guineen, die ich ihren Töchtern geschenkt hätte. Ihre Töchter standen dabei und zerflossen in Tränen.

Als sie fort waren, ließ ich meine Tür vor jedermann verschließen und verbrachte drei traurige Tage damit, meine Bilanz zu ziehen. In einem Monat hatte ich mit den Hannoveranerinnen alles Geld verschwendet, das ich für meine Edelsteine bekommen hatte; außerdem hatte ich noch mehr als vierhundert Guineen Schulden. Ich beschloß, zur See nach Lissabon zu reisen, und verkaufte mein diamantenbesetztes Ordenskreuz, sechs oder sieben goldene Dosen, nachdem ich die Porträts herausgenommen hatte, alle meine Uhren mit Ausnahme einer einzigen und zwei große Koffer voll von Kleidern. Nachdem ich alle meine Rechnungen bezahlt hatte, fand ich mich im Besitz von achtzig Guineen. Dies war der Rest eines schönen Vermögens, das ich wie ein Narr oder wie ein Weiser verschwendet hatte – oder vielleicht wie ein Narr und ein Weiser.

Ich verließ mein schönes Haus, worin ich so lustig gelebt hatte, und bezog ein Zimmerchen, wofür ich wöchentlich eine Guinee bezahlte. Ich behielt nur meinen Neger, an dessen Treue zu zweifeln ich keinen Anlaß hatte.

Nachdem ich alle meine Maßregeln getroffen hatte, schrieb ich Herrn von Bragadino, er möchte mir sofort nach Empfang meines Briefes zweihundert Zechinen schicken. Ich brauchte nicht zu besorgen, dadurch das Geld, das für mich in Venedig stehen mußte, zu stark in Anspruch zu nehmen; denn ich hatte mir seit fünf Jahren nichts von dort schicken lassen.

Ich beschloß also, von London abzureisen, ohne einen Heller Schulden zu hinterlassen und ohne die Börse irgendeines Menschen in Anspruch zu nehmen. So wartete ich denn ruhig auf die Ankunft des Wechsels aus Venedig, um mich von allen Bekannten zu verabschieden und mich nach Lissabon einzuschiffen, wo ich einmal sehen wollte, was das Glück mit mir vorhätte; aber diese Göttin hatte Böses mit mir im Sinne, und zwar fern von Lusitanien.

Vierzehn Tage nach der Abreise der Hannoveranerinnen, gegen Ende Februar 1764, führte mich mein böser Stern in die Schenke zur Kanone, um dort nach meiner Gewohnheit in einem Zimmer für mich zu speisen. Man hatte den Tisch für mich gedeckt, und ich wollte mich eben niedersetzen, als der Baron Stenau mit der Serviette in der Hand eintrat und mich aufforderte, mein Essen in das Nebenzimmer bringen zu lassen, wo er mit seiner Geliebten allein sitze.

»Ich bin Ihnen dankbar,« antwortete ich ihm; »denn wenn man allein ist, langweilt man sich.«

Ich sah eine Engländerin, die ich schon einmal bei Sartori getroffen hatte, als der Baron so freigebig gegen sie gewesen war. Sie sprach italienisch und war talentvoll und schön; ihre Gegenwart entzückte mich, und wir speisten sehr fröhlich.

Es war nach einer vierzehntägigen Enthaltsamkeit nicht zu verwundern, daß die hübsche Engländerin mir Begierden einflößte. Ich verbarg dies jedoch, denn ihr Geliebter gab den Ton an und schien sie mit Achtung zu behandeln. Ich nahm mir also keine weitere Freiheit heraus, als daß ich ihr sagte, der Baron scheine mir der glücklichste aller Menschen zu sein.

Gegen Ende der Mahlzeit sah sie Würfel auf dem Kaminsims liegen; sie holte diese und sagte: »Wir wollen eine Guinee für Austern und Champagner ausspielen.«

Natürlich konnte man das nicht ausschlagen, der Baron verlor und rief den Kellner, um ihm seine Bestellung zu machen.

Als wir die Austern aßen, sagte sie: »Jetzt wollen wir das Mittagessen ausspielen.«

Wir spielen; sie verliert.

Es ärgerte mich, daß das Glück mich so bevorzugte. Ich wünschte zwei Guineen zu verlieren und schlug dem Baron vor, darum zu würfeln. Er war einverstanden, aber zu meinem großen Bedauern gewann ich. Er verlangt Revanche und verliert abermals.

»Es tut mir leid, daß ich Ihnen Ihr Geld abnehme, und ich werde Ihnen Revanche bis hundert geben.«

Er dankte mir, bestimmte die Einsätze und war mir in weniger als einer halben Stunde hundert Guineen schuldig.

»Weiter!« rief er.

»Mein lieber Baron, Sie sind im Unglück; Sie könnten zuviel verlieren, es ist besser, wir hören für diesmal auf.«

Ohne mir für meine Höflichkeit Dank zu wissen, fluchte er gegen das Glück; dann stand er auf, nahm seinen Stock und Hut und sagte im Hinausgehen: »Wenn ich wiederkomme, werde ich Sie bezahlen.«

Kaum war er hinaus, so sagte die schöne Engländerin zu mir: »Ich bin überzeugt, Sie haben Halbpart mit mir gespielt.«

»Wenn Sie das erraten haben, werden Sie auch erraten haben, daß ich Sie reizend finde?«

»Ich habe es bemerkt.«

»Und ist es Ihnen unangenehm?«

»Im Gegenteil – vorausgesetzt, daß ich das erste richtig erraten habe.«

»Ich verspreche Ihnen fünfzig Guineen, sobald er mir die hundert bezahlt hat.«

»Gut; aber der Baron darf nichts davon erfahren.«

»Das versteht sich von selbst.«

Kaum war die Vereinbarung geschlossen, so bewies ich ihr die Aufrichtigkeit meiner Neigung. Ich war sehr zufrieden mit ihrer Gefügigkeit und mit diesem Glücksschimmer in einem Augenblick, wo alles für mich so traurig aussah. Wie man sich denken kann, wurde die Sache sehr schnell abgemacht, denn die Tür war nur angelehnt. Ich hatte kaum soviel Zeit, sie zu fragen, wo sie wohne und welche Stunde ihr passe und besonders, ob ich große Rücksicht auf ihren Liebhaber nehmen müsse. Sie antwortete mir, er gebe ihr nicht genug, um beanspruchen zu können, daß sie ihm allein angehöre. Ich steckte ihre Adresse in meine Tasche und versprach ihr, die nächste Nacht mit ihr zu verbringen.

Kurz darauf kam der Baron wieder und sagte zu mir: »Ich war bei einem Kaufmann, um mir diesen Wechsel diskontieren zu lassen; er wollte es aber nicht tun, obwohl der Wechsel von einem guten Lissaboner Hause an meine Ordre auf eins der ersten Häuser von Cadix auf Sicht gezogen ist.«

Er zeigte mir die Unterschriften des Wechsels, und ich sah mit Verwunderung, daß der Betrag auf Millionen lautete. Der Baron sagte mir jedoch lachend, diese Millionen seien portugiesische Reis und der ganze Wechsel mache ungefähr fünfhundert Pfund Sterling aus.

»Wenn die Unterschriften bekannt sind,« sagte ich zu ihm, »so wundere ich mich, daß man Ihnen die Diskontierung verweigert. Warum gehen Sie nicht zu ihrem Bankier?«

»Ich kenne keinen. Ich kam mit tausend Lisbonninen in der Tasche hier an und habe diese ausgegeben. Da ich keinen Kreditbrief habe, so kann ich Ihnen die hundert Guineen nicht zahlen, wenn man mir nicht den Wechsel diskontiert. Falls Sie Bekannte an der Börse haben, könnten Sie mir wohl den Gefallen tun.«

»Wenn die Unterschrift bekannt ist, werde ich es morgen früh machen können.«

»Ich werde also den Wechsel girieren.«

Er schrieb seinen Namen darauf, und ich versprach ihm, bis zum nächsten Mittag ihm entweder das Geld zu bringen oder ihm den Wechsel zurückzugeben. Er gab mir seine Adresse, lud mich zum Mittagessen ein, und wir trennten uns.

Am nächsten Morgen ging ich zu Bosanquet, der mir sagte, Mister Leigh brauche Wechsel auf Cadix. Ich ging zu diesem Herrn, der bei dem Anblick des Wechsels ausrief, das Papier sei besser als Gold. Er berechnete den Diskont und gab mir fünfhundertundzwanzig Guineen, nachdem ich natürlich den Wechsel indossiert hatte.

Ich ging zum Baron, zeigte ihm die Abrechnung und gab ihm das Geld, das ich erhalten hatte.

Er dankte mir und gab mir meine hundert Guineen; hierauf speisten wir und sprachen von seiner Schönen.

»Sind Sie sehr verliebt in sie?« fragte ich ihn.

»Nein, denn ich habe noch andere, und wenn Sie ihnen gefällt, können Sie sich für zehn Guineen mit ihr belustigen.«

Ich fand diese Erklärung anständig; doch dachte ich nicht daran, die Schöne um die ihr versprochene Summe zu betrügen. Ich begab mich vom Baron unmittelbar zu ihr, und sobald sie hörte, daß ihr Liebhaber bezahlt habe, bestellte sie ein köstliches Abendessen und bereitete mir eine so wollüstige Nacht, daß ich meine ganze Traurigkeit vergaß. Als ich ihr am Morgen die fünfzig Guineen gab, sagte sie mir, meine Ehrlichkeit solle mir zunutze kommen; sie werde mir daher, sooft ich wolle, für sechs Guineen ein Abendessen geben. Ich versprach ihr, sie oft zu besuchen.

Am anderen Morgen erhielt ich mit der Stadtpost einen in schlechtem Italienisch geschriebenen Brief mit der Unterschrift: »Ihr gehorsamer Pate Daturi.«

Dieser Pate war wegen Schulden im Gefängnis und bat mich, ihm ein paar Schillinge zu schenken, damit er sich etwas zu essen kaufen könnte. Ich hatte nichts zu tun; die Unterschrift meines Paten machte mich neugierig, und ich ging ins Gefängnis, um diesen Daturi zu sehen, von dessen Vorhandensein ich keine Ahnung hatte. Man zeigte mir einen schönen jungen Menschen von zwanzig Jahren, der mich gar nicht kannte und den ich ebenfalls zum ersten Male zu sehen glaubte. Ich zeigte ihm den Brief; er bat mich wegen der Belästigung um Verzeihung, zog ein Papier aus seiner Tasche und zeigte mir einen Taufschein. Ich sah darauf seinen und meinen Namen, die seiner Eltern, die Gemeinde in Venedig, worin er geboren war, und den Namen der Kirche, worin man ihn getauft hatte. Vergebens suchte ich mich zu besinnen; die Namen waren mir völlig unbekannt.

»Wenn Sie mich gütigst anhören wollen, werde ich Sie auf den richtigen Weg bringen, indem ich Ihnen erzähle, was meine Mutter mir hundertmal gesagt hat.«

»Nur zu; ich höre.«

Seine Erzählung erweckte wirklich mein Gedächtnis. Der junge Mann, den ich als Sohn des Schauspielers Daturi über das Taufbecken gehalten hatte, war vielleicht mein eigener Sohn. Er war mit einer Seiltänzergruppe nach London gekommen, um die edle Rolle des Strohmanns oder Pagliazzo zu spielen. Er hatte sich mit seinen Leuten überworfen; man hatte ihn fortgeschickt, und er war zehn Pfund Sterling schuldig geworden. Wegen dieser Schuld saß er im Gefängnis. Ohne ihm etwas über das Geheimnis seiner Geburt oder vielmehr über meine Beziehungen zu seiner Mutter zu sagen, löste ich ihn sofort aus und sagte ihm, er solle jeden Morgen zu mir kommen; er werde täglich zwei Schillinge zu seinem Lebensunterhalt bekommen.

Acht Tage nach dieser guten Handlung fühlte ich mich von einer abscheulichen Krankheit befallen, von welcher der Gott Merkur mich schon dreimal auf meine eigene Rechnung und Gefahr befreit hatte. Ich hatte drei Nächte bei der fatalen Engländerin zugebracht. Dieser Unfall kam mir besonders ungelegen, weil ich mich in einer so traurigen Lage befand. Mir stand eine lange Seereise bevor, und obwohl Venus den Fluten entstiegen ist, ist doch die Luft ihres Elements nicht eben günstig für die, die unter ihrer Ungnade leiden, wie es in diesem Augenblicke mit mir der Fall war. Ich wußte jedoch, was ich zu tun hatte, und dachte nur daran, mich ohne Zeitverlust in eine energische Behandlung zu geben. Ich wußte, daß ich in sechs Wochen wieder gesund sein könnte, und daß ich bei meiner Ankunft in Lissabon imstande sein würde, mit meiner Person einzustehen.

Ich ging aus, nicht um, wie ich es früher selber getan hatte und wie es noch jetzt alle Dummköpfe tun, der Engländerin Vorwürfe wegen ihrer Hinterlist zu machen, sondern um einen guten Chirurgen aufzusuchen, mit ihm den Preis zu vereinbaren und mich in seine Wohnung einzuschließen.

Zu diesem Zweck packte ich meinen Koffer, wie wenn ich London verlassen wollte. Nur meine getragene Wäsche schickte ich zu meiner Wäscherin, die sechs englische Meilen von London wohnte und die vornehmste Kundschaft der Stadt hatte.

An dem Morgen, wo ich meinen Umzug bewerkstelligen und mich in die Heilanstalt begeben wollte, brachte man mir einen Brief, der mit der Stadtpost gekommen war. Ich öffnete ihn; er war von Leigh und lautete folgendermaßen:

»Der Wechsel, den Sie mir gegeben haben, ist falsch. Zahlen Sie mir sofort die fünfhundertzwanzig Guineen zurück, die ich Ihnen gegeben habe, und wenn derjenige, der Sie betrogen hat, Ihnen den Betrag nicht wiedererstattet, so lassen Sie ihn verhaften. Ich bitte Sie recht sehr, nötigen Sie mich nicht, Sie morgen verhaften zu lassen, und verlieren Sie keine Zeit; denn es geht um Ihr Leben.«

Ich war allein, und das war ein großes Glück für mich. Ich warf mich auf mein Bett und war in einem Augenblicke von einem sehr reichlichen kalten Schweiß überströmt. Ich zitterte wie Espenlaub. Vor meinen Augen erhob sich der Galgen; denn kein Bankier hätte mir in diesem Augenblick fünfhundert Guineen anvertraut, und man würde nicht einen Monat gewartet haben, um mir den hochnotpeinlichen Prozeß zu machen, der mich an den Galgen gebracht haben würde. Hätte ich einen Monat Aufschub bekommen können, so würde ich ganz bestimmt diese Summe aus Venedig erhalten haben; aber in England ist man zu derartigen Geschäften nicht geneigt.

Ein glühendes Fieber war dem Zittern gefolgt. Ich nahm zwei gut geladene Pistolen, untersuchte das Zündkorn und steckte sie in meine Tasche. Nachdem ich meinem Neger befohlen hatte, auf mich zu warten, ging ich zum Baron von Stenau. Ich war entschlossen, ihm eine Kugel durch den Kopf zu schießen, wenn er mir nicht die fünfhundertzwanzig Guineen zurückgäbe, oder ihn zu bewachen, bis ich ihn hätte verhaften lassen können. Ich kam in seine Wohnung und erfuhr, daß er vor vier Tagen nach Lissabon abgereist sei. Dieser Baron von Stenau war Livländer; er wurde vier Monate später in Lissabon gehängt. Ich erfuhr diesen Umstand zwei Monate, nachdem er vorgefallen war, als ich anfangs Oktober desselben Jahres mich in Riga befand. Ich teile es aber schon jetzt hier mit, weil ich es später vielleicht vergessen könnte.

Sobald ich seine Abreise vernahm, sah ich, daß nichts mehr zu machen war, und faßte auf der Stelle meinen Entschluß. Ich besaß nur zehn oder zwölf Guineen, und mit dieser Summe konnte ich nichts anfangen. Ich eilte zu dem venetianischen Juden Treves, an den ich von dem Bankier Grafen Algarotti von Venedig empfohlen war, dessen ich mich aber bis dahin niemals bedient hatte. Ich wandte mich weder an den ehrenwerten Bosanquet noch an Vanhel noch an Salvador, denn diese konnten von meiner Angelegenheit Kenntnis erhalten haben, aber Treves machte mit diesen großen Bankiers keine Geschäfte. Ich begnügte mich mit der Diskontierung eines kleinen Wechsels von hundert venetianischen Zechinen, den ich auf Algarotti zog. Ich schrieb ihm, er möchte sich den Betrag von seinem Verwandten Dandolo bezahlen lassen, der mir seine Empfehlung verschafft hatte.

Sobald ich den Betrag meines Wechsels in der Tasche hatte, ging ich, von einem tödlichen Fieber verzehrt, nach Hause. Leigh hatte mir vierundzwanzig Stunden Frist gegeben, und der ehrliche Engländer war nicht imstande, mir sein Wort zu brechen. Aber meine Natur erlaubte mir nicht, mich darauf zu verlassen. Ich wollte nicht gerne meine Wäsche verlieren und ebensowenig die schönen Anzüge, die ich bei meinem Schneider hatte. Zugleich aber war die höchste Eile nötig, um mich in Sicherheit zu bringen. Ich rief Jarbe in mein Zimmer und fragte ihn, ob er lieber ein Geschenk von zwanzig Guineen und seine sofortige Entlassung haben oder ob er in meinem Dienste bleiben und mir versprechen wolle, in acht Tagen von London abzureisen und mir meine Sachen nach dem Ort zu bringen, von wo ich ihm schreiben würde.

Er antwortete mir: »Ich will in Ihrem Dienste bleiben, Herr, und komme gern überall hin, wo Sie sind. Wann reisen Sie?«

»In einer Stunde; aber es kostet mir das Leben, wenn du ein Wort sagst.«

»Warum nehmen Sie mich nicht mit?«

»Weil ich wünsche, daß du mir die Wäsche und die Anzüge bringst, die noch bei der Wäscherin und bei meinem Schneider sind. Ich werde dir soviel Geld geben, wie du ungefährzu deiner Reise brauchst.«

»Ich will nichts. Sie können mir meine Auslagen bezahlen, sobald ich wieder bei Ihnen bin. Warten Sie!«

Er ging hinaus, kam aber sofort wieder und zeigte mir sechzig Guineen.

»Bitte, nehmen Sie diese, Herr; für den Notfall habe ich soviel Kredit, um noch eine gleiche Summe aufzutreiben.«

»Nein, lieber Freund, ich danke dir; ich habe das Geld nicht nötig. Ich werde deine Treue nicht vergessen.«

Da mein Schneider in unmittelbarer Nähe wohnte, ging ich zu ihm, und als ich sah, daß meine Anzüge noch nicht zugeschnitten waren, sprach ich den Wunsch aus, die Stoffe und goldenen Tressen an ihn zu verkaufen. Er zahlte mir sofort dreißig Guineen, denn er verdiente dabei zehn. Nachdem ich hierauf meine Wohnung für eine Woche gezahlt hatte, sagte ich meinem Neger Lebewohl und reiste mit Daturi ab.

Wir übernachteten in Rochester, da ich nicht soviel Kraft besaß, weiter zu reisen. Ich hatte Zuckungen und war in einer Art von Fieberdelirium. Daturi rettete mir das Leben.

Ich hatte Postpferde bestellt, um weiterzufahren; er aber schickte auf seine eigene Verantwortung die Pferde fort und holte einen Arzt, der mich in Gefahr fand, an einem Schlagfluß zu sterben; er machte mir einen reichlichen Aderlaß, der mich beruhigte. Sechs Stunden darauf fand er, daß ich weiterreisen könnte. Ich kam in aller Frühe in Dover an und konnte mich dort nur eine halbe Stunde aufhalten, weil der Kapitän des Paketbootes, wie er mir sagte, wegen der Ebbe seine Abfahrt nicht länger hinausschieben konnte. Der gute Seebär wußte nicht, daß diese Abreise gerade mein höchster Wunsch war. Ich benützte diese halbe Stunde dazu, an Jarbe zu schreiben, er solle zu mir nach Calais kommen, wo ich auf ihn warten werde. Meine Wirtin, Mistres Mercier, an die ich einen Brief adressiert hatte, schrieb mir, daß sie ihn meinem Diener persönlich übergeben habe. Aber Jarbe kam nicht. In zwei Jahren werden wir den Neger wiederfinden.

Ich kam in Calais erst in sechs Stunden an, da der Wind schwach und beinahe entgegen war. Im goldenen Arm, wo ich meine Postkutsche gelassen hatte, stieg ich ab. Sofort nach meiner Ankunft legte ich mich zu Bett und ließ den besten Arzt rufen.

Die Glut des Fiebers und das Gift, das durch meine Adern strömte, brachte mein Leben in große Gefahr. Am dritten Tage lag ich im Sterben. Ein vierter Aderlaß erschöpfte meine Kräfte und versenkte mich in eine Betäubung, die vierundzwanzig Stunden dauerte. Dieser folgte eine heilsame Krisis, die mir das Leben wieder schenkte; aber erst eine strenge Diät setzte mich vierzehn Tage nach meiner Ankunft auf dem Boden der Rettung in den Stand, weiterreisen zu können.

Ich war schwach; es bereitete mir tiefe Trauer, dem ehrlichen Meister Leigh, wenn auch ohne meine Absicht, einen bedeutenden Verlust verursacht zu haben; ich fühlte mich gedemütigt, daß ich aus London hatte fliehen müssen; Jarbes Untreue empörte mich, und es war mir höchst ärgerlich, die geplante Reise nach Portugal aufgeben zu müssen. Ohne zu wissen, wohin ich fahren wollte, und in einem so jämmerlichen Gesundheitszustand, daß meine Heilung fraglich war, setzte ich mich endlich in eine Postkutsche. Daturi, der mich zu meiner Zufriedenheit bediente, fuhr mit mir.

Da ich nicht nach England zu schreiben wagte, hatte ich Herrn von Bragadino gebeten, mir die Summe, die ich in London empfangen sollte, nach Brüssel zu schicken.

Am Tage nach meiner Abreise von Calais kam ich in Dünkirchen an. Der erste Mensch, den ich beim Aussteigen aus meinem Wagen sah, war der Kaufmann S., der Gemahl jener Therese, deren meine Leser sich vielleicht noch erinnern: sie war die Nichte von der alten Geliebten Tirettas, und ich hatte sie vor sieben Jahren geliebt. Der wackere Herr S. erkannte mich sofort, wunderte sich aber, daß ich so verändert wäre. Ich sagte ihm, ich hätte soeben eine lange Krankheit durchgemacht, und erkundigte mich dann nach seiner Frau.

»Es geht ihr ausgezeichnet,« antwortete er mir, »und ich hoffe, wir werden doch morgen das Vergnügen haben, Sie bei uns zu Tisch zu haben.«

Ich wandte ein, daß ich bei Tagesanbruch weiter reisen müßte; davon wollte er aber nichts wissen, sondern sagte, er wäre in Verzweiflung, wenn ich nicht seine Frau und seine drei Püppchen sähe. Als ich dabei blieb, ich müßte unbedingt mit Tagesanbruch abreisen, sagte er mir, er würde wiederkommen und seine ganze Familie mitbringen. Ich sah, daß nichts dabei zu machen war, und sagte ihm, wir würden alle zusammen zu Abend speisen.

Wie meine Leser sich vielleicht erinnern werden, hatte ich diese Therese so sehr geliebt, daß ich sie heiraten wollte. Diese Erinnerung bereitete mir einen tiefen Kummer, indem ich daran dachte, in welch einer traurigen Gestalt ich vor sie treten mußte.

Eine Viertelstunde später kam der Mann mit seiner Frau und drei kleinen Knaben, von denen der älteste etwa sechs Jahre alt sein mochte. Nachdem die unvermeidlichen Komplimente ausgetauscht waren und Therese mir ermüdende Beileidsbezeigungen wegen meiner schlechten Gesundheit gemacht hatte, schickte sie die beiden jüngeren Knaben fort und behielt nur den ältesten zurück, den einzigen, der mich interessieren konnte. Das Kind war reizend, und da es der Mutter vollkommen ähnlich sah, zweifelte der Mann nicht im geringsten daran, daß er der Vater sei.

Ich lachte innerlich darüber, daß ich so Kinder von mir über ganz Europa zerstreut fand. Therese erzählte mir bei Tisch Neues von Tiretta. Er war in den Dienst der holländisch-ostindischen Kompagnie getreten, hatte sich aber in Batavia in eine Verschwörung eingelassen und war nur dadurch dem Strick entgangen, daß er die Flucht ergriffen hatte. Ich dachte an die Ähnlichkeit zwischen seinem Schicksal und dem meinigen, sprach aber nicht davon. Übrigens kann es einem, wenn man ein Abenteurerleben führt, leicht zustoßen, wegen einer Kleinigkeit gehängt zu werden, wenn man ein wenig unbesonnen ist und sich nicht überlegt, was man tut.

Am nächsten Tage kam ich in Tournay an. Einige schöne Pferde, die von Reitknechten geritten wurden, erregten meine Neugier, und ich fragte die Leute, wem die Tiere gehörten.

»Dem Herrn Grafen von Saint-Germain, dem Adepten, der seit einem Monat hier ist und niemals ausgeht. Alle Durchreisenden wünschen ihn zu sehen, aber er ist unzugänglich.«

Durch diese Antwort bekam ich Lust, ihn zu besuchen. Kaum in dem Gasthof angekommen, schrieb ich ihm, indem ich meinen Wunsch ausdrückte und ihn bat, mir seine Stunde anzugeben. Ich teile hier seine Antwort wörtlich mit; denn ich habe sein Briefchen aufgehoben:

»Meine Beschäftigungen nötigen mich, keinen Menschen zu empfangen. Sie machen jedoch eine Ausnahme. Kommen Sie, wann es Ihnen am besten paßt; man wird Sie in mein Zimmer führen. Sie brauchen weder meinen Namen noch den Ihrigen zu nennen. Ich biete Ihnen nicht die Hälfte meines Mittagsmahles an; denn meine Nahrung ist für keinen Menschen geeignet und für Sie noch weniger als für jeden anderen, wenn Sie noch Ihren früheren Appetit haben.«

Ich ging um neun Uhr zu ihm, und er empfing mich mit einem zwei Zoll langen Bart. Er hatte etwa zwanzig Retorten voller Flüssigkeiten um sich herum. Einige von diesen lagen auf Sandhaufen von natürlicher Wärme. Er sagte mir, er arbeite zu seiner Belustigung an Farben und richte, um dem Grafen von Cobenzl, dem Gesandten der Kaiserin Maria Theresia in Brüssel, einen Gefallen zu tun, eine Hutfabrik ein. Der Graf habe ihm dazu nur 105000 Gulden gegeben und diese Summe genüge nicht, er lege aber das Fehlende aus seiner eigenen Tasche zu.

Dann sprachen wir von Frau von Urfé. »Sie hat sich vergiftet,« sagte er, »indem sie eine zu starke Dosis Universalmedizin nahm, und ihr Testament beweist, daß sie sich für schwanger hielt. Sie hätte es sein können, wenn sie mich zu Rate gezogen hätte. Es ist eine höchst schwierige, aber doch vollkommen sichere Operation, obgleich es der Wissenschaft noch nicht gelungen ist, das Geschlecht des Kindes vorher bestimmen zu können.«

Als er erfuhr, an welcher Krankheit ich litt, bat er mich, drei Tage in Tournay zu bleiben; während dieser Zeit werde er alle Drüsenschwellungen beseitigen; hierauf werde er mir fünfzehn Pillen geben, die ich in fünfzehn Tagen einzunehmen hätte; diese würden mir völlige Genesung bringen und mir alle meine Kräfte wiedergeben. Er zeigte mir seine Urkraft, die er Atoäter nannte. Es war eine weiße Flüssigkeit, die sich in einem sorgfältig verschlossenen Fläschchen befand. Er sagte mir, diese Flüssigkeit sei der Universalgeist der Natur; dies werde dadurch bewiesen, daß dieser Geist sofort aus dem Fläschchen entweiche, wenn man das Wachs nur ganz leicht mit einer Nadel durchsteche. Ich bat ihn, mir das Experiment zu zeigen. Er gab mir ein Fläschchen und eine Nadel. Ich stach ganz leise in das Wachs hinein und das Fläschchen war wirklich im Augenblick vollständig leer.

»Das ist ja herrlich,« sagte ich; »aber wozu ist das gut?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen, das ist mein Geheimnis.«

In seinem Ehrgeiz, mich in Verwunderung zu setzen, fragte er mich, ob ich etwas Kleingeld bei mir habe. Ich zog einige Münzen aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. Ohne mir zu sagen, was er machen wollte, stand er auf und nahm eine glühende Kohle, die er auf eine Metallplatte legte. Hierauf bat er mich um ein Zwölf-Sousstück, das sich unter den Münzen befand. Er legte ein schwarzes Körnchen auf die Münze und diese auf die Kohle, die er mit einem Blasrohr anblies; in kaum zwei Minuten war das Geldstück glühend.

»Warten Sie bis es sich abgekühlt hat«, sagte der Alchimist. In einer Minute war die Münze kalt, und er sagte: »Nehmen Sie sie mit, denn sie gehört Ihnen.«

Ich nahm das Geldstück; es war von Gold. Ich zweifelte nicht einen Augenblick, daß er meine Münze hatte verschwinden lassen und dafür die andere untergeschoben hatte, die er ohne Zweifel vorher weiß gemacht hatte. Ich mochte ihm keine Vorwürfe machen; damit er aber andererseits überzeugt wäre, daß ich nicht an seinen Schwindel glaubte, sagte ich: »Das ist wundervoll, Graf! Aber um ganz sicher zu sein, daß Sie auch einen sehr Hellsehenden in Erstaunen setzen, müssen Sie ihn ein anderes Mal darauf aufmerksam machen, daß Sie eine solche Umwandlung vornehmen wollen; alsdann kann er aufmerksam die Operation verfolgen und sich das Silberstück genau ansehen, bevor Sie es auf die glühende Kohle legen.«

Hierauf antwortete der Schwindler mir: »Wer an meiner Wissenschaft zweifeln kann, ist nicht würdig, mit mir zu sprechen.«

Dies anmaßende Benehmen war kennzeichnend für ihn; es war mir übrigens nicht neu.

Dies war das letztemal, daß ich den berühmten und gelehrten Betrüger sah; vor sechs oder sieben Jahren ist er in Schleswig gestorben. Sein Geldstück war von reinem Golde. Zwei Monate später trat ich es während meines Berliner Aufenthaltes dem Feldmarschall Keith ab, der sich neugierig danach zeigte.

Am nächsten Morgen reiste ich von Tournay ab. In Brüssel machte ich Halt, um die Antwort auf meinen an Herrn von Bragadino geschriebenen Brief abzuwarten. Ich empfing diese fünf Tage nach meiner Ankunft mit einem Wechsel von zweihundert Dukaten.

Ich gedachte mich in Brüssel längere Zeit aufzuhalten, um mich dort zu kurieren. Daturi sagte mir jedoch, er habe von einem Seiltänzer gehört, sein Vater und seine Mutter seien mit der ganzen Familie in Braunschweig. Er lud mich ein, dorthin zu fahren, indem er mir versicherte, ich werde mit der größten Sorgfalt gepflegt werden.

Es kostete ihm keine große Mühe, mich zu überreden, denn ich war neugierig, die Mutter meines Paten wiederzusehen. Ich reiste am selben Tage ab, aber in Roermond befand ich mich so schlecht, daß ich sechsunddreißig Stunden lang dort bleiben mußte, bis ich nach Wesel weiterfahren konnte. Dort beschloß ich meine Postkutsche zu verkaufen, weil in Norddeutschland die Pferde nicht an die Deichsel gewöhnt sind. Zu meiner großen Überraschung sah ich den General Bekw…. erscheinen.

Nachdem wir die üblichen Komplimente getauscht und der General mir sein Bedauern wegen meiner Krankheit ausgesprochen hatte, sagte er mir, er wünsche meine Kutsche zu kaufen und mir in Tausch dafür einen Wagen zu geben, der zum Reisen in ganz Deutschland sehr bequem sei. Der Handel war im Nu abgeschlossen. Als hierauf der wackere Engländer Näheres über meinen Krankheitszustand erfuhr, redete er mir zu, in Wesel zu bleiben, wo ein sehr geschickter und vorsichtiger junger Arzt von der Leydener Schule mich besser behandeln werde als die Braunschweiger Doktoren.

Niemand ist in seinem Entschlusse leichter zu beeinflussen, als ein Mensch, der krank und unglücklich ist und keinen bestimmten Plan hat, – besonders wenn der Kranke dem Glück nachjagt und mit seinem Grundsatz sequere deum nicht weiß, wo die launenhafte Göttin ihn erwartet. Bekw …., der in Wesel in Garnison stand, ließ sofort den Doktor Pipers holen und blieb bei meinem Krankheitsbericht und sogar bei der Untersuchung zugegen.

Ich will nicht die Empörung meiner Leser erregen, indem ich ihnen den ekelhaften Zustand schildere, worin ich mich befand; es genüge ihnen, zu erfahren, daß noch nach so vielen Jahren der bloße Gedanke daran mich schaudern macht.

Der junge Arzt, der die verkörperte Sanftmut war, lud mich ein, bei ihm zu wohnen. Er versprach mir, seine Mutter und seine Schwestern würden mich so sorgfältig pflegen, wie ich es nur wünschen könnte. Er gab mir die Zusicherung, er würde mich in sechs Wochen gründlich heilen, wenn ich ihm versprechen wollte, seine Vorschriften pünktlich zu befolgen. Der General redete mir zu, den Rat des jungen Äskulap anzunehmen. Ich entschloß mich dazu um so lieber, da ich mich in Braunschweig zu amüsieren wünschte und durchaus keine Lust hätte, mit gelähmten Gliedern dort anzukommen. So fügte ich mich den Wünschen des Generals. Von einer Preisvereinbarung wollte der Doktor nichts wissen. Er sagte mir, ich könnte ihm bei meiner Abreise geben, soviel ich wollte, und er würde damit sehr zufrieden sein. Er entfernte sich, um das für mich bestimmte Zimmer instand setzen zu lassen, und bat mich, eine Stunde später zu kommen. Ich ließ mein Gepäck hinschaffen und begab mich in einer Sänfte zu ihm. Ich schämte mich so sehr, daß ich mein Taschentuch vors Gesicht hielt, um dieses nicht der Mutter und den Schwestern des jungen Doktors zu zeigen. Sie empfingen mich in Gesellschaft einiger anderer junger Mädchen, die ich nicht einmal anzusehen wagte.

Sobald ich in meinem Zimmer war, entkleidete Daturi mich, und ich legte mich zu Bett.

Achtzehntes Kapitel


Mein Heilung. – Daturi wird von Soldaten geprügelt. – Abreise nach Braunschweig. – Redegonda. – Der Erbprinz. – Der Jude. – Mein Aufenthalt in Wolfenbüttel. – Die Bibliothek. – Berlin. – Casalbigi und die Lotterie in Berlin. – Fräulein Bélanger.

Als es Zeit zum Abendessen war, kam der Doktor mit seiner Mutter und einer seiner Schwestern in mein Zimmer. Den wackeren Leuten stand die Menschenliebe auf den Gesichtern geschrieben; alle versicherten mir, sie würden mich auf das beste pflegen.

Nachdem die Damen sich wieder entfernt hatten, teilte der Doktor mir mit, nach welcher Methode er mich zu behandeln gedächte: Ein schweißtreibender Trank und Quecksilberpillen sollten mich von dem Gift befreien, das mich dem Grabe zutrieb; ich müßte jedoch eine strenge Diät innehalten und dürfte gar nicht geistig arbeiten. Ich versprach ihm pünktlichen Gehorsam gegen seine Gesetze, und er sagte mir, zu meiner Zerstreuung werde er selber mir zweimal wöchentlich die Zeitung vorlesen. Zugleich teilte er mir die Neuigkeit mit, daß die berüchtigte Pompadour gestorben sei.

So sah ich mich also zu einer Ruhe verdammt, die nach der Meinung meines Doktors unerläßlich war, wenn die Behandlung gelingen und ich meine Gesundheit wiedererlangen sollte. Es war eine harte Notwendigkeit; aber was ich am meisten fürchtete, waren nicht die Heilmittel und die Enthaltsamkeit, sondern die Langeweile; denn ich glaubte, daß diese mich töten würde. Ohne Zweifel teilte der Doktor meine Befürchtung; denn er bat mich, zu erlauben, daß seine Schwester mit zwei oder drei Freundinnen in meinem Zimmer arbeiten dürfe. Ich antwortete ihm, daß ich seinen Vorschlag mit Freuden annähme, obgleich ich mich schäme, mich so liebenswürdigen Mädchen in meinem kranken Zustande zu zeigen. Die Schwester war mir sehr dankbar für meine Gefälligkeit, wie sie es nannte; denn das von mir bewohnte Zimmer war das einzige, dessen Fenster nach der Straße hinausgingen, und wie ein jeder weiß, sehen junge Mädchen gern nach den Vorübergehenden aus. Unglücklicherweise wurde meine Gefälligkeit verhängnisvoll für Daturi. Der arme junge Mann, der keine weitere Erziehung genossen hatte, als eben ein Seiltänzer sie braucht, mußte sich natürlich langweilen, wenn er den ganzen Tag nur immer mit mir zusammen war. Sobald er daher sah, daß ich gute Gesellschaft hatte, glaubte er, ich könnte wohl die seinige entbehren, und ging nur noch darauf aus, sich zu amüsieren. Am dritten Tage brachte man ihn gegen Abend jämmerlich verprügelt nach Hause. Er war in eine Wachstube gegangen, um mit den Soldaten zu zechen; dabei hatte es Streit gegeben, und er war tüchtig durchgehauen worden. Er sah mitleiderregend aus: er war ganz von Blut überströmt, und ihm fehlten drei Zähne. Weinend erzählte er mir sein Abenteuer und bat mich, ihn zu rächen.

Ich schickte meinen Doktor zu General Bekw …., der sofort zu mir kam und mir sagte, er wisse nicht, was er dabei tun solle; er könne mir weiter keinen Dienst erweisen, als daß er den Kranken ins Lazarett schicke. Da Daturi keine Glieder gebrochen hatte, so war er in ein paar Tagen geheilt; ich schickte ihn mit einem Paß des Generals Salenmon nach Braunschweig. Die verlorenen Zähne schützten ihn vor der Gefahr, unter die Soldaten gesteckt zu werden. Das war immerhin ein Trost.

Die Kur meines jungen Doktors wirkte besser oder jedenfalls schneller, als er selber gedacht hatte; denn nach einem Monat war ich vollkommen wiederhergestellt, aber ich war dabei so mager, daß mein Anblick Schrecken erregte. Der Begriff, den ich den guten Leuten von mir hinterließ, entsprach durchaus nicht der Wirklichkeit. Man hielt mich für den geduldigsten Menschen, und die Schwester und ihre jungen Freundinnen sahen in mir die verkörperte Bescheidenheit; aber diese scheinbaren Tugenden rührten nur von meiner Krankheit her und von meiner niedergeschlagenen Stimmung. Um einen Menschen zu beurteilen, muß man sein Benehmen prüfen, wenn er gesund und frei ist; in Krankheit und Gefangenschaft ist er nicht mehr der gleiche.

Ich schenkte der Schwester ein schönes Kleid und gab dem Doktor zwanzig Louis. Alle beide schienen mir sehr zufrieden zu sein.

Am Tage vor meiner Abreise erhielt ich einen Brief von Frau du Rumain, die von meinem Freunde Baletti erfahren hatte, daß ich Geld brauchte, und mir einen Wechsel von sechshundert Gulden auf Amsterdam schickte. Sie sagte mir, ich möchte ihr den Betrag nach meiner Bequemlichkeit zurückgeben; sie ist jedoch gestorben, bevor ich die Schuld habe begleichen können.

Da ich nach Braunschweig fahren wollte, konnte ich dem Wunsch nicht widerstehen, über Hannover zu reisen, denn wenn ich an Gabriele dachte, liebte ich sie noch. Ich wollte mich nicht aufhalten, denn ich war nicht mehr reich; außerdem zwang meine Gesundheit mich noch, mich zu schonen. Ich wollte nur das reizende Mädchen überraschen, indem ich auf der Durchreise einen Besuch auf dem Gute machte, das ihre Mutter, wie sie mir gesagt hatte, in der Nähe von Stöcken besaß. Ich will nicht leugnen, daß auch die Neugier einen guten Anteil an diesem Plan hatte.

Ich hatte beschlossen, bei Tagesanbruch allein in meiner neuen Kalesche abzureisen: aber es stand in den Sternen geschrieben, daß es anders kommen sollte.

Der englische General lud mich schriftlich zum Abendessen ein, indem er hinzufügte, es würden Landsleute von mir dabei sein. Infolgedessen beschloß ich noch einen Tag zu bleiben; zugleich versprach ich dem Doktor, sehr nüchtern zu sein.

Man wird sich meine Überraschung denken können, als ich beim Eintritt in den Salon des Generals die Parmesanerin Redegonda und ihre abscheuliche Mutter sah. Diese erkannte mich nicht gleich; Redegonda aber nannte sofort meinen Namen und rief: »Mein Gott! Wie sind Sie mager geworden!«

Ich machte ihr ein Kompliment über ihre Schönheit, und sie verdiente es; denn die letzten achtzehn Monate hatten ihre Reize in eigentümlicher Weise entfaltet.

»Ich bin soeben erst einer schweren Krankheit entronnen,« sagte ich zu ihr, »und ich reise mit Tagesanbruch nach Braunschweig ab.«

»Wir auch!« rief sie, indem sie ihre Mutter ansah.

Der General freute sich, daß wir alte Bekannte waren, und machte die Bemerkung, daß wir ja zusammen reisen könnten.

»Das würde wohl schwerlich gehen,« versetzte ich lächelnd, »es müßte denn sein, daß die Frau Mutter ganz andere Grundsätze angenommen hätte, als ich früher an ihr kannte.«

»Ich bin immer noch die gleiche«, sagte die häßliche Mutter ziemlich grob.

Ich antwortete ihr nur durch einen verächtlichen Blick.

Der General hielt an einem kleinen Pharaotisch die Bank. Es waren zwei oder drei andere Damen und mehrere Offiziere anwesend, und man spielte mit kleinen Einsätzen. Er bot mir ein Buch an, das ich unter dem Vorwand ablehnte, ich spielte auf Reisen niemals.

Der General hielt sich jedoch noch nicht für geschlagen und sagte am Ende der Taille zu mir: »Aber, Chevalier, Ihr Grundsatz ist ungesellig! Sie müssen spielen!«

Mit diesen Worten zog der General aus seiner Brieftasche mehrere englische Banknoten und sagte: »Es sind dieselben, die Sie mir vor sechs Monaten in London gegeben haben. Nehmen Sie Revanche; es sind vierhundert Pfund Sterling!«

»Ich habe keine Lust, so viel zu verlieren,« antwortete ich ihm; »aber ich will fünfzig Pfund wagen, um Ihnen einen Gefallen zu tun.«

Zugleich zog ich meine Börse; es befanden sich dann zweihundert holländische Dukaten und der Wechsel, den die Gräfin du Rumain mir geschickt hatte.

Der General zog ab, und nach der dritten Taille hatte ich fünfzig Pfund gewonnen. Ich hörte auf, indem ich mich mit einem bescheidenen Gewinne begnügte, zumal da ich kalte Füße bekommen konnte, ohne gegen die Höflichkeit zu verstoßen.

In demselben Augenblick wurde gemeldet, daß das Essen angerichtet sei, und wir gingen in den Speisesaal.

Redegonda, die sehr gut französisch gelernt hatte, erheiterte alle Anwesenden. Sie war vom Herzog von Braunschweig als zweite Virtuosa engagiert worden und kam von Brüssel. Sie klagte darüber, daß sie die Reise in dem unglückseligen Postkarren machen müsse, in dem man so gräßlich unbequem säße, und sprach die Befürchtung aus, sie würde krank an ihrem Bestimmungsort ankommen.

Hierauf bemerkte der General: »Da ist ja der Chevalier Seingalt, der ganz allein in einem ausgezeichneten Wagen fährt.«

Redegonda lächelte.

»Wieviel Plätze hat Ihr Wagen?« fragte die Mutter mich. Der General nahm für mich das Wort und antwortete: »Nur zwei.«

»Dann ist es also nicht möglich; denn ich werde niemals meine Tochter ohne mich reisen lassen, ganz einerlei mit wem es ist.«

Ein allgemeines Gelächter, in das Redegonda einstimmte, machte die Mutter ein wenig verlegen; aber als gute Tochter sagte Redegonda: »Mama hat immer Angst, daß man mich ermordet!«

Unter tausend leichtfertigen Bemerkungen verging der Abend uns sehr angenehm; die junge Sängerin ließ sich nicht lange bitten, sondern setzte sich ans Klavier und sang uns einige reizende Lieder, für die sie wohlverdienten Beifall erntete.

Als ich gehen wollte, bat der General mich, bei ihm zu frühstücken; der Postkarren fahre erst mittags ab und ich sei diese Höflichkeit meiner schönen Landsmännin schuldig. Redegonda bat mich ebenfalls, indem sie mich an einige Vorfälle in Florenz und Turin erinnerte, obgleich sie mir keine Vorwürfe zu machen hatte. Ich gab nach; da ich aber der Ruhe bedurfte, so ging ich zu Bett.

Am anderen Morgen um neun Uhr verabschiedete ich mich vom Doktor und seiner braven Familie. Dann ging ich zu Fuß zum General, um bei ihm zu frühstücken, nachdem ich Befehl gegeben hatte, daß mein Wagen mich abholen solle, sobald er angespannt sei.

Eine halbe Stunde später kam Redegonda mit ihrer Mutter. Zu meiner großen Überraschung sah ich in ihrer Begleitung den Bruder, den ich in Florenz als Lohndiener gehabt hatte.

Als das Frühstück vorbei war, hielt mein Wagen vor der Tür. Ich machte dem General und der ganzen Gesellschaft, die den Saal verlassen hatte, um mich abfahren zu sehen, meine Reverenz. Redegonda ging mit mir hinunter; sie fragte mich, ob mein Wagen bequem sei, und stieg ein, wie wenn sie ihn versuchen wollte. Sofort nach ihr stieg auch ich ein, ohne mir jedoch das mindeste dabei zu denken. Der Postillon sieht, daß der Wagen besetzt ist, knallt mit der Peitsche und fährt im Galopp ab.

Redegonda lachte aus vollem Halse. Ich wollte dem Postillon zurufen, daß er halten solle; als ich aber das ausgelassene Mädchen in so reizender Heiterkeit sah, ließ ich ihn ruhig weiterfahren. Immerhin war ich entschlossen, ihn sofort umkehren zu lassen, wenn die Schöne mir sagen würde: »Jetzt ist’s genug.«

Diese Worte erwartete ich jedoch vergeblich, und wir waren bereits eine halbe Meile gefahren, als sie zu sprechen begann.

»Ich habe so gelacht! Und ich lache noch, wenn ich daran denke, wie meine Mutter diese Laune auslegen wird; denn ich hatte es mir vorher nicht überlegt, als ich in den Wagen stieg. Außerdem habe ich über den Postillon gelacht, der doch gewiß nicht auf Ihren Befehl mit mir losgefahren ist.«

»Dessen können Sie sicher sein.«

»Meine Mutter wird aber das Gegenteil glauben, und gerade darum finde ich es so komisch.«

»Es ist auch komisch, und ich bin sehr damit zufrieden, übrigens, meine liebe Redegonda, werde ich Sie nun mit mir nach Braunschweig nehmen, denn Sie werden in meinem Wagen viel besser aufgehoben sein als in solch einem scheußlichen Postkarren.«

»Es würde mich ja sehr freuen; aber das hieße doch den Spaß ein bißchen zu weit treiben. Wir werden beim ersten Pferdewechsel Halt machen und auf der Post warten.«

»Das steht in Ihrem Belieben; aber Sie werden mich entschuldigen, wenn ich mich darauf nicht einlasse.«

»Wie? Sie würden den Mut haben, mich ganz allein sitzen zu lassen?«

»Sie wissen, reizende Redegonda, daß ich Sie immer geliebt habe; daher bin ich denn auch bereit, Sie nach Braunschweig zu bringen – das wiederhole ich Ihnen!«

»Wenn Sie mich lieben, werden Sie warten und mich in die Arme meiner Mutter führen, die schon in Verzweiflung sein muß.«

Anstatt traurig zu werden, fing der junge Tollkopf zu lachen an. Als ich sie so lustig sah, beschloß ich, sie mit mir nach Braunschweig zu nehmen.

Auf der Station waren keine Pferde. Ich setzte mich mit dem Postillon ins Einvernehmen, und nachdem wir die Pferde sich hatten ausruhen lassen, fuhren wir wieder ab. Da die Wege entsetzlich waren, kamen wir erst mit Einbruch der Nacht bei der zweiten Station an.

Wir hätten dort übernachten können; ich wollte aber nicht angeführt werden, und da ich wußte, daß der Postkarren vor Mitternacht ankommen und daß dann die Mutter sich ihrer Tochter bemächtigen würde, so befahl ich frische Pferde und ließ Redegonda jammern und bitten, soviel sie wollte. Wir fuhren die ganze Nacht hindurch und kamen in aller Frühe in Lippstadt an, wo ich trotz der unpassenden Stunde eine Mahlzeit auftragen ließ. Redegonda hatte ebenso, wie ich, Schlaf nötig, aber sie mußte sich fügen, als ich ihr schmeichelnd sagte, wir würden in Minden schlafen. Sie schalt nicht mehr, sondern lächelte; ich sah, daß sie wußte, was ihrer dort wartete. Sobald wir angekommen waren, aßen wir zu Abend und gingen dann wie Mann und Frau zu Bett. Wir waren fünf Stunden zusammen. Sie war vollkommen gut und ließ sich nur der Form wegen ein bißchen bitten.

Nach einer zu kurzen Nacht fuhren wir von Minden weiter bis Hannover, wo wir in einem ausgezeichneten Gasthof ganz vorzüglich aßen. Ich traf dort den Kellner, der in Zürich gewesen war, als ich die Solothurner Damen bei Tisch bedient hatte. Miß Chudleigh hatte in dem hannoverschen Gasthof mit dem Herzog von Kingston gespeist und war dann nach Berlin weitergefahren.

Wir bekamen für die Nacht ein herrliches französisches Bett und erwachten am anderen Morgen erst von dem Rasseln des Postkarrens. Redegonda wollte nicht in meinen Armen überrascht werden; sie klingelte schnell dem Kellner und befahl ihm, er solle die Frau, die mit dem Postkarten angekommen sei und ohne Zweifel zu ihr geführt werden wolle, nicht einlassen. Vergebliche Vorsicht – denn in dem Augenblick, wo der Kellner hinausging, traten Mutter und Sohn ein und ertappten uns in flagrante delitto.

Ich befahl dem Sohn, draußen zu warten, stand im Hemde auf und verschloß meine Tür. Die Mutter erging sich in bitteren Klagen gegen mich und ihre Tochter und drohte mir mit strafrechtlichen Verfolgungen, wenn ich sie ihr nicht herausgäbe.

Schließlich gelang es Redegonda, sie zu beruhigen, indem sie ihr die Geschichte erzählte. Die Mutter glaubte oder tat wenigstens so, als wenn sie glaubte, daß das Ganze ein Zufall sei; aber sie sagte zu ihr: »Ich will gern glauben, daß es sich so verhält; aber du kannst nicht leugnen, Spitzbübin, daß du bei ihm geschlafen hast.«

»Das ist allerdings etwas anderes, aber Sie wissen wohl, liebe Mama, daß man im Schlaf nichts Böses tut.«

Ohne ihr Zeit zur Antwort zu lassen, fiel sie ihr um den Hals, herzte und küßte sie und versprach ihr, im Postwagen mit ihr nach Braunschweig zu fahren.

Nachdem diese Vereinbarung getroffen war, zog ich mich an. Ich gab ihnen ein gutes Frühstück und reiste dann nach Braunschweig ab, wo ich einige Stunden vor ihnen ankam.

Redegonda benahm mir die Lust, den Besuch bei Gabriele zu machen, den ich mir vorgenommen hatte; außerdem hätte in dem Zustande, worin ich mich befand, mein Selbstgefühl viel zu leiden gehabt.

Sobald ich mich in einem guten Gasthaus eingerichtet hatte, ließ ich Daturi meine Ankunft melden. Er kam sofort, elegant gekleidet, und zeigte großen Eifer, mich dem prachtliebenden Signor Nicolini vorzustellen, dem Direktor des Stadt- und Hoftheaters. Dieser Nicolini war ein ausgezeichneter Theaterdirektor; er erfreute sich der vollsten Huld des freigebigen Fürsten, dessen Geliebte seine Tochter Anna war, und lebte in Braunschweig mit einem gewissen Luxus. Ich wurde mit großer Auszeichnung und Herzlichkeit von ihm empfangen. Er wollte mich durchaus bewegen, eine Wohnung in seinem schönen Hause anzunehmen; es gelang mir jedoch, mich dieser lästigen Einladung zu entziehen, ohne ihn durch meine Ablehnung zu kränken. Dagegen nahm ich seine Einladung zur Tafel an, die wegen seines ausgezeichneten Kochs und noch mehr wegen der liebenswürdigen Gesellschaft, die er jeden Tag bei sich versammelte, meiner Aufmerksamkeit sehr würdig war. Die Gaste zeichneten sich nicht durch Titel und Ordensbänder aus und hatten nicht jene servilen und zugleich hochmütigen Hofmanieren, die mir langweilig sind und jedes Vergnügen töten – sondern es waren talentvolle Herren und Damen, deren Vereinigung ein entzückendes Gemälde bot.

Ich war noch nicht ganz genesen, und ich war nicht reich; sonst hätte ich mich länger in Braunschweig aufgehalten; denn dieser Ort hatte viele Reize für mich.

Am dritten Tage nach meiner Ankunft in Braunschweig kam Redegonda zu Nicolini, da sie wußte, daß ich bei ihm zu Mittag speisen würde. Wie es zuging, weiß ich nicht, aber alle Welt wußte, daß sie mit mir von Wesel nach Hannover gereist war, und jeder zog daraus die Schlüsse, die ihm beliebten.

Zwei Tage später kam der preußische Thronfolger von Potsdam an, um seine künftige Gemahlin zu besuchen; sie war die Tochter des regierenden Herzogs, und er heiratete sie im folgenden Jahre.

Der Hof gab prachtvolle Feste, und der Erbprinz, der jetzige regierende Herzog, erwies mir die Ehre, mich dazu einzuladen. Ich hatte Seine Hoheit am Tage nach seiner Aufnahme in die Londoner Bürgerschaft bei dem großen Picknick in Soho-Square kennen gelernt.

Es war zweiundzwanzig Jahre her, daß ich Daturis Mutter geliebt hatte. Ich war neugierig, welche Verwüstungen die Zeit an ihrer Schönheit angerichtet haben möchte, und suchte sie daher auf. Ich mußte jedoch bedauern, daß ich sie genötigt hatte, meinen Besuch anzunehmen; denn sie war sehr häßlich geworden. Sie wußte dies, und eine gewisse Scham malte sich auf ihren entstellten Zügen. Ich habe die Bemerkung gemacht, daß eine Frau mit ausgeprägten Zügen gewöhnlich sehr schnell häßlich wird und dann schrecklich anzusehen ist.

Der Fürst hatte ein kleines, aber sehr gut ausgebildetes Heer von sechstausend Mann Infanterie. Es fand auf einer Ebene dicht bei der Stadt eine Revue über diese Truppen statt. Ich bekam Lust, mir dies Schauspiel anzusehen, und ging daher hin. Es regnete den ganzen Tag. Trotzdem waren viele vornehme Zuschauer da: viele Damen in schönen Toiletten, der ganze Adel und eine Menge Ausländer. Ich sah die ehrenwerte Miß Chudleigh, die mir die Ehre erwies, das Wort an mich zu richten und mich unter anderem fragte, seit wann ich London verlassen hätte. Miß Chudleigh war nur mit einem einfachen Kleide von indischem Musselin bedeckt und trug darunter nur ein Hemd, das offenbar von Batist war; der Regen hatte diese leichte Kleidung an ihren Körper angeklebt, so daß sie schlimmer als nackt aussah. Dies schien sie jedoch nicht verlegen zu machen. Die anderen Damen fanden unter eleganten Zelten Schutz vor der Sintflut.

Die Truppen, die das schlechte Wetter nichts anging, exerzierten und schossen zur Zufriedenheit der Kenner.

Da ich in Braunschweig nichts zu tun hatte, so gedachte ich mich nach Berlin zu begeben, um dort den Sommer angenehmer zu verbringen als in einer kleinen Stadt. Ich brauchte einen Überzieher und kaufte das Tuch dazu bei einem Juden, der sich erbot, mir Wechsel zu diskontieren, wenn ich welche hätte. Ich hatte den Wechsel bei mir, den die Gräfin du Rumain mir geschickt hatte, und da es mir bequem war, Gold dafür einzutauschen, so zog ich ihn aus meiner Brieftasche und gab ihn dem Israeliten. Er zahlte mir den Betrag aus, indem er den bei Wechseln auf die Bank von Amsterdam üblichen Abzug von zwei vom Hundert machte. Da der Wechsel an die Ordre des Chevalier von Seingalt ausgestellt war, girierte ich ihn mit diesem Namen.

Ich dachte schon nicht mehr an die Sache, als am anderen Morgen zu ziemlich früher Stunde derselbe Jude in mein Zimmer trat und mich aufforderte, ihm sein Geld zurückzugeben oder für den Wert meines Wechsels Sicherheit zu bestellen, bis mit der Post die Nachricht käme, ob mein Wechsel angenommen und bezahlt worden wäre.

Beleidigt über die Frechheit dieses Pilatus und sicher, daß mein Wechsel in Ordnung war, sagte ich ihm: »Sie haben nichts zu befürchten. Ich bitte Sie, mich in Ruhe zu lassen; ich werde durchaus keine Sicherheit stellen.«

»Ich verlange unbedingt mein Geld oder Sicherheit,« antwortete der Unverschämte, »sonst werde ich Sie verhaften lassen, denn Sie sind bekannt.«

Das Blut stieg mir in den Kopf; ich ergriff meinen Stock und gab ihm eine Tracht Prügel, die er sicherlich mehr als einen Tag gefühlt hat. Hierauf kleidete ich mich an und speiste bei Nicolini, ohne ein Wort von meinem Erlebnis zu sagen.

Am nächsten Tag machte ich einen Spaziergang vor der Stadt und begegnete dem Prinzen zu Pferde, nur von einem Reitknecht begleitet. Ich machte ihm meine Verbeugung; er ritt an mich heran und sagte: »Sie stehen also im Begriff abzureisen, Herr Chevalier.«

»Ich gedenke in etwa zwei oder drei Tagen abzureisen, gnädiger Herr.«

»Das habe ich heute früh von einem Juden gehört, der sich bei mir beklagt hat, weil Sie ihm Stockschläge gegeben haben. Er forderte eine Sicherstellung für einen Wechsel, gegen dessen Echtheit man ihm Bedenken erregt hat.«

»Gnädiger Herr, ich kann für meine Entrüstung nicht einstehen, wenn ein solcher Kerl zu mir kommt und mich in meinem eigenen Zimmer zu beleidigen wagt; aber ich weiß, daß meine Ehre mir verbietet, meinen Wechsel wieder zu nehmen oder Sicherheit zu bestellen. Der Unverschämte hat mir gedroht, er werde meine Abreise verhindern; aber ich weiß, daß nur ungerechte Willkür dem Verlangen dieses erbärmlichen Menschen nachkommen könnte.«

»Es wäre allerdings ungerecht; aber er hat eben Angst, seine hundert Dukaten zu verlieren.«

»Er wird sie nicht verlieren, gnädiger Herr, denn der Wechsel ist von einer ehrenwerten Person von hohem Range gezogen.«

»Das freut mich. Der Jude sagt, er würde Ihnen den Wechsel nicht diskontiert haben, wenn Sie nicht meinen Namen genannt hätten.«

»Das ist eine freche Fälschung der Wahrheit, gnädiger Herr: der Name Eurer Hoheit ist nicht aus meinem Munde gekommen.«

»Er sagt, Sie haben den Wechsel mit einem Namen giriert, der nicht der Ihrige ist.«

»Auch das ist falsch, gnädiger Herr; denn ich habe Seingalt unterzeichnet, und dieser Name ist mein eigener.«

»Kurz und gut, es handelt sich um einen geprügelten Juden, der angeführt zu sein glaubt. Der Kerl tut mir leid, und ich will es lieber verhindern, daß er nach Mitteln sucht, Sie zum Hierbleiben zu zwingen, bis er erfährt, daß Ihr Wechsel in Amsterdam eingelöst ist. Ich werde ihn noch heute morgen bei ihm einlösen lassen, denn ich bezweifle nicht, daß der Wechsel vollkommen gut ist. Sie können also abreisen, wann es Ihnen beliebt. Leben Sie wohl, Herr von Seingalt, ich wünsche Ihnen eine glückliche Reise.«

Mit diesem Kompliment sprengte der Prinz davon, bevor ich Zeit gehabt hatte, ihm zu antworten.

Ich hätte ihm sagen können: indem er den Wechsel bei dem Juden einlöste, erweckte er den Glauben, daß er mir dadurch eine Gnade erwiese; zum großen Schaden meiner Ehre würde die ganze Stadt das glauben, wie der Jude; ich müßte ihm also dankbar sein, wenn er es nicht täte.

Aber es genügt nicht, ein Fürst zu sein, ein ausgezeichnetes Herz zu haben, freigebig und großmütig zu sein, wie der jetzige Herzog von Braunschweig es ist; man muß auch Takt und die nötigen Kenntnisse haben, um nicht das Zartgefühl eines Menschen zu verletzen, dem man ein unzweideutiges Zeichen von Achtung und Wohlwollen geben will. Dieser Fehler ist allen Prinzen gemein; er rührt von ihrer Erziehung her, die sie selten auf das Niveau des Lebens ihrer Mitmenschen erhebt oder, wenn man will, erniedrigt.

Hätte der Herzog von Braunschweig mich für einen unredlichen Menschen gehalten, so hätte er mich nicht schlechter behandeln können, als dadurch, daß er mir gewissermaßen andeutete, er verzeihe mir und nehme alle Folgen des von mir begangenen Schwindels auf sich. Dieser Gedanke ging mir im Kopf herum und ich sagte bei mir: »Vielleicht glaubt der Prinz dies wirklich. Warum mischt er sich in die Sache ein? Hat er etwa Mitleid mit dem Juden oder mit mir? Wenn mit mir, so fühle ich die Notwendigkeit, ihm eine Lehre zu geben, jedoch ohne ihn zu beschämen.«

Ich war sehr aufgeregt, denn mein Selbstgefühl war tief verletzt. Während ich langsam nach der Stadt zurückging, dachte ich über meine Lage nach, über das Benehmen des Herzogs und besonders über das Ende unseres Gesprächs. Ich fand seine Worte Gute Reise unter diesen Umständen höchst unangebracht; im Munde eines Prinzen, der bereits selber fast unumschränkter Regent war, erschien das Kompliment als ein Befehl zur Abreise, und darüber war ich entrüstet.

Der Gedanke ließ mich nicht los, und ich faßte endlich den Entschluß, den mir mein Selbstgefühl vorschrieb: weder abzureisen noch zu bleiben.

»Wenn ich bliebe,« sagte ich zu mir selber, »würde man das zugunsten des Juden auslegen; wenn ich abreiste, würde der Herzog denken, ich hätte mir sozusagen das Gnadengeschenk zunutze gemacht, das er mir dadurch erwiesen, daß er dem Juden fünfzig Louis bezahlen müßte, wenn mein Wechsel protestiert würde. Ich werde niemandem eine Genugtuung geben, die ich nicht schuldig bin.«

Nachdem ich diese Betrachtungen angestellt hatte, die mir sehr vernünftig zu sein schienen, obgleich mein Kopf damals noch nicht ganz gesund war, packte ich meinen Koffer, bestellte Pferde, aß gut zu Mittag, bezahlte meine Rechnung und fuhr, ohne mich von einem Menschen zu verabschieden, nach Wolfenbüttel. Ich wollte dort acht Tage zubringen, und war sicher, daß ich mich nicht langweilen würde, denn in Wolfenbüttel war die drittgrößte Bibliothek Europas, und ich hatte schon seit langer Zeit große Lust gehabt, sie näher zu untersuchen.

Der gelehrte Bibliothekar sagte mir bei meinem ersten Besuch mit großer Höflichkeit, die um so angenehmer wirkte, da sie ganz anspruchslos war: ein Mann werde den Auftrag erhalten, mir in der Bibliothek alle gewünschten Bücher zu bringen, außerdem aber werde man mir diese auch in meine Wohnung bringen, sogar die Handschriften, die den besonderen Reichtum dieses schönen Instituts bilden.

Ich verbrachte acht Tage in dieser Bibliothek, die ich nur verließ, um zum Essen und zum Schlafen in meinen Gasthof zu gehen. Ich kann diese acht Tage zu den glücklichsten meines Lebens zählen, denn ich war nicht einen Augenblick mit mir selber beschäftigt: ich dachte weder an die Vergangenheit noch an die Zukunft, und mein Geist, der sich vollständig in die Arbeit versenkt hatte, konnte die Gegenwart nicht bemerken. Ich habe seitdem zuweilen gedacht, daß vielleicht das Leben der Seligen etwas Ähnliches sein könnte; heute sehe ich, daß nur einige ganz unbedeutende Umstände hätten zusammenzuwirken brauchen, damit ich in dieser Welt ein wahrer Weiser statt eines wahren Toren gewesen wäre; denn zur Schande fast meines ganzen Lebens muß ich hier eine Wahrheit kundgeben, die meine Leser kaum glauben werden: die Tugend hat für mich immer viel mehr Reize gehabt als das Laster, und wenn ich einmal schlecht war, so war ich es nur aus Leichtsinn und Übermut; dies werden allerdings viele Leute ohne Zweifel sehr tadelnswert finden. Aber was macht mir das aus! Der Mensch ist über seine innerlichen Gefühle und moralischen Handlungen hienieden nur sich selber und nach seinem Tode nur Gott Rechenschaft schuldig.

Ich brachte von Wolfenbüttel eine große Menge Notizen über die Ilias und die Odyssee mit, die man bei keinem Scholiasten findet und die nicht einmal der große Pope kannte. Man findet einen Teil derselben in meiner Übersetzung der Ilias; der Rest wird hier in Dux bleiben und wahrscheinlich verloren gehen; ich selber werde nichts verbrennen, nicht einmal diese Erinnerungen, obgleich ich oft daran denke. Ich sehe voraus, daß ich niemals den richtigen Augenblick finden werde.

Nach acht Tagen fuhr ich nach Braunschweig zurück, stieg wieder in demselben Gasthof ab und ließ gleich nach meiner Ankunft meinem Paten Daturi Bescheid sagen.

Zu meiner großen Freude vernahm ich, daß niemand auf den Gedanken gekommen war, ich hätte eine Woche fünf Meilen von Braunschweig verbracht. Daturi sagte mir, in der Stadt sei das Gerücht verbreitet, ich hätte vor meiner Abreise den Wechsel von dem Juden wieder zurückgenommen; denn man hätte seitdem nichts wieder davon gehört. Ich war jedoch sicher, daß inzwischen die Antwort von Amsterdam eingetroffen war und daß der Erbprinz ganz genau wußte, daß ich die Zeit meiner Abwesenheit in Wolfenbüttel verbracht hattte.

Daturi sagte mir, man erwarte mich zum Essen bei Nicolini. Darauf hatte ich gerechnet; denn ich hatte von keinem Menschen Abschied genommen. Bei diesem Essen erhielt ich nun eine reiche Genugtuung: wir waren beim Braten, als ein Lakai des Prinzen mit dem von mir geprügelten Juden eintrat. Der arme Mensch kam mit der demütigsten Miene auf mich zu und sagte: »Ich komme auf Befehl, um Sie, mein Herr, sehr um Entschuldigung dafür zu bitten, daß ich die Echtheit Ihres Wechsels auf die Amsterdamer Bank angezweifelt habe. Ich bin dafür bestraft worden, indem ich die Provision verloren habe, die Sie mir bewilligt hatten.«

Ich antwortete ihm: »Ich wünschte, Sie hätten nur diese Strafe erhalten.«

Er machte mir eine tiefe Verbeugung, sagte, ich sei zu gütig, und ging hinaus.

In meinem Gasthof fand ich ein Briefchen von Redegonda, die mir die zärtlichsten Vorwürfe machte, daß ich während meines ganzen Aufenthaltes in Braunschweig sie nicht ein einziges Mal besucht hätte.

»Ich bitte Sie, bei mir in einem kleinen Häuschen zu frühstücken, das ich draußen vor der Stadt bewohne. Meine Mutter wird nicht dabei sein, wohl aber eine junge Dame, die Sie kennen, und die Sie, davon bin ich überzeugt, mit Vergnügen wiedersehen werden.«

Ich liebte Redegonda und hatte sie in Braunschweig nur darum vernachlässigt, weil ich mich nicht in der Laqe befand, ihr ein hübsches Geschenk machen zu können. Ich beschloß daher, ihrer Einladung Folge zu leisten, zumal da ich ein wenig neugierig war, was das für eine junge Dame sein möchte, von der sie sprach.

Pünktlich zur verabredeten Stunde fand ich mich ein. Redegonda war reizend; sie empfing mich in einem hübschen Salon im Erdgeschoß und hatte eine junge Virtuosa bei sich, die ich kurz vor meiner Einkerkerung unter den Bleidächern als Kind gekannt hatte. Ich tat, wie wenn ich sie mit Vergnügen wiedersähe, beschäftigte mich aber hauptsächlich nur mit Redegonda, der ich viele Komplimente über ihre hübsche Wohnung machte. Sie sagte mir, sie habe sie auf sechs Monate gemietet, benutze sie aber nicht zum Übernachten.

Nachdem wir den Kaffee getrunken hatten, wollten wir gerade ausgehen, um einen Spaziergang zu machen, als der Prinz eintrat, der sich mit einem angenehmen Lächeln bei Redegonda entschuldigte, daß er zufällig unsere Unterhaltung gestört habe.

Das Erscheinen des Prinzen klärte mich über die Stellung meiner liebenswürdigen Landsmännin auf, und ich begriff nun, warum sie in ihrem Briefe die Stunde meines Besuches so genau angegeben hatte. Redegonda hatte bereits die Eroberung des liebenswürdigen Fürsten gemacht, der stets galant war, aber im ersten Jahre seiner Ehe mit einer Schwester des Königs von England sich verpflichtet glaubte, auf diesen Abwegen der Liebe sein Inkognito zu wahren.

Wir gingen eine Stunde lang spazieren und unterhielten uns von London und Berlin, aber vom Wechsel und vom Juden wurde kein Wort gesprochen. Er war entzückt von meinem Lobe seiner Wolfenbüttler Bibliothek und lachte herzlich, als ich ihm sagte, ohne die geistige Nahrung würde ich infolge des schlechten Essens in meinem Gasthof um die Hälfte abgemagert sein.

Nachdem er seine Nymphe sehr freundlich gegrüßt hatte, verließ er uns, stieg wieder zu Pferde und sprengte davon.

Ich dachte nicht daran, Redegonda um neue Liebesbezeigungen zu bitten, sondern riet ihr im Gegenteil, dem Prinzen, den ihre Reize gefesselt hatten, treu zu bleiben; sie wollte jedoch nicht zugeben, daß irgendein Verhältnis bestehe, obwohl doch der Augenschein keine Täuschung zuließ. Das gehörte nun einmal zu ihrer Rolle, und ich nahm es ihr daher weiter nicht übel.

Nachdem ich den Rest des Tages in meinem Gasthof verbracht hatte, fuhr ich am anderen Morgen in aller Frühe ab.

In Magdeburg überbrachte ich einem Offizier einen Brief, den General Bekw…. mir für ihn gegeben hatte. Er zeigte mir die ganze Festung und behielt mich drei Tage bei sich. Ich genoß die Freuden der Tafel, der Liebe und des Spiels, aber ich war nüchtern, schonte meine Gesundheit und vermehrte meine Barschaft in bescheidener Weise, da ich mir bescheidene Grenzen gesetzt hatte.

Von Magdeburg fuhr ich geraden Weges nach Berlin, ohne mich in Potsdam aufzuhalten; denn der König war nicht da. Die erbärmlichen Wege auf dem preußischen Sandboden waren schuld, daß ich drei Tage brauchte, um achtzehn deutsche Meilen zurückzulegen. Preußen ist ein Land, wo Gewerbefleiß und Gold Wunder wirken könnten; aber ich bezweifle, daß man jemals ein wohlhabendes Land daraus machen wird.

Ich stieg im Hotel de Paris ab, wo ich alles so fand, wie es für meine Ansprüche und für meine Börse paßte. Die Inhaberin, Madame Rufin, war eine ausgezeichnete Wirtin von echt französischer Liebenswürdigkeit; sie hatte es verstanden, ihren Gasthof in guten Ruf zu bringen. Nachdem ich mich in einem sehr schönen Zimmer eingerichtet hatte, kam sie zu mir und fragte mich, ob ich zufrieden sei. Wir trafen genaue Abmachungen über alles. Sie hielt Table d’hôte, und die Gäste, die auf ihrem Zimmer aßen, zahlten das Doppelte.

»Diese Einrichtung«, sagte ich zu ihr, »mag für Sie bequem sein, mir aber paßt sie augenblicklich nicht. Ich will auf meinem Zimmer essen, aber nicht das Doppelte bezahlen; ich werde bezahlen, wie wenn ich an der Table d’hôte äße, stelle Ihnen jedoch frei, mir nur die Hälfte der Speisen auftragen zu lassen.«

»Ich bin damit einverstanden, aber unter der Bedingung, daß Sie mit mir zu Abend speisen; dies geht obendrein, und Sie werden bei meinem kleinen Souper nur liebenswürdige Freunde finden.«

Ich fand den Vorschlag so eigentümlich, daß ich beinahe laut herausgelacht hätte; da ich ihn aber zugleich sehr vorteilhaft fand, so nahm ich ihn an und dankte ihr so herzlich und freundschaftlich, wie wenn wir uns schon seit langen Jahren gekannt hätten.

Da ich an diesem Tage ruhebedürftig war, aß ich erst am nächsten Abend bei ihr. Frau Rufin hatte einen Mann, der die Küche besorgte, und einen Sohn; beide kamen niemals zum Abendessen. Als ich zum ersten Male daran teilnahm, fand ich einen alten Herrn, der sehr vernünftige Ansichten und ein sehr angenehmes Benehmen hatte; er wohnte in dem Zimmer neben mir und war ein Baron von Treidel. Seine Schwester hatte den Herzog von Kurland, Johann Ernst Birlen oder Biron, geheiratet. Dieser sehr liebenswürdige Baron wurde mein Freund und blieb es während der zwei Monate, die ich in Berlin verbrachte. Ferner fand ich einen Hamburger Kaufmann, Namens Greve, nebst seiner Frau, die er kurz vorher geheiratet hatte. Er war mit ihr nach Berlin gekommen, um ihr die Wunder des kriegerischen Hofstaats zu zeigen. Die junge Frau war ebenso liebenswürdig wie ihr Mann, und ich machte ihr eifrig, aber in allen Ehren, den Hof. Der vierte war ein sehr fröhlicher Herr, namens Noël; er war der einzige Koch Seiner Preußischen Majestät, die sehr große Stücke auf ihn hielt. Dieser Herr Noël kam nur selten zum Abendessen bei seiner Landsmännin und guten Freundin, denn sein Amt fesselte ihn an die Küche des Königs, der nicht wie ein Lukullus lebte: er hatte, wie gesagt, nur diesen einen Koch, und Noël hatte nur einen einzigen Gehilfen oder Küchenjungen.

Herr Noël, der Gesandte der französischen Republik im Haag, ist, wie man mir versichert hat, der Sohn dieses Kochs, der übrigens ein sehr liebenswürdiger Mann war. Beiläufig möchte ich bemerken, daß ich trotz meinem Abscheu vor dem französischen Direktorium es durchaus nicht übel finde, wenn ein verdienstvoller Mann, ohne Rücksicht auf seine Geburt, für die er ja nicht kann, zu Ämtern verwandt wird, die gewöhnlich nur den privilegierten Ständen offen stehen und oft genug von Dummköpfen verwaltet werden.

Ohne den Vater Noël, oder vielmehr ohne die Geschicklichkeit dieses Kochkünstlers, würde der berühmte atheistische Arzt Lamettrie nicht an einer Magenüberladung gestorben sein; denn die Pastete, von der er bei Lord Tyrconel im Übermaß aß, war von Noël zubereitet worden.

Lamettrie speiste oft bei Madame Rufin, und ich bedauerte sehr, daß er so früh gestorben war; denn ich hätte ihn gerne kennen gelernt, da er gelehrt und außerordentlich fröhlich war. Er starb lachend, obgleich man behauptet, daß es keine schmerzhaftere Todesart gebe als die infolge einer Magenüberladung. Voltaire sagte mir, er glaube nicht, daß es einen entschiedeneren Atheisten gegeben habe als Lamettrie, und jedenfalls keinen mit gründlicheren Kenntnissen; ich war davon überzeugt, nachdem ich seine Werke gelesen hatte. Der König von Preußen hielt in eigener Person in der Akademie die Leichenrede auf diesen Arzt und sagte: es sei nicht zu verwundern, daß Lamettrie nur die Materie habe gelten lassen; denn allen Geist, den es gebe, habe er selber besessen. Nur ein König kann sich in einer ernsten Leichenrede einen solchen Witz erlauben. Dies beweist aber zur Genüge, daß der große Mann als Redner kein Wort von dem glaubte, was er sagte. Übrigens war der große Friedrich niemals Atheist – er war Deist; darauf kommt es jedoch weniger an, da der Glaube an einen Gott niemals seine Lebensweise noch seine Handlungen beeinflußt hat. Man behauptet, ein Atheist, der sich mit Gott beschäftige, sei besser als ein Christ, der niemals an ihn denke. Ich möchte diese Frage nicht entscheiden.

Der erste Besuch, den ich in Berlin machte, galt Herrn Casalbigi, dem jüngeren Bruder dessen, mit dem ich mich im Jahre 1757 in Paris zusammengetan hatte, um dort Lotterien einzurichten. Dieser Casalbigi, den ich in Berlin traf, hatte Paris und seine Frau, die sogenannte Generalin La Motte, verlassen, um in Brüssel die Lotterie einzurichten. Dort hatte er zu luxuriös gelebt und im Jahre 1762 Bankerott gemacht, obgleich Graf Cobenzl alles aufgeboten hatte, um ihn zu halten. Er hatte fliehen müssen, war mit einer ziemlich guten Ausstattung nach Berlin gekommen und hatte sich dem König von Preußen vorgestellt. Da er gut zu sprechen wußte, gelang es ihm, den Herrscher zu überreden, die Lotterie in seinem Staate einzuführen, ihm die Leitung anzuvertrauen und ihm den Titel eines Staatsrats zu geben. Er versprach Seiner Majestät einen Jahresgewinn von mindestens zweihundeittausend Talern und verlangte für sich selber nur zehn Prozent von der Einnahme und die Kosten der Verwaltung.

Seit zwei Jahren war die Lotterie eingerichtet. Sie ging gut, denn bis dahin hatte noch keine unglückliche Ziehung stattgefunden. Der König war jedoch immer in Angst, weil er wußte, daß dieser Fall eintreten konnte. Um dieser Angst ein Ende zu machen, sagte er Casalbigi, er wolle die Lotterie nicht mehr auf seine eigene Rechnung führen; er überlasse sie ihm und begnüge sich in Zukunft mit hunderttausend Talern jährlich. Soviel kostete ihm sein italienisches Theater jährlich.

Ich machte bei Casalbigi meinen ersten Besuch gerade an dem Tage, wo der König ihm seinen Entschluß hatte mitteilen lassen. Nachdem wir von unseren früheren Beziehungen und von den Wechselfällen unseres Lebens gesprochen hatten, erzählte er mir von dem Ereignis, das ihm ganz unerwartet kam. Er sagte mir, die nächste Ziehung gehe noch für Rechnung des Königs; er müsse jedoch durch öffentliche Anschläge das Publikum davon in Kenntnis setzen, daß vom nächsten Ziehungstage an der König nichts mehr damit zu tun habe. Er brauche ein Grundkapital von zwei Millionen Talern; denn sonst werde die Lotterie nicht bestehen können, weil natürlich kein Mensch spielen würde, wenn er nicht die sichere Gewißheit hätte, daß er im Falle eines Gewinnes sein Geld erhalten würde. Er versprach mir zehntausend Taler jährlich, wenn es mir gelänge, den König zur Zurücknahme seines Entschlusses zu bewegen. Um mich zu ermutigen, erinnerte er mich daran, daß ich vor sieben Jahren gleich nach meiner Ankunft in Paris das Talent besessen hätte, den ganzen Rat der Militärschule von der Gewißheit des Gewinnes zu überzeugen. »Es ist ein deutliches Zeichen von den Göttern,« rief er, »und es ist kein Aberglaube, wenn ich annehme, daß der Schutzgeist der Lotterie Sie in diesem Augenblick nach Berlin geführt hat.«

Ich lachte über seine Illusionen und bedauerte ihn. Ich bewies ihm die Unmöglichkeit, jemanden zu überzeugen, der auf alle Gründe mit dem Gegengrunde antwortet: »Ich habe Furcht und ich will nicht mehr Furcht haben.«

Er bat mich, zum Essen zu bleiben, und stellte mich seiner Frau vor. Diese Vorstellung bereitete mir eine doppelte Überraschung: die erste, weil ich glaubte, daß die Generalin la Motte noch am Leben sei; die zweite, als ich in der neuen Frau Casalbigi Fräulein Bélanger erkannte. Ich richtete die üblichen Komplimente an sie und erkundigte mich dann nach ihrer Mutter. Sie stieß einen tiefen Seufzer aus und bat mich, nicht von ihrer Familie zu sprechen, denn sie würde mir nur Unglück mitzuteilen haben.

Ich hatte Frau Bélanger in Paris kennen gelernt; sie war die Witwe eines Börsenmaklers, hatte nur eine einzige Tochter und schien wohlhabend zu sein. Als ich nun diese ziemlich hübsche Tochter verheiratet sah und sich über ihr Schicksal beklagen hörte, war ich ein wenig in Verlegenheit; doch war meine Neugier ebenso groß. Nachdem Casalbigi mich instand gesetzt hatte, ein sehr günstiges Urteil über seinen Koch abzugeben, wollte er mir auch die Güte seiner Pferde und die Schönheit seines Wagens zeigen. Er bat mich, seine Gemahlin auf ihrer Spazierfahrt zu begleiten und dann zum Abendessen zu bleiben, denn das Abendessen sei seine beste Mahlzeit.

Als wir im Wagen saßen, fragte ich sie gesprächsweise, welcher glücklichen Fügung sie es verdanke, mit Casalbigi vermählt zu sein.

»Seine Frau lebt noch, ich habe also nicht das Unglück, seine Gattin zu sein, aber in Berlin hält mich jedermann dafür. Vor drei Jahren sah ich mich plötzlich meiner Mutter beraubt und von allen Mitteln entblößt; denn meine Mutter lebte von einer Leibrente. Da ich keine reichen Verwandten hatte, von denen ich Hilfe erwarten konnte, und eine solche Hilfe nicht um den Preis meiner Ehre erkaufen wollte, lebte ich zwei Jahre lang vom Verkauf der Möbel und anderer Sachen, die meiner verstorbenen Mutter gehört hatten. Ich wohnte bei einer guten Frau, die vom Sticken lebte. Ich lernte von ihr sticken und ging nur Sonntags aus, um die Messe zu besuchen. Ich wurde von Traurigkeit verzehrt, doch verlor ich die Hoffnung nicht. Je mehr mein kleines Vermögen zusammenschmolz, desto fester hoffte ich auf die Hilfe der Vorsehung; als ich aber meinen letzten Heller ausgegeben hatte, empfahl ich mich Herrn Brea aus Genua, den ich für unfähig hielt, mich zu täuschen. Ich mußte ihn bitten, mir eine Stellung als gewöhnliches Kammermädchen zu verschaffen, wofür ich die nötigen Fähigkeiten zu besitzen glaubte. Er versprach mir, sich damit zu beschäftigen, und nach fünf oder sechs Tagen machte er mir einen Vorschlag: er zeigte mir einen Brief von Casalbigi, den ich nie gekannt hatte, und der ihn beauftragte, ihm eine anständige junge Dame von guter Geburt und Erziehung und von angenehmem Gesicht nach Berlin zu schicken; er habe die Absicht, sie zu heiraten, sobald seine alte und krante Frau nicht mehr lebe. Da die gewünschte Person wahrscheinlich nicht reich sein werde, bat er Herrn Brea, ihr fünfzig Louis zu geben, um ihre Toilette in Ordnung zu bringen, und weitere fünfzig Louis, um mit einer Zofe nach Berlin zu reisen. Herr Brea hatte ferner Vollmacht, sich im Namen Casalbigis gesetzlich zu verpflichten, daß das Fräulein in Berlin als seine Gemahlin empfangen werden und als solche allen, die in seinem Hause verkehrten, vorgestellt werden sollte; außerdem sollte das Fräulein eine Kammerzofe nach ihrer eigenen Wahl haben, dazu Wagen und Pferde, angemessene Garderobe und monatlich eine gewisse Summe als Nadelgeld, worüber sie nach ihrem Belieben verfügen könnte. Er verpflichtete sich, sie nach einem Jahre freizulassen, wenn seine Gesellschaft ihr nicht gefiele; in diesem Falle würde er ihr hundert Louis geben, und sie könnte alle Ersparnisse und die von ihm geschenkten Sachen behalten. Wenn das Fräulein einverstanden wäre, so lange bei ihm zu bleiben, bis er sie heiraten könnte, würde er ihr zehntausend Taler verschreiben, die als ihr Heiratsgut zu gelten hätten; sollte er aber vorher sterben, so würde sie das Recht haben, sich diese zehntausend Taler von seiner Hinterlassenschaft auszahlen zu lassen.

»Mit allen diesen schönen Versprechungen wußte Brea mich zu überreden, mein Vaterland zu verlassen, um mich hier zu entehren; denn obgleich mir alle Welt die Ehre erweist, die man einer anständigen Frau zugesteht, so weiß man doch wahrscheinlich nur zu gut, was ich tatsächlich bin. Vor sechs Monaten bin ich hier angekommen, und ich war noch nicht einen Augenblick glücklich.«

»Aber hat er denn nicht die Abmachungen gehalten, die zwischen Ihnen und Brea vereinbart wurden?«

»Ich bitte um Verzeihung – eine erschütterte Gesundheit gestattet Casalbigi nicht, darauf zu hoffen, daß er seine Frau überleben werde; wenn er aber vor ihr stirbt, habe ich nichts; denn die zehntausend Taler, die er mir verschrieben hat, sind alsdann kein Heiratsgut. Er ist überschuldet und bei der Verteilung seiner Hinterlassenschaft werden seine anderen Gläubiger mir vorgehen. Außerdem ist er mir unerträglich, gerade weil er mich zu sehr liebt. Sie werden mich wohl verstehen. Er tötet sich bei Kleinem, und gerade das macht mich untröstlich.«

»Auf alle Fälle können Sie in sechs Monaten nach Paris zurückkehren oder sonst tun, was Sie wollen, sobald das Jahr des Vertrages abgelaufen ist. Sie werden hundert Louis erhalten und eine schöne Ausrüstung besitzen.«

»Dann werde ich mich gerade erst recht entehren, einerlei ob ich nach Paris zurückkehre oder ob ich hier bleibe. Ich bin recht unglücklich, soviel ist sicher, und der gute Brea ist schuld daran. Trotzdem kann ich es ihm nicht übel nehmen, denn er wußte ohne Zweifel nicht, daß sein Freund hier nur Schulden hat. Jetzt, da der König seine Garantie zurückziehen will, wird die Lotterie zusammenkrachen, und Casalbigis Bankerott wird die unausbleibliche Folge davon sein.«

In der Erzählung des armen Mädchens war nichts übertrieben, und ich mußte zugeben, daß sie zu beklagen war. Ich riet ihr, sie solle Casalbigis Verschreibung der zehntausend Taler zu verkaufen suchen; denn er könne dagegen nichts einzuwenden haben.

»Ich habe auch daran gedacht,« antwortete sie mir; »aber dafür würde ich einen Freund nötig haben, denn ich sehe voraus, daß ich den Schein nur mit großem Verlust werde verkaufen können.«

Ich versprach ihr, daran zu denken.

Beim Abendessen waren wir zu vieren. Der vierte war ein junger Mann, der bei der Lotterie in Paris, später in Brüssel angestellt gewesen war; er war Casalbigis Glücksstern nach Berlin gefolgt. Er war in die Bélanger verliebt, schien mir jedoch kein glücklicher Liebhaber zu sein.

Beim Nachtisch bat Casalbigi mich um meine Meinung über einen von ihm niedergeschriebenen Plan, den er veröffentlichen wollte, um sich die zwei Millionen zu verschaffen, deren er zur Aufrechterhaltung seines Kredits bedurfte.

Die Dame des Hauses zog sich zurück, damit wir ungestört beraten könnten. Diese Frau, die etwa vierundzwanzig oder fünfundzwanzig Jahre alt sein mochte, hatte alles, was nötig war, zu gefallen; sie glänzte zwar nicht durch ihren Geist, aber sie hatte ein weltgewandtes Benehmen, und das ist bei einer Frau mehr wert als Geist. Sie flößte mir durch ihr Vertrauen, das sie mir entgegenbrachte, nur Gefühle der Achtung und Freundschaft ein, und das war mir lieb.

Casalbigis Plan war kurz, aber klar und deutlich abgefaßt. Er lud alle Kapitalisten von öffentlich bekanntem Vermögen ein, nicht etwa in der Lotteriekasse einen Betrag in barem Gelde einzuzahlen, sondern mit ihren Namen für irgendeine beliebige Summe zu zeichnen, für die sie unzweifelhaft gut sein würden. Sollte der Fall eintreten, daß die Lotterie einen Verlust erlitte, so würde jeder im Verhältnis zur garantierten Summe seinen Anteil beizutragen haben, und in demselben Verhältnis würden die Gewinne unter allen Bürgen verteilt werden.

Ich versprach ihm, meine Bemerkungen zu seinem Plane ihm am nächsten Tage schriftlich mitzuteilen. Der Plan, den ich an die Stelle des seinigen setzte, lautete folgendermaßen:

1. Ein Grundkapital von einer Million müßte genügen.

2. Diese Million müßte in hundert Aktien zu je zehntausend Taler geteilt werden.

3. Jeder Aktionär müßte sich vor einem bestimmten Notar verpflichten, und dieser Notar müßte für die Aktien, das heißt für die Zahlungsfähigkeit des Aktionärs, bürgen.

4. Die Dividende würde stets am dritten Tage nach der Ziehung verteilt werden.

5. Im Falle eines Verlustes müßte der Aktionär den Betrag seiner Aktie ergänzen und zwar wieder vor dem Notar.

6. Ein Kassierer, der von vier Fünfteln der Aktionäre erwählt würde, müßte den Lotteriekassierer kontrollieren, in dessen Händen die baren Geldeinnahmen stets verblieben.

7. Die Gewinne würden am Tage nach der Ziehung ausbezahlt werden.

8. Am Tage vor der Ziehung würde der Kassierer der Lotterie das eingenommene bare Geld dem Kassierer der Aktionäre vorzählen; dieser würde die Kasse mit drei Schlüsseln verschließen. Einen von diesen würde er behalten, den zweiten bekäme der zweite Kassierer und den dritten der Direktor der Lotterie.

9. Einsätze würden nur für Auszug, Ambo und Terno angenommen; Quaterno und Quino würden unterdrückt, weil diese beiden Kombinationen zu große Verluste ermöglichen könnten.

10. Der Einsatz auf die drei Kombinationen: Auszug, Ambo und Terno dürfte nicht weniger als vier Groschen und nicht mehr als einen Taler betragen; die Annahmestelle würde vierundzwanzig Stunden vor der Ziehung geschlossen.

11. Der zehnte Teil der Einnahme würde Casalbigi als Generaldirektor der Lotterie gehören; dafür hätte er aber alle Verwaltungskosten zu übernehmen.

12. Er sollte das Recht haben, zwei Aktien zu besitzen, ohne daß ein Notar für seine Zahlungsfähigkeit bürgte.

Ich sah an Casalbigis Gesicht, daß mein Plan ihm nicht gefiel, und prophezeite ihm, daß er Aktionäre nur zu diesen Bedingungen oder zu noch weniger günstigen finden werde.

Er hatte aus der Lotterie eine Art Biribi gemacht; sein Luxus erregte Anstoß; man wußte, daß er überschuldet war, und der König mußte natürlich befürchten, daß früher oder später irgend eine Gaunerei vorfallen würbe, obwohl er einen Kontrolleur hatte, der rechnen konnte.

Die letzte Ziehung, die unter der Garantie des Königs stattfand, erregte die Heiterkeit der ganzen Stadt: denn die Lotterie verlor zwanzigtausend preußische Taler. Der König schickte den Betrag sofort seinem Geheimrat Casalbigi; er sollte, als er das Resultat der Ziehung vernommen hatte, laut aufgelacht und gesagt haben: »Ich hatte es ja vorausgesehen, und ich danke dem Zufall, daß ich so billig davon gekommen bin.«

Ich glaubte, zum Abendessen zum Direktor gehen zu müssen, um ihn zu trösten. Er war ganz bestürzt; denn er stellte die sehr natürliche, aber auch sehr unangenehme Betrachtung an, daß es infolge dieser unglücklichen Ziehung noch schwieriger sein werde, reiche Leute zu finden, die die Mittel für die Lotterie hergeben könnten. Es war das erste Mal, daß die Lotterie verlor, aber dieser Unfall konnte wirklich nicht ungelegener kommen.

Casalbigi verlor trotzdem nicht den Mut; gleich am nächsten Tage tat er neue Schritte und benachrichtigte das Publikum durch einen gedruckten Anschlag: Die Annahmestellen würden geschlossen bleiben, bis man neue Mittel beschafft habe, um die Spieler sicher zu stellen, die auch in Zukunft ihr Geld riskieren wollten.

Neunzehntes Kapitel


Mylord Keith. – Audienz beim König von Preußen im Park von Sanssouci. – Meine Unterhaltung mit dem Monarchen. – Die Denis. – Die pommerschen Kadetten. – Lambert. – Reise nach Mitau. – Meine ausgezeichnete Aufnahme bei Hofe und meine Reise zum Zwecke von Verwaltungsstudien.

Am fünften Tage nach meiner Ankunft in Berlin stellte ich mich dem Lord Marishal vor, der seit dem Tode seines Bruders Mylord Keith genannt wurde. Ich hatte ihn zum letzten Male in London gesehen, als er von Schottland zurückreiste; man hatte ihm die Familiengüter zurückgegeben, die von der Regierung konfisziert worden waren, als er und sein Bruder dem König James folgten. Er verdankte die Wiedereinsetzung in seinen Besitz dem Einfluß des Großen Friedrich. Mylord Keith lebte damals in Berlin, wo er auf seinen Lorbeeren ausruhte und sich des Friedens erfreute. Er war immer noch ein Liebling des Königs, mischte sich aber wegen seines hohen Alters in keine Hofangelegenheiten mehr ein.

Er sagte mir in der ihm eigenen einfachen Art, er sehe mich mit Vergnügen wieder; hierauf fragte er mich, ob ich die Absicht habe, eine Zeitlang in Berlin zu bleiben. Da er zum Teil die Wechselfälle meines Lebens kannte, so antwortete ich ihm, ich würde mich gern dauernd niederlassen, wenn der König mir eine Anstellung gäbe, die meinen Kenntnissen entspräche. Als ich ihn aber um seine Protektion zur Erlangung einer solchen Stellung bat, antwortete er mir: »Ich würde Ihnen mehr schaden als nützen, wenn ich versuchen wollte, den König vorher zu Ihren Gunsten zu beeinflussen. Seine Majestät tut sich nämlich etwas darauf zugute, ein ganz besonderer Menschenkenner zu sein, und urteilt daher gern nach eigener Überzeugung. So kommt es denn ziemlich oft vor, daß er Verdienste entdeckt, wo kein Mensch solche auch nur vermutet hätte, und umgekehrt. Ich rate Ihnen, dem König zu schreiben, daß Sie nach der Ehre einer Unterredung streben. Wenn Sie mit ihm sprechen, können Sie ihm beiläufig sagen, daß Sie mich kennen, und ich zweifle nicht, daß er mir dann Gelegenheit geben wird, von Ihnen zu sprechen; Sie können sich denken, daß meine Auskunft Ihnen nicht schaden wird.«

»Ich, Mylord, soll an einen König schreiben, zu dem ich nicht die geringsten Beziehungen habe? Ein solcher Schritt ist mir nie in den Sinn gekommen.«

»Das glaube ich wohl, aber wünschen Sie nicht mit ihm zu sprechen?«

»Gewiß.«

»Nun, da haben Sie ja die Beziehungen. Ihr Brief braucht weiter nichts zu enthalten, als daß Sie ihn zu sprechen wünschen.«

»Wird der König mir antworten?«

»Ohne allen Zweifel; denn er antwortet einem jeden. Er wird Ihnen mitteilen, wo und zu welcher Stunde er Sie empfangen will. Folgen Sie meinem Rat! Seine Majestät ist jetzt in Sanssouci. Ich bin neugierig auf das Gespräch, das Sie mit dem Herrscher haben werden, der, wie Sie sehen, keine Furcht hat, daß ihm jemand blauen Dunst vormacht.«

Ich ging nach Hause, setzte mich an meinen Schreibtisch und schrieb dem König einen ganz einfachen und sehr ehrfurchtsvollen Brief, in dem ich fragte, wo und wann ich mich Seiner Majestät vorstellen dürfte.

Am zweiten Tage darauf erhielt ich einen Brief mit der Unterschrift Frédéric; man bestätigte mir den Empfang meines Briefes und teilte mir mit, daß der König sich um vier Uhr im Park von Sanssouci befinden würde.

Wie man sich denken kann, war ich pünktlich zur Stelle. In einen einfachen schwarzen Anzug gekleidet, begab ich mich um drei Uhr nach Sanssouci. Im Schloßhof sah ich keinen Menschen, nicht einmal eine Schildwache; ich ging eine kleine Treppe hinauf, öffnete eine Tür und befand mich in einer Bildergalerie. Der Aufseher kam auf mich zu und erbot sich, mich zu führen. Ich antwortete ihm: »Ich komme nicht, um diese Meisterwerke der Malerei zu bewundern, sondern um den König zu sprechen, der mir geschrieben hat, daß er im Park sein werde.«

»Er ist in diesem Augenblick bei seinem kleinen Konzert, wo er die Flöte spielt. Das tut er jeden Tag nach Tisch. Hat er Ihnen die Stunde bezeichnet?«

»Ja, um vier Uhr; aber er wird es vergessen haben.«

»Der König vergißt niemals etwas; er wird pünktlich sein, und Sie tun gut, wenn Sie ihn im Park erwarten.«

Ich befand mich seit einigen Augenblicken im Park, als ich ihn mit seinem Vorleser und einer hübschen Windhündin erscheinen sah. Sobald er mich bemerkte, ging er auf mich zu, nahm seinen alten Hut ab, nannte meinen Namen und fragte mich in barschem Ton, was ich von ihm wollte. Überrascht von diesem Empfang, konnte ich kein Wort hervorbringen; ich sah ihn nur an, ohne ihm zu antworten.

»Nun, so sprechen Sie doch! Haben Sie mir denn nicht geschrieben?«

»Ja, Sire; aber ich erinnere mich an nichts mehr. Ich konnte wohl glauben, daß die Majestät eines Königs mich nicht blenden würde! Doch in Zukunft soll mir dies nicht wieder begegnen. Mylord Marishal hätte mich warnen sollen.«

»Er kennt Sie also? Wir wollen ein wenig gehen. Worüber wollten Sie mit mir sprechen? Was sagen Sie zu meinem Park?«

Während er mich fragt, worüber ich mit ihm sprechen wolle, befiehlt er mir zugleich, mein Urteil über seinen Park zu sagen! Jedem anderen hätte ich geantwortet, daß ich nichts davon verstände; aber da der König geruhte, mich für einen Kenner zu halten, so hätte es ausgesehen, wie wenn ich ihm unrecht geben wollte, und das verzeiht ein König niemals, selbst wenn er ein Philosoph ist. Auf die Gefahr hin, einen schlechten Geschmack zu zeigen, antwortete ich daher, ich fände den Garten prachtvoll.

»Aber der Park von Versailles ist doch viel schöner.«

»Allerdings Sire, aber hauptsächlich wegen der Wasserkünste.«

»Ganz recht; aber das ist nicht meine Schuld: hier gibt es kein Wasser. Ich habe mehr als dreihunderttausend Taler ausgegeben, um Wasser zu bekommen; aber ohne Erfolg.«

»Dreihunderttausend Taler, Sire! Wenn Eure Majestät die ganze Summe auf einmal ausgegeben hätten, müßte Wasser da sein.«

»Ah, ich sehe, Sie sind Ingenieur, der sich mit Hydraulik befaßt.«

Hätte ich ihm sagen sollen, daß er sich täuscht? Ich fürchtete ihm zu mißfallen und senkte nur den Kopf; das hieß weder ja noch nein. Glücklicherweise dachte der König nicht daran, mit mir über diesen Gegenstand zu sprechen; so blieb mir eine große Verlegenheit erspart, denn ich kannte nicht einmal die ersten Anfangsgründe dieser Wissenschaft.

Während wir gingen, drehte er fortwährend den Kopf nach rechts und nach links; er fragte mich, welche Streitkräfte Venedig im Kriegsfalle zu Wasser und zu Lande habe. Hier befand ich mich, Gott sei Dank, auf sicherem Boden!

»Zwanzig Schlachtschiffe, Sire, und eine große Menge Galeren.«

»Und wieviele Landtruppen?«

»Siebzigtausend Mann, Sire; lauter Untertanen der Republik, auf jedes Dorf nur einen einzigen Mann gerechnet.«

»Das ist nicht wahr. Sie wollen mich wohl zum Lachen bringen, indem Sie mir derartige Fabeln erzählen? Aber Sie sind sicherlich Finanzmann. Sagen Sie nur, was Sie von der Steuer halten?«

Es war die erste Unterredung, die ich mit einem König hatte. Es kam mir vor, wie wenn ich eine Szene in einer italienischen Komödie zu spielen hätte, wo der Schauspieler zu improvisieren hat und, wenn er stecken bleibt, sofort ausgepfiffen wird. Ich legte also mein Gesicht in würdige Falten und antwortete dem stolzen Herrscher, ich könnte über die Theorie der Steuer sprechen.

»Das will ich ja gerade; denn die Praxis geht Sie nichts an.«

»Im Hinblick auf die Wirkungen sind drei Arten von Steuern zu unterscheiden: die eine ist verderblich; die zweite leider notwendig, die dritte stets ausgezeichnet.«

»Gut so. Nur weiter!«

»Die verderbliche Steuer ist die königliche; die notwendige ist die militärische; die ausgezeichnete ist die Steuer, die dem Volk zugute kommt.«

Da ich über das Thema nicht vorher nachgedacht hatte, so warf ich einige Gedanken hin, wie sie mir gerade in den Sinn kamen; dabei mußte ich aber doch vorsichtig sein und mich hüten, Unsinn zu sprechen.

Ich fuhr fort:

»Die königliche Steuer, Sire, ist diejenige, die die Börsen der Untertanen erschöpft, um die Geldkisten des Herrschers zu füllen.«

»Und diese Steuer ist stets verderblich, sagen Sie?«

»Stets, Sire; denn sie schadet dem Geldumlauf, der die Seele des Handels und die Stütze des Staates ist.«

»Aber Sie finden die Steuer notwendig, die zur Unterhaltung der Heere dient?«

»Sie ist leider notwendig. Leider – denn der Krieg ist ein Unglück.«

»Das kann wohl sein; und die Steuer, die dem Volk dient?«

»Diese ist stets ausgezeichnet; denn der König nimmt seinen Untertanen mit der einen Hand und gibt ihnen mit der anderen; dadurch erzieht er sie zu gemeinnützigem Denken. Er begründet die notwendigen gewerblichen Unternehmungen, beschützt Wissenschaften und Künste, die dazu beitragen, das Geld in Umlauf zu bringen; endlich erhöht er das allgemeine Wohlbefinden durch die Verordnungen, die ihm seine Weisheit eingibt, um diese Steuer so zu verwenden, wie sie den Massen am besten nützt.«

»Es liegt etwas Wahres darin. Sie kennen ohne Zweifel Casalbigi?«

»Ich muß ihn wohl kennen, Sire; denn vor sieben Jahren haben wir beide zusammen die Genueser Lotterie in Paris eingeführt.«

»Und zu welcher der drei Arten rechnen Sie diese Steuer? Denn Sie werden mir zugeben, daß die Lotterie eine Steuer ist.«

»Gewiß, und zwar keine von den unbedeutendsten. Es ist eine Steuer von der guten Art, wenn der König die Erträgnisse zu nützlichen Ausgaben verwendet.«

»Aber der König kann daran verlieren.«

»Einmal auf fünfzig.«

»Ist dies das Ergebnis einer sicheren Berechnung?«

»Einer so sicheren, Sire, wie alle nationalökonomischen Berechnungen sind.«

»Diese sind oft fehlerhaft.«

»Niemals, Sire, wenn Gott neutral bleibt.«

»Warum wollen Sie Gott hineinmischen?«

»Nun, dann also das Schicksal oder der Zufall, Sire.«

»Das lasse ich gelten. Übrigens denke ich vielleicht wie Sie über Wahrscheinlichkeitsrechnungen; aber Ihre Genueser Lotterie liebe ich nicht. Sie scheint mir eine richtige Gaunerei zu sein, und ich möchte nichts von ihr wissen, selbst wenn ich die tatsächliche Sicherheit hätte, daß ich niemals verlieren könnte.«

»Eure Majestät denken wie ein Weiser; denn das unwissende Volk kann nur in der Lotterie spielen, wenn es sich von einem blinden und ungerechtfertigten Vertrauen hinreißen läßt.«

Nach diesem etwas zusammenhanglosen Dialog, der dem hohen Geiste des erlauchten Herrschers alle Ehre machte, brachte er das Gespräch noch auf verschiedene Themata, aber er fand mich um die Antworten nicht verlegen. Als wir bei einem Rundtempel mit doppelter Säulenreihe angekommen waren, blieb er vor mir stehen, sah mich vom Kopf bis zu den Füßen an und sagte nach einigen Sekunden:

»Wissen Sie, Sie sind ein sehr schöner Mann.«

»Ist es möglich, Sire, daß Eure Majestät nach einer langen wissenschaftlichen Unterhaltung an mir den geringsten der Vorzüge bemerken können, durch die Ihre Grenadiere sich auszeichnen?«

Der König lächelte fein, aber freundlich und gütig und sagte dann zu mir: »Da Lord Keith Sie kennt, werde ich mit ihm über Sie sprechen.«

Hierauf nahm er seinen Hut ab – mit dieser Höflichkeit geizte er überhaupt gegen keinen Menschen – und grüßte mich. Ich machte ihm eine tiefe Verbeugung und entfernte mich.

Drei oder vier Tage darauf machte Lord Marishal mir die angenehme Mitteilung, daß ich dem König gefallen hätte und daß Seine Majestät daran dächte, mir irgendeine Anstellung zu geben.

Ich war sehr neugierig, für was für eine Stellung der Herrscher mich ausersehen haben könnte, und da ich es durchaus nicht eilig hatte, anderswohin zu gehen, so beschloß ich zu warten. Übrigens gefiel es mir in Berlin nicht schlecht; denn wenn ich nicht bei Casalbigi zu Abend speiste, hatte ich an der Tafel meiner Wirtin die angenehme Gesellschaft des Barons von Treidel; außerdem war der Sommer sehr schön, und ich verbrachte angenehme Stunden im Tiergarten, wo ich mich für gewöhnlich mehr mit meiner Vergangenheit als mit meiner Zukunft beschäftigte, obwohl an der einen nichts mehr zu ändern, die andere aber sehr ungewiß war.

Casalbigi erhielt ohne Mühe die Erlaubnis, die Lotterie für seine eigene Rechnung fortzusetzen oder für Rechnung des ersten besten, der ihm für jede Ziehung sechstausend Taler zahlen wollte. Er erließ die dreiste Ankündigung, daß die Lotterie auf seine eigene Rechnung ginge, machte seine Annahmestellen wieder auf und sah seine Kühnheit vom Glück gekrönt. Obgleich sein Kredit sehr schlecht war, strömten ihm die Spieler in solcher Menge zu, daß er einen Gewinn von fast hunderttausend Talern hatte. Er benutzte diesen, um einen großen Teil seiner Schulden zu bezahlen, und löste die Verschreibung von zehntausend Talern ein, die er seiner Geliebten gegeben hatte. Nach dieser glücklichen Ziehung fand er ohne jede Mühe Bürgen für eine Million Taler, die in tausend Aktien geteilt wurden, und die Lotterie ging zwei oder drei Jahre lang ohne jeden Unfall weiter. Schließlich machte Casalbigi aber doch Bankerott und starb ziemlich arm in Italien. Man konnte ihn mit dem Faß der Danaiden vergleichen: je mehr er verdiente, desto mehr gab er aus. Seine Geliebte wußte die günstigen Umstände zur rechten Zeit zu benützen: sie machte eine vorteilhafte Heirat und kehrte nach Paris zurück, wo sie in angenehmen Verhältnissen lebt.

Zu jener Zeit machte Friedrichs Schwester, die Herzogin von Braunschweig, dem König einen Besuch; sie war von ihrer Tochter begleitet, die im folgenden Jahre den Thronfolger von Preußen heiratete. Aus diesem Anlaß kam der König nach Berlin und ließ auf seiner kleinen Bühne in Charlottenburg eine italienische Oper aufführen. Ich sah an diesem Tage den König von Preußen in einem Rock von Glanzseide, der an allen Nähten mit Gold gestickt war, und in schwarzseidenen Strümpfen. Seine Erscheinung war geradezu komisch; er glich mehr einem Theatergroßpapa als einem Herrscher. Den Hut unterm Arm betrat er den Saal, seine Schwester an der Hand führend. Alle Zuschauer betrachteten ihn mit dem größten Erstaunen, denn nur alte Leute konnten sich erinnern, ihn ohne seinen Uniformrock und seine hohen Stiefel gesehen zu haben.

Ich wußte nicht, daß die berühmte Denis in Berlin war; so war ich denn sehr angenehm überrascht, als ich sie im Ballett auftreten und einen Solotanz zum Entzücken tanzen sah. Ich konnte Anspruch darauf machen, für einen alten Bekannten zu gelten, und bekam daher Lust, ihr gleich am nächsten Tage einen Besuch zu machen.

Ich muß meinen Lesern – vorausgesetzt, daß ich überhaupt jemals Leser habe – ein Geschichtchen aus meiner Jugend erzählen: Als in meinem zwölften Jahre meine Mutter im Begriff stand, nach Dresden abzureisen, wo sie eine Stelle am kurfürstlichen Theater erhalten hatte, ließ sie mich mit meinem guten Doktor Gozzi nach Venedig kommen. Dort sah ich mit Herzklopfen im Theater ein achtjähriges kleines Mädchen ein Menuett mit einer Anmut tanzen, die alle Zuschauer zu stürmischem Beifall hinriß. Diese junge Tänzerin, die Tochter des Schauspielers, der die wichtige Rolle des Pantalon spielte, bezauberte mich dermaßen, daß ich der Versuchung nicht widerstehen konnte, in ihr Ankleidezimmer zu gehen und ihr mein Kompliment zu machen. Ich trug damals die Soutane, und sie war sehr überrascht, als ihr Vater ihr befahl, aufzustehen und mich zu umarmen. Sie tat es jedoch mit großer Anmut, während ich diese unschuldige Gunstbezeigung sehr linkisch empfing. Aber ich war so entzückt, daß ich mich nicht enthalten konnte, von einer Juwelenhändlerin, die gerade da war, einen kleinen Ring zu kaufen, den ich ihr anbot und den sie mit großer Freude annahm. Ich wurde von ihr durch einen Kuß belohnt, den sie mir in der Freude des Herzens und als Zeichen ihrer Dankbarkeit gab.

Das schönste dabei war, daß die Zechine, die der Ring mir gekostet hatte, dem Doktor gehörte. Ich fühlte mich daher, als ich wieder zu ihm in die Loge ging, sehr unbehaglich; denn trotz meiner Liebe zu der kleinen Virtuosa fühlte ich, daß ich eine große Dummheit gemacht hatte – erstens, indem ich über Geld verfügte, das mir nicht gehörte; zweitens, weil ich es wie ein rechter Tor ausgegeben hatte, um bloß einen einfachen Kuß dafür zu erhalten.

Da ich wußte, daß ich am nächsten Morgen Rechenschaft über das mir anvertraute Geld abzulegen hatte, und da ich nicht wußte, wie ich mir eine Zechine verschaffen oder wie ich den Verlust beschönigen sollte, so verbrachte ich eine sehr unruhige Nacht. Am anderen Morgen wurde alles entdeckt, und meine Mutter gab dem Doktor die Zechine. Heute muß ich lachen, indem ich daran denke, wie rot ich damals über meine kindliche Galanterie wurde, die übrigens ein frühes Zeichen der Herrschaft war, die das schöne Geschlecht dereinst über mich ausüben sollte.

Die Händlerin, die mir im Theater den Ring verkauft hatte, kam zu uns, als wir beim Mittagessen saßen, und zeigte ihre Schmucksachen. Als man diese zu teuer fand, fing sie an, mich zu loben, und sagte, ich hätte den Ring nicht teuer gefunden, den ich der kleinen Giovannina geschenkt hätte. Weiter war nichts nötig, um mir meinen Prozeß zu machen. Ich befand mich wie auf glühenden Kohlen, glaubte aber der Sache ein Ende machen zu können, indem ich um Verzeihung bat, alle Schuld auf die Liebe schob und meiner Mutter fest versprach, es solle der letzte Fehltritt sein, den ich aus Liebe begehen werde. Kaum aber sprach ich das Wort Liebe aus, so lachte die ganze Gesellschaft laut auf und machte sich in grausamer Weise über mich lustig. Ich hätte mich am liebsten in die Erde verkrochen und nahm mir innerlich fest vor, es sollte das letzte Mal sein, daß ich mich solchen Unannehmlichkeiten aussetzen würde. Man weiß, wie ich Wort gehalten habe.

Die kleine Pantalons-Tochter war eine Patin meiner Mutter; obgleich ich ihretwegen der Liebe ewigen Haß geschworen hatte, schmachtete ich doch nach ihr. Meine Mutter hatte sie gern, und als sie meinen Kummer sah, gab sie mir die Zechine und fragte mich, ob es mir lieb wäre, wenn sie sie zum Abendessen einlüde. Meine Großmutter war vernünftiger oder strenger: sie erhob Widerspruch, und ich war ihr dafür dankbar.

Am Tage nach diesem komischen Auftritt reiste ich nach Padua zurück, wo ich über Bettina bald meine kleine Tänzerin vergaß. Ich hatte sie seitdem nicht wiedergesehen, bis wir uns dann in Charlottenburg trafen. Es waren siebenundzwanzig Jahre seitdem vergangen. Es drängte mich, sie unter vier Augen wiederzusehen und von ihr zu hören, ob sie sich dieser Geschichte noch erinnerte; denn daß sie mich selber wiedererkennen sollte, hielt ich nicht für wahrscheinlich. Ich erkundigte mich, ob ihr Mann, Denis, bei ihr wäre, und ich erfuhr, daß der König ihn ausgewiesen habe, weil er sie mißhandelte.

Ich ließ mich also gleich am nächsten Tage zu ihr führen und wurde von ihr sehr freundlich und höflich empfangen; sie sagte mir jedoch, sie glaube nicht das Vergnügen gehabt zu haben, mich schon früher zu kennen.

Ich erzählte ihr nun alles mögliche Gute von ihrer Familie, sprach von ihrer Patin, von ihrer Kindheit und von der rührenden Anmut, womit sie Venedig durch ihren Menuettanz entzückt habe, und erregte dadurch ihre lebhafteste Teilnahme. Sie unterbrach mich und rief: »Ich war damals nur sechs Jahre alt.«

»Sie können nicht älter gewesen sein; denn ich selber war erst zehn Jahre alt; trotzdem verliebte ich mich leidenschaftlich in Sie. Ich konnte damals meine Gefühle nicht äußern, aber ich habe niemals den Kuß vergessen, den Sie mir auf Befehl Ihres Vaters zum Lohn für ein kleines Geschenk gaben.«

»Schweigen Sie! Sie gaben mir einen Ring, der mir große Freude machte, und der Kuß, den ich Ihnen darauf gab, war nicht von meinem Vater befohlen worden. Sie waren damals als Abbate gekleidet. Ich habe Sie niemals vergessen. Aber ist es möglich, daß Sie das sind? Das freut mich sehr. Aber da ich Sie nicht wiedererkenne, so ist es unmöglich, daß Sie mich erkennen!«

»Allerdings hätte ich Sie gewiß nicht wiedererkannt, wenn ich nicht Ihren Namen gehört hätte.«

»In zwanzig Jahren, mein lieber Freund, ändert sich das Gesicht.«

»Sagen Sie lieber, meine Freundin: mit sechs Jahren sind die Züge noch nicht ausgebildet.«

»Sie können mir also bezeugen, daß ich erst sechsundzwanzig Jahre alt bin, zum Trotz den boshaften Zungen, die behaupten wollen, daß ich zehn Jahre älter sei.«

»Man muß die bösen Zungen reden lassen, meine liebe Freundin. Sie stehen in der Blüte Ihrer Jahre und sind zur Liebe geschaffen. Ich halte mich für den glücklichsten aller Menschen, Ihnen sagen zu können, daß Sie das erste Weib sind, das mir echte Liebe eingeflößt hat.«

Eine Unterhaltung dieser Art mußte uns bald in eine gerührte Stimmung bringen; aber die Erfahrung hatte uns beide gelehrt, daß es für den Augenblick besser sei, es dabei bewenden zu lassen und zu warten.

Die Denis war noch jung, schön und frisch, sie unterschlug zehn Jahre ihres Alters, obgleich sie sich in bezug auf mich keiner Täuschung hingeben konnte; trotzdem verlangte sie, daß ich ihr recht geben sollte oder wenigstens so täte. Sie würde mich verabscheut haben, wenn ich ihr dummerweise eine Tatsache hätte nachweisen wollen, die sie besser wußte als ich, die sie aber sich selber nicht gestehen wollte, damit niemand das Recht hätte, ihr etwas darüber zu sagen. Ohne Zweifel lag ihr wenig daran, was ich vielleicht darüber dächte; vielleicht bildete sie sich ein, daß ich ihr dankbar dafür sein müßte, da sie durch diese Lüge, die bei einer Frau ihres Berufes sehr unschuldiger Art war, mich selber ermächtigte, mich um zehn Jahre jünger zu machen, damit mein Alter zu dem ihrigen paßte. Daraus machte ich mir allerdings gar nichts. Die Verheimlichung ihres Alters ist für Theaterdamen gewissermaßen eine Pflicht; denn sie wissen, daß trotz allen ihren Talenten das Publikum ihnen niemals verzeiht, daß sie zu früh geboren sind.

Die Aufrichtigkeit, womit sie ihre kleine Schwäche vor mir enthüllt hatte, schien mir ein gutes Vorzeichen. Ich zweifelte nicht, daß ihre Güte meine Liebe dulden würde, und hoffte, daß sie mich nicht lange würde schmachten lassen. Sie zeigte mir ihr Haus, das ich in jeder Beziehung mit gesuchter Eleganz eingerichtet fand. Ich fragte sie, ob sie einen Freund hätte, und sie antwortete mir lächelnd:

»Ganz Berlin glaubt es, aber man täuscht sich gerade über den Hauptpunkt, denn mein Freund ist mir mehr ein Vater als ein Liebhaber.«

»Sie verdienen aber doch einen wirklichen Liebhaber zu haben; es erscheint mir unmöglich, daß Sie eines solchen entbehren können.«

»Ich versichere Ihnen, ich mache mir nichts daraus. Ich leide an Krämpfen, die mich unglücklich machen. Ich wollte nach Teplitz gehen und die Bäder gebrauchen, die ganz ausgezeichnet gegen Nervenkrankheiten sein sollen, aber der König hat mir die Erlaubnis verweigert; ich hoffe diese im nächsten Jahre zu erhalten.«

Ich war entflammt, sie sah es, und ich glaubte zu bemerken, daß sie mir für meine Zurückhaltung Dank wußte. Ich fragte sie: »Könnte es Ihnen unangenehm sein, wenn ich Sie häufig besuchte?«

»Wenn es Ihnen nicht mißfällt, lieber Freund, werde ich mich für Ihre Nichte oder für Ihre Base ausgeben, und dann könnten wir uns sehen.«

»Aber, liebes Herz, wissen Sie auch, daß es wohl wahr sein kann? Ich möchte nicht darauf schwören, daß Sie nicht meine Schwester sind!«

Dieser Scherz brachte unser Gespräch auf die Freundschaft zwischen ihrem Vater und meiner Mutter. Wir erwiesen uns Liebkosungen, die unter nahen Verwandten ganz unverdächtig sind; als wir jedoch fühlten, daß ich zu weit gehen würde, trennten wir uns. Sie begleitete mich bis an die Treppe und fragte, ob ich am nächsten Tage bei ihr zu Mittag essen wollte; natürlich lehnte ich nicht ab.

Ganz erhitzt kam ich in meinen Gasthof zurück; ich dachte über die eigentümlichen Verknüpfungen nach, die aus meinem Leben eine ununterbrochene Kette von Ereignissen machten. Wenn ich alles in allem rechnete, glaubte ich der ewigen Vorsehung dafür dankbar sein zu müssen, denn schließlich mußte ich anerkennen, daß ich unter einem glücklichen Stern geboren war.

Als ich mich am nächsten Tage zu Madame Denis begab, fand ich bereits die ganze Gesellschaft versammelt, die bei ihr speisen sollte. Der erste, der auf mich zukam und mich wie einen alten Bekannten umarmte, war ein junger Tänzer, namens Aubry, den ich in Paris als Opernstatisten und später in Venedig gekannt hatte. Er war dadurch berühmt geworden, daß er gleichzeitig der Liebhaber einer der vornehmsten Damen Venedigs und der Liebling ihres Gatten gewesen war. Man behauptete, diese skandalöse Verbindung sei so innig gewesen, daß Aubry zwischen den beiden Gatten geschlafen habe. Nach Schluß der Opernsaison schickten die Staatsinquisitoren ihn nach Triest. Er stellte mich seiner Frau vor, die ebenfalls Tänzerin war und sich La Santina nannte. Er hatte sie in St. Petersburg geheiratet; sie kamen von dort und wollten den Winter in Paris verbringen. Nach Aubry sah ich einen dicken Herrn auf mich zukommen, der mir die Hand entgegenstreckte und mir sagte: »Wir sind seit fünfundzwanzig Jahren Freunde; aber Sie waren damals so jung, daß Sie mich wohl nicht erkennen können. Wir haben uns in Padua beim Doktor Gozzi kennen gelernt: ich bin Giuseppe da Loglio.«

»Ich erinnere mich: Sie waren damals bei der Kapelle der Kaiserin von Rußland als geschickter Cellist.«

»Ganz recht; jetzt kehre ich in die Heimat zurück, um sie nicht wieder zu verlassen. Ich habe die Ehre, Ihnen meine Frau vorzustellen; sie ist in Petersburg geboren als Tochter des ersten Geigers Madonis, der in ganz Europa berühmt ist. In acht Tagen werde ich in Dresden sein und die große Freude haben, Signora Casanova, Ihre Mutter, zu umarmen.«

Ich war entzückt, mich in Gesellschaft von Leuten zu finden, die mir so gut gefielen; aber ich sah, daß Erinnerungen, die über ein Vierteljahrhundert reichten, meiner reizenden Denis nicht lieb waren. Ich schnitt daher die indiskreten Erinnerungen ab und brachte das Gespräch auf die Petersburger Ereignisse, die die große Katharina auf den Thron gebracht hatten.

Da Loglio sagte uns: »Ich war so ein bißchen in die Verschwörung verwickelt und habe nun den sehr vernünftigen Entschluß gefaßt, meinen Abschied zu erbitten. Zum Glück hatte ich schon seit langer Zeit mit dieser Notwendigkeit gerechnet, und so bin ich jetzt in der Lage, in Italien als unabhängiger Mann von meinem Vermögen bequem leben zu können.«

Die Denis erzählte hierauf: »Vor acht Tagen erst hat man mir einen Piemontesen, namens Audar, vorgestellt, der die Verschwörung zum großen Teil angesponnen und geleitet hat. Er erhielt von der Kaiserin ein Geschenk von hunderttausend Rubeln und den Befehl, Rußland unverzüglich zu verlassen.«

Ich habe seither erfahren, daß dieser Audar sich ein Landgut in Piemont kaufte und sich ein schönes Haus bauen ließ, worin er zwei oder drei Jahre später vom Blitz erschlagen wurde. Wenn ihn eine allmächtige Hand damit traf, so war es gewiß nicht die des Schutzgeistes von Rußland, die den Tod Peters des Dritten hätte rächen wollen; denn wenn dieser unglückselige Monarch am Leben geblieben wäre, würde er die Zivilisation des moskowitischen Reiches um ein Jahrhundert verzögert haben.

Die Kaiserin Katharina, welcher Rußland die größte Dankbarkeit schuldet, belohnte mit großartiger Freigebigkeit alle Ausländer, die ihr beigestanden waren, um sich eines Gatten zu entledigen, der ihr Feind und der Feind seines Sohnes und seines ganzen Volkes war; sie zeigte sich erkenntlich gegen alle Russen, die ihr die Hand reichten, damit sie den Thron besteigen konnte. Alle russischen Großen, die sie im Verdacht hatte, keine Freunde von Revolutionen zu sein, schickte sie als gute Politikerin auf Reisen.

Da Loglio und seine Frau brachten mich auf den Gedanken, nach Rußland zu gehen, falls der König von Preußen mir keine Anstellung nach meinen Wünschen geben sollte. Sie versicherten mir, daß ich dort mein Glück machen würde, und gaben mir gute Empfehlungen.

Nachdem der wirklich liebenswürdige da Loglio Berlin verlassen hatte, wurde ich der Vertraute und zärtliche Freund der Denis. Unsere Vertraulichkeit begann, als sie nach einem Abendessen von Krämpfen ergriffen wurde, die die ganze Nacht dauerten. Ich ging nicht einen Augenblick von ihrer Seite, und als sie am Morgen sich wieder ganz wohl fühlte, vollendete die Dankbarkeit, was die Liebe sechsundzwanzig Jahre vorher begonnen hatte, und unser Liebesverhältnis dauerte bis zu meiner Abreise von Berlin. Wir werden diese reizende Frau sechs Jahre später in Florenz wiederfinden.

Einige Tage nach dem Beginn unseres Liebesverhältnisses war die Denis so freundlich, mit mir nach Potsdam zu fahren und mir dort alle Sehenswürdigkeiten zu zeigen. Unsere Vertraulichkeit konnte niemanden verletzen, denn sie galt allgemein für meine Nichte, und der General, der sie unterhielt, war davon überzeugt oder tat wenigstens als kluger Mann, wie wenn er nicht daran zweifelte.

Außer anderen Merkwürdigkeiten sah ich in Potsdam auch den König, der in eigener Person das erste Bataillon seiner Garde-Grenadiere kommandierte, das aus lauter auserwählten Männern besteht, die sich ebensosehr durch ihre Tapferkeit wie durch ihre Schönheit auszeichnen.

Das Zimmer, worin wir in unserem Gasthof wohnten, lag einem Korridor gegenüber, den der König durchschritt, wenn er das Schloß verließ. Da die Fensterläden geschlossen waren, erzählte unsere Wirtin uns, eine sehr hübsche Tänzerin, die Reggiana, die in unserem Zimmer gewohnt habe, sei eines Tages vom König im Zustande der reinen Natur bemerkt worden; diese Erscheinung habe die bescheidenen Blicke Seiner Majestät verletzt, und der König habe die Fensterläden schließen lassen; diese seien seitdem nicht wieder geöffnet worden, obgleich die Tänzerin schon seit vier Jahren nicht mehr da sei.

Der König hatte Furcht gehabt; denn er war von der Barbarina hart behandelt worden. Wir sahen im Schlafzimmer des Königs das Bildnis der Barbarina, das der Cochois, einer Schwester der Schauspielerin, die die Frau des Martin d’Argens wurde, und ein Porträt, das die Kaiserin Maria Theresia als junges Mädchen darstellte. Friedrich hatte sich in sie verliebt, weil er Kaiser zu werden wünschte.

Nachdem man die Schönheit und Eleganz der Schloßeinrichtung bewundert hatte, mußte man sich noch mehr über die Art und Weise wundern, wie der Herr untergebracht war: ein armseliges Zimmer; ein schmales Bett, das hinter einem Schirm stand. Kein Schlafrock, keine Pantoffeln. Der Kammerdiener zeigte uns eine alte Mütze, die der König aufsetzte, wenn er erkältet war. Er stülpte dann seinen Hut darüber; das mußte sehr unbequem sein. Vor einem Kanapee stand ein Tisch, der mit Papieren, Federn, einem Tintengeschirr und halbverbrannten Heften bedeckt war: dies war der Schreibtisch Seiner Preußischen Majestät. Der Kammerdiener sagte uns, diese Hefte seien die Geschichte des letzten Krieges; der Unfall, bei dem die Hälfte angebrannt seien, habe den König so sehr geärgert, daß er das Werk nicht fortgesetzt habe. Wahrscheinlich hat er die Arbeit später wieder aufgenommen; denn dieses Werk, dem man übrigens keinen großen Wert beimißt, wurde gleich nach dem Tode des Herrschers veröffentlicht.

Fünf oder sechs Wochen waren seit meiner eigentümlichen Unterhaltung mit dem König verflossen, als Lord Marishal mir mitteilte, Seine Majestät bewillige mir eine Stelle als Erzieher an einer soeben geschafften Kadettenschule für pommersche Junker. Die Gesamtzahl derselben war auf fünfzehn festgesetzt, und er wollte diesen fünf Erzieher geben. Jeder Gouverneur hätte also drei Kadetten gehabt; er erhielt sechshundert Taler Gehalt und dasselbe Essen wie die Kadetten. Die Gouverneure hatten die Verpflichtung, ihre Schüler überallhin zu begleiten; wenn sie zu Hofe gingen, mußten sie im Tressenrock erscheinen. Ich sollte mich unverzüglich entscheiden; denn die vier anderen waren bereits in ihr Amt eingesetzt, und der König wartete nicht gern. Ich fragte Lord Keith, wo die Anstalt sei, und versprach ihm eine Antwort für den nächsten Tag.

Ich bedurfte einer Kaltblütigkeit, die sonst nicht meine Art ist, um nicht über diesen sonderbaren Vorschlag eines sonst so weisen Mannes laut herauszulachen, aber meine Überraschung war noch viel größer, als ich die Behausung dieser fünfzehn Edelleute aus dem reichen Pommernlande sah: drei oder vier große Säle, fast ohne alle Möbel; mehrere Zimmer mit weißgetünchten Wänden, einem elenden kleinen Bett, einem Tisch und zwei Stühlen aus Fichtenholz. Die jungen Kadetten waren alle etwa zwölf bis dreizehn Jahre alt; sie waren schmutzig, schlecht frisiert und in eine ärmliche Uniform eingeschnürt, in der ihre ländlichen Gesichtszüge besonders hervortraten. Sie saßen in bunter Reihe mit den Gouverneuren, die ich für ihre Bedienten hielt, und die mich ganz verblüfft ansahen, da sie sich gar nicht vorstellen konnten, daß ich der zu ihrem Kollegen ausersehene neue Gouverneur wäre.

Im Augenblick, wo ich diesen armen Tröpfen auf Nimmerwiedersehen Lebewohl sagen wollte, sah einer von den Erziehern zum Fenster hinaus und rief: »Da kommt der König angeritten!«

Ich konnte ihm nicht gut ausweichen; übrigens war es mir auch ganz angenehm, ihn noch einmal zu sehen, besonders an diesem Ort.

Der König trat mit seinem Freunde Quintus Icilius ein, besah sich alles, blickte mich an, sagte mir aber kein Wort. Ich trug das brillantenbesetzte Kreuz meines Ordens um den Hals und hatte einen eleganten Taftanzug an. Aber ich mußte mir auf die Lippen beißen, um nicht laut aufzulachen, als ich den großen Friedrich wütend werden sah: sein Zorn galt einem Nachttopf, der unter einem Bett hervorsah und noch die Spuren einer gewissen Unreinlichkeit trug.

»Wem gehört dies Bett?« rief der Monarch.

»Mir, Eure Majestät«, sagte ein Kadett, an allen Gliedern zitternd.

»Gut; aber mit Ihm will ich nichts zu tun haben, wo ist sein Gouverneur?«

Der glückliche Gouverneur tritt vor, und der freundliche König nennt ihn einen Lümmel und wäscht ihm gehörig den Kopf. Zum Schluß sagte er ihm, er habe einen Bedienten zu seiner Verfügung und müsse daher auf Sauberkeit achten.

Diese ekelhafte Szene genügte mir; ich schlich mich leise hinaus und begab mich zu Lord Marishal, um ihm für das schöne Glück zu danken, das der Himmel mir durch seine Vermittlung zugedacht hatte. Der gute alte Herr fing an zu lachen, als ich ihm ausführlich den Auftritt erzählte, den ich soeben erlebt hatte. Er sagte mir, ich habe recht, wenn ich eine derartige Anstellung verschmähe. Trotzdem müsse ich mich aber beim König bedanken, bevor ich von Berlin fortgehe. Als ich ihm sagte, es widerstrebe mir, noch einmal vor einen Menschen zu treten, den ich so wenig zugänglich gefunden habe, nahm er es auf sich, Seiner Majestät meine Weigerung und meine Entschuldigung mitzuteilen.

Ich entschloß mich nun nach Rußland zu reisen und traf allen Ernstes meine Vorbereitungen. Baron Treidel bestärkte mich in meinem mutigen Entschluß, indem er sich erbot, mir eine Empfehlung an seine Schwester, die Herzogin von Kurland, mitzugeben. Ich schrieb Herrn von Bragadino, er möchte mir eine Empfehlung an einen Petersburger Bankier besorgen, der mir jeden Monat die Summe auszahlen würde, deren ich zu einem bequemen Lebensunterhalt bedürfte.

Anstandshalber mußte ich mit einem Bedienten reisen. Der Zufall übernahm es, mir einen solchen zu besorgen. Als ich eines Tages bei Frau Rufin war, trat ein junger Lothringer ein; er trug wie Bias seine ganze Habe bei sich, aber unter dem Arm. Er stellte sich mit folgenden Worten vor: »Madame, ich heiße Lambert, bin Lothringer und wünsche bei Ihnen zu wohnen.«

»Sehr gern, mein Herr; aber Sie müssen jeden Tag bezahlen.«

»Das ist unmöglich, Madame, denn ich habe keinen Heller; aber ich werde Geld bekommen, sobald ich meinen Aufenthaltsort mitgeteilt habe.«

»Unter diesen Bedingungen kann ich Sie nicht aufnehmen, mein Herr.«

Als ich ihn mit ganz betrübtem Gesicht auf die Tür zugehen sah, fühlte ich Mitleid mit ihm, rief ihn zurück und sagte: »Bleiben Sie, ich werde heute für Sie bezahlen.«

Ein Glücksschimmer flog über sein Gesicht.

»Was haben Sie denn in Ihrem Bündel?« fragte ich ihn.

»Zwei Hemden, ein paar Dutzend mathematische Bücher und etwas Wäsche.«

Ich nahm ihn mit mir auf mein Zimmer, und da ich ihn ziemlich gebildet fand, fragte ich ihn, durch welchen Zufall er in eine solche Lage gekommen sei.

Er antwortete: »Ich war in Straßburg. Ein Fähnrich der dortigen Garnison gab mir in einem Kaffeehause eine Ohrfeige; am Tage darauf ging ich in sein Zimmer und erdolchte ihn. Nach dieser unglückseligen Tat ging ich nach Hause, packte ein paar Kleidungsstücke und die notwendigsten Bücher zusammen und verließ die Stadt. Da ich immer zu Fuß ging und bescheiden lebte, ist es mir bis heute früh gelungen, mich durchzuschlagen. Morgen werde ich an meine Mutter schreiben, die in Lunéville wohnt, und ich bin gewiß, daß sie mir Geld schicken wird.«

»Und was gedenken Sie zu tun?«

»Ich habe die Absicht, mich um eine Anstellung beim Geniekorps zu bewerben, denn ich glaube mich in diesem Stande nützlich machen zu können; im äußersten Notfall werde ich Soldat.«

»Ich werde Ihnen ein kleines Bedientenzimmer geben lassen und Ihnen ein bißchen Geld geben, um sich Ihr Essen zu kaufen, bis Sie die Hilfe von Ihrer Mutter erhalten haben.«

Er küßte mir dankbar die Hand und sagte: »Der Himmel hat Sie mir in den Weg geführt.« 52g Ich traute dem jungen Mann keinen Betrug zu, obgleich er stotterte; trotzdem schrieb ich aus Neugier an Herrn von Schauenburg, der sich damals in Straßburg befand, und fragte bei ihm an, ob der von dem jungen Menschen mir erzählte Vorfall sich wirklich zugetragen habe.

Am nächsten Tage hatte ich Gelegenheit, mit einem Genieoffizier zu sprechen. Dieser sagte mir, es seien so viele wissenschaftlich gebildete Leute im Regiment, daß keiner mehr angenommen würde, wenn er sich nicht bereit erklärte, als gewöhnlicher Soldat zu dienen. Ich bedauerte den jungen Menschen, daß er gezwungen sein würde, sich dazu zu entschließen. Wir verbrachten zusammen ganze Stunden mit der Lösung mathematischer Aufgaben, und da ich fand, daß er wirklich Kenntnisse hatte, hatte ich den Einfall, ihn mit nur nach Petersburg zu nehmen. Als ich ihm dies vorschlug, antwortete er mir:

»Das wäre ein Glück für mich, und um Ihre Güte anzuerkennen, würde ich gern unterwegs Ihren Bedienten machen.«

Er sprach schlecht französisch; da er aber Lothringer war, so wunderte ich mich nicht darüber. Trotzdem war ich überrascht, daß er kein Wort Latein verstand, und daß er die gröbsten orthographischen Fehler machte, als ich ihm einmal einen Brief diktierte. Als ich darüber lachte, schämte er sich keineswegs, sondern sagte mir, er sei nur zur Schule gegangen, um Geometrie und Mathematik zu lernen, und es sei ihm sehr lieb, daß die langweilige Grammatik mit der Rechenkunst nichts zu tun habe. Er verstand in der Tat nur Mathematik und war in allem übrigen höchst unwissend. Er wußte sich auch nicht zu benehmen und betrug sich wie ein richtiger Bauernjunge.

Nach zehn oder zwölf Tagen erhielt ich von Herrn von Schauenburg die Antwort auf meinen Brief. Er schrieb mir, der Name Lambert sei in Straßburg unbekannt und in dem von mir genannten Regiment sei kein Fähnrich getötet oder verwundet worden.

Als ich Lambert diesen Brief zeigte, um ihm seine Lüge vorzuhalten, sagte er mir, er habe es für notwendig gehalten, sich als einen tapferen Menschen hinzustellen, weil er den Wunsch gehabt habe, in den Heeresdienst einzutreten; da die Lüge nicht darauf berechnet gewesen sei, mich irrezuführen, so müsse ich sie ihm verzeihen. »Die Armut ist eine schlechte Lehrmeisterin, die einen zu den übelsten Sachen treibt; ich bin von Natur nicht lügenhaft; leider habe ich Ihnen aber noch etwas anderes vorgelogen, was von viel größerer Bedeutung ist: ich erwarte nichts von meiner armen Mutter, die im Gegenteil meiner Unterstützung bedürftig wäre. Also verzeihen Sie mir, und verlassen Sie sich darauf, daß ich Ihnen gut und treu dienen werde.«

Ich hatte stets – und nicht ohne Grund – viel Nachsicht gegen kleine Sünden. Lamberts Entschuldigung gefiel mir; ich ermahnte ihn, sich gut aufzuführen, und sagte ihm, wir würden in fünf bis sechs Tagen abreisen.

Der Baron Bodisson aus Venedig, der dem König ein Gemälde des Andrea del Sarto verkaufen wollte, machte mir den Vorschlag, ihn nach Potsdam zu begleiten. Da ich Lust hatte, mich nach Lord Marishals Rat noch einmal dem König zu zeigen, so nahm ich die Einladung an. In Potsdam ging ich zur Wachtparade, bei welcher Friedrich selten fehlte. Sobald er mich sah, kam er auf mich zu und fragte mich leutselig, wann ich nach Petersburg abzureisen gedächte.

»In fünf oder sechs Tagen, Sire, wenn Eure Majestät es erlauben wollen.«

»Gute Reise; aber was erhoffen Sie dort zu Lande?«

»Was ich hier zu Lande erhoffte, Sire: dem Souverän zu gefallen.«

»Haben Sie Empfehlungen an die Kaiserin?«

»Nein, Sire, nur an einen Bankier.«

»Das ist auch viel besser. Wenn Sie auf Ihrer Rückreise wieder hier durchkommen, wird es mich freuen, von Ihnen Neues über Rußland zu hören. Adieu!«

»Adieu, Sire.«

Dies war meine zweite Unterhaltung mit dem großen König, den ich nicht wiedergesehen habe.

Ich verabschiedete mich von allen meinen Bekannten und erhielt vom Baron Treidel einen Brief an den Großkanzler Herrn von Keyserlingk in Mitau mit einer Einlage für seine Schwester, die Herzogin von Kurland. Den letzten Abend verbrachte ich mit meiner guten Denis, die mir meine Postkalesche abkaufte. Ich hatte zweihundert Dukaten in meiner Börse, und diese Summe hätte für die Reise vollkommen genügt, wenn ich nicht die Torheit begangen hätte, bei einer Vergnügungspartie, die ich in Danzig mit jungen Kaufleuten machte, die Hälfte davon zu verspielen. In Königsberg, wo ich an den Gouverneur Feldmarschall von Lehwald empfohlen war, blieb ich nur einen Tag, um die Ehre zu haben, bei dem liebenswürdigen alten Herrn zu speisen. Er gab mir einen Empfehlungsbrief an seinen Freund, den General Wojakoff, Gouverneur von Riga.

Da ich noch Geld genug hatte, um in Mitau als großer Herr ankommen zu können, nahm ich einen viersitzigen Wagen mit sechs Pferden und gelangte in drei Tagen nach Memel. Im Gasthof, wo ich abstieg, fand ich eine florentinische Sängerin, Namens Bregonci, die mich mit Liebenswürdigkeiten überhäufte, weil ich, wie sie sagte, sie geliebt hätte, als ich noch ein Kind gewesen wäre und die Soutane getragen hätte. Ich habe sie sechs Jahre später in Florenz wiedergesehen, wo sie mit der Denis zusammenwohnte.

Am Tage nach meiner Abreise von Memel kam auf offenem Felde ein einzelner Mann, offenbar ein Jude, an meinen Wagen heran und sagte mir, ich sei auf polnischem Gebiete und müsse Durchgangszoll für die Waren bezahlen, die ich bei mir habe.

»Ich bin kein Kaufmann und habe nichts zu bezahlen.«

»Ich habe das Recht, Ihren Wagen zu durchsuchen, und ich werde davon Gebrauch machen.«

»Sie sind verrückt!« rief ich; zugleich befahl ich dem Postillon, Galopp zu fahren.

Der Jude aber packte die vordersten Pferde an den Zügeln und hielt uns an. Dem Postillon fiel es nicht ein, den frechen Kerl mit Peitschenhieben fortzujagen, sondern er wartete mit seinem deutschen Phlegma, bis ich uns freimachen würde. Wütend sprang ich aus dem Wagen, in der einen Hand eine Pistole, in der anderen meinen Stock. Ich streichelte den Juden mit einem halben Dutzend wohlgezielter Hiebe, und bald ergriff er die Flucht. Mein Reisegefährte, mein Bedienter Archimedes, der unterwegs die ganze Zeit schlief, rührte sich nicht von seinem Platze. Als ich ihm Vorwürfe deswegen machte, antwortete er mir, er habe nicht gewollt, daß der Jude sagen könnte, wir seien zu zweien über einen einzelnen hergefallen.

Zwei Tage später kam ich in Mitau an und stieg in dem Gasthofe ab, der dem Schloß gegenüberliegt. Ich hatte nur noch drei Dukaten.

Gleich am nächsten Morgen ging ich zu Herrn von Keyserlingk. Nachdem er den Brief des Barons von Treidel gelesen hatte, stellte er mich seiner Gemahlin vor und ließ mich dann mit ihr allein, um zu Hofe zu gehen und der Herzogin den Brief ihres Bruders zu bringen. Frau von Keyserlingk ließ mir von einer jungen Polin von blendender Schönheit eine Tasse Schokolade reichen. Das Mädchen stand mit gesenkten Wimpern vor mir, wie wenn sie mir Gelegenheit geben wollte, sie in aller Muße zu betrachten. Dabei kam mir eine Laune. Ich habe in meinem ganzen Leben nicht meinen Launen widerstehen können; aber diese war allerdings unter den obwaltenden Umständen sehr eigentümlich. Wie ich vorhin sagte, hatte ich nur noch drei Dukaten; während ich nun langsam meine Schokolade schlürfte, dabei die schöne Polin betrachtete und einige Worte mit Frau von Keyserlingk wechselte, zog ich geschickt meine drei Dukaten aus der Tasche und legte sie auf die Tasse, als ich diese zurückgab.

Der Kanzler kam zurück und teilte mir mit, die Herzogin könne mich im Augenblick nicht empfangen, aber sie lade mich zum Abendessen und zu dem darauf folgenden Ball ein. Das Abendessen nahm ich an, aber die Einladung zum Ball schlug ich aus, unter dem Vorwande, daß ich nur Sommeranzüge und einen schwarzen Rock bei mir habe. Wir waren im Anfang des Oktobers, und die Kälte machte sich bereits bemerkbar. Der Kanzler kehrte ins Schloß zurück, und ich begab mich nach meinem Gasthof.

Eine halbe Stunde später überbrachte ein Kammerherr mir die Komplimente Ihrer Hoheit und sagte mir: »Der Ball ist ein Maskenball, Sie können im Domino hingehen. Einen solchen können Sie sich leicht bei irgendeinem Juden besorgen. Ursprünglich sollte ein Galaabend stattfinden; aber die Herzogin hat alle Gäste benachrichtigt, daß statt dessen Maskenball sein werde, weil ein Fremder, der daran teilnehmen solle, seine Koffer schon vorausgeschickt habe.«

»Es tut mir leid, daß ich an dieser Abänderung schuld bin.«

»Beunruhigen Sie sich deshalb nicht: der Maskenball ist bei uns viel beliebter, weil er mehr Freiheit gewährt.«

Nachdem er mir die Stunde des Beginns gesagt hatte, entfernte er sich.

Der Leser denkt nun gewiß, daß ich mich in einer großen Verlegenheit befunden habe, und würde mich wohl nicht für aufrichtig halten, wenn ich nicht gestehen wollte, daß ich mich in der Tat nicht wohl fühlte. Aber mein gutes Glück kam mir zu Hilfe.

Da das preußische Geld, das schlechteste in ganz Deutschland, in Rußland keinen Kurs hatte, so kam ein Jude zu mir und fragte mich, ob ich Friedrichsdor hätte; er erbot sich, mir diese ohne Verlust gegen Dukaten einzuwechseln.

»Ich habe nur Dukaten,« antwortete ich ihm, »kann also von Ihren Diensten keinen Gebrauch machen.«

»Ich weiß es, mein, Herr, und Sie geben sie sehr billig.«

Da ich nicht wußte, was er damit sagen wollte, so sah ich ihn erstaunt an. Er fuhr fort, er würde mir gern zweihundert Randdukaten geben, wenn ich die Güte haben wollte, sie ihm in Rubeln auf St. Petersburg diskontieren zu lassen.

Ich war ein wenig überrascht von der Dienstwilligkeit des Mannes, tat aber, wie wenn ich mir seinen Vorschlag überlegte, und sagte ihm dann, ich hätte keine Dukaten nötig, wäre aber bereit, hundert zu nehmen, um ihm einen Gefallen zu tun. Er zählte mir mit dankbarer Miene sofort hundert Dukaten auf, und ich gab ihm dafür eine Anweisung auf den Bankier Demetrio Papanelopulo, für den da Loglio mir einen Brief mitgegeben hatte. Der Jude bedankte sich und ging, indem er mir sagte, er werde mir eine Anzahl schöner Dominos zur Auswahl schicken. Da mir einfiel, daß ich auch seidene Strümpfe brauchte, schickte ich Lambert hinter ihm her, um ihm zu sagen, daß er mir welche mitbringen solle. Als mein Diener zurückkam, erzählte er mir, der Wirt hätte ihn angehalten und ihm gesagt, ich würfe die Dukaten zum Fenster hinaus; der Jude hätte ihm erzählt, daß ich der Jungfer der Frau von Keyserlingk drei Dukaten gegeben hätte.

Das war des Rätsels Lösung. Nichts ist auf dieser Welt leicht oder schwer, sondern es kommt nur darauf an, ob man sich richtig oder falsch benimmt, und ob das Glück uns günstig oder feindselig gesinnt ist. Ohne die Renommisterei mit meinen letzten drei Dukaten hätte ich in Mitau keinen Taler gefunden. Das Mädchen, das an solche Freigebigkeit jedenfalls nicht gewöhnt war, hatte die Geschichte als ein Wunder ausposaunt, und der Jude, der stets auf eine Gelegenheit zum Geldverdienen lauerte, hatte sich beeilt, seine Dukaten dem vornehmen Herrn anzubieten, der sich so wenig daraus machte.

Zur bezeichneten Stunde begab ich mich an den Hof. Herr von Keyserlingk stellte mich sofort der Herzogin vor und diese dem Herzog, dem berühmten Biron oder Birlen, dem früheren Günstling der Kaiserin Anna Iwanowna, der nach dem Tode dieser Herrscherin Regent von Rußland gewesen und hierauf zu zwanzigjähriger Verbannung nach Sibirien verurteilt war. Er war sechs Fuß hoch und man sah ihm noch an, daß er früher ein sehr schöner Mann gewesen war. Aber das Alter, das die schönsten Formen zerstört, hatte auch ihn mit seiner Eisenhand angepackt. Am nächsten Tage hatte ich mit ihm eine lange Besprechung.

Eine Viertelstunde nach meiner Ankunft begann der Ball mit einer Polonaise. Als wohl empfohlener Fremder hatte ich die Ehre, von der Herzogin eingeladen zu werden, diesen Tanz mit ihr zu tanzen. Ich kannte den Tanz nicht, aber er ist so leicht, daß ich mich mit Ehren herauszog; denn er fügt sich jedem Einfall und gestattet trotz seiner Einfachheit eine große Anmut zu entwickeln.

Nach der Polonaise wurden Menuetts getanzt. Eine schon etwas ältliche Dame fragte mich, ob ich den »liebenswürdigen Sieger« tanzen könnte, und ich führte sofort diesen anmutigen Tanz mit ihr aus. Er war früher, zur Zeit der Regentschaft, Mode gewesen, und meine Tänzerin mochte wohl damals darin geglänzt haben. Er war wie ein Wunder für alle jungen Damen, die uns umringten. Nachdem ich mit Fräulein von Manteuffel, der hübschesten von den vier Hofdamen der Herzogin, einen Kontertanz getanzt hatte, ließ ihre Hoheit mir melden, daß das Souper bereit sei. Ich trat auf sie zu, bot ihr meinen Arm und befand mich gleich darauf neben ihr als ein einziger Kavalier an einem Tisch zu zwölf Gedecken. Aber beneide mich nicht, lieber Leser, besonders wenn du jung bist; denn meine elf Tischgenossinnen waren Matronen, die schon längst das Vorrecht verloren hatten, Männern den Kopf zu verdrehen. Die Herzogin war äußerst zuvorkommend gegen mich und schenkte mir gegen Ende des Mahles mit eigener Hand ein Glas Likör ein, den ich für Tokayer hielt und sehr lobte; es war aber nur altes englisches Bier. Doch was tut man nicht für eine Herzogin! Als wir vom Tisch aufstanden, führte ich sie wieder auf den Ball. Der junge Kammerherr, der mir die Einladung überbracht hatte, machte mich mit all den schönen Damen bekannt, aber ich hatte keine Zeit, einer von ihnen besonders den Hof zu machen.

Am nächsten Tage speiste ich bei Herrn von Keyserlingk und schickte Lambert zu einem Juden, um sich anständige Kleider zu kaufen.

Am übernächsten Tage aß ich zu Mittag bei dem Herzog, bei dem ich nur Herren fand. Der alte Fürst ließ mich fortwährend sprechen, und gegen das Ende der Mahlzeit kam die Unterhaltung auf die Reichtümer des Landes, die besonders in edlen und in halbedlen Metallen bestanden. Ich sagte ganz beiläufig, diese Reichtümer hingen nur von der Ausbeutung ab, könnten aber sehr kostbar werden. Um diese Behauptung zu rechtfertigen, hatte ich über das Thema zu sprechen, wie wenn ich es ganz besonders studiert hätte. Ein alter Kammerherr, dem alle Bergwerke von Kurland und Sämland unterstanden, ließ mich zunächst alles vorbringen, was die Begeisterung mir eingab; hierauf verbreitete er sich selber über das Thema, brachte allerlei Einwendungen vor, billigte aber andererseits auch meine vernünftigen Bemerkungen über die sparsame Einrichtung, von der der Erfolg der Ausbeutung abhängen müsse.

Ich hatte gesprochen, wie wenn ich Kenner in diesen Dingen wäre. Hätte ich daran gedacht, daß ich vielleicht mit einem Kenner zu tun haben würde, so würde ich sicherlich viel weniger gesagt haben; denn ich war ziemlich unwissend auf diesem Gebiete. Aber diese Vorsicht wäre mir zu Schaden gewesen, denn dann würde ich keinen Eindruck gemacht haben. Der Herzog setzte sich in den Kopf, daß ich viel mehr wüßte als ich gesagt hätte. Nach Tisch zog er mich in eine Fensternische und bat mich, ihm vierzehn Tage zu schenken, wenn ich es mit meiner Reise nach St. Petersburg nicht sehr eilig hätte. Ich stellte mich ihm zur Verfügung, und er führte mich in sein Arbeitszimmer. Dort sagte er mir, der Kammerherr, der mit mir gesprochen hätte, würde mir alle Einrichtungen dieser Art zeigen, die in seinen Herzogtümern beständen; ich mochte die Gefälligkeit haben, alle meine Bemerkungen über einen ökonomischen Betrieb aufzuschreiben. Ich erklärte mich mit seinem Vorschlage einverstanden, und meine Abreise wurde auf den nächsten Tag angesetzt.

Entzückt von meiner Dienstwilligkeit ließ der Herzog den Kammerherrn rufen und gab ihm die entsprechenden Aufträge. Wir verabredeten, daß er mich bei Tagesanbruch mit einem sechsspännigen Wagen abholen solle.

Ich ging nach Hause, traf meine Vorbereitungen und befahl Lambert, sich bereit zu halten, um mich mit seinem mathematischen Besteck zu begleiten. Ich setzte ihn von dem Zweck meiner Reise in Kenntnis, und er versprach mir, nach besten Kräften mir zu dienen, obwohl er von Verwaltungswissenschaft und Bergbau keine Ahnung hatte.

Zur verabredeten Stunde fuhren wir ab; ein Bedienter saß auf dem Kutschbock, zwei andere ritten, bis an die Zähne bewaffnet, vor uns her. Alle zwei oder drei Stunden wechselten wir die Pferde; der Kammerherr hatte einen reichlichen Vorrat guter Weine mitgenommen, und wir erfrischten uns, so oft wir Lust bekamen.

Unsere Rundfahrt dauerte vierzehn Tage, und wir besuchten fünf Kupfer- oder Eisenwerke. Ich brauchte nicht Kenner zu sein, um überall etwas aufschreiben zu können; es genügte, wenn ich vernünftige Bemerkungen machte, besonders über die ökonomische Einrichtung, auf die es dem Herzog hauptsächlich ankam. Hier riet ich Reformen an, die mir nützlich zu sein schienen, dort wies ich nach, daß eine Vermehrung der Arbeiterzahl die Erträgnisse verbessern würde. Besonders bei einem Bauwerk, worin man dreißig Strafgefangene arbeiten ließ, ordnete ich die Herstellung eines sehr kurzen Kanals an; dieser stand mit einem stets wasserhaltigen, ziemlich hoch gelegenen, kleinen Fluß in Verbindung, und es brauchte nur eine einfache Schleuse angebracht zu werden, um drei Räder in Bewegung zu setzen und dadurch zwanzig Arbeiter zu sparen. Lambert entwarf unter meiner Anleitung einen sehr sauberen Plan des Werkes, maß die Höhen, zeichnete die Schleuse und die Räder und steckte die ganze Länge des geplanten Kanals ab. Durch andere Kanäle legte ich weite Täler trocken, in denen sich große Mengen Schwefel und Vitriol gewinnen ließen.

Sehr befriedigt von meiner Reise kehrte ich nach Mitau zurück, denn ich hatte mich wirklich nützlich machen können. Auch freute ich mich, in mir ein Talent entdeckt zu haben, von welchem ich bisher keine Ahnung gehabt hatte.

Den nächsten Tag verbrachte ich damit, die von mir aufgezeichneten Beobachtungen ins Reine zu schreiben und die dazu gehörigen Zeichnungen in größeren Maßstab übertragen zu lassen.

Am zweiten Tage überbrachte ich alles dem Herzog, der mir seine große Zufriedenheit aussprach; als ich mich zugleich von ihm verabschiedete, sagte er mir, er werde mich in einem seiner Wagen nach Riga bringen lassen und mir einen Brief an seinen dort in Garnison stehenden Sohn Karl mitgeben.

Zum Schluß bat der gute und weise Greis mich, ihm ohne Umschweif zu sagen, ob ich einen Schmuckgegenstand oder den entsprechenden Wert in barem Gelde zu erhalten wünschte.

»Mein Fürst, von einem Weisen, wie Eure Hoheit es sind, wage ich es, Geld anzunehmen, da dieses mir jetzt nützlicher sein kann als Schmucksachen.«

Sofort übergab er mir eine Anweisung auf vierhundert Albertstaler, die mir der Kassierer in schönen Mitauer Dukaten auszahlte. Der Albertstaler gilt einen halben Dukaten. Nachdem ich der Herzogin die Hand geküßt hatte, speiste ich zum zweiten Male bei Herrn von Keyserlingk.

Am nächsten Tage brachte ein junger Kammerherr mir den Brief des Herzogs, wünschte mir gute Reise und sagte mir, der Hofwagen stehe vor meiner Tür. Sehr zufrieden fuhr ich mit meinem stotternden Lambert ab; am Mittag kam ich in Riga an und schickte sofort dem Prinzen Karl den Brief seines Vaters.

Zehntes Kapitel


Die Gesellschaft bei der Cornelis. – Erlebnis in Ranelagh-House. – Ich bin der englischen Kurtisanen überdrüssig. – Die Portugiesin Paulina.

Ich begab mich nach dem Gesellschaftssaal; der Sekretär, der neben der Türe saß, nahm mir meine Eintrittskarte ab und schrieb meinen Namen ein. Sobald die Cornelis mich bemerkte, kam sie auf mich zu und sagte mir, es freue sie sehr, daß ich mit einer Eintrittskarte gekommen sei; sie habe sich aber schon gedacht, daß ich kommen werde.

»Das war nicht schwer zu erraten,« antwortete ich ihr, »denn sobald Sie wußten, daß ich bei Hof empfangen war, mußten Sie auch wissen, daß ein Eintrittsgeld von zwei Guineen mich nicht abhalten würde, hierher zu kommen. Um unserer alten Freundschaft willen tut es mir leid, daß ich diese beiden Guineen nicht Ihnen selber gegeben habe; denn Sie mußten doch wissen, daß ich niemals die allzubescheidene Rolle angenommen haben würde, die Sie mir bestimmt hatten.«

Diese ironischen Worte brachten die Cornelis in Verlegenheit. Lady Harrington, die eine ihrer eifrigsten Beschützerinnen war, kam ihr zu Hilfe. Sie sagte: »Ich habe Ihnen, meine liebe Cornelis, eine Anzahl Guineen zu übergeben, darunter auch zwei von Herrn von Seingalt, von dem ich mir gleich dachte, daß er ein alter Bekannter von Ihnen sei. Ich habe jedoch nicht gewagt, ihm das zu sagen«, fuhr sie fort, indem sie einen boshaften Blick auf mich warf.

»Warum denn nicht, Mylady? Ich habe schon seit langer Zeit die Ehre, Madame Cornelis zu kennen.«

»Das glaube ich«, rief sie lachend, »und ich mache Ihnen beiden mein Kompliment. Ich vermute auch, Chevalier, daß Sie die liebenswürdige Miß Sophie kennen.«

»Mylady, die Sache ist ganz einfach: wer die Mutter kennt, muß auch die Tochter kennen.«

«Ja, ja.«

Mylady umarmte zärtlich Sophie, die neben mir stand, und sagte dann zu mir: »Wenn Sie sich selber lieben, müssen Sie auch sie lieben, denn sie ist Ihr Ebenbild.«

»Das ist eins von den tausend Spielen der Natur.«

»Gewiß; aber diesmal hat sie mit Sachkenntnis gespielt.«

Mit diesen Worten nahm die Lady Sophie bei der Hand und führte uns, indem sie sich auf meinen Arm stützte, in das Gewimmel hinein. Geduldig mußte ich eine Menge Fragen mit anhören, welche von Leuten, die mich noch nicht kannten, an sie gerichtet wurden:

Das ist wohl der Mann von Madame Cornelis?

Ganz gewiß ist Herr Cornelis angekommen!

Ah! Das ist natürlich Herr Cornelis!

Ei sieh! Das ist ganz gewiß der Gemahl von Madame Cornelis!

»Nein, nein, nein!« sagt Lady Harrington den Neugierigen. Die Sache wurde mir langweilig, denn alle diese Fragen wurden nur deswegen fortwährend wiederholt, weil man der Kleinen ihre Abstammung am Gesicht ansah, und weil ein jeder erriet, daß ich ihr Vater war. Ich wünschte, Mylady sollte die Kleine gehen lassen; aber sie fand an der Sache zu viel Spaß, um mir diesen Gefallen zu tun.

»Bleiben Sie bei mir«, sagte sie zu mir, »wenn Sie die ganze Gesellschaft kennen lernen wollen.«

Sie setzte sich, ließ mich einen Platz neben ihr einnehmen und behielt die Kleine an ihrer Seite. Die Mutter kam heran, um der Lady ihre Aufwartung zu machen. Als ein jeder dieselben Fragen auch an sie richtete, die mich schon so lange langweilten, faßte sie ihren Entschluß und sagte ganz tapfer, ich sei ihr bester, ihr ältester Freund, und nicht ohne Grund staunte man über die vollkommene Ähnlichkeit ihrer Tochter mit mir. Jeder lachte und sagte, dabei sei nichts Erstaunliches, sondern es sei im Gegenteil höchst natürlich. Um die Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken, sagte die Cornelis schließlich, die kleine Sophie habe das Menuett gelernt und tanze es ausgezeichnet.

»Das müssen wir sehen!« rief Lady Harrington. »Lassen Sie einen Geiger kommen, damit wir die hübsche Virtuosa bewundern können!«

Wir befanden uns in einem Zimmer neben dem Saal, und der Ball hatte noch nicht begonnen. Ich wünschte, daß die Kleine allgemeinen Beifall ernten sollte; sobald daher der Geiger gekommen war, nahm ich sie bei der Hand, und das Menuett wurde zur großen Zufriedenheit des uns umgebenden, auserlesenen Zuschauerkreises getanzt.

Hierauf begann der Ball. Er dauerte die ganze Nacht ohne Unterbrechung, denn die Gäste aßen abteilungsweise und zu jeder Stunde, die ihnen beliebte: es war eine Verschwendung, die eines fürstlichen Hauses würdig war. Ich machte an diesem Abend die Bekanntschaft des ganzen Adels und der ganzen königlichen Familie; denn alle Prinzen und Prinzessinnen waren erschienen mit Ausnahme Ihrer Majestäten und des Prinzen von Wales. Die Cornelis hatte mehr als zwölfhundert Guineen eingenommen; aber die Ausgaben waren ungeheuer; denn es herrschte keine vernünftige Einteilung, und es war keine einzige von den Vorsichtsmaßregeln getroffen worden, die notwendig gewesen wären, um zu verhindern, daß an allen Ecken und Enden gestohlen wurde. Unermüdlich stellte sie ihren Sohn allen möglichen Leuten vor; aber der arme Junge sah wie ein Opfer aus und wußte nur tiefe Verbeugungen zu machen, was in England einen vollkommen linkischen Eindruck macht. Er tat mir leid.

Den ganzen nächsten Tag verbrachte ich im Bett; am Tage darauf ging ich zum Mittagessen in die Staven-Tavern, wo man die hübschesten, nicht jedermann zugänglichen Mädchen von London finden sollte. Ich hatte diese Nachricht vom Lord Pembroke erhalten, der sehr oft dorthin ging. Ich verlangte ein Zimmer für mich; als der Wirt bemerkte, daß ich nicht englisch sprach, redete er mich französisch an und leistete mir Gesellschaft; er bestellte alles, was ich wollte, und setzte mich durch sein vornehmes, ernstes und anständiges Benehmen dermaßen in Erstaunen, daß ich nicht den Mut fand, ihm zu sagen, daß ich mit einer hübschen Engländerin zu speisen wünschte. Schließlich sagte ich ihm mit einer respektvollen Umschweifung: ich wüßte nicht, ob Lord Pembroke mich getäuscht hätte – aber er hätte mir gesagt, ich könnte bei ihm die hübschesten Mädchen von ganz London finden.

»Er hat Sie durchaus nicht getäuscht, mein Herr, und wenn Sie es wünschen, können Sie eine nach Ihrem Belieben haben.«

»Ich bin in dieser Absicht hierher gekommen.«

Er rief. Ein sehr sauberer Kellner trat ein, und in demselben Ton, wie wenn er etwa gesagt hätte, man solle mir eine Flasche Champagner bringen, befahl der Wirt ihm, ein Mädchen für mich kommen zu lassen. Der junge Mann ging hinaus, und einige Minuten darauf sah ich ein Mädchen von herkulischen Körperformen eintreten.

Mein Herr«, sagte ich zum Wirt, »das Äußere dieses Mädchens gefällt mir nicht.«

»Geben Sie einen Schilling für die Sänftenträger und schicken Sie sie wieder fort; in London macht man keine Umstände, mein Herr.«

Diese Bemerkung versetzte mich in eine behagliche Stimmung; ich befahl, den Leuten einen Schilling zu geben und mir eine andere, hübschere zu bringen. Die zweite kam, sie war noch schlimmer als die erste, und ich schickte sie ebenfalls wieder fort. So ging es noch zehnmal nach der Reihe. Ich freute mich, daß mein wählerischer Geschmack dem Wirt, der mir während der ganzen Zeit Gesellschaft leistete, offenbar Spaß machte. Schließlich sagte ich zu ihm: »Ich will kein Mädchen mehr, sondern wünsche nur noch gut zu Mittag zu essen. Ich bin überzeugt, der Bordellwirt hat sich über mich lustig gemacht, um den Sänftenträgem einen Verdienst zuzuwenden.«

»Das ist sehr leicht möglich, mein Herr; sie machen es oft so, wenn man ihnen nicht Namen und Wohnung des Mädchens angibt, das man haben will.«

Am Abend machte ich einen Spaziergang im St. James-Park; plötzlich fiel mir ein, daß ein Fest in Ranelagh gefeiert wurde. Da ich diesen Ort kennen zu lernen wünschte, nahm ich einen Wagen und fuhr allein, ohne Bedienten, dorthin, um mich bis Mittemacht zu belustigen und mir irgend eine Schönheit nach meinem Geschmack zu suchen.

Die Rotunde von Ranelagh gefiel mir; ich ließ mir Tee geben und tanzte einige Menuetts. Ich sah jedoch keine Bekannten, und obwohl ich mehrere sehr hübsche Mädchen und Frauen bemerkte, wagte ich doch nicht, so aufs Geratewohl eine anzureden. Schließlich wurde es mir langweilig, und ich beschloß, nach Hause zu fahren. Es war fast schon Mitternacht, und ich ging nach dem Eingang, wo ich meinen Wagen zu finden glaubte, den ich noch nicht bezahlt hatte. Der Kutscher war jedoch nicht mehr da, und so befand ich mich in großer Verlegenheit. Eine sehr hübsche Frau, die vor der Tür auf ihren Wagen wartete, bemerkte meine Verlegenheit und sagte mir auf Französisch: wenn ich nicht weit von Whitehall wohne, könne sie mich an meiner Tür absetzen. Ich sagte ihr meine Wohnung und nahm ihr Anerbieten mit Dankbarkeit an. Ihr Wagen fährt vor; ein Lakai öffnet den Schlag; sie nimmt meinen Arm, steigt ein, fordert mich auf, neben ihr Platz zu nehmen, und gibt Befehl, vor meinem Hause zu halten.

Sobald ich im Wagen bin, danke ich ihr in den überschwenglichsten Ausdrücken, sage ihr meinen Namen und spreche mein Bedauern aus, sie nicht auf dem letzten Gesellschaftsabend am Soho-Square gesehen zu haben.

»Ich war nicht in London«, sagte sie; »ich bin erst heute von Bath zurückgekommen.«

Ich preise mein Glück, sie getroffen zu haben, bedecke ihre Hände mit Küssen und wage es, ihr einen Kuß auf die Wange zu geben; da ich keinen Widerstand, sondern nur sanfte, lächelnde Liebe finde, so presse ich meine Lippen auf ihren Mund; da ich meinen Kuß erwidert fühle, werde ich kühn und bald habe ich ihr den deutlichsten Beweis der Glut gegeben, die sie mir eingeflößt hat.

Ich hatte sie so sanft und hingebend gefunden, daß ich mir schmeichelte, ihr nicht mißfallen zu haben. Ich bat sie daher, mir zu sagen, wo ich sie treffen könnte, um ihr während der ganzen Zeit, die ich in London zu verbringen gedächte, meine eifrigen Huldigungen darzubringen; sie antwortete mir jedoch nur: »Wir werden uns noch wiedersehen, seien Sie verschwiegen!«

Ich schwor ihr dies und drang nicht weiter in sie; einen Augenblick später hielt der Wagen. Ich küßte ihr die Hand und ging, sehr befriedigt von diesem hübschen Abenteuer, in mein Haus.

Es vergingen vierzehn Tage, ohne daß ich sie wiedersah. Endlich traf ich sie in einem Hause, das ich auf Wunsch der Lady Harrington aufsuchte, um mich mit einer Empfehlung von ihr der Besitzerin vorzustellen. Es war eine Lady Betty German, eine berühmte alte Dame. Sie war nicht zu Hause; da sie jedoch binnen kurzem zurückkommen sollte, bat man mich zu warten und führte mich in den Salon. Zu meiner angenehmen Überraschung sah ich meine schöne Dame von Ranelagh, die eine Zeitung las. Ich hatte den Einfall, sie zu bitten, mich der übrigen Gesellschaft vorzustellen. Ich ging auf sie zu und fragte sie, ob sie die Güte haben wolle, mich vorzustellen. Sie antwortete mir höflich, sie könne dies nicht, da sie nicht die Ehre habe, mich zu kennen.

»Ich habe Ihnen meinen Namen gesagt, Madame. Erinnern Sie sich meiner nicht?«

»Ich erinnere mich Ihrer sehr gut; aber ein toller Streich gibt keinen Anspruch auf Bekanntschaft.«

Ich war ganz starr ob dieser eigentümlichen Antwort. Sie las ruhig ihre Zeitung weiter und sprach mit mir kein Wort mehr, bis Mylady German kam.

Die schöne Philosophin nahm zwei volle Stunden lang am Gespräch teil, ohne im geringsten zu verraten, daß sie mich kannte; doch antwortete sie mir mit großer Höflichkeit, wenn die Gelegenheit es mir erlaubte, das Wort an sie zu richten. Sie war eine Dame von hohem Range, die in London in bestem Rufe stand.

Eines Tages ging ich zu Martinelli, um ihm meinen ersten Besuch zu machen. Eine schöne junge Dame warf mir von einem gegenüberliegenden Hause Kußhändchen zu. Ich fragte ihn, wer sie sei, und war sehr angenehm überrascht, als ich hörte, es sei eine Tänzerin, Madame Binetti. Sie hatte mir vor etwa vier Jahren in Stuttgart den großen Dienst geleistet, wie meine Leser sich vielleicht noch erinnern. Ich wußte nicht, daß sie in London war. Sofort verabschiedete ich mich von Martinelli, um sie aufzusuchen, und ich tat dies um so lieber, da mein Freund mir sagte, sie lebe nicht mit ihrem Mann zusammen, obgleich dieser mit ihr im Theater am Haymarket tanze.

Sie empfing mich mit offenen Armen und rief: »Ich habe Sie auf den ersten Blick erkannt! Ich bin überrascht, Sie in London zu sehen, mein lieber Doyen.«

Sie nannte mich ihren Doyen, weil ich der älteste von ihren Bekannten war.

»Ich wußte nicht, daß Sie hier waren, meine Liebe. Ich habe Sie nicht tanzen sehen, weil ich erst nach dem Schluß der Oper hier angekommen bin. Wie kommt es, daß Sie nicht mehr mit Ihrem Gatten zusammenleben?«

»Weil er spielt, verliert und mich von allem entblößt. Außerdem kann eine Frau meines Berufes nicht erwarten, daß ein reicher Liebhaber ihr Besuche macht, wenn sie mit ihrem Gatten zusammenlebt; lebt sie dagegen für sich allein, so kann sie alle ihre Freunde empfangen, ohne sich irgendwelchen Zwang aufzuerlegen.«

»Was hätte denn solch ein Herr von Binetti zu befürchten? Er war doch sonst niemals eifersüchtig oder unbequem.«

»Das ist er auch jetzt nicht; aber, mein lieber Doyen, du mußt wissen, daß es in England ein Gesetz gibt, das einen Ehegatten ermächtigt, den Liebhaber seiner Frau verhaften zu lassen, wenn er ihn auf frischer Tat bei ihr ertappt. Er braucht nur zwei Zeugen zu haben. Es genügt sogar, daß er ihn auf ihrem Bett sitzend findet; dazu hat nach hiesigen Anschauungen nur ein Ehemann das Recht. Der Liebhaber wird verurteilt, dem Ehemann, der die Schande seiner Gattin offenbart, die Hälfte seines ganzen Vermögens zu bezahlen. Mehrere reiche Engländer sind auf diesen Leim gegangen, und infolgedessen geht niemand mehr zu einer verheirateten Frau, besonders wenn sie eine Italienerin ist.«

»Dann hast du also über die Gefälligkeit deines Gatten dich nicht zu beklagen, sondern mußt ihm im Gegenteil dankbar dafür sein; denn da du deine volle Freiheit hast, so kannst du jeden empfangen, der dir gefällt, und kannst reich werden.«

»Leider weißt du nicht alles, mein lieber Freund. Sobald er glaubt, ich habe von irgendeinem Besuche ein Geschenk erhalten – und das erfährt er sofort durch seine Spione – kommt er nachts in einer Sänfte und droht mir, mich auf die Straße zu werfen, wenn ich ihm nicht all mein Geld gebe. Du kennst diesen niederträchtigen Halunken nicht!«

Ich gab der armen Frau meine Adresse und lud sie ein, zu mir zum Essen zu kommen, so oft sie Lust hätte, bat sie jedoch zugleich, mir einen Tag vorher Bescheid sagen zu lassen. Ich hatte bei ihr in bezug auf Besuche bei Damen wieder einmal etwas Neues gelernt. England hat sehr gute Gesetze; aber sie sind im allgemeinen so, daß leicht Mißbrauch mit ihnen getrieben werden kann. Da die Geschworenen einen Eid leisten, nach dem Buchstaben des Gesetzes zu erkennen, so werden manche, die nicht klar genug abgefaßt sind, auf eine Weise ausgelegt, die den Absichten der Gesetzgebung vollkommen widerspricht, so daß dadurch die Richter oft in die größte Verlegenheit kommen. Infolgedessen ist man genötigt, unaufhörlich neue Gesetze zu erlassen und die alten durch neue Auslegungen zu erläutern.

Eines Tages sah Lord Pembroke mich am Fenster stehen und kam zu mir herein. Nachdem er mein Haus und meine Küche, wo der Koch am Werke war, besichtigt hatte, machte er mir das Kompliment: kein Lord, wenigstens niemand von denen, die in London regelmäßig einen Teil des Jahres verbrächten, hielte ein so gut eingerichtetes Haus wie das meinige. Er machte einen Überschlag der Kosten und sagte zu mir: »Wenn Sie Freunde empfangen und bewirten wollen, 27Z brauchen Sie monatlich dreihundert Pfund. Aber Sie können hier nicht leben, Seingalt, ohne ein hübsches Mädchen bei sich zu haben. Wenn Sie dies tun, wird ein jeder Sie als vernünftig loben; denn Sie gehen auf diese Weise sicher und sparen viel Geld.«

»Haben Sie ein Mädchen bei sich, Mylord?«

»Nein; mich ekelt leider jedes Weib an, sobald ich es einen einzigen Tag in meinem Besitz gehabt habe.«

»Da brauchen Sie also jeden Tag eine neue?«

»Ja, und infolgedessen gebe ich viermal so viel aus als Sie, obgleich ich nicht annähernd so gut eingerichtet bin. Ich bin eben Junggeselle, lebe in London als Fremder und esse niemals zu Hause. Ich wundere mich, daß Sie allein essen.«

»Ich spreche nicht englisch, ich liebe die Suppe und ich trinke gern guten Wein. Dies sind Gründe genug, um Ihre Wirtshäuser zu meiden.«

»Bei Ihrer Vorliebe für französische Lebensweise begreife ich das.«

»Geben Sie zu, daß diese Vorliebe nicht schlecht ist?«

»Ich kann das nicht bestreiten; denn obgleich ich ein guter Engländer bin, gefällt mir doch das Pariser Leben sehr.«

Er lachte laut auf, als ich ihm sagte, ich hätte in Staven-Tavern zwanzig Mädchen fortgeschickt, ohne mich einer einzigen zu bedienen, und an meiner Enttäuschung wäre er schuld.

»Ich habe Ihnen nicht die Namen der Mädchen genannt, die ich für mich holen lasse, und das war unrecht von mir.«

»Ja, Sie hätten mir dies sagen sollen.«

»Aber da sie Sie nicht kennen, wären sie nicht gekommen; denn sie sind durch Kuppler nicht zu haben. Versprechen Sie mir, dasselbe zu bezahlen wie ich, und ich werde Ihnen Briefe geben; daraufhin werden die Mädchen kommen.«

»Kann ich sie auch hier haben?«

»Ganz nach Ihrem Belieben.«

»Das paßt mir besser. Schreiben Sie mir die Briefchen und suchen Sie vor allem solche Mädchen aus, die französisch sprechen.«

»Das ist gerade der Übelstand: die schönsten sprechen nur englisch.«

»Schreiben Sie nur auch an diese! In bezug auf das, was ich von ihnen will, werden wir uns schon verständigen.«

Er schrieb an mehrere Mädchen zu vier und für sechs Guineen; eine einzige war mit dem Preise von zwölf Guineen bezeichnet.

»Diese ist doppelt so schön?«

»Eigentlich nicht; aber sie macht einen Herzog und Pair von England zum Hahnrei. Er hält sie aus, besucht sie aber jeden Monat nur ein- oder zweimal.«

»Wollen Sie, Mylord, mir zuweilen die Ehre erweisen, die Kunst meines Kochs auf die Probe zu stellen?«

»Gern; aber nur, wenn ich zufällig einmal vorbeikomme.«

»Und wenn Sie mich nicht finden?«

»Das schadet dann nicht; da werde ich eben ins Wirtshaus gehen.«

Da ich an diesem Tage nichts anderes vorhatte, schickte ich Jarbe zu einer von den Schönen, die Pembroke auf vier Guineen taxiert hatte, und ließ sie einladen, mit mir allein zu speisen. Sie kam; aber obgleich ich den besten Willen hatte, sie liebenswürdig zu finden, schien sie mir doch nur wert, nach Tisch einen Augenblick mit ihr zu schäkern. Sie konnte keine vier Guineen von mir erwarten, denn sie hatte einen solchen Lohn nicht verdient; daher war sie denn hocherfreut, als ich ihr zum Schluß trotzdem die vier Goldstücke in die Hand drückte. Die zweite, die ebenfalls vier Guineen kosten sollte, aß am nächsten Tage mit mir zu Abend. Sie war einmal sehr hübsch gewesen und war es noch; ich fand sie jedoch traurig und zu gleichgültig, so daß ich mich nicht entschließen konnte, sie sich ausziehen zu lassen.

Am dritten Tage hatte ich keine Lust, noch ein drittes Briefchen zu versuchen; ich ging daher nach Covent-Garden. Ein junges Mädchen fand ich so anziehend, daß ich sie ansprach und auf französisch fragte, ob sie mit mir zu Abend speisen wolle.

»Was werden Sie mir zum Nachtisch schenken?«

»Drei Guineen.«

»Ich stehe Ihnen zur Verfügung.«

Nach dem Theater ließ ich mir ein gutes Abendessen für zwei auftragen, und sie bot mir die Spitze mit einem guten Appetit, wie ich ihn liebte. Nach dem Essen fragte ich sie nach ihrer Adresse und war sehr überrascht, als ich fand, daß sie eine von denen war, für die Lord Pembroke sechs Guineen bezahlte. Ich sah, daß ich meine Angelegenheiten selber besorgen mußte oder jedenfalls mich keines großen Herrn als Vermittler bedienen durfte. Die anderen Briefchen verschafften mir nur Personen, die höchstens einer flüchtigen Bekanntschaft wüidig waren. Die letzte, die zu zwölf Guineen, die ich mir als besonderen Leckerbissen aufgespart hatte, gefiel mir am allerwenigsten. Ich fand sie nicht einmal eines Opfers würdig und verzichtete darauf, dem edlen Lord, der sie aushielt, Hörner aufzusetzen.

Lord Pembroke war jung, schön, reich und geistvoll. Als ich ihn eines Tages besuchte, war er gerade eben aufgestanden. Wir beschlossen zusammen einen Spaziergang zu machen, und er befahl seinem Kammerdiener, ihn zu rasieren,

»Aber Sie haben ja nicht einmal einen Anflug von Bart im Gesicht!« rief ich.

»Einen solchen werden Sie niemals bei mir sehen, lieber Freund; denn ich lasse mich dreimal täglich rasieren.«

»Dreimal täglich?«

»Ja. Wenn ich das Hemd wechsele, wasche ich mir die Hände; wenn ich mir die Hände wasche, muß ich mir auch das Gesicht waschen, und das Gesicht eines Mannes darf nur mit einem Rasiermesser gewaschen werden.«

»Wann nehmen Sie denn diese drei Reinigungen vor?«

»Wenn ich aufstehe, wenn ich mich ankleide, um zum Mittagessen oder in die Oper zu gehen, und unmittelbar bevor ich mich zu Bett lege; denn das Weib, das die Nacht mit mir verbringt, darf meinen Bart nicht fühlen.«

Wir machten einen kleinen Spaziergang, worauf ich mich von ihm trennte, um zu Hause Briefe zu schreiben. Beim Abschied fragte er mich, ob ich zu Hause essen würde. Ich sagte ja, und da ich voraussah, daß er mir Gesellschaft leisten würde, machte ich es wie Lukullus und befahl meinem Koch, uns gut zu bedienen, dabei aber jeden Anschein zu vermeiden, als ob ich einen vornehmen Gast erwartete. Die Eitelkeit hat mehr als eine Sehne an ihrem Bogen.

Kaum war ich zu Hause, so ließ die Binetti sich melden; sie sagte mir, wenn sie mir nicht ungelegen komme, wolle sie sich zum Essen einladen. Ich nahm sie freundschaftlich auf, und sie versicherte mir, ich mache sie glücklich, denn sie sei überzeugt, ihr Mann werde sich den Kopf zerbrechen, um herauszubringen, wo sie gespeist habe.

Sie gefiel mir immer noch; denn obgleich sie damals schon fünfunddreißig Jahre zählte, hätte kein Mensch sie für älter als fünfundzwanzig gehalten. Sie war in jeder Beziehung anmutig. Ihr Mund war etwas zu groß, aber er war mit zwei Reihen Perlen von schönstem Schmelz geschmückt, und ihre Lippen waren frisch wie Rosenblätter. Eine zarte glatte Haut, Augen von unbeschreiblichem Glanz und eine Stirn, auf der die Unschuld selber hätte thronen können – mit einem Wort, ihr Kopf war wirklich zum Entzücken. Dazu hatte sie einen vollendet schönen Busen und eine unverwüstliche, fröhliche Laune; so wird der Leser leicht begreifen, daß selbst ein wählerischerer Geschmack als der meinige sie wohl reizend finden konnte.

Sie war kaum eine halbe Stunde bei mir, als Lord Pembroke eintrat. Beide schrieen vor Überraschung laut auf, und der Lord sagte mir, er sei schon seit sechs Monaten in sie verliebt und habe ihr feurige Briefe geschrieben. Sie sei jedoch nicht darauf eingegangen.

»Ich habe ihn nicht erhören wollen,« rief sie, »weil er der größte Wüstling in ganz England ist; und das ist recht schade, denn er ist der liebenswürdigste Kavalier.«

Dieser Auseinandersetzung folgte ein Dutzend Küsse, und ich sah, daß sie einig waren.

Wir hielten eine ausgezeichnete Mahlzeit nach französischer Art, und Lord Pembroke versicherte mir: »Ich habe seit Jahr und Tag nicht so gut gegessen. Es tut mir nur leid, daß Sie nicht jeden Tag Gesellschaft bei sich haben.«

Die Binetti war ebenfalls Feinschmeckerin; wir standen daher in sehr fröhlicher Stimmung von Tisch auf und hatten große Lust, vom Kultus des Comus zu dem der Cypris überzugehen; aber unsere Schöne war zu gewitzigt, um dem Engländer etwas anderes zu bewilligen als Küsse ohne Bedeutung.

Ich blätterte in meinen Büchern, die ich am Tage vorher gekauft hatte, und ließ sie sich unter vier Augen unterhalten, so viel sie wollten; damit sie sich jedoch nicht für einen anderen Tag zusammen zum Essen einlüden, beeilte ich mich ihnen zu sagen, ich hoffe, der Zufall werde mir die Gunst eines so schönen Festes gelegentlich wieder einmal verschaffen.

Um sechs Uhr gingen meine beiden Gäste fort, und ich kleidete mich an, um nach Vauxhall zu gehen. Ich traf dort den französischen Offizier Mallingan, dem ich in Aachen meine Börse geöffnet hatte. Da er mir sagte, er müsse mit mir sprechen, so gab ich ihm meine Adresse. Ich fand dort auch den nur zu gut bekannten Chevalier Goudar, der mir von Spiel und Mädchen erzählte. Mallingacm stellte mir als etwas ganz Besonderes einen Herrn vor, der mir nach seiner Behauptung in London sehr nützlich werden konnte. Es war ein Mann von vierzig Jahren, mit kritischen Gesichtszügen; er nannte sich Friedrich und war der Sohn des verstorbenen sogenannten Königs Theodor von Korsika, der vierzig Jahre vor dieser Zeit zu London im größten Elend gestorben war, einen Monat nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis, worin unbarmherzige Gläubiger ihn sechs oder sieben Jahre lang eingesperrt gehalten hatten. Ich hätte besser getan, an diesem Tage nicht nach Vauxhall zu gehen.

Das Eintrittsgeld kostet für Vauxhall nur die Hälfte von dem, was man in Ranelagh bezahlen mußte. Trotzdem konnte man sich die größte Abwechslung von Genüssen verschaffen: gutes Essen, Musik, Spaziergänge auf dunklen und einsamen Gartenwegen oder in Alleen, die von tausend Lämpchen beleuchtet waren. Außerdem fand man dort im bunten Gewimmel die berühmtesten Schönheiten Londons vom höchsten bis zum niedrigsten Range.

Trotz allen diesen Vergnügungen langweilte ich mich, weil ich meine gute Tafel und mein reizendes Heim nicht mit einer lieben Freundin teilte. Ich war nun doch schon seit sechs Wochen in London. So etwas war mir noch niemals vorgekommen, und die Sache erschien mir selber unerklärlich.

Meine Wohnung schien geradezu gemacht zu sein, um in der anständigsten Weise eine Freundin aufzunehmen; da ich die Tugend der Beständigkeit besaß, so brauchte ich weiter nichts, um glücklich zu sein. Aber wie sollte ich in London eine Frau finden, die zu mir paßte und an Charakter einer von denen ähnelte, die ich so innig geliebt hatte? Ich hatte bereits etwa fünfzig Mädchen gesehen, die alle Welt als hübsch bezeichnete, und die ich selber nicht einmal leidlich gefunden hatte. Indem ich unaufhörlich hierüber nachdachte, hatte ich schließlich einen sonderbaren Einfall. Ich führte diesen aus.

Ich rief meine alte Housekeeper und ließ ihr durch das Mädchen, das uns als Dolmetscherin diente, folgendes sagen: »Ich will das zweite ober dritte Stockwerk vermieten, um Gesellschaft zu haben; obgleich ich hierzu ohne weiteres berechtigt bin, will ich Ihnen doch für die Bedienung wöchentlich eine halbe Guinee schenken. Lassen Sie sofort dieses Plakat am Fenster aushängen:

Zu vermieten: zweites oder drittes Stockwerk, möbliert, an ein alleinstehendes und unabhängiges junges Fräulein, das englisch und französisch spricht, und weder bei Tage noch bei Nacht Besuche empfängt.«

Das Mädchen übersetzte der Alten das Plakat, und diese, die früher selber flott gelebt hatte, lachte darüber so sehr, daß ich glaubte, sie würde ersticken.

»Warum lachen Sie denn so sehr, meine gute Dame?«

»über diesen Zettel muß man wohl lachen!«

»Sie glauben gewiß, es wird keine kommen, um die Wohnung zu mieten?«

»Oh, ganz im Gegenteil. Ich werde vom Morgen bis zum Abend im Hause Neugierige haben; aber mit denen mag Fanny fertig werden. Sagen Sie mir bitte nur, wieviel ich verlangen soll.«

»Den Preis will ich selber festsetzen, nachdem ich mit dem Fräulein gesprochen habe. Ich glaube nicht, daß so sehr viele Mädchen kommen werden; denn ich verlange, daß die Mieterin jung ist, daß sie englisch und französisch spricht und daß sie außerdem noch ein anständiges Mädchen ist; denn sie darf durchaus keinen Besuch empfangen, nicht einmal von ihren Eltern, wenn sie welche hat.«

»Aber es werden eine Menge Leute stehen bleiben, um den Zettel zu lesen.«

»Um so besser. Wenn er auffällt, so schadet das nichts.«

Wie die Alte gesagt hatte, blieb ein jeder stehen, um die Anzeige zu lesen. Jeder machte seine Glossen darüber und ging dann lachend weiter. Schon am zweiten Tage teilte mein Neger Jarbe mir mit, meine Anzeige sei wörtlich in St. James-Chronicle abgedruckt, mit einem scherzhaften Kommentar. Ich ließ mir die Zeitung bringen, und Fanny übersetzte mir den Artikel, der folgendermaßen lautete:

»Der Herr des zweiten und dritten Stockwerks bewohnt wahrscheinlich selber das erste. Er muß ein Mann von Geschmack sein, der das Vergnügen liebt; denn er verlangt eine Mieterin, die allein steht, unabhängig und natürlich auch jung ist: und da sie keinen Besuch empfangen kann, so muß er wohl bereit sein, ihr gute Gesellschaft zu leisten.

»Zu befürchten ist nur, daß der Besitzer der Wohnung bei diesem Handel angeführt wird; denn es ist leicht möglich, daß irgend ein hübsches Mädchen die Wohnung mietet, um dort nur zu schlafen oder gar nur von Zeit zu Zeit dorthin zu gehen; außerdem könnte dieses hübsche Mädchen, wenn es ihr so paßt, ganz einfach sich den Besuch des Hausherrn verbitten.«

Diese sehr vernünftige Glosse machte mir Spaß und gefiel mir, weil sie mich vor Überraschungen warnte.

Diese Artikel machen die englischen Zeitungen so angenehm. Alle Vorgänge werden in voller Unabhängigkeit besprochen, und die Zeitungsschreiber wissen die einfachsten Kleinigkeiten des Alltagslebens interessant zu machen. Glücklich die Völker, bei denen man alles sagen und alles schreiben darf.

Lord Pembroke war der erste, der zu mir kam und mir zu meiner Erfindung Glück wünschte. Später kam Martinelli, der jedoch befürchtete, ich könnte leicht zu Schaden kommen; »denn«, sagte er, »in London gibt es viele Mädchen, die eine große Erfahrung besitzen und vielleicht nur zu dem Zweck kommen würden, Ihnen den Kopf zu verdrehen.«

»Da gilt es dann eben List gegen List,« antwortete ich ihm; »wir werden ja sehen. Sollte ich angeführt werden, so wird man freilich das Recht haben, auf meine Kosten zu lachen; denn ich hätte ja auf meiner Hut sein können.«

Ich will meine Leser nicht mit einer Beschreibung von etwa hundert Mädchen langweilen, die während der ersten neun oder zehn Tage kamen. Ihnen allen schlug ich unter verschiedenen Vorwänden die Wohnung ab, obgleich einige von ihnen recht anmutig und schön waren. Endlich aber, am elften oder zwölften Tage erschien ein junges Mädchen von zwanzig bis vierundzwanzig Jahren, als ich gerade bei Tisch saß. Sie war mehr als mittelgroß, ihre Kleidung war nett und sauber, jedoch ohne Luxus, ihr Gesicht edel und von sanftem Ausdruck, obgleich ernst. Sie hatte regelmäßige Züge, eine etwas blasse Farbe, schwarze Haare und war in jeder Beziehung schön. Sie machte mir eine vornehme und zugleich ehrerbietige Verbeugung, die ich erwidern mußte, indem ich mich erhob. Als ich stehen blieb, bat sie mich im Tone der guten Gesellschaft, ich möchte mich nicht stören lassen, sondern ruhig weiter essen. Ich bat sie, Platz zu nehmen. Sie tat es. Hierauf bot ich ihr Süßigkeiten an, denn sie hatte bereits Eindruck auf mich gemacht; sie lehnte jedoch dankend ab und zwar in einem bescheidenen Tone, der mich entzückte.

Hierauf sogte das schöne Fräulein, nicht in dem tadellosen Französisch, wie sie begonnen hatte, sondern in einem Italienisch, das ohne den geringsten fremden Akzent und daher einer Senesin würdig war: sie würde ein Zimmer im dritten Stock nehmen, und gebe sich der Hoffnung hin, daß ich ihr dies nicht abschlagen würde, denn sie glaubte, noch jung zu sein; den anderen Bedingungen, die in meiner Ankündigung erwähnt wären, unterwürfe sie sich gern.

»Mein Fräulein, es steht Ihnen frei, sich nur des einen Zimmerzu bedienen, doch wird die ganze Wohnung Ihnen gehören.«

»Mein Herr, der Zettel besagt allerdings, die Wohnung sei billig: trotzdem würde die ganze Wohnung zu teuer für mich sein, denn ich kann für meine Unterkunft nur zwei Schillinge in der Woche ausgeben.«

»Das ist gerade der Preis, den ich für die ganze Wohnung verlange. Sie können also, wie Sie sehen, darüber verfügen, mein Fräulein, Die Magd wird Sie bedienen und Ihnen das Essen besorgen, das Sie brauchen; außerdem wird sie für Sie waschen. Sie können auch Ihre Besorgungen von ihr machen lassen, damit Sie nicht wegen jeder Kleinigkeit auszugehen brauchen.«

»Dann werde ich also meine Magd entlassen, und das ist mir nicht unlieb; denn sie bestiehlt mich. Allerdings stiehlt sie mir wenig, aber das ist trotzdem viel zu viel für meine Verhältnisse. Ich werde Ihrem Mädchen sagen, was sie mir jeden Tag zu essen holen soll; die kleine Summe, die ich hierfür aussetze, darf niemals überschritten werden. Ich werde ihr für ihre Mühe wöchentlich zehn Pence geben.«

»Sie wird damit sehr zufrieden sein. Ich kann Ihnen sogar empfehlen, sich an die Frau meines Koches zu wenden; denn diese kann Ihnen Mittag- und Abendessen für dasselbe Geld liefern, das Sie ausgeben würden, wenn Sie es sich von draußen holen ließen.«

»Das halte ich kaum für möglich; denn ich schäme mich, Ihnen zu sagen, wie wenig ich ausgebe.«

»Wenn Sie auch nur einen Penny täglich ausgeben könnten, so würde ich der Frau sagen, sie soll Ihnen nicht mehr liefern, als für diesen Preis zu haben ist. Ich rate Ihnen, nehmen Sie ruhig das Essen, das Sie in der Küche bekommen können, und machen Sie sich wegen der Billigkeit keine Gedanken; denn ich habe die Gewohnheit, für vier Personen reichlich kochen zu lassen, obgleich ich fast immer allein speise; was übrig bleibt, gehört dem Koch. Ich werde nichts weiter tun, als daß ich Sie ihm empfehle, damit Sie gut bedient werden, und ich hoffe. Sie werden es mir nicht übel nehmen, daß ich mich für Sie interessiere.«

»Mein Herr, Ihr Anerbieten ist überraschend; Sie sind sehr großmütig.«

»Warten Sie einen Augenblick, mein Fräulein! Sie werden sofort sehen, daß es auf die allernatürlichste Art von der Welt zugeht.«

Ich befahl Clairmont, die Magd und die Frau des Kochs zu rufen, und sagte zu dieser letzteren: »Wieviel verlangen Sie täglich für Mittag- und Abendessen für diese junge Dame, die nicht reich ist und nicht mehr essen will, als sie zum Leben braucht?«

»Ich werde ihr das Essen sehr billig liefern, denn der gnädige Herr speist fast immer allein und läßt für vier Personen kochen.«

»Schön; infolgedessen hoffe ich, können Sie die Dame sehr gut für den Preis beköstigen, den sie Ihnen bezahlen will.«

»Ich kann täglich nur fünf Pence ausgeben.«

»Für fünf Pence, mein Fräulein, werden wir Sie verköstigen.«

Ich befahl sofort, das Aushängeschild zu entfernen und das Zimmer, das die junge Dame wählen würde, mit allen Bequemlichkeiten zu versehen. Als die Küchin und die Magd sich entfernt hatten, sagte die junge Dame mir, sie werde nur am Sonntag ausgehen, um in der Kapelle des bayrischen Gesandten die Messe zu hören; außerdem gehe sie einmal monatlich zu einer Person, die ihr drei Guineen für ihren Lebensunterhalt auszahle.

»Sie können ausgehen, wann Sie wollen, mein Fräulein, und brauchen darüber keinem Menschen Rechenschaft zu geben.«

Schließlich bat sie mich, niemals Besuche zu ihr zu führen und der Hausbesorgerin zu befehlen, sie solle jedem, der sich nach ihr erkundige, antworten, sie kenne sie nicht. Ich versprach ihr, daß alles nach ihren Wünschen geschehen solle, und sie entfernte sich, indem sie mir sagte, sie werde ihren Koffer bringen lassen.

Sobald sie gegangen war, befahl ich allen meinen Leuten, ihr mit der größten erdenklichen Rücksicht zu begegnen. Die alte Hausmeisterin sagte mir, sie habe für die erste Woche vorausbezahlt und sich darüber eine Quittung geben lassen; hierauf habe sie sich in einer Sänfte entfernt, wie sie gekommen sei. Zum Schluß faßte die gute Alte sich Mut und ließ mir durch unsere Dolmetscherin sagen, ich möchte mich vor Fallen hüten.

»Vor was für einer Falle? Ich sehe keine. Wenn sie vernünftig ist und ich mich in sie verliebe – nun, um so besser; das wünsche ich ja gerade. Ich brauche nur acht Tage, um sie kennen zu lernen. Welchen Namen hat sie Ihnen angegeben?«

»Mistreß Pauline; als sie ankam, war sie ganz blaß; aber als sie wieder fort ging, war sie feuerrot.«

Ich war schon voller Hoffnung; dieser Glücksfund erfüllte mich mit inniger Freude. Um mein Temperament zu befriedigen, brauchte ich keine Frau – denn das findet man überall; aber ich brauchte eine, um sie zu lieben. Es war für mich eine Notwendigkeit, an dem Gegenstand meiner Zärtlichkeit Schönheit des Leibes und der Seele zu finden, und meine Liebe wuchs im Verhältnis zu den Schwierigkeiten, die sich meiner Voraussicht nach dem Erfolge entgegenstellten. Ich gestehe, daß ich einen Mißerfolg als unmöglich ansah; denn ich wußte, daß es keine Frau gibt, die der ausdauernden Bewerbung und den Aufmerksamkeiten eines Mannes widerstehen könnte, der sie verliebt machen will, besonders wenn dieser Mann sich in den Verhältnissen befindet, große Opfer bringen zu können.

Als ich am Abend nach dem Theater nach Hause kam, sagte die Magd mir, Madame habe ein bescheidenes Hinterstübchen gewählt, das nur einem Dienstboten genügen könne. Sie habe bescheiden zu Abend gegessen und dazu nur Wasser getrunken; als sie die Frau des Kochs gebeten habe, ihr nur einen Teller Suppe und ein Gericht zu liefern, habe diese ihr geantwortet: sie müsse annehmen, was man ihr vorsetze; was sie nicht wolle, werde die Magd essen. Nach dem Essen habe sie ihr sehr gütig gute Nacht gesagt und sich dann eingeschlossen, um zu schreiben.

»Was nimmt sie morgen« zum Frühstück?«

»Ich habe sie danach gefragt, und sie hat mir geantwortet, sie esse nur ein wenig Brot.«

»Du wirst ihr morgen früh sagen: es sei im Hause Brauch, daß der Koch zum Frühstück Kaffee, Tee, Schokolade oder Fleischbrühe liefere, wie es einem jeden beliebe; wenn sie es zurückweise, werde sie mich vielleicht verletzen. Laß dir aber nicht einfallen, ihr zu sagen, daß ich mit dir hierüber gesprochen habe. Da hast du eine Krone; du sollst jede Woche eine bekommen, wenn du sie auf das freundlichste bedienst.

Bevor ich zu Bett ging, schrieb ich ihr ein sehr höfliches Briefchen, worin ich sie bat, das erwählte Kämmerchen mit einem anderen Zimmer zu vertauschen. Sie tat dies, aber sie ließ ihre Sachen in ein Zimmer bringen, das ebenfalls nach hinten hinaus lag. Fannys Vorstellungen brachten sie dahin, zum Frühstück Kaffee anzunehmen. Ich wünschte, sie zu veranlassen, daß sie mit mir zu Mittag und zu Abend äße. Darum kleidete ich mich an, um ihr einen Besuch zu machen, und sie auf eine Art darum zu bitten, daß sie sich nicht gut weigern konnte. In diesem Augenblick meldete Clairmont mir den jungen Cornelis. Ich empfing ihn lachend, indem ich ihm dafür dankte, daß er mich seit sechs Wochen zum ersten Male besuche.

»Mama hat mir niemals erlaubt, zu Ihnen zu gehen. Ich kann es nicht mehr aushalten; zwanzigmal war ich in Versuchung, trotz ihrem Verbot zu kommen. Bitte, lesen Sie diesen Brief; Sie werden darin etwas finden, was Sie überraschen wird.«

Ich öffnete den Brief; er lautete:

»Ein Gerichtsbote benutzte gestern einen Augenblick, wo meine Türe offenstand, trat in mein Zimmer ein und verhaftete mich. Ich war gezwungen, ihm zu folgen, und befinde ich mich jetzt bei ihm im Gefängnis; wenn ich nicht im Lauf des Tages Bürgschaft stelle, wird er mich heute Abend in das Kings-Bench-Gefängnis bringen. Diese Bürgschaft beträgt zweihundert Pfund Sterling für einen bereits verfallenen Wechsel, den ich nicht habe zahlen können. Ich flehe Sie an, mein wohltätiger Freund: befreien Sie mich sogleich aus diesem Ort! Sonst könnte ich das Unglück haben, daß schon morgen eine Menge Gläubiger erscheinen und mich einsperren lassen würden; dadurch würde mein Zusammenbruch unvermeidlich werden. Verhindern Sie diesen, ich bitte Sie flehentlich, und damit auch das Unglück meiner unschuldigen Familie. Als Ausländer können Sie nicht für mich Bürgschaft leisten; aber Sie brauchen nur einem Hausbesitzer ein Wort zu sagen, und Sie werden zehn für einen bereit finden. Wenn Sie Zeit haben, bei mir vorzusprechen, so kommen Sie! Sie werden dann erfahren, daß ich den letzten Ball nicht hätte geben können, wenn ich nicht diesen unglückseligen Wechsel unterschrieben hätte; denn ich hatte mein ganzes Silbergeschirr und Porzellan versetzt.«

Empört über dieses unverschämte Weib, das sich mir gegenüber soweit vergessen hatte, schrieb ich ihr, ich könne sie nur bedauern, ich habe keine Zeit, sie zu besuchen, und schäme mich außerdem, irgend jemanden zu bitten, für sie Bürgschaft zu leisten.

Nachdem der kleine Cornelis sehr traurig fortgegangen war, befahl ich Clairmont, zu Pauline hinaufzugehen und sie zu fragen, ob sie mir gestatten wolle, ihr guten Tag zu wünschen. Sie ließ mir sagen, es stehe bei mir, sie aufzusuchen. Ich ging zu ihr hinein und fand auf dem Tische mehrere Bücher liegen; außerdem sah ich auf einer Kommode Kleidungsstücke, die nicht auf Bedürftigkeit schließen ließen.

»Ich bin Ihnen für Ihre Freundlichkeiten unendlich dankbar«, sagte sie zu mir.

»Sprechen wir nicht davon, Madame; glauben Sie mir, daß ich im Gegenteil Ihnen dankbar sein muß.«

»Was kann ich tun, mein Herr, Ihnen meine Erkenntlichkeit zu zeigen?«

»Sie können dies tun, Madame, indem Sie sich den Zwang auferlegen und mir die Ehre erweisen, mir bei Tisch Gesellschaft zu leisten, so oft niemand bei mir speist; denn wenn ich allein bin, esse ich wie ein Oger, und darunter leidet meine Gesundheit; wenn Sie sich nicht geneigt fühlen, mir dieses Vergnügen zu machen, werden Sie mir verzeihen, Sie darum gebeten zu haben; selbst wenn Sie sich weigern, werden die Vorteile, die ich Ihnen in meinem Hause verschafft habe, sich nicht vermindern.«

»Ich werde die Ehre haben, mein Herr, mit Ihnen zu speisen, so oft Sie allein sind und mir Bescheid sagen lassen. Es tut mir nur leid, daß ich nicht sicher bin, ob meine Gesellschaft Ihnen nützlich sein und Sie erheitern kann.«

»Ich bin Ihnen sehr dankbar, Madame, und verspreche Ihnen, daß Ihre Gefälligkeit Sie niemals gereuen soll. Ich werde mir alle Mühe geben, Sie aufzuheitern, und werde glücklich sein, wenn mir das gelingt; denn Sie haben mir die lebhafteste Teilnahme eingeflößt. Um ein Uhr essen wir zu Mittag.«

Ich setzte mich nicht, sah mir nicht ihre Bücher an und fragte sie nicht einmal, ob sie gut geschlafen habe. Ich bemerkte nur soviel, daß sie bei meinem Eintritt blaß und sorgenvoll aussah, und daß ihre Wangen scharlachrot waren, als ich hinausging.

Ich machte hierauf einen Spaziergang im Park. Ich war bereits in das reizende Mädchen heftig verliebt und war fest entschlossen, alles aufzubieten, damit sie mich lieben mußte; denn ich wollte ihrer Gefälligkeit nichts zu verdanken haben. Ich war außerordentlich neugierig, wer sie wohl sein möchte. Ich vermutete in ihr eine Italienerin; aber ich nahm mir vor, sie durch keine Frage zu belästigen, denn ich fürchtete, ihr dadurch zu mißfallen. Dieser Gedanke war etwas romantisch; aber er paßte zu dem überspannten Gefühl, das man Liebe nennt. Als ich wieder zu Hause war, kam Pauline hinunter, ohne daß ich sie hatte bitten lassen. Die Aufmerksamkeit gefiel mir außerordentlich, denn ich sah darin ein gutes Vorzeichen. Ich dankte ihr deshalb lebhaft dafür. Da wir noch eine halbe Stunde vor uns hatten, fragte ich sie, ob sie mit ihrer Gesundheit zufrieden sei.

»Die Natur«, antwortete sie mir, »hat mich mit einer so glücklichen Leibesbeschaffenheit begabt, daß ich nie in meinem Leben auch nur im geringsten unwohl gewesen bin, außer auf dem Meere; denn dieses Element ist mir feindlich gesinnt.« »Sie sind also über das Meer gereist?« »Das mußte ich wohl, um nach England zu gelangen.« »Ich konnte vielleicht annehmen, daß Sie Engländerin seien.« »Das ist wohl möglich; denn die englische Sprache ist mir seit meiner zartesten Kindheit vertraut.«

Wir saßen auf einem Sofa. Auf dem Tische vor uns stand ein Schachspiel. Pauline schob die Figuren hin und her; das veranlaßte mich zu der Frage, ob sie Schach spielen könne. »Ja; man hat mir sogar gesagt, ich spiele gut.« »Ich spiele schlecht; aber lassen Sie uns eine Partie machen. Meine Niederlagen werden Ihnen Spaß bereiten.«

Wir beginnen. Pauline zieht an, und mit dem vierten Zuge bin ich schach und matt. Sie lacht; ich bewundere sie. Wir fangen wieder an: beim fünften Zuge bin ich wieder matt. Hierüber lacht meine liebenswürdige Besucherin von ganzem Herzen. Während dieses Lachens berausche ich mich vor Liebe, als ich ihre herrlichen Zähne und ihre entzückende Aufregung sehe, besonders aber als ich bemerkte, welch einen innigen Ausdruck von Glück die Heiterkeit ihr verleiht. Wir beginnen die dritte Partie; Pauline ist unaufmerksam, und ich bringe sie in Verlegenheit.

»Ich glaube,« ruft sie, »Sie können mich besiegen!«

»Welch ein Glück wäre das für mich!«

Man meldet uns, daß das Essen angerichtet sei.

»Unterbrechungen sind oft lästig«, sagte ich zu ihr, indem ich aufstand und ihr meinen Arm bot. Ich war fest überzeugt, daß die Bedeutung der letzten Worte ihr nicht entgangen war; denn die Frauen lassen eine Anspielung niemals unbemerkt.

Als wir uns eben zu Tisch gefetzt hatten, meldete Clairmont mir die kleine Cornelis mit Frau Rancour.

»Sagen Sie ihnen, ich sei beim Essen und werde nicht vor drei Stunden fertig sein.«

Als Clairmont hinausging, um meine Antwort zu überbringen, schlüpfte die kleine Sophie ins Zimmer, lief auf mich zu und warf sich vor mir auf die Knie. Dann weinte sie so heftig, daß sie vor Schluchzen nicht sprechen konnte.

Ganz gerührt von diesem Anblick, beeile ich mich sie aufzuheben; ich setze sie auf meine Knie, trockne ihre Tränen und beruhige sie, indem ich ihr sage: ich wisse schon, was sie wünsche, und wolle aus Liebe zu ihr ihren Wunsch erfüllen.

Plötzlich von der Verzweiflung zur Freude übergehend, umarmt das liebe Kind mich und nennt mich ihren lieben Vater, so daß ich schließlich ebenfalls zu weinen anfange.

»Iß mit uns, liebes Kind; das wird es mir leichter machen, dir deinen Wunsch zu erfüllen.«

Sophie entwand sich meinen Armen und lief zu Paulinen, die ebenfalls aus Sympathie mitweinte. Dann begannen wir voller Glück zu essen. Sophie sagte zu mir: »Bitte, lassen Sie doch auch der Rancour etwas zu essen geben. Mama hat ihr verboten, mit hinaufzukommen.«

»Es soll nach deinem Wunsche geschehen, liebes Kind – aber nur dir zuliebe; denn diese Rancoul verdiente wohl, daß ich sie vor der Türe stehen ließe, um sie für die Rücksichtslosigkeit zu bestrafen, womit sie mich bei meiner Ankunft behandelte.«

Während der ganzen Mahlzeit unterhielt das Kind uns auf eine erstaunliche Weise. Pauline war ganz Ohr und sagte kein Wort vor lauter Erstaunen, ein solches Kind mit einem Verstande sprechen zu hören, den man an einem Mädchen von zwanzig Jahren bewundert haben würde. Ohne jemals die Schranken der Ehrfurcht zu überschreiten, verdammte sie das Betragen ihrer Mutter.

»Wie unglücklich bin ich,« rief sie, »daß meine Pflicht mich zwingt, mich ihr zu fügen und blindlings ihrem Willen zu gehorchen!«

»Ich möchte wetten, du liebst sie nicht?«

»Ich achte sie, aber ich kann sie nicht lieben; denn sie macht mir immer Angst. Ich sehe sie niemals ohne Furcht.«

»Warum weintest du denn so?«

»Aus Mitleid mit ihr und unserer ganzen Familie, besonders aber wegen der Worte, die sie mir sagte, als sie mir befahl, zu Ihnen zu gehen.«

»Was waren das für Worte?«

»Geh!« sagte sie mir. »Wirf dich vor ihm auf die Knie! Nur du kannst ihn rühren, und ich setze meine ganze Hoffnung nur auf dich allein!«

»Du hast dich also nur darum auf die Knie geworfen, weil sie es dir gesagt hat?«

»Ja! Denn wenn ich meinem eigenen Antriebe gefolgt wäre, hätte ich mich in Ihre Arme geworfen.«

»Du hast recht. Aber warst du sicher, daß du mich überreden würdest?«

»Nein; denn sicher ist man überhaupt niemals. Aber ich hoffte es; denn ich erinnerte mich der Worte, die Sie zu mir im Haag sagten. Meine Mutter sagt, ich sei damals erst drei Jahre alt gewesen; ich weiß jedoch, daß ich schon fünf Jahre alt war. Sie hatte mir auch befohlen, mit Ihnen zu sprechen, ohne Sie anzusehen. Zum Glück wußten Sie sie zu nötigen, ihr Verbot zu widerrufen. Alle Leute sagen zu ihr, Sie seien mein Vater, und im Haag hat sie selber mir dies gesagt. Hier aber wiederholt sie mir fortwährend, ich sei die Tochter des Herrn de Montpernis.«

»Aber, liebe Sophie, deine Mutter schadet dir, indem sie dich für eine natürliche Tochter ausgibt, während du doch die rechtmäßige Tochter des Tänzers Pompeati bist, der sich in Wien selber tötete. Er lebte aber noch, als du zur Welt kamst.«

»Wenn ich Pompeatis Tochter bin, sind Sie also nicht mein Vater?«

»Nein, ganz gewiß nicht, denn du kannst doch nicht die Tochter zweier Väter sein.«

»Aber wie kommt es denn, daß ich Ihnen sprechend ähnlich sehe?«

»Das ist ein Spiel des Zufalls.«

»Sie rauben mir eine Illusion, die mir Freude machte.«

Auf Paulinen machte Sophiens Beredsamkeit großen Eindruck; sie sagte beinahe kein Wort, aber sie bedeckte sie mit Küssen, die die Kleine ihr reichlich zurückgab. Diese fragte mich, ob Madame meine Gemahlin sei; als ich diese Frage bejahte, nannte sie sie ihre liebe Mama, worüber Pauline herzlich lachte.

Beim Nachtisch zog ich vier Banknoten von je fünfzig Pfund Sterling aus meiner Brieftasche, gab sie Sophien und sagte ihr, sie könne sie ihrer Mutter schenken; aber ich gäbe sie ihr und nicht ihrer Mutter.

»Wenn du ihr das Geschenk bringst, liebe Tocbter, kann deine Mutter heute abend in ihrem schönen Hause schlafen, wo sie mich so unwürdig empfangen hat.«

»Es tut mir leid; aber verzeihen Sie ihr!«

»Ja, Sophie, das will ich; aber ich tue es nur dir zuliebe.«

»Schreiben Sie ihr, daß Sie mir die zweihundert Pfund schenken; denn ich wage es nicht, ihr dies selber zu sagen.«

»Du fühlst wohl, mein Kind, daß ich ihr das nicht schreiben kann; denn ich würde damit ihren Schmerz beleidigen. Begreifst du das?«

»Oh, vollkommen!«

»Du kannst ihr sagen, sie werde mir ein großes Vergnügen bereiten, so oft sie dich mittags oder abends schicke, um mit mir zu essen.«

»Oh! Das können Sie ihr aber doch schreiben, ohne ihren Schmerz zu kränken, nicht wahr? Oh, tun Sie es doch bitte. Meine liebe Mama,« – dabei sah sie Pauline an – »bitten Sie doch meinen Papa, das zu schreiben; dann werde ich manchmal mit Ihnen speisen.«

Pauline lachte herzlich, nannte mich ihren Mann und bat mich, ich möchte doch ein paar Worte auf einen Zettel schreiben. Daran würde die Mutter erkennen, daß ich Sophie lieb hätte, und das würde nur die Liebe vermehren, die sie zu einer solchen Tochter hegen müßte. Ich gab nach, indem ich ihr sagte, ich könne der anbetungswürdigen Frau, die mich mit dem Namen ihres Mannes geehrt hätte, keinen Wunsch abschlagen. Sophie entfernte sich glückstrahlend, nachdem sie uns viele zärtliche Küsse gegeben hatte.

»Ich habe seit langer Zeit nicht soviel gelacht« sagte Pauline zu mir, »und ich glaube, ich habe in meinem ganzen Leben noch nicht so angenehm gespeist. Diese Kleine ist ein kostbares Juwel. Das arme Kind fühlt sich unglücklich! Sie wäre es nicht, wenn ich ihre Mutter wäre.«

Hierauf erzählte ich ihr im Vertrauen, wer Sophie war und welche Gründe ich hatte, ihre Mutter zu verachten.

»Ich möchte lachen, wenn ich daran denke, was sie sagen wird, wenn Sophie ihr erzählt, sie habe Sie mit Ihrer Frau bei Tisch gefunden.«

»Sie wird es nicht glauben; denn sie weiß, daß die Heirat ein Sakrament ist, das ich verabscheue.«

»Warum?«

»Weil sie das Grab der Liebe ist.«

»Nicht immer.«

Pauline seufzte, schlug ihre schönen Augen nieder und sprach von etwas anderem. Sie fragte mich, ob ich mich lange in London aufzuhalten gedächte. Ich antwortete ihr, ich werde wahrscheinlich neun oder zehn Monate hier verbringen; hierauf glaubte ich, an sie dieselbe Frage stellen zu dürfen.

»Ich weiß es nicht«, antwortete sie mir; »denn meine Rückkehr in die Heimat hängt von einem Briefe ab.«

»Dürfte ich Sie fragen, was Ihre Heimat ist?«

»Ich sehe voraus, daß ich vor Ihnen keine Geheimnisse haben werde, wenn Ihnen etwas daran liegen sollte, diese kennen zu lernen; aber lassen Sie bitte noch einige Tage vergehen. Ich habe erst heute begonnen, Sie näher kennen zu lernen, und zwar auf eine Art, die Sie in meinen Augen sehr achtungswert macht.«

»Ich werde glücklich sein, wenn ich Ihren Beifall gewinnen und Sie in der guten Meinung bestärken kann, die Sie von meinem Charakter gefaßt haben.«

»Sie haben sich bis jetzt von einer Seite gezeigt, die meine höchste Ehrfurcht verdient.«

»Schenken Sie mir Ihre Achtung; auf diese lege ich den größten Wert; aber verschonen Sie mich mit Ihrer Ehrfurcht, denn diese schließt, wie mir scheint, die Freundschaft aus. Ich strebe aber nach Ihrer Freundschaft, und ich glaube, Sie darauf aufmerksam machen zu müssen, daß ich Ihnen alle möglichen Fallen stellen werde, um diese Freundschaft zu gewinnen.«

»Ich glaube, Sie sind sehr geschickt in solcher Jagd; aber ich halte Sie auch für großmütig und bin überzeugt, daß Sie mich schonen werden. Sollte ich eine zu innige Freundschaft für Sie fassen, so würde die Trennung zu schmerzlich für mich sein; diese Trennung kann aber jeden Augenblick eintreten – ich muß das sogar wünschen.«

Unsere Unterhaltung wurde gefühlvoll. Pauline brachte daher mit jener Gewandtheit, die der Verkehr in der vornehmen Welt verleiht, das Gespräch auf gleichgültige Dinge. Nach einiger Zeit bat sie mich um Erlaubnis, auf ihr Zimmer gehen zu dürfen. Ich hätte gern den ganzen Tag mit ihr verbracht; denn ich hatte selten ein Weib gefunden, das so liebenswürdige und zugleich so vornehme Manieren hatte.

Als ich allein war, verspürte ich ein gewisses Gefühl von Leere. Ich ging daher zur Binetti, die mich mit der Frage empfing, wie es dem Lord Pembroke gehe. Sie war ärgerlich auf ihn.

»Er ist ein abscheulicher Mensch!« rief sie, »er braucht jeden Tag eine neue Frau. Wie findest du das?«

»Ich beneide ihn, daß er so glücklich ist, sich das verschaffen zu können.«

»Er kann es, weil die Weiber dumm sind. Mich hat er angeführt, weil er mich bei dir überrumpelt hat; sonst würde er mich niemals gehabt haben. Du lachst?«

»Ja, ich lache. Denn wenn er dich gehabt hat, so hast du ihn ebenfalls gehabt. Also seid ihr quitt.«

»Du weißt nicht, was du sagst.«

Um acht Uhr kam ich nach Hause. Pauline kam herunter, sobald sie erfuhr, daß ich da sei; denn Fanny hatte ihr auf ihren Befehl meine Rückkunft mitgeteilt. Ich glaubte in diesem Benehmen die Absicht zu sehen, mich durch Aufmerksamkeiten zu fesseln, und da ich dieselben Gefühle hegte, die ich gerne bei ihr vorausgesetzt hätte, so konnte es nicht lange dauern, bis wir zu einer Verständigung gelangten.

Das Abendessen wurde aufgetragen; wir setzten uns zu Tisch und blieben bis Mitternacht sitzen. Wir plauderten über allerlei Nichtigkeiten, aber so angenehm, daß die Stunden uns verstrichen, ohne daß wir es merkten. Zum Schluß wünschte sie mir gute Nacht und sagte mir, sie vergesse über meiner Unterhaltung zu sehr ihr Unglück.

Am nächsten Tage lud Pembroke sich bei mir zum Frühstück ein und beglückwünschte mich zum Verschwinden meines Aushängezettels.

»Ich wäre recht neugierig, Ihre Mieterin kennen zu lernen.«

»Ich glaube es, Mylord; aber im Augenblick kann ich Ihre Neugierde nicht befriedigen; denn sie hat einsiedlerische Neigungen und duldet mich nur aus Notwendigkeit.«

Er sprach nicht mehr davon, und um seine Gedanken von diesem Gegenstande abzulenken, sagte ich ihm, die Binetti verabscheue seine Unbeständigkeit, und dies spreche zu seinen Gunsten. Er lachte darüber, antwortete mir aber nicht, sondern fragte mich: »Speisen Sie heute zu Hause?«

»Nein, Mylord, heute nicht.«

»Ich verstehe; das ist auch ganz natürlich. Leben Sie wohl; machen Sie die Sache gut!«

»Ich arbeite daran.«

Martinelli hatte im Advertiser drei oder vier Parodien meiner Anzeige gefunden. Er brachte mir die Zeitung, und ich mußte lachen, als er sie mir übersetzte; es waren aber weiter nichts als Übertreibungen, die darauf berechnet waren, das Publikum zum Lachen zu bringen und eine Spalte der Zeitung zu füllen. Die Artikel waren durchweg unanständig; dies war kein Wunder; denn in London wird mit dem Recht, alles sagen zu dürfen, ein großer Mißbrauch getrieben.

Martinelli war zu vorsichtig und zu zartfühlend, um überhaupt von meiner Mieterin zu sprechen. Da Sonntag war, bat ich ihn, mit mir zur Messe beim bayrischen Gesandten zu gehen; es geschah, das gestehe ich hier in aller Demut, nicht aus Frömmigkeit, sondern in der Hoffnung, Pauline zu sehen. Meine Erwartung wurde betrogen; denn sie hatte sich, wie ich später erfuhr, in einen Winkel gesetzt, wo niemand sie beobachten konnte. Die Kapelle war voll von Menschen, und Martinelli zeigte mir Lords, Ladies und andere hervorragende Persönlichkeiten, die katholisch waren und dieses nicht verbargen. Im Augenblick, wo ich nach Hause kam, übergab ein Bedienter der Cornelis mir einen Brief von dieser Dame. Sie schrieb mir: da sie am Sonntag frei ausgehen könne, wünsche sie, daß ich ihr erlauben möge, bei mir zu speisen. Ich ging sofort zu Pauline hinauf und fragte sie, ob sie etwas dagegen einzuwenden habe, wenn die Cornelis mit uns esse. Das liebenswürdige Mädchen antwortete mir, sie würde gerne mit ihr speisen, vorausgesetzt, daß sie keinen Mann mitbrächte. Ich ließ ihr daher sagen, ich würde sie mit Vergnügen empfangen, wenn sie mit meiner Tochter käme. Sie kam, und Sophie ging nicht einen Augenblick von meiner Seite. Die Cornelis fühlte sich durch Paulinens Gegenwart verlegen; sie nahm mich daher auf die Seite, um mir mehrere chimärische Pläne mitzuteilen, die sie in kurzer Zeit reich machen müßten.

Meine kleine Sophie war die Seele unserer Mahlzeit. Als ich aber der Cornelis sagte, Pauline sei eine ausländische Dame, an die ich eine Wohnung vermietet habe, rief Sophie: »Sie ist also nicht Ihre Frau?«

»Nein, so glücklich bin ich nicht. Ich habe es nur zum Scherz gesagt, und Madame hat sich über deine Leichtgläubigkeit belustigt.«

»Wißt ihr was, ich will bei ihr schlafen.«

»So? Wann denn.«

»Sobald Mama es mir erlaubt.«

»Man müßte doch erst sehen, ob Madame damit einverstanden wäre.«

»Sie hat keine abschlägige Antwort zu befürchten«, rief Pauline, indem sie sie umarmte.

»Nun, Madame, ich lasse sie Ihnen mit Vergnügen hier; ich werde sie morgen von der Gouvernante abholen lassen.«

»Es genügt,« sagte ich, »wenn sie morgen um drei Uhr kommt, denn Sophie muß erst mit uns zu Mittag essen.«

Als Sophie sah, daß ihre Mutter stillschweigend zustimmte, eilte sie zu dieser und gab ihr Küsse, die diese sich kalt gefallen ließ. Sie kannte nicht das Glück, sich lieben zu lassen.

Als die Mutter fort war, fragte ich Pauline, ob es ihr recht sei, mit der Kleinen und mir eine Spazierfahrt in der Umgegend von London zu machen, wo kein Mensch uns sehen werde.

»Ich darf aus Vorsicht nur allein ausgehen.«

»So werden wir also hier bleiben?«

»Ja; wir könnten auch nirgend besser aufgehoben sein.«

Pauline und Sophie sangen englische, italienische, französische Duette, und ich fand dieses Konzert entzückend. Fröhlich aßen wir zu Abend, und gegen Mitternacht führte ich sie in das dritte Stockwerk hinauf, wo ich zu Sophie sagte, ich würde am Morgen hinaufkommen und mit ihr frühstücken, aber ich wollte sie im Bett finden. Ich hegte den Wunsch, zu sehen, ob ihr Körper ebenso schön sei wie ihr Gesicht. Gerne hätte ich Pauline gebeten, mir dieselbe Gunst zu gewähren, aber ich war noch nicht weit genug vorgeschritten, um mir eine solche Kühnheit erlauben zu können. Ich fand sie denn auch am anderen Morgen bereits aufgestanden und in einem sehr anständigen Morgen- kleide.

Als sie mich sah, fing Sophie zu lachen an und versteckte sich unter der Bettdecke; als sie mich aber an ihrer Seite fühlte, zeigte sie mir ihr hübsches Gcsichtchen, das ich mit Küssen bedeckte.

Nachdem sie aufgestanden war, frühstückten wir sehr heiter; hierauf vertrieben wir uns auf das angenehmste die Zeit, bis die Rancour kam, um die Kleine abzuholen. Diese ging traurig mit ihr fort, und ich blieb allein mit meiner großen Pauline, die mich dermaßen zu quälen begann, daß es jeden Augenblick zu einem Ausbruch meiner Leidenschaft kommen konnte; trotzdem hatte ich ihr noch nicht einmal die Hand geküßt.

Als Sophie fortgegangen war, bat ich sie, sich neben mich zu setzen, ergriff ihre Hand, küßte sie leidenschaftlich und fragte: »Sind Sie verheiratet, liebe Pauline?«

»Kennen Sie die Mutterliebe?«

»Nein. Aber es bedarf für mich keiner großen Anstrengung, um mir eine richtige Vorstellung von ihr zu machen.«

»Sind Sie von Ihrem Gatten getrennt?«

»Ja, durch die Gewalt der Umstände und gegen unseren Willen. Man hat uns getrennt, bevor wir die Ehe vollzogen hatten.«

»Ist er in London?«

»Nein, er ist sehr weit von hier; aber bitte, lassen Sie uns nicht mehr davon sprechen.«

»Sagen Sie mir nur noch: werden Sie alsdann zu ihm gehen, wenn ich Sie einmal verlieren muß?«

»Ja, und ich verspreche Ihnen: wenn Sie mich nicht etwa fortschicken, werde ich nur von Ihnen gehen, um England zu verlassen; ich werde aber diese glückliche Insel nur verlassen, um mit dem Gatten meiner Wahl glücklich zu sein.«

»Reizende Pauline! Ich werde unglücklich hier zurückbleiben; denn ich liebe Sie, und ich fürchte Ihnen zu mißfallen, wenn ich Ihnen Beweise meiner Liebe gäbe.«

»Seien Sie großmütig, mäßigen Sie sich! Ich bin nicht meine eigene Herrin, um mich der Liebe hingeben zu können, und vielleicht würde ich nicht die Kraft haben, Ihnen Widerstand zu leisten, wenn Sie meiner nicht schonten.«

»Ich werde Ihnen gehorchen, aber ich werde vor Sehnsucht vergehen; doch wie könnte ich wohl unglücklich sein, wenn ich nicht das Unglück habe, Ihnen zu mißfallen.«

»Ich habe Pflichten zu erfüllen, lieber Freund, und ich würde mich verächtlich machen, wenn ich diese verletzte.«

»Ich würde mich für den unwürdigsten aller Menschen halten, wenn ich meine Achtung einer Frau versagen könnte, weil sie mich glücklich gemacht hätte, indem sie einer ihr von mir eingeflößten Neigung nachgegeben hätte.«

»Ich habe allerdings zu große Achtung vor Ihnen, um Sie einer solchen Handlung fähig zu glauben; aber mäßigen wir uns und denken wir daran, daß wir schon morgen uns genötigt sehen können, uns zu trennen; gestehen Sie: wenn wir den Begierden der Liebe nachgäben, würde unsere Trennung viel bitterer sein, als wenn wir ihnen Widerstand leisten. Wenn Sie das nicht zugeben, ist Ihre Liebe von anderer Natur als die meinige.«

»Von welcher Natur ist denn die Liebe, die ich das Glück gehabt habe Ihnen einzuflößen?«

»Sie ist von solcher Art, daß der Genuß sie nur steigern könnte; trotzdem scheint dieser mir nur eine fast überflüssige Zugabe zu meiner Liebe zu sein.«

»Welches ist denn nach Ihrer Meinung das wesentliche Gefühl jeder Liebe?«

»Daß man in einer durch nichts zu störenden Eintracht beisammen lebt.«

»Dies ist ein Glück, das uns vom Morgen bis zum Abend beschert ist; aber warum sollten wir nicht jenes Zubehör hinzufügen, das uns nur wenige Augenblicke beschäftigen und das unseren liebenden Herzen die Ruhe und den Frieden geben wird, den wir bedürfe»? Außerdem, göttliche Pauline, werden Sie zugeben, daß dieses Zubehör der eigentlichen Liebe als Nahrung dient.«

»Ich gebe es zu; aber geben auch Sie Ihrerseits zu, daß diese Nahrung ihr fast immer tödlich wird.«

»Dies ist, glaube ich, nicht der Fall, wenn man wirklich liebt; und dies gilt von mir. Können Sie glauben. Sie werden mich weniger lieben, wenn Sie mich mit der vollen Glut der Zärtlichkeit besessen haben?«

»Nein, das glaube ich nicht; und weil ich vom Gegenteil überzeugt bin, gerade deshalb fürchte ich, der Augenblick der Trennung würde mich zur Verzweiflung bringen.«

»Ich muß vor Ihrer unwiderstehlichen Dialektik die Segel streichen, reizende Pauline. Ich möchte wohl sehen, womit Sie Ihren erhabenen Geist nähren; ich möchte also Ihre Bücher sehen. Sollen wir hinaufgehen? Ich werde nicht ausgehen.«

»Mit Vergnügen; aber Sie werden angeführt sein.«

»Auf welche Weise denn?«

»Kommen Sie nur!«

Wir gehen in ihr Zimmer, ich sehe mir ihre Bücher an und finde lauter portugiesische, mit Ausnahme des Milton in englischer, des Ariosto in italienischer und der Charaktere des Labruyère in französischer Sprache.

»Dies alles, meine liebe Pauline, gibt mir einen sehr hohen Begriff von Ihnen; aber woher diese Vorliebe für Camoens und alle diese anderen Portugiesen?«

»Aus einem sehr natürlichen Grunde: Ich bin Portugiesin.«

»Sie Portugiesin? Ich habe Sie für eine Italienerin gehalten. In Ihrem jugendlichen Alter sprechen Sie fünf Sprachen – denn Sie müssen auch spanisch können.«

»Allerdings, obgleich das nicht durchaus notwendig ist.«

»Welche Erziehung!«

»Ich bin zweiundzwanzig Jahre alt, aber ich beherrschte diese Sprachen schon mit achtzehn.«

»Sagen Sie mir, wer Sie sind! Sagen Sie mir alles! Ich verdiene Ihr Vertrauen.«

»Ich glaube es, und ich werde es Ihnen beweisen, indem ich mich Ihnen ohne Furcht und ohne Rückhalt anvertraue; denn da Sie mich lieben, so können Sie mir nur wohlwollen.«

»Und was bedeuten alle diese beschriebenen Blätter?«

»Meine Geschichte, die ich hier niedergeschrieben habe. Setzen wir uns!«

Elftes Kapitel


Paulinens Geschichte. – Mein Glück. – Ihre Abreise.

Ich bin die einzige Tochter des unglücklichen Grafen X…., den Carvalho Oeiras nach dem den Jesuiten zugeschobenen Anschlag auf das Leben des Königs im Gefängnis sterben ließ. Ich weiß nicht, ob mein Vater schuldig, oder ob er ein unschuldiges Opfer einer Privatrache war; aber soviel weiß ich, daß der tyrannische Minister es nicht gewagt hat, ihm den Prozeß zu machen oder sein Vermögen zu konfiszieren; ich bin daher im Besitz desselben, kann aber Einkünfte davon nur beziehen, wenn ich wieder in meine Heimat zurückkehre.

Meine Mutter ließ mich in einem Kloster erziehen, dessen Äbtissin ihre Schwester war; diese hielt mir alle möglichen Lehrer, unter anderen auch einen gelehrten Italiener aus Livorno, der mich in sechs Jahren alles lehrte, was ich nach seiner Ansicht wissen durfte. Ich fand ihn stets bereit, meine Fragen zu beantworten, soweit sie nicht die Religion betrafen; aber ich muß gestehen, daß seine Zurückhaltung in dieser Hinsicht mir durchaus nicht mißfiel, sondern im Gegenteil ihn mir noch lieber machte, denn er ließ es sich angelegen sein, mein Urteil zu bilden, und gab meinem Geist Nahrung, indem er mich lehrte, selber nachzudenken und zu urteilen.

Als ich achtzehn Jahre alt war, nahm mein Großvater mich aus dem Kloster, obgleich ich erklärt hatte, ich würde mit Vergnügen solange bleiben, bis sich die Gelegenheit böte, mich zu verheiraten. Ich hing mit zärtlicher Liebe an meiner Tante, die seit dem Tode meiner guten Mutter alles aufbot, um mir den doppelten Verlust, den ich erlitten hatte, weniger schmerzlich zu machen. Mein Austritt aus dem Kloster war für mein ganzes Leben entscheidend, und da er nicht auf meinen Willen erfolgt war, so habe ich ihn nicht zu bereuen gehabt.

Mein Großvater brachte mich zu seiner Schwägerin, der Marchesa X…. mo, die mir die Hälfte ihres Palastes einräumte. Man gab mir auch eine Hausdame, eine Gesellschafterin, Kammerzofen, Pagen und Bediente, die alle unter dem unmittelbaren und ausschließlichen Befehl der Hausdame standen, einer Adeligen, die zum Glück eine rechtliche und sehr gute Frau war.

Ein Jahr nach meinem Eintritt in die Welt kam mein Großvater zu mir und sagte mir in Gegenwart meiner Hausdame, Graf Fl…. bewerbe sich um mich für seinen Sohn, der an demselben Tage aus Madrid eintreffen solle.

»Was haben Sie ihm geantwortet, mein lieber Papa?«

»Daß diese Heirat dem ganzen Adel nur angenehm sein könne und gewiß die Billigung des Königs und der ganzen königlichen Familie finden werde.«

»Aber, lieber Großpapa, weiß man denn auch gewiß, daß ich dem Grafen gefalle, und andererseits, daß ich ihn nach meinem Geschmack finde?«

»Daran zweifelt man nicht, liebes Kind, und braucht sich also nicht damit zu beschäftigen.«

»Aber ich, Großpapa, kann wohl daran zweifeln, und in meinem Interesse liegt es, daran zu denken. Wir werden also sehen.«

»Ihr werdet euch vor dem Abschluß der Heirat sehen, aber an dem Zustandekommen der Vermählung kann dies nichts mehr ändern.«

»Ich wünsche es, ich hoffe es sogar, lieber Großpapa; aber wir wollen es nicht verschwören, sondern abwarten.«

Als mein Großvater fortgegangen war, sagte ich meiner Hausdame, ich sei fest entschlossen, meine Hand nur dem Manne zu geben, dem ich mein Herz schenken würde; und das würde ich nur tun, nachdem ich den Charakter des Betreffenden geprüft hätte und zu der Überzeugung gekommen wäre, daß er mich glücklich machen könnte. Meine Hausdame antwortete mir nicht, und als ich sie bestimmte, mir ihre Meinung zu sagen, antwortete sie mir, in einer so zarten Angelegenheit müsse sie sich Schweigen zur Pflicht machen. Dies sagte mir klar und deutlich, daß sie meine Ansicht billigte, oder wenigstens glaubte ich dies.

Gleich am nächsten Tage suchte ich meine Tante, die Äbtissin, auf. Sie hörte mich mit gütiger Teilnahme an und sagte mir dann, es sei zu wünschen, daß der Graf mir gefalle und daß ich seine Eroberung mache. Aber selbst wenn das nicht der Fall wäre, so würde die Heirat wahrscheinlich doch zustande kommen; denn sie glaube zu wissen, daß dieser Plan von der Prinzessin von Brasilien herrühre, die den Grafen Fl. begünstige.

Obgleich diese Nachricht mich sehr betrübte, war es mir doch lieb, daß ich sie erfahren hatte; sie bestärkte mich nur in meinem Entschluß, mich nur zu verheiraten, wenn die Partie nach meinem eigenen Wunsch wäre.

Nach vierzehn Tagen kam Graf Fl. mit seinem Vater. Mein Großvater stellte ihn mir vor; mehrere Damen waren dabei zugegen. Vom Heiraten war nicht die Rede, aber man ließ den jungen Herrn viel von fremden Ländern und von den Sitten und Gebräuchen anderer Völker erzählen. Ich hörte alles mit der größten Aufmerksamkeit an und tat selber fast nicht ein einziges Mal den Mund auf. Da ich wenig Welterfahrung, besaß, konnte ich über den Bewerber nicht durch Vergleichung urteilen; aber es schien mir unmöglich zu sein, daß er wirklich Ansprüche darauf machte, einer Frau zu gefallen, und daß ich ihm jemals angehören könnte. Er war ein anmaßender Spötter, ein schlechter Spaßmacher, albern, dumm und fromm bis zum Aberglauben und Fanatismus, Außerdem – und das ist in dem Auge jedes Weibes wichtig – war er häßlich, schlecht gewachsen und dermaßen eitel, daß er sich nicht schämte, in spöttischer und verächtlicher Weise von mehreren galanten Abenteuern zu erzählen, die er in Frankreich und Italien gehabt haben wollte.

Voller Hoffnung, ihm nicht gefallen zu haben, ging ich nach Hause; denn ich hatte mich nicht liebenswürdig gegen ihn gezeigt; ein achttägiges Schweigen bestärkte mich in dieser angenehmen Meinung. Aber meine Täuschung wurde mir gar bald genommen. Meine Großtante lud mich zum Essen ein; ich fand den Dummkopf und dessen Vater anwesend, und mein Großvater stellte mir den Sohn als meinen künftigen Gatten vor und bat mich, den Tag festzusetzen, um den Heiratevertrag zu unterschreiben. Da ich entschlossen war, lieber mein Todeseurteil zu unterzeichnen, so antwortete ich ziemlich höflich, aber in sehr lautem und festem Ton: ich würde den Tag bestimmen, wenn ich mich entschlossen hätte, mich zu verheiraten; aber dazu wäre Zeit nötig. Beim Essen ging es sehr still her; ich öffnete den Mund nur zu einsilbigen Antworten, wenn ich durchaus nicht umhin konnte, auf unmittelbare Fragen zu erwidern, die von den anderen Gästen, außer dem mir ekelhaften Dummkopf, an mich gerichtet wurden. Nach dem Kaffee entfernte ich mich, indem ich nur meine Tante und meinen Großvater grüßte.

Abermals verflossen mehrere Tage, ohne daß ich jemanden sah, und ich begann schon zu hoffen, daß ich den jungen Herrn von jeder weiteren Bewerbung um meine Person abgeschreckt hätte; da ließ meine Hausdame mir sagen, Vater Freire sei im Vorzimmer und wünsche mit mir zu sprechen. Ich ließ ihn eintreten; er war der Beichtvater der Prinzessin von Brasilien, und nach einigen einleitenden Redensarten sagte er mir, die Prinzessin habe ihn beauftragt, mir zu meiner bevorstehenden Heirat mit dem Grafen Fl. Glück zu wünschen.

Ohne mir irgendwelche Überraschung anmerken zu lassen, antwortete ich ihm, ich sei für die Güte Ihrer Königlichen Hoheit gebührend dankbar; aber es sei noch nicht fest entschieden, denn ich denke noch nicht daran, mich zu verheiraten.

Der Priester war ein feiner Höfling; er sagte mir mit einem halb gütigen, halb spöttischen Lächeln, ich habe das Glück, mich in dem schönen Alter zu befinden, wo ich an nichts zu denken brauche, da ich diese Sorge meinen mich liebenden Verwandten überlassen könne. Meine Entscheidung sei also eine reine Formsache, die sich in einem Augenblick erledigen lasse.

Ich antwortete ihm nur durch ein ungläubiges Lächeln, das er trotz seiner Mönchsschlauheit für Verlegenheit eines jungen Mädchens halten konnte.

Da ich voraussah, daß man mich hartnäckig verfolgen würde, fuhr ich gleich am nächsten Tags mit meiner Hausdame zu meiner Tante, der Äbtissin, die mir in meiner Verlegenheit einen Rat nicht verweigern konnte. Dieser Rat sollte jedoch nur die äußeren Formen betreffen, denn ich erklärte ihr von Anfang an meinen festen Entschluß, lieber zu sterben, als jemals meine Einwilligung zur Heirat mit einem mir widerwärtigen Menschen zu geben.

Die gute Nonne antwortete mir, man habe ihr den Grafen vorgestellt; sie habe ihn allerdings ebenfalls unleidlich gefunden, befürchte aber doch, man werde Mittel finden, mich trotz meinem Widerwillen zu dieser Vereinigung zu zwingen.

Diese Antwort machte auf mich einen solchen Eindruck, daß es mir nicht möglich war, noch ein Wort über die Sache zu sagen; ich sprach daher bis zum Ende meines Besuches von allen möglichen anderen Dingen. Kaum aber war ich wieder zu Hause, so faßte ich, nur der Stimme meiner Verzweiflung folgend, und ohne einen Menschen zu Rate zu ziehen, den seltsamsten Entschluß: ich schloß mich in mein Zimmer ein und schrieb an den Henker meines unglücklichen Vaters, den unbarmherzigen Oeiras. Ich setzte ihm die ganze Angelegenheit auseinander und flehte ihn um seine Fürsprache beim König an. Ich schrieb ihm, er sei mir diese schuldig, denn er habe mich zur Waise gemacht und dadurch vor Gott die Verpflichtung auf sich genommen, mein Beschützer zu sein. Ich wünsche, daß er mich vor der Ungnade der Prinzessin von Brasilien beschütze, und daß man mir die Freiheit lasse, über meine Hand nur zugleich mit meinem Herzen zu verfügen.

Ich setzte zwar bei Pombal keine Menschlichkeit voraus, aber ich konnte doch annehmen, daß auch er ein Menschenherz hätte, und daß ich dieses rühren könnte; übrigens glaubte ich durch meine feste und entschlossene Sprache seine Teilnahme zu erregen und durch meinen ungewöhnlichen Schritt seinem Stolz zu schmeicheln. Ich war überzeugt, daß er sich bemühen werde, mir Gerechtigkeit zu verschaffen, um mir zu beweisen, daß er gegen meinen Vater nicht ungerecht gewesen sei. Wie man sehen wird, täuschte ich mich nicht; obgleich ich noch ein ganz junges Mädchen war, Menschen und Welt nicht kannte, hatte mein Instinkt mir das richtige gesagt.

Zwei Tage, nachdem ich meinen Brief durch einen Pagen hatte bestellen lassen, kam ein Abgesandter Pombals zu mir und ließ mich um die Ehre einer geheimen Unterredung bitten. Er sagte mir, Oeiras lasse mir vertraulich raten, ich solle allen denen, die mir zu dieser Heirat zureden würden, antworten: ich würde mich nicht eher entscheiden, als bis man mich davon überzeugt hätte, daß Ihre Königliche Hoheit die Prinzessin von Brasilien diese Heirat wünschte. Der Minister ließ mich um Entschuldigung bitten, daß er mir nicht schriftlich antworte; er habe zwingende Gründe, so zu handeln; aber ich könne mich auf ihn verlassen.

Nachdem der Bote das gesagt hatte, machte er mir eine tiefe Verbeugung und entfernte sich, ohne mir Zeit zu einer Antwort zu lassen. Übrigens hatte mich, das muß ich gestehen, der Anblick dieses jungen Boten stumm gemacht. Ich kann den Eindruck nicht beschreiben, den er auf meinen Geist machte; aber ich muß sagen, daß er den größten Einfluß auf mein Verhalten geübt hat und ohne Zweifel auch auf mein ganzes übriges Leben üben wird.

Die Botschaft des Ministers benahm mir alle Unruhe; denn er konnte in solcher Weise nie zu mir gesprochen haben, wenn er nicht die Gewißheit hatte, daß die Prinzessin sich nicht mehr um die Heirat bekümmern würde. Ich überließ mich nun völlig dem neuen Gefühl, das mich beherrschte. Aber so stark dies Gefühl auch war, es würde sich ohne Zweifel verwischt haben, wenn es nicht jeden Tag neue Nahrung erhalten hätte. Als ich fünf oder sechs Tage später dem jungen Boten in der Kirche begegnete, erkannte ich ihn kaum; von diesem Augenblick an jedoch traf ich ihn überall: auf der Promenade, im Theater, in den Häusern, wo ich Besuche machte. Wenn ich aus dem Wagen steigen oder wieder einsteigen wollte, stets war er da, um mir seine Hand zu reichen. Ich gewöhnte mich dermaßen daran, ihn zu sehen und an ihn zu denken, daß ich unruhig wurde, wenn ich ihn einmal nicht in der Kirche fand; ich verspürte dann eine Leere, die mich unglücklich machte.

Fast alle Tage sah ich die Grafen Fl. bei meiner Großtante; da aber von einer Heirat zwischen uns nicht mehr die Rede war, so sah ich sie ohne Verdruß wie ohne Vergnügen. Ich hatte ihnen verziehen, aber ich war nicht glücklich. Das Bild des jungen Boten, dessen Name und Rang mir immer noch unbekannt waren, verfolgte mich ohne Unterlaß, und ich errötete über meine Gedanken, obgleich ich mir selber keine Rechenschaft darüber abzulegen wagte.

In diesem Geisteszustand befand ich mich, als eines Morgens der Klang einer mir unbekannten Stimme mich in das Zimmer meiner Kammerjungfer lockte. Ich sah auf einem Tisch Spitzen ausgebreitet und trat heran, ohne auf ein junges Mädchen zu achten, das dabei stand und mir eine Verbeugung machte. Als ich nichts davon nach meinem Geschmack fand, sagte sie, sie werde am nächsten Tage eine neue Auswahl bringen. Ich warf einen Blick auf sie und sah zu meiner Überraschung vor mir das Gesicht des Jünglings, der Tag und Nacht meine Gedanken beschäftigte. Ich zweifelte jedoch, daß er es wirklich sei, und dachte, ich könne auch durch eine zufällige Ähnlichkeit getäuscht sein. Es beruhigte mich etwas, daß das Mädchen mir größer vorkam. Außerdem erschien eine solche Kühnheit mir doch unwahrscheinlich. Das Mädchen packte die Spitzen wieder zusammen und entfernte sich, ohne mir ins Gesicht zu sehen; dies vermehrte meinen Verdacht.

»Kennen Sie dieses Mädchen?« fragte ich in gleichgültigem Ton meine Kammerjungfer. Sie antwortete mir: »Ich sehe sie heute zum ersten Mal.«

Ich glaubte dies nicht, aber ich ging hinaus, ohne ein Wort zu sagen.

Fortwährend mußte ich an diese Ähnlichkeit denken, und da ich mir beinahe lächerlich vorkam, bemühte ich mich, diesen Gedanken zu verjagen, zugleich aber beschloß ich, mit dem Mädchen zu sprechen, wenn es wiederkommen sollte, und es zu entlarven, wenn mein Verdacht begründet wäre. Ich sagte mir, vielleicht sei sie eine Schwester des jungen Mannes, in den ich mich verliebt hätte; sie könne also wohl unschuldig sein, und wenn dies der Fall wäre, würde es mir vielleicht weniger schwer werden, von meiner Leidenschaft zu genesen. Ein junges Mädchen, das über Herzensangelegenheiten nachdenkt, legt einen großen Weg zurück, ohne es zu merken, besonders, wenn sie niemanden hat, dem sie sich anvertrauen kann, und der sie vor falschen Schritten zu bewahren vermag, zu denen sich so reiche Gelegenheit bietet.

Die angebliche Modistin kam pünktlich mit einem Kasten voll Blonden und Spitzen. Unverzüglich ließ ich sie in mein Zimmer eintreten, sobald man sie mir meldete. Ich wollte sie nötigen, mich anzusehen, und redete sie daher an. Sofort bemerkte ich, daß ich unzweifelhaft das Wesen vor mir hatte, dem alle meine Gedanken gehörten, und das eine Macht über mich ausübte, die mich völlig bezwang. Ich war so bewegt, daß ich nicht imstande war, auch nur eine einzige von den Fragen an ihn zu richten, die ich mir vorher zurecht gelegt hatte. Außerdem war meine Jungfer anwesend, und die Befürchtung, mich in ihren Augen bloßzustellen, hielt mich, wie ich glaube, ebenso stark zurück wie meine Aufregung. Mechanisch begann ich einige Blonden auszusuchen. Als ich aber meine Zofe hinausgeschickt hatte, um meine Börse zu holen, fiel plötzlich die falsche Spitzenhändlerin mir zu Füßen und rief in leidenschaftlichem und doch ehrerbietigem Tone:

»Entscheiden Sie, ob ich leben oder sterben soll, Madame! Sie erkennen mich!«

»Ja, ich erkenne Sie, und ich kann Sie nur für wahnsinnig halten.«

»Ja, ich bin es vielleicht, Madame; aber ich bin wahnsinnig vor Liebe und Verehrung: ich bete Sie an.«

»Stehen Sie auf. Meine Kammerjungfer kommt gleich wieder.«

»Sie kennt mein Geheimnis.«

»Wie? Sie haben gewagt… ?«

Er stand auf. Die Kammerjungfer trat ein und zählte ihm mit größter Ruhe sein Geld auf. Er warf die auf dem Tisch herumliegenden Spitzen in den Kasten, machte mir eine tiefe Verbeugung und ging.

Es wäre natürlich gewesen, wenn ich nach seinem Fortgehen mit meiner Kammerfrau gesprochen hätte; noch natürlicher aber wäre es gewesen, wenn ich sie auf der Stelle fortgeschickt hätte. Ich hatte nicht den Mut dazu, und über meine Schwäche werden nur strenge Sittenrichter sich wundern, die das Herz eines jungen Mädchens nicht kennen, und die ohne Wohlwollen der Lage gegenüberstehen, worin ich mich befand: jung, verliebt und nur auf mich selber angewiesen.

Da ich nicht sofort getan hatte, was strenge Pflicht mir sofort geboten hätte, wenn ich mich mit ruhiger Überlegung nur nach dieser gerichtet hätte, so sah ich bald, daß es zu spät war. Wie man ja stets leicht Trostgründe zu finden weiß, wenn man sich selber in eine unangenehme Lage gebracht hat, so überredete ich mich, ich könnte so tun, wie wenn ich nicht wüßte, daß meine Kammerjungfer das Geheimnis kannte. Ich beschloß also, nichts zu sagen; ich hoffte, ich würde den kecken Jüngling nicht wiedersehen, und die Sache würde damit erledigt sein.

Dieser Entschluß war jedoch nur einer augenblicklichen verdrießlichen Regung entsprungen. Denn als vierzehn Tage vergangen waren, ohne daß ich dem jungen Manne auf den Spaziergängen oder im Theater oder an den sonstigen Orten begegnete, wo ich ihn früher getroffen hatte, wurde ich traurig und träumerisch, obgleich ich darüber errötete, daß ein Gefühl, dessen Gegenstand meiner vielleicht nicht würdig war, mich so völlig unterjochte. Ich brannte vor Verlangen, seinen Namen zu erfahren, und diesen konnte mir nur meine Kammerjungfer sagen, denn ich konnte natürlich nicht zu Oeiras gehen und diesen fragen. Ich verabscheute meine Kammeriungfer und errötete, wenn ich sie vor mir sah. Ich bildete mir ein, sie wisse, daß ihr Vergehen mir bekannt sei, und sie habe Spaß an meiner Zurückhaltung. Andererseits fürchtete ich, diese Zurückhaltung könnte ihr einen unziemlichen Begriff von meiner Ehre geben. Mit einem Wort, ich befürchtete, sie könnte glauben, daß ich den Jüngling liebte, und der bloße Gedanke an diesen Verdacht, der mir schimpflich schien, brachte mich auf. Der allzu kühne junge Mensch erschien mir mehr beklagenswert als tadelnswert; denn ich dachte nicht daran, daß er sich für geliebt halten könnte; ich fühlte mich daher genügend dadurch gerächt, daß er glauben würde, ich müßte ihn verachten.

Aber so dachte ich nur in den Augenblicken, wo meine Eitelkeit stärker war als meine Liebe, und diese Augenblicke waren von kurzer Dauer; denn bald rächte die Verzweiflung ihn an meinem Stolz: da ich ihn nicht mehr sah, so bildete ich mir ein, er habe beschlossen, nicht mehr an mich zu denken, und habe mich vielleicht schon vergessen.

Ein Zustand so heftiger Gemütsbewegung kann nicht sehr lange dauern; denn wenn kein äußerer Anlaß die Ruhe des gequälten Geistes wiederherstellt, so macht dieser bald eine Anstrengung aus sich selber heraus, um das verlorene Gleichgewicht wiederzufinden.

Als die Verräterin mir eines Tages ein Spitzentuch umlegte, das ich von der falschen Modistin gekauft hatte, sagte ich zu ihr: »Was ist denn eigentlich aus dem Mädchen geworden, von dem ich diese Spitzen gekauft habe?«

Ich stellte diese Frage ohne vorherige Überlegung; sie war eine Eingebung meines guten oder meines bösen Geistes.

Meine Kammerjungfer war ebenso schlau wie ich naiv gewesen war. Sie antwortete mir, die Modistin habe ohne Zweifel deshalb nicht wiederzukommen gewagt, weil sie befürchtet habe, ich hätte ihre Verkleidung bemerkt.

»Selbstverständlich habe ich diese bemerkt; aber es wundert mich nicht wenig, daß Sie wissen, daß unter dieser Verkleidung sich ein junger Mann verbarg.«

»Madame, ich glaubte nichts zu tun, was Ihnen mißfallen könnte; denn ich kannte ihn persönlich.«

»Wer ist er?«

»Graf von Al…., den Sie ohne Zweifel wiedererkannt haben; denn Sie haben ihn vor ungefähr vier Monaten in diesem selben Zimmer empfangen.«

»Das ist wahr; es ist sogar möglich, daß ich ihn wiedererkannt habe; aber ich wünsche zu wissen, warum Sie gelogen haben, als ich Sie fragte, ob Sie dies Mädchen kennen?«

»Madame, ich habe gelogen, um Sie nicht in Verlegenheit zu bringen. Außerdem habe ich befürchtet, Sie würden ärgerlich darüber sein, daß ich die Maske kannte.«

»Sie hätten mir mehr Ehre angetan, wenn Sie das Gegenteil angenommen hätten. Als Sie in Ihrem Zimmer waren, befahl ich ihm sofort zu gehen; ich sagte ihm, seine Handlungsweise sei ein Wahnsinn und er müsse befürchten, daß Sie ihn vor mir auf den Knien fänden. Da sagte er mir: Sie seien in das Geheimnis eingeweiht!«

»Wenn es ein Geheimnis ist, so gestehe ich es; aber ich sah die ganze Sache als einen Spaß ohne Bedeutung an.«

»Ich will diese Möglichkeit nicht bestreiten; ich aber habe der Sache eine solche Bedeutung beigelegt, daß ich, um Sie nicht fortjagen zu müssen, beschlossen habe, darüber zu schweigen, wie wenn ich nichts gesehen hätte.«

»Ich hatte mir eingebildet, Madame, diese Maskerade könne Ihnen nur Spaß machen; da ich nun aber erfahre, daß Sie sie ernst genommen haben und böse darüber sind, so bin ich wirklich in Verzweiflung, mir gewissermaßen vorwerfen zu müssen, daß ich meine Pflicht verletzt habe.«

Wie schwach ist ein Frauenherz, wenn die Liebe es eingenommen hat! Ich sah in dieser Erklärung, die mir die ganze Größe des von meiner Dienerin begangenen Fehlers hätte enthüllen müssen, nur eine volle Rechtfertigung. Allerdings machte sie mein Herz ruhig, und das war damals viel, aber mein Geist fand trotzdem noch nicht jene Ruhe, deren er bedurfte. Ich wußte, daß es einen jungen Grafen Al…. gab, der aus sehr gutem Hause stammte, aber gar kein Vermögen hatte. Er hatte weiter nichts als den Schutz des Minister und Aussicht auf eine gute Anstellung. Der Gedanke, daß der Himmel mich vielleicht dazu bestimmt hätte, die Ungerechtigkeit des Glücks wieder auszugleichen, wiegte mich zuweilen in süße Träume, und dann ertappte ich mich dabei, zu finden, daß meine Kammerjungfer mehr Geist hätte als ich, indem sie den gewagten Schritt des Grafen als eine Eulenspiegelei ansähe, die die Liebe entschuldigen müsse. Ich ging sogar so weit, mein gewissenhaftes Zartgefühl lächerlich zu finden und es nur für Prüderie zu halten. Ich war mehr verliebt, als ich selber glaubte, und das kann meine übrige Auffassung verzeihlich machen: ich hatte keinen Menschen, dem ich mich hätte anvertrauen können, keinen Menschen, der mich hätte leiten oder beraten können.

Aber nach solchen tröstlichen Gedanken kamen andere von düsterer Art. Es war die Kehrseite der Medaille. Mein Geist glich einem ebbenden und flutenden Meere, das bald ruhig, bald bewegt war. Da der Graf anscheinend beschlossen hatte, mich nicht mehr zu sehen, so mußte ich annehmen, daß er entweder sehr beschränkten Geistes, oder daß seine Liebe sehr gering war. Dies schmerzte mich mehr als alles andere, denn eine solche Annahme demütigte mich. Ich sagte zu mir selber: wenn der Graf es übel genommen hat, daß sein Wagnis mir als die Handlungsweise eines Wahnsinnigen vorkam, so ist er ganz gewiß nicht zartfühlend und verständig, also auch meiner Zärtlichkeit nicht würdig.

Während ich mich in dieser grausamen Ungewißheit befand, dem Schlimmsten, was es auf der Welt gibt, nahm meine Kammerjungfer es auf sich, dem Grafen zu schreiben, er könne sie in der gleichen Verkleidung besuchen; sie sei überzeugt, ich werde ihre Kühnheit nicht tadeln.

Er folgte ihrem Rat, und eines schönen Morgens trat die schlaue Zofe bei mir ein und sagte mir lachend, die falsche Modistin sei mit allerlei Tand in ihrem Zimmer. Diese Nachricht regte mich sehr auf; doch gelang es mir, mich zu beherrschen, so daß ich meine Aufregung wenigstens zum Teil verbergen konnte, und ich lachte wie sie, obgleich die Sache mir durchaus nicht lächerlich vorkam.

»Soll ich sie hereinkommen lassen, Madame?«

»Bist du verrückt?«

»Soll ich sie fortschicken?«

»Nein, ich werde selber kommen und mit ihr sprechen.«

An diesem Tage begann unsere große Liebesgeschichte. Während meine Kammerjungfer aus und ein ging, hatten wir vollauf Zeit, uns zu verständigen und uns gegenseitig alle gewünschten Erklärungen abzugeben. Ich gestand ihm offen, daß ich ihn liebe; aber ich machte ihm begreiflich, daß die Klugheit von mir verlange, ihn zu vergessen, weil es nicht wahrscheinlich wäre, daß meine Verwandten jemals ihre Einwilligung zu unserer Verbindung geben würden. Er dagegen erklärte mir, der Minister habe beschlossen, ihn unverzüglich nach England zu schicken, und er werde an Verzweiflung sterben, wenn er nicht die Hoffnung mitnehmen könne, mich eines Tages zu besitzen. Denn er liebe mich zu sehr, um sich darein fügen zu können, daß er ohne mich leben solle. Er bat mich, ihm zu erlauben, daß er mich zuweilen in seiner Verkleidung aufsuchen dürfe. Obgleich ich ihm nichts verweigern zu dürfen glaubte, wandte ich doch ein, daß wir uns dadurch großen Gefahren aussetzen könnten.

»Mir genügt es,« rief er feurig und voller Zärtlichkeit, »daß ich nichts für Sie zu befürchten habe: meine Besuche können niemals Ihnen zugeschrieben werden, sondern stets nur Ihrer Kammerjungfer.«

»Aber mir genügt es, daß ich um Sie in Furcht sein müßte; denn schon Ihre Verkleidung ist ein Verbrechen; Ihr guter Ruf würde darunter leiden, und das wäre kein gutes Mittel, uns der Erfüllung unserer Wünsche näher zu bringen.«

Obgleich ich diese Einwendungen machte, sprach doch mein Herz zu seinen Gunsten, außerdem wußte er seine Sache so beredt zu vertreten, er versprach mir, so vorsichtig zu sein, daß ich ihm schließlich sagte, er könne sicher sein, daß ich ihn stets mit dem größten Vergnügen sehen werde.

Graf Al…. war zweiundzwanzig Jahre alt und ist kleiner als ich; er ist schlank und gut gewachsen, so daß er in seiner Verkleidung als Frau schwer zu erkennen war; auch ist seine Stimme sehr sanft. Er weiß Bewegungen und Benehmen einer Frau täuschend nachzuahmen; er hat sehr schwachen Bartwuchs und ist so schön, daß mehr als eine Frau gern damit einverstanden sein würde, ihm ähnlich zu sehen.

So kam denn also der Graf fast drei Monate lang jede Woche drei- oder viermal; wir trafen uns stets im Zimmer meiner Vertrauten, und fast immer war diese zugegen. Aber wenn wir auch volle Freiheit gehabt hätten, so würde er doch niemals auch nur die geringste Rücksichtslosigkeit begangen haben; denn er befürchtete zu sehr, mir zu mißfallen. Heute glaube ich, daß diese gegenseitige Zurückhaltung mächtig dazu beigetragen hat, die Glut anzufachen, die uns verzehrte; denn wenn wir an den nahe bevorstehenden Augenblick der Trennung dachten, kam Traurigkeit über uns, und wir versanken in einen stummen Schmerz. Trotzdem aber dachten wir gar nicht daran, irgendeinen Entschluß zu fassen, um uns glücklich zu machen. Unsere Liebe machte uns stumpfsinnig, indem sie unseren Geist zu Boden drückte. Wir schmeichelten uns mit der Hoffnung, daß der Himmel irgendein Wunder tun oder daß der Augenblick der Trennung niemals erscheinen würde; oder wir hielten uns die Gedanken daran absichtlich fern. So war denn der Augenblick plötzlich ganz unversehens und natürlich viel zu früh da: wir wußten nicht, ob wir einen Entschluß fassen sollten oder nicht.

Eines Morgens kam der Graf früher als gewöhnlich und teilte mir unter Tränen mit, der Minister habe ihm am Tage vorher einen Brief an den portugiesischen Gesandten in London, Herrn de Saa, gegeben; ein zweiter offener Brief sei an den Kapitän einer Fregatte gerichtet, die von Ferrol erwartet werde und die nach einem Aufenthalt von wenigen Stunden nach England weitersegeln solle. In diesem zweiten Brief befahl der Minister dem Kapitän, den Grafen Al…. an Bord zu nehmen, ihn nach England zu bringen und ihn mit Auszeichnung zu behandeln.

Mein armer Liebhaber war völlig vernichtet; Tränen erstickten seine Stimme, und sein Kopf befand sich in einem Zustande, daß er keine zwei Gedanken miteinander verbinden konnte. Ich sah nur seinen Schmerz und meine Liebe, und da er selber nicht handeln konnte, so faßte ich augenblicklich den kühnen Plan, mit ihm als sein Bedienter zu reisen, oder noch besser ihn als seine Frau zu begleiten, damit ich mein Geschlecht nicht zu verbergen brauchte. Als ich ihm meinen Plan mitteilte, war er von freudiger Überraschung wie geblendet. Das Übermaß des Glückes versetzte ihn in eine solche Aufregung, daß er nicht imstande war, über eine so wichtige Sache nachzudenken, sondern alles meinem Willen überließ. Wir verabredeten, am nächsten Tage ausführlicher darüber zu sprechen, und trennten uns dann.

Da ich voraussah, daß es mir vielleicht Schwierigkeiten machen würde, mein Haus in Frauenkleidung zu verlassen, so beschloß ich, mich als Mann zu verkleiden; da ich aber als solcher nur als Kammerdiener meines Geliebten auftreten konnte, so überlegte ich mir, daß ich im Falle einer stürmischen Seefahrt Strapazen ausgesetzt sein würde, die über die Kräfte einer zarten Frau gehen würden. Infolgedessen kam ich auf den Gedanken, selber den Herrn zu spielen, falls etwa der Kapitän den Grafen nicht persönlich kennen sollte; indem ich diesen Plan weiter ausdachte, widerstrebte es mir jedoch, meinen Geliebten als Diener auftreten zu sehen, und ich beschloß daher, ihn für meine Frau auszugeben. Sobald wir in England an Land gestiegen sind, sagte ich bei mir selber, werden wir uns heiraten, und dann legt ein jedes wieder die Kleider seines Geschlechtes an. Durch unsere eheliche Verbindung wird der Makel unserer Flucht getilgt; vielleicht wird man meinen Liebhaber anklagen, mich entführt zu haben; aber man entführt eine junge Dame doch nicht ohne ihre Einwilligung, und es ist nicht anzunehmen, daß Graf Oeiras mich verfolgen wird, weil ich seinen Günstling glücklich gemacht habe. Um bis zum Eintreffen meiner Einkünfte leben zu können, wird der Verkauf meiner Diamanten, über die ich verfügen kann, uns genügende Mittel geben.

Als ich am nächsten Tage dem Grafen diesen seltsamen Plan mitteilte, konnte oder wollte er nichts dagegen einwenden. Das einzige Hindernis war nach seiner Meinung die Möglichkeit, daß der Kapitän des erwarteten Kriegsschiffes ihn persönlich kannte. Dies schien ihm jedoch nicht wahrscheinlich zu sein, und wir mußten das Wagnis eben auf uns nehmen. Wir machten ab, daß er mir die nötigen Kleider für meine neue Rolle sofort besorgen solle.

Ich sah meinen Liebhaber erst drei Tage darauf bei Einbruch der Nacht wieder. Ihm war von der Admiralität mitgeteilt worden, daß die Fregatte von Ferrol angekommen sei und an der Mündung des Tajo liege; der Kapitän werde sofort wieder absegeln, wenn er an Bord komme; er sei nur an Land gegangen, um seine Depeschen zu überbringen und vom Marineministerium neue Befehle zu erhalten. Graf Al…. werde daher aufgefordert, um Mitternacht an einem bestimmten Ort zu sein, wo eine Schaluppe ihn erwarten werde, um ihn an Bord zu bringen.

Da ich fest entschlossen war, so brauchte ich nichts mehr zu wissen als den Ort, wo wir uns treffen sollten. Ein Unwohlsein vorschützend, schloß ich mich in mein Zimmer ein, packte die allernotwendigsten Sachen und das kostbare Juwelenkästchen in ein Köfferchen, zog Männerkleider an und verließ den Palast auf einer Treppe, die nur für die Dienstboten bestimmt war. Ich wurde nicht einmal von dem Türhüter bemerkt, als ich die Schwelle meines Palastes überschritt.

Etwa hundert Schritte vom Hause erwartete mich der Graf, der befürchtet hatte, ich könnte mich vielleicht verirren. Es war für mich eine angenehme Überraschung, als er meinen Arm nahm und mir gleichzeitig sagte: Ich bin’s. An dieser einfachen und natürlichen Vorsicht erkannte ich, daß er Verstand hatte; denn da er meine Entschlossenheit noch nicht kannte, hatte er gefürchtet, mich zu erschrecken, wenn er mich berührte, ohne sich zu erkennen zu geben. Wir gingen zusammen in ein Haus, wo er seinen Koffer hatte, und in einer halben Stunde war er vollständig umgezogen. Als alles fertig war, holte ein Packträger unser geringes Gepäck, und wir gingen ans Ufer des Flusses, wo die Schaluppe bereits auf uns wartete. Es war elf Uhr, als wir vom Ufer abstießen. Da ich glaubte, daß mein Schmuckkästchen in seiner Tasche sicherer sei als in meinem Koffer, so gab ich es ihm. Geduldig warteten wir auf die Ankunft des Kapitäns. Gegen Mitternacht kam er mit seinen Offizieren; er trat auf mich zu und sagte mir, er habe Befehl, mich mit Auszeichnung zu behandeln. Ich dankte ihm herzlich für seinen Empfang und stellte ihm hierauf meine Frau vor. Er begrüßte diese ehrerbietig und sagte ihr, er sei entzückt, eine liebenswürdige Landsmännin an Bord zu haben, der wir gewiß eine glückliche Fahrt zu verdanken haben würden. Er war zu galant, um es auffällig zu finden, daß der Minister, der ihm den Grafen so angelegentlich empfohlen hatte, nichts davon erwähnt hatte, daß dessen Gemahlin an der Reise teilnehmen sollte.

In einer kleinen Stunde waren wir auf der Fregatte, die drei Meilen seewärts auf der Reede lag; sobald wir an Bord waren, ließ der Kapitän die Segel setzen. Er führte uns in eine Kajüte, die für ein Kriegsschiff recht bequem war, und entfernte sich dann, nachdem er uns gebeten hatte, uns einzurichten, so gut wir könnten.

Als wir allein waren, dankten wir dem Himmel, daß alles so gut abgegangen war. Wir gingen nicht zu Bett, sondern verbrachten den ganzen Rest der Nacht damit, über den kühnen Schritt uns zu unterhalten, den wir getan oder vielmehr erst begonnen hatten, der aber nach unserer Meinung ein ebenso glückliches Ende haben mußte, wie der Anfang gewesen war. Als der Morgen dämmerte, freuten wir uns, daß Lissabon nicht mehr in Sicht war. Da wir der Ruhe bedürftig waren, warf ich mich auf eine Bank, während der Graf sich in eine breite Hängematte legte. Wir blieben beide in unseren Kleidern.

Kaum hatten wir ein wenig zu schlummern begonnen, so wurden wir von der Seekrankheit befallen, die uns drei Tage lang nicht einen Augenblick Ruhe ließ. Am vierten Tage konnten wir uns kaum noch aufrecht halten; der Hunger quälte uns dermaßen, daß wir alle Selbstbeherrschung aufbieten mußten, um uns von allzu gierigem Essen zurückzuhalten, das uns leicht eine ernstliche Krankheit hätte zuziehen können. Zum Glück für uns hatte der Kapitän einen reichen Vorrat von guten Sachen, und die Mahlzeiten, die wir erhielten, waren sehr gut und lecker zubereitet. Mein Liebhaber, der unter der Seekrankheit noch mehr litt als ich, benützte gerne diesen Vorwand, um die Kajüte nicht zu verlassen; der Kapitän kam nur ein einziges Mal, um ihm einen Besuch zu machen. Wir konnten diese Zurückhaltung nur einer übergroßen Höflichkeit zuschreiben; denn bei uns ist es einem Manne erlaubt, eifersüchtig zu sein, ohne für lächerlich zu gelten. Ich selber war fast den ganzen Tag auf Deck; die frische Luft tat mir wohl, und ich unterhielt mich damit, mit meinem Fernrohr die Gegenstände zu beobachten, die man in der Ferne entdecken konnte.

Am siebenten Tage unserer Fahrt zitterte mir das Herz, wie von einem Vorgefühl von Unglück, als man mir sagte, ein Kriegsschiff, das wir in ziemlich weiter Entfernung bemerkten, sei eine Korvette, die einen Tag nach uns in See gegangen sein müsse, die aber als Schnellseglerin zwei oder drei Tage vor der Fregatte in England ankommen werde.

Obgleich die Überfahrt von Lissabon nach England sehr lange dauert, da man fast das ganze Atlantische Meer zu durchsegeln hat, so kamen wir doch, dank einem leichten Winde, den wir beständig im Rücken hatten, schon am vierzehnten Tage ans Ziel und warfen mit Tagesanbruch im Hafen von Plymouth den Anker aus.

Der Offizier, den der Kapitän an Land schickte, um die Erlaubnis zur Ausschiffung der Passagiere einzuholen, kam gegen Abend wieder an Bord und überbrachte ihm Briefe. Nachdem er einen davon mit ganz besonderer Aufmerksamkeit gelesen hatte, rief der Kapitän mich beiseite und sagte zu mir:

»Dieser Brief ist vom Grafen Oeiras, der mich bei meinem Kopfe dafür verantwortlich macht, daß eine junge, portugiesische Dame mein Schiff nicht verläßt, falls sie sich darauf befinden sollte, es sei denn, daß sie mir persönlich bekannt wäre. Er befiehlt mir, sie nach Lissabon zurückzubringen, nachdem ich einige Aufträge ausgeführt haben werde, die mich noch etliche Tage hier zurückhalten müssen. Auf der Fregatte befindet sich weder eine Frau noch ein Mädchen, mit Ausnahme der Frau Gräfin, Ihrer Gemahlin. Beweisen Sie mir, daß sie wirklich Ihre Frau ist, und ich setze ihrer Landung durchaus kein Hindernis entgegen; sonst aber darf ich, wie Sie begreifen werden, gegen die Befehle des Ministers nicht ungehorsam sein.«

»Sie ist meine Frau«, erwiderte ich ihm kaltblütig. »Da ich jedoch auf etwas Derartiges nicht gefaßt gewesen bin, so habe ich nicht ein einziges Papier bei mir, das Sie davon überzeugen könnte.«

»Das tut mir leid, denn nun wird sie mit mir nach Lissabon zurückfahren, übrigens können Sie sich darauf verlassen, daß sie, gemäß dem ausdrücklichen Befehle des Herrn Ministers, mit aller erdenklichen Ehrerbietung behandelt werden wird.«

»Aber, Herr Kapitän, die Frau ist doch untrennbar von ihrem Gatten!«

»Das gebe ich Ihnen zu, aber ich kann gegen die von meinem Vorgesetzten empfangenen Befehle nichts machen, übrigens hindert Sie ja nichts, auf der Korvette nach Lissabon zurückzufahren. Sie werden vor uns dort sein.«

»Warum kann ich nicht auf dieser Fregatte zurückfahren?«

»Weil ich ausdrücklichen Befehl habe, Sie an Land zu setzen. Da fällt mir ein: warum ist in dem Brief, der mir befiehlt, Sie nach England zu bringen, kein Wort von Ihrer Frau gesagt? Wenn Madame nicht die Person ist, die der Minister sucht, so können Sie sich darauf verlassen, daß man sie Ihnen wieder nach London schicken wird.«

»Werden Sie mir gestatten, noch einmal mit ihr zu sprechen?«

»Gern, aber nur in meiner Gegenwart.«

Mir blutete das Herz, indessen galt es gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Ich suchte den Grafen auf, redete ihn meine liebe Frau an und verkündete ihm den grausamen Befehl, der uns trennen wollte. Ich fürchtete, er würde sich verraten, aber er besaß die Kraft, sich zu beherrschen, und antwortete mir, uns bliebe nichts anderes übrig, als uns zu unterwerfen, da wir ja sicher sein könnten, in einigen Monaten uns wiederzusehen.

Ich konnte ihm in Gegenwart des Kapitäns nichts sagen, als was alle Welt hören durfte. Ich beschränkte mich daher darauf, ihm mitzuteilen, daß ich von London aus unverzüglich an die Äbtissin schreiben werde, daß er in Lissabon diese zu allererst aufsuchen müsse, und daß er von ihr meine Adresse erfahren werde. Ich hütete mich wohl, mein Schmuckkästchen von ihm zu verlangen, denn der Kapitän hätte möglicherweise geglaubt, es in Verwahrung nehmen zu müssen, da ein so reicher Schatz von Diamanten ihn auf die Vermutung bringen konnte, meine angebliche Frau wäre vielleicht irgendein reiches Fräulein, das ich entführt hätte. Wir mußten uns gänzlich unserem Schicksal überlassen. Weinend umarmten wir uns, und der Kapitän, der durch und durch ein Ehrenmann war, weinte ebenfalls, als er den Grafen zärtlich zu mir sagen hörte: »Legen Sie Ihr Glück und das meinige in die Hände dieses würdigen Kapitäns; wir wissen ja, daß wir uns auf einander verlassen können!«

Der Koffer des Grafen wurde in die Schaluppe gebracht, und da ich nicht wagte, meine Reisetasche an mich zu nehmen, so besaß ich bei meiner Ankunft am Lande weiter nichts als eine Ausrüstung von Männerkleidern, deren ich mich nicht hätte bedienen können, selbst wenn ich meine Verkleidung noch hätte fortsetzen wollen.

Auf dem Zollamt erfuhr ich, was ich besaß: Schreibhefte, Bücher, Briefe, Wäsche, einige Anzüge, einen Degen, zwei Paar Pistolen, von denen ich das eine sofort in meine Tasche steckte. Hierauf ließ ich mich nach einem Gasthof führen, dessen Wirt mir sofort bei meinem Eintritt sagte: wenn ich am nächsten Morgen nach London reisen wolle, werde ich nur ein Pferd zu bezahlen haben.

»Wer sind die Personen, die einen Begleiter wünschen?«

»Ich werde Sie mit ihnen zu Abend essen lassen, wenn Sie es wünschen.«

Ich nahm das Anerbieten an und fand einen Geistlichen der Hochkirche und zwei Damen, deren Benehmen es mir angenehm erscheinen ließ, von der Gelegenheit Gebrauch zu machen. Ich hatte das Glück, ihnen ebenfalls zu gefallen, und am nächsten Tage kamen wir bei guter Zeit in London an und stiegen am Strand in einem Gasthof ab. Dort aß ich nur zu Mittag und machte mich sofort auf die Suche nach einer Wohnung, die mit meinen Mitteln und mit der von mir zu beobachtenden Lebensweise in Einklang stünde. Ich besaß nur fünfzig Lisbonninen und einen Ring von ungefähr gleichem Werte.

Ich nahm ein Zimmer im dritten Stock eines Hauses, dessen Wirtin mir wegen ihres guten und ehrbaren Gesichtes gefiel. Da ich weder Erfahrung noch Empfehlungen an irgendeinen Menschen besaß, konnte ich mich nur auf Gott und auf meinen guten Willen verlassen und mußte mein Schicksal der Freundlichkeit meiner Mitmenschen anheim stellen. Die Frau gefiel mir, und ich nahm bei ihr ein Zimmer zu zehn Schilling wöchentlich. Ich bat sie, mir sofort behilflich zu sein, um mich sauber, aber ohne jeden Luxus meinem Geschlecht gemäß zu kleiden; denn in meinen Männerkleidern wagte ich nicht mehr auszugehen.

Schon am nächsten Tage sah ich mich mit allem versehen, was ein armes Mädchen braucht, das weder blenden noch überhaupt die Blicke seiner Mitmenschen auf sich ziehen will. Da ich gut genug englisch sprach, um nicht als Ausländerin zu erscheinen, so wußte ich, wie ich mich zu benehmen hatte, um keine Unannehmlichkeiten befürchten zu müssen. Obgleich meine Wirtin eine recht gute Frau war, bemerkte ich doch bald, daß ihr Haus nicht ganz meiner Lage entsprach; denn die Ordnung meiner Angelegenheit konnte lange Zeit dauern, und wenn mir das Geld ausgegangen wäre, hätte ich mich unglücklich gefühlt. Ich beschloß also, das Haus zu verlassen. Da ich meine eigene Herrin war, so hatte ich keine Besuche empfangen; aber ich konnte es nicht verhindern, daß den ganzen Tag Neugierige an meine Türe kamen; es kamen immer mehr, je weiter die Nachricht bekannt wurde, daß ich keine Besuche empfinge. Es verkehrten zu viele Menschen in diesem Hause. Da es nicht weit von der Börse lag, so wimmelte die Straße von jungen Menschen, und mehrere Herren, die im ersten Stock zu Mittag aßen, versuchten alles mögliche, um mich von meiner sogenannten Traurigkeit zu heilen, obgleich ich durchaus nicht so tat, wie wenn ich solcher Heilung bedürftig wäre.

Ich beschloß, wöchentlich nur eine Guinee auszugeben, und da mein Ring vollkommen nutzlos für mich war, so entschloß ich mich, ihn zu verkaufen, aber unter der Bedingung, daß ich den Wert nur in Teilzahlungen nach und nach erhielte. Ein alter Händler, der nebenan wohnte, und für dessen Redlichkeit meine Wirtin einstand, schätzte meinen Ring auf hundertundfünfzig Guineen und bat mich, ihm das Vorkaufsrecht zu geben, wenn ich keinen besseren Preis fände. Ich hielt den Ring nicht für so weltvoll und überließ ihm denselben unter der Bedingung, daß er mir monatlich vier Guineen auszahlen solle, und daß ich ihn für dieselbe Zahl von Guineen, die ich empfangen haben würde, zurückkaufen könnte, wenn ich dazu vor der völligen Bezahlung imstande wäre.

Das bare Geld, das ich bei mir hatte und noch jetzt besitze, wollte ich behalten, um auf dem Landwege nach Lissabon zurückkehren zu können, sobald man mir schreiben würde, daß ich mich unbesorgt dort wieder sehen lassen könnte. Ich hatte unter der Seekrankheit so sehr gelitten, daß ich mich nicht entschließen konnte, noch einmal eine solche Fahrt zu machen.

Ich teilte meine Verlegenheit meiner braven Wirtin mit, die noch jetzt meine Freundin ist. Sie half mir eine andere Wohnung suchen; aber ich war genötigt, eine Magd anzunehmen, um meine kleinen Einkäufe zu besorgen, da ich mich nicht entschließen konnte, außer dem Hause zu essen. Hieraus entsprangen für mich lauter Unannehmlichkeiten und Verdrießlichkeiten, denn ich fand nichts als Spitzbübinnen. Da ich nun nicht mehr als einen Schilling täglich ausgeben wollte, so konnte ich begreiflicherweise nicht über die kleinen Diebstähle hinwegsehen, an die diese elenden Frauenzimmer so gewöhnt sind, daß sie es als Ehrensache ansehen, beim kleinsten Einkauf ein Extraprofitchen für sich zu machen.

Die nüchterne Lebensweise, die ich mir zur Pflicht gemacht hatte, griff mich so an, daß ich von Tag zu Tag abmagerte, denn ich lebte beinahe nur von Wasser und Brot. Ich sah jedoch keine Möglichkeit, mir so bald etwas Besseres gönnen zu dürfen. Da fiel zufällig mein Blick auf Ihr eigenartiges Aushängeschild. Ich lachte bei mir selber darüber, aber mich trieb eine unwiderstehliche Gewalt oder auch vielleicht die Neugier, die, wie wir gestehen müssen, unserer Frauennatur innewohnt, und ich konnte nicht der Lust widerstehen, mit Ihnen zu sprechen. Instinktmäßig suchte ich ein Mittel, meine Lage zu verbessern, ohne meine Ausgaben zu vermehren.

Als ich nach Hause kam, fand ich bei meiner Wirtin eine Nummer des Advertiser, worin der Herausgeber über das soeben von mir gelesene Schild seine Scherze machte. Er sagte, der Herr des Hauses sei ein Italiener, der sich offenbar vor einem Angriff nicht fürchte. Da ich meinerseits glaubte, daß ich eine Gewalttätigkeit nicht werde zu befürchten brauchen, so faßte ich den Mut, das Wagnis zu bestehen. Ich fühle jedoch, daß ich sehr anmaßend gewesen bin, und daß es süß sein kann, Angriffen keinen Widerstand zu leisten. Da ich von einem Italiener, einem klugen und rechtschaffenen Manne, erzogen worden bin, so habe ich stets eine große Vorliebe für Ihre Nation gehabt. – Meine schöne Portugiesin war mit ihrer Erzählung zu Ende. Nach einer kleinen Pause sagte ich zu ihr: »Ihre kleine Geschichte, meine Gnädige, hat mir viel Spaß gemacht; es ist ja ein richtiger Romanstoff.«

»Das glaube ich auch, und er würde den Vorzug haben, ein historischer Roman zu sein. Mich freut am meisten, daß Sie meine Erzählung haben anhören können, ohne sich zu langweilen.«

»Falsche Bescheidenheit, Madame! Ihre Erzählung hat mir nicht nur sehr gefallen, sondern seitdem ich weiß, daß Sie Portugiesin sind, fühle ich mich sogar mit Ihrer Nation völlig wieder ausgesöhnt.«

»Sie liebten uns also nicht?«

»Ich hatte einen Groll auf euch, weil ihr vor zweihundert Jahren euren Virgil habt im Elend sterben lassen.«

»Camoens! Aber vor uns haben die Griechen das Unrecht begangen, ihren Homer so sterben zu lassen.«

»Das ist wahr; aber das Unrecht des einen entschuldigt nicht das Unrecht des anderen.«

»Das gebe ich zu; aber wie können Sie Camoens so hoch schätzen, wenn Sie nicht portugiesisch verstehen?«

»Ich las eine Übersetzung in lateinischen Hexametern, die so schön waren, daß ich Virgil zu lesen glaubte.«

»Ist das auch wahr?«

»Ich kann Ihnen nichts vorlügen.«

»Nun, so gelobe ich hiermit, daß ich lateinisch lernen will!«

»Dieses Gelübde ist Ihres Geistes würdig; aber Sie müssen von mir diese schöne Sprache lernen. Ich will in Portugal leben und sterben, wenn Sie mir Ihr Herz versprechen.«

»Mein Herz! Warum habe ich nicht zwei! Seitdem ich Sie kenne, liebe ich mich selber weniger, denn ich befürchte sehr, unbeständig zu sein.«

»Ich werde mich damit begnügen, nur so geliebt zu werden, wie wenn ich Ihr Vater wäre; nur müssen Sie mir erlauben, zuweilen meine Tochter an mein Herz drücken zu dürfen. Bitte, fahren Sie in Ihrer Geschichte fort; das Wesentliche haben Sie mir noch zu erzählen. Was ist aus Ihrem Liebhaber geworden? Und was taten Ihre Verwandten, als Ihre Flucht ihnen bekannt wurde?«

Am dritten Tage nach meiner Ankunft in dieser Riesenstadt schrieb ich meiner Tante, der Äbtissin, einen langen Brief, worin ich ihr ausführlich und wahrheitsgemäß alles schilderte, was mir begegnet war. Ich bat sie, meinen Gatten zu beschützen und mir zu helfen, meinen Entschluß durchzusetzen: ich würde nicht früher nach Lissabon zurückkehren, als bis sie mir versichert hätte, daß meiner Heirat keine Hindernisse mehr bereitet würden und daß ich, als Herrin meines Vermögens, offen vor aller Welt mit dem Gatten meiner Wahl leben könnte. Zugleich bat ich sie, mich über alles auf dem Laufenden zu halten und ihre Briefe an meine Wirtin zu adressieren, indem sie der Adresse nur die Worte hinzufügte: »für Miß Pauline.«

Ich ließ meinen Brief über Paris und Madrid gehen; das ist zu Lande der nächste Weg; ich erhielt daher die Antwort erst nach drei Monaten. In ihrem Brief schrieb meine Tante mir, die Fregatte, die mich nach London gebracht habe, sei erst seit wenigen Tagen wieder in Lissabon. Sofort nach seiner Ankunft habe der Kapitän dem Minister geschrieben: die einzige Dame, die er bei seiner Ankunft in England an Bord gehabt habe, befinde sich noch bei ihm; denn er habe sie wieder zurückgebracht, trotz dem Einspruch des Grafen Al…., der ihm erklärt habe, daß die Dame seine Gemahlin sei. Zum Schluß seines Briefes bat der Kapitän seine Exzellenz, ihm nähere Verhaltungsmaßregeln zu geben, an welchen Ort er besagte Dame zu bringen habe.

Der Minister Oeiras zweifelte nicht daran, daß ich diese angebliche Gemahlin sei, und befahl dem Kapitän, mich in das Kloster meiner Tante zu bringen und ihr einen Brief zu übergeben, den er ihm zugleich schicke. In diesem Brief schrieb er meiner Tante, er sende ihr ihre Nichte und bitte sie, diese bis auf weiteren Befehl in guter Hut zu halten. Meine Tante war sehr überrascht; aber ihre Überraschung wäre noch größer gewesen, wenn sie nicht wenige Tage vorher bereits meinen Brief empfangen hätte. Sie dankte dem Kapitän und führte die angebliche Nichte in ein Zimmer, in das sie sie einschloß. Hierauf schrieb sie dem Grafen Oeiras: Gemäß dem Befehle Seiner Exzellenz habe sie vom Kapitän eine Person empfangen, die für ihre Nichte gelte; da jedoch diese Person ein als Frau verkleideter Mann sei, so könne sie diesem nicht länger Zuflucht in ihrem Kloster geben und bitte daher Ihre Exzellenz, dieser Verlegenheit sobald wie möglich ein Ende zu machen.

Nachdem die Äbtissin diesen eigenartigen Brief an den Minister abgeschickt hatte, machte sie dem Grafen Al…. einen Besuch. Er warf sich ihr zu Füßen, meine gute Tante aber hob ihn sofort auf und zeigte ihm meinen Brief. Sie teilte ihm mit, daß sie an den Minister habe schreiben müssen und daß man ihn ohne Zweifel nach wenigen Stunden an einen anderen Ort bringen werde. Der Graf brach in Tränen aus, flehte die würdige Äbtissin an, sich unserer gemeinsamen Angelegenheiten anzunehmen, und übergab ihr mein Schmuckkästchen, das meine Tante bereitwillig in Verwahrung nahm. Bevor sie ging, versprach sie ihm noch, mir alles zu berichten.

Da der Minister sich auf einem seiner Güter befand, erhielt er den Brief der Oberin erst am nächsten Tage. Er beeilte sich, ihr seine Antwort persönlich zu überbringen. Meine Tante überzeugte Seine Exzellenz mit leichter Mühe, daß es von größter Wichtigkeit sei, die Sache geheim zu halten, da durch die Verletzung des Klosterbannes ihre Ehre ernstlich bedroht sei. Sie gab dem stolzen Minister den Brief, den sie von mir erhalten hatte, und teilte ihm mit, daß der ehrenwerte junge Mann ihr meinen Schmuck übergeben habe. Der Graf dankte der Äbtissin für die Offenheit, womit sie ihn in die ganze Angelegenheit eingeweiht habe, und bat sie lachend um Verzeihung, daß er ihr einen hübschen Jungen zur Gesellschaft geschickt habe.

»Es ist von allergrößter Wichtigkeit,« sagte Seine Exzellenz, »daß die Sache geheim bleibt, und um dessen sicher zu sein, dürfen wir keinen Dritten ins Vertrauen ziehen. Ich werde Sie daher in eigener Person von der falschen Nichte befreien und diese auf der Stelle in meinem Wagen mitnehmen.«

Meine Tante nahm die Exzellenz beim Wort und holte den jungen Eingesperrten. Dieser stieg in den Wagen, der vor der Tür hielt, und fuhr mit dem Minister ab. Die gute Äbtissin sagte mir, von diesem Augenblick an habe sie nichts mehr erfahren. Ganz Lissabon spreche von meiner Geschichte, aber man füge noch einen Umstand hinzu, der die Sachlage ganz wesentlich verändere und den Grafen Oeiras ohne Zweifel höchlichst ergötzen müßte: man sage nämlich, der Minister habe mich zuerst der Äbtissin anvertraut, habe sich aber dann später meiner bemächtigt und halte mich verborgen; man kenne jedoch nicht den Ort, wo er mich eingesperrt halte.

Man glaubt also, daß Graf Al…. in London ist und daß ich mich in der Gewalt des Ministers befinde, dem die Skandalchronik wahrscheinlich zärtliche Gefühle für mich zuschreibt. Ohne Zweifel ist Seine Exzellenz über meinen Aufenthalt hier in London vollkommen unterrichtet, denn er weiß meinen Namen und meine Adresse und es fehlt ihm sicherlich nicht an Spionen.

Auf den Rat meiner Tante habe ich vor einigen Monaten dem Grafen Oeiras geschrieben: ich sei bereit, nach Lissabon zurückzukehren, wenn Seine Exzellenz mir eigenhändig schreiben wolle, daß sofort nach meiner Rückkehr in die Heimat Graf Al…. vor der Öffentlichkeit mein Gatte werden solle, und daß niemand über mein Tun und Lassen Rechenschaft fordern dürfe, selbst nicht unter dem Vorwande der Freundschaft. Werden diese Bedingungen mir nicht bewilligt, so, habe ich dem Minister erklärt, sei ich entschlossen, niemals London zu verlassen, wo die Gesetze mir völlige Freiheit verbürgen. Ich erwarte jeden Augenblick seine Antwort, und ich habe kaum einen Grund, anzunehmen, daß sie den von mir kundgegebenen Wünschen entgegen sein wird; denn unter allen Umständen kann mich kein Mensch meiner Einkünfte berauben, und ich brauche mir daher aus der Gunst des Hofes nichts zu machen; aber auch abgesehen davon bin ich überzeugt, daß Oeiras sich glücklich schätzen wird, mir seinen Schutz zu gewähren, täte er es auch nur, um das Odium zu mildern, das ihm infolge des Todes meines Vaters anhaftet.

Pauline machte mir kein Geheimnis aus den Namen der Personen, die in dieser Geschichte vorkommen; aber sie lebt vielleicht noch, und ihr Andenken ist mir immer noch zu teuer, als daß ich mich der Gefahr aussetzen möchte, ihr Mißfallen zu erregen, indem ich diese Namen nenne, obgleich diese Erinnerungen wahrscheinlich nicht dazu bestimmt sind, zu meinen Lebzeiten das Licht der Welt zu erblicken. Um die Wahrheit des von meiner schönen Portugiesin Erzählten zu bestätigen, genügt es mir, daß ihre Geschichte allen Einwohnern von Lissabon recht gut bekannt ist, und daß die Mitspielenden, die in dieser Komödie auftreten, lauter Leute sind, deren Dasein in Portugal keinem Menschen ein Geheimnis ist.

Ich lebte mit der schönen Pauline in inniger Eintracht; von Tag zu Tag fühlte ich meine Liebe zu ihr wachsen und flößte ich ihr zärtlichere Gefühle ein. Aber wie nun meine Liebe wuchs und immer unwiderstehlicher wurde, magerte ich sichtlich ab, verlor Ruhe, Schlaf und Appetit: ich wäre an meiner Sehnsucht zugrunde gegangen, wenn ich sie nicht hätte befriedigen können. Pauline dagegen blühte auf und wurde jeden Tag schöner.

Eines Tages sagte ich zu ihr: »Wenn mein Leiden dazu dient, Ihre Reize zu vermehren, so müssen Sie dafür sorgen, daß ich nicht sterbe: denn ein Toter leidet nicht mehr.«

»Sie glauben, Ihr Leiden sei eine Folge des Gefühls, das ich Ihnen einflöße?«

»Daran kann ich nicht zweifeln.«

»Ich will gern glauben, daß etwas Wahres an Ihrer Behauptung ist; aber glauben Sie mir, ein so süßes Gefühl kann nicht an Ihrer Abmagerung und an Ihrer Schlaflosigkeit schuld sein. Ich schreibe mit gutem Grunde Ihre Veränderung der sitzenden Lebensweise zu, die Sie führen, seitdem ich in Ihrem Hause bin. Wenn Sie mich lieben, müssen Sie mir einen Beweis davon geben: machen Sie einen Spazierritt!«

»Ich kann Ihnen nichts abschlagen, schöne Pauline! Und nachher?«

»Nachher? Da werden Sie mich dankbar finden, werden guten Appetit haben und werden schlafen.«

»Schnell ein Pferd, schnell meine Stiefel!«

Ich küsse ihr die Hand – denn weiter war ich noch nicht bei ihr – und reite nach Kingston hinaus. Da das Traben mir unangenehm ist, so setze ich mein Pferd in Galopp. Plötzlich stürzt es, und ich liege vor der Tür des Herzogs von Kingston auf dem Pflaster. Miß Chudleigh stand gerade am Fenster, und als sie mich alle Vier von mir strecken sah, stieß sie einen lauten Schrei aus, wie eine erste Regung des Gefühls ihn so leicht einer Frau entreißt. Als ich infolge dieses Schreies meinen Kopf umwandte, erkannte sie mich und schickte mir sofort einen ihrer Leute zu Hilfe. Sobald ich wieder aufrecht stand, wollte ich zu ihr gehen, um ihr meinen Dank auszusprechen, aber es war mir unmöglich, mich von der Stelle zu rühren. Man trug mich in ein Zimmer des Erdgeschosses und zog mir die Stiefel aus. Ein Kammerdiener, der zugleich Chirurg war, untersuchte mich und stellte fest, daß ich den Knöchel verrenkt hätte, und daß ich acht Tage lang mich vollkommen ruhig verhalten müßte.

Die junge Miß sagte mir sofort, wenn ich bei ihr bleiben wolle, könne ich der sorgfältigsten Pflege sicher sein. Ich dankte ihr lebhaft, sagte aber, ich wolle ihr keine Umstände machen, und sprach den Wunsch aus, nach meinem Hause gebracht zu werden. Sofort gab sie mit reizender Anmut alle nötigen Befehle, und bald hatte ein bequemer Wagen mich nach Hause gebracht. Es war mir unmöglich, die beiden Bedienten, die mich begleiteten, zur Annahme eines Geldgeschenkes zu bewegen; ich erkannte darin jene zartfühlende Gastfreundschaft, die man den Engländern zur Ehre anrechnet. Sie verdienen auch dieses Lob in mancher Hinsicht, obgleich andererseits Egoismus einer der hervorstechendsten Züge ihres Nationalcharakters ist.

Zu Haufe angekommen, legte ich mich sofort ins Bett und ließ einen Wundarzt rufen, der über die angebliche Verrenkung herzlich lachte.

»Ich wette, es ist nur eine einfache Verstauchung, und ich wünschte, der Fuß wäre gebrochen, um Ihnen zeigen zu können, was ich kann.«

»Ich bin entzückt, daß ich Ihr Talent nicht auf eine solche Probe zu stellen brauche, und ich werde die beste Meinung von Ihnen haben, wenn Sie mich recht schnell wieder herstellen.«

Zu meinem Erstaunen sah ich Pauline nicht. Man sagte mir, sie habe sich in einer Sänfte forttragen lassen, und ich empfand darüber beinahe Eifersucht, obgleich ein beleidigender Verdacht mir fern blieb. Zwei Stunden darauf trat sie endlich ganz aufgeregt bei mir ein; die alte Hausmeisterin hatte ihr gesagt, ich hätte ein Bein gebrochen und es sei bereits ein Arzt eine volle Stunde bei mir gewesen.

»Ich Unglückselige!« rief sie, indem sie an mein Bett eilte, »an diesem Unglück bin ich schuld!«

Kaum hatte sie dies gesagt, so erbleichte sie und sank beinahe ohnmächtig an meine Seite. »Göttliches Weib!« rief ich, indem ich sie in meine Arme schloß, »es ist nichts… eine einfache Verstauchung.«

»Dummes altes Weib! Wie weh hat sie mir getan! Aber Gott sei gelobt! Fühlen Sie mein Herz.«

»Oh! Ich fühle es mit Entzücken! Glücklicher Sturz!«

Meine Lippen auf die ihrigen pressend fühlte ich mit Entzücken, wie unsere Küsse ineinander verschmolzen, und ich segnete meine glückliche Verstauchung.

Nach diesem ersten Ergusse unseres Glücksgefühles sah ich Pauline lachen.

»Worüber lachen Sie, entzückende Freundin?«

»Über die Spitzbüberei der Liebe, die schließlich doch immer triumphiert.«

»Wo waren Sie?«

»Ich war bei meinem Alten, um meinen Ring einzulösen, und ich schenke ihn Ihnen, damit Sie eine Erinnerung an mich haben.«

»O, meine Pauline, ein bißchen Liebe wäre mir viel lieber als dieser schöne Solitär.«

»Sie haben den Diamanten und meine Liebe. Bis zu meiner Abreise, die nur zu bald erfolgen wird, werden wir als zwei zärtlich liebende Gatten miteinander leben und die Hochzeit werden wir heute Abend feiern, indem wir hier an Ihrem Bette speisen; denn die Verstauchung und ich, mein süßer Freund, verbieten Ihnen, es zu verlassen.«

»Ach, meine liebe Pauline, was für holde Worte aus Ihren Lippen! Welch ein Glück verkünden Sie mir! Nein, ich würde es nicht ertragen, wenn ich es nur in Aussicht hätte. Gestatten Sie mir, daran zu zweifeln, bis ich die volle Wirklichkeit genieße!«

»Gern, mein Freund, wenn Sie das wollen; aber Ihr Zweifel darf nur ganz leicht sein, sonst könnte er mir Unrecht tun. Ich war es müde, so mit Ihnen zusammenzuleben und durch meine Liebe sie unglücklich zu machen. Darum beschloß ich, Ihnen anzugehören, als ich Sie zu Pferde steigen sah. Infolgedessen ging ich während Ihrer Abwesenheit schnell fort, um meinen Ring einzulösen, und nun will ich nicht mehr Ihre Arme verlassen, bis der verhängnisvolle Brief, den ich aus Lissabon erwarte, mich Ihnen entreißen wird. Seit acht Tagen lebe ich in beständiger Furcht; denn diesen Brief, den ich so sehr ersehnt habe, fürchte ich jetzt eintreffen zu sehen.«

»Wenn doch der Kurier unterwegs seines Briefsackes beraubt würde.«

»Solches Glück werden wir nicht haben.«

Da Pauline noch immer neben meinem Bett stand, bat ich sie, in meine Arme zu kommen; denn ich starb vor Verlangen, ihr die lebhaftesten Zeichen meiner Zärtlichkeit zu geben.

»Nein, mein Freund! Die Liebe schließt ja nicht die Vorsicht aus, und wie Sie sehen, steht die Türe offen.«

Sie holte den Ariosto und las mir das Abenteuer Ricciardettos mit der spanischen Prinzessin Fiordespina vor – die schönste Episode des fünfundzwanzigsten Gesanges dieses schönen Gedichtes, das ich auswendig wußte. Sie stellte sich vor, daß sie die Prinzessin und ich Ricciardetto sei.

Ihr machte der Gedanke Spaß:

che il ciel l’abbia concesso,
bradamante cangiato in miglior sesso …

Verwandelt ruht dann neben ihr der echte
Genoß, und zwar von besserem Geschlechte.

Dann kam sie an die Stanze:

Ie belle braccia al collo indi mi getta,
E dolcemente stringe, e baccia in bocca:
Tu buoi pensar se allora la saeta
Dirizza Amor, se in mezzo al cor mi tocca.

Der schöne Arm umschlingt mich alldieweile;
Sie drückt mich hold und küßt mich in den Mund.
Du magst dir denken, wie von Amors Pfeile
Die Spitze mir im tiefsten Herzen stund.

Sie wünschte eine Erklärung über das bacciar in bocca und über die Liebe, die in diesem Augenblick Ricciardettos Pfeil aufrichtete; ich gab ihr eine ausführliche Erläuterung und überraschte sie, indem ich sie plötzlich ebensolchen Pfeil berühren ließ wie jenen, von dem Ariosto spricht. Sie wurde darüber böse. Dies war auch ganz in der Ordnung; aber ihr Zorn konnte nicht lange dauern, und sie lachte laut auf, als sie an die Verse kam:

Io il veggo, io il sento, e a pena vero parmi:
Sento in maschio da femina mutarmi.

Kaum glaub ich’s, doch ich seh’s, ich fühl’s am Leibe:
Ich wandle mich zum Mann aus einem Weibe.

Und weiter:

Cosi le dissi, e feci ch’ella stessa
Trovò con man la verità espressa.

Ich sag’s und führ die Hand dem lieben Kinde,
Damit es selbst die volle Wahrheit finde.

Sie war erstaunt, daß Rom nicht dieses Gedicht verboten hätte, das, wie sie sagte, von Schmutzereien wimmelte.

»Ich glaube. Sie irren sich, meine liebe Pauline; was Sie Schmutzereien nennen, sind nur poetische Freiheiten, und mit solchen ist Rom nicht geizig.«

»Das ist ein frecher Witz, der Ihnen die Zensur der Kirche auf den Hals hetzen und Sie selber auf den Scheiterhaufen der heiligen Inquisition bringen könnte. Aber was nennen Sie denn Schmutzereien?«

»Dinge, die Ekel erregen, nicht aber solche, die gefallen.«

»Sie haben eine eigentümliche Logik. Aber bei dem augenblicklichen Zustande meines Herzens kann ich sie nicht bekämpfen; ich finde es scherzhaft, daß Ariosto von den Frauen aller anderen Nationen gerade eine Spanierin wählte, um ihr den seltsamen Geschmack zuzuschreiben, der sie gerade in den als Weib verkleideten Bradamante sich verlieben ließ.«

»Die Glut des Klimas hat ihn veranlaßt, ein glühendes Temperament und infolgedessen einen perversen Geschmack anzunehmen.«

»Die Dichter sind Narren, die sich alles Mögliche erlauben, was ihren Neigungen schmeichelt!«

Wir setzten die Vorlesung und das Gespräch fort, und ich glaubte, die Schäferstunde habe geschlagen, als sie an die Stelle kam:

Io senza scala in su la rocca salto,
E lo stendardo piantovi di botto
E la nemica mia mi caccio sotto.

Und ohne Leiter in das Schloß ich drang.
Dort pflanz‘ ich stolz mein Banner auf beim Siege,
Als ich die Feindin glücklich niederkriege.1

Ich wollte sofort die Szene dramatisch mit ihr darstellen, aber sie sagte mir mit jenem feinen Zartgefühl der Frauen, das diese so trefflich als Stachel anzuwenden wissen: »Mein lieber Freund, Sie könnten Ihr Übel verschlimmern; ich bitte Sie, mäßigen Sie sich, bis Ihre Verstauchung geheilt ist.«

»Müssen wir denn meine Heilung abwarten, um unsere Ehe zu vollziehen!«

»Ich glaube ja; denn wenn ich mich nicht irre, können Sie das Werk nicht ohne eine gewisse Bewegung vollbringen…«

»Sie irren sich, köstliche Pauline! Aber selbst wenn es so wäre! Verlassen Sie sich darauf, ich würde nicht bis morgen warten, und wenn es mir das Bein kosten sollte! Übrigens werden Sie sehen, daß es Mittel gibt, um den Zweck ziemlich leicht zu erreichen, ohne mein Übel zu verschlimmern. Sind Sie überzeugt? Sagen Sie es mir; denn Ihre Ängstlichkeit beunruhigt mich.«

»Ich weiß nicht… Ich schäme mich …«

»Aber, mein Herz, müssen Sie nicht über solche Gewissensbedenken erröten? Diese passen doch wirklich nicht für Ihren Geist!«

»Nun, so wollen wir doch wenigstens die Kerzen auslöschen; in einer Minute gehöre ich Ihnen.«

»Wenn es denn nicht anders sein kann! Allerdings beraubt die Abwesenheit des Lichtes mich großen Genusses. Also schnell die Kerzen aus!«

Ganz mit unserem künstlichen Licht beschäftigt, achtete meine reizende Portugiesin nicht darauf, daß der Mondschein das Zimmer hell erleuchtete und daß meine Musselinvorhänge kein genügendes Hindernis boten, um mir den Anblick der entzückendsten Formen zu entziehen, besonders in der Stellung, die sie zufällig angenommen hatte. Wäre Pauline eine Kokette gewesen, so hätte ich glauben können, dieses ganze Manöver sei absichtlich berechnet gewesen, um meine Glut zu steigern. Aber sie hatte dies nicht nötig. Endlich hielt ich sie in meinen Armen, und wir versanken in ein ungewöhnliches Schweigen, das durch keine andere Bewegung als durch einen innigen Druck und durch keinen anderen Laut als durch das leise Geräusch unserer Küsse unterbrochen wurde. Bald war unsere Vereinigung vollständig, und ihre Seufzer, ihre glühende Hingabe bewiesen mir, indem sie mir ihre Erstlinge darbrachte, daß ihr Liebesbedürfnis das meinige noch übertraf. Ich bewahrte genügende Selbstbeherrschung, um nicht zu vergessen, daß ich ihre Ehre schonen mußte. Sie war darüber sehr erstaunt; denn sie gestand mir, sie habe an eine solche Ausflucht nicht gedacht, sondern sich mir ohne Hintergedanken hingegeben und sei bereit gewesen, die Folgen auf sich zu nehmen, die sie für unvermeidlich gehalten habe. Ich machte sie glücklich, indem ich ihr das Geheimnis erklärte.

Bis zu diesem Augenblick hatte die Liebe allein mich belebt, aber nach dem blutigen Opfer fühlte ich mich von Achtung und Dankbarkeit durchdrungen. Ich sagte ihr mit überströmendem Herzen, ich fühle die ganze Größe meines Glückes und sei bereit, ihr mein Leben zu opfern, um sie von der Beständigkeit meiner Zärtlichkeit zu überzeugen.

Beglückt durch das Gefühl der Sicherheit, das ich ihr einzuflößen verstanden hatte, überließ Pauline sich der ganzen Glut ihres südlichen Temperamentes, und ich hielt ihr tapfer stand; wir wirkten jedoch so eifrig, daß uns schließlich die Erschöpfung übermannte und daß das letzte Opfer nicht ganz vollzogen werden konnte. Wir überließen uns einem friedlichen und tiefen Schlaf. Ich erwachte zuerst. Strahlende Sonne erleuchtete das Zimmer, und ich betrachtete lange Paulinen, die an meiner Seite lag. Auf meinen Ellbogen gestützt, stieß ich unwillkürlich einen tiefen Seufzer aus, als ich dies entzückende Weib in meinem Besitz sah, den einzigen Sprößling einer erlauchten Familie, die erste Schönheit Portugals, die sich mir in Liebe ergeben hatte und die ich leider nur kurze Zeit besitzen durfte. Pauline erwachte, und ihr Blick, leuchtend und sanft wie der erste Strahl einer Frühlingssonne, ruhte voll Vertrauen und Liebe auf mir.

»Woran denkst du, mein süßer Freund?«

»Ich suche mich zu überzeugen, daß mein Glück nicht ein Traum ist; und wenn es Wirklichkeit ist, so wünsche ich zu sterben, bevor ich dich verliere. Ich bin der glückliche Sterbliche, dem du einen unermeßlichen Schatz geschenkt hast, dessen ich mich unwert fühle, obgleich ich dich unbeschreiblich liebe.«

»Mein Freund, du bist meiner ganzen Hingebung und meiner ganzen Liebe würdig, wenn du mich noch achten kannst.«

»Dich nicht mehr achten! Pauline, könntest du daran zweifeln?«

»Nein, lieber Freund, ich glaube an deine Zärtlichkeit, und ich bin sicher, daß ich es niemals zu bereuen haben werde, Vertrauen zu dir gehabt zu haben.«

Nachdem wir das süßeste Opfer noch einmal erneut hatten, stand Pauline auf. Mit einem anmutigen Lachen machte sie die Bemerkung, daß sie sich jetzt nicht mehr in meiner Gegenwart schäme.

Plötzlich aber ging sie vom Scherz zu tiefsinnigen Betrachtungen über und sagte: »Lieber Freund, wenn das Verschwinden der Scham eine Wirkung erworbenen Wissens ist, woher kommt es, daß unser erstes Urelternpaar sich erst schämte, nachdem es wissend geworden war?«

»Das weiß ich nicht, angebetete Freundin; aber sage mir, ob du jemals diese Frage an deinen gelehrten italienischen Lehrer gerichtet hast, von dem du mir erzähltest?«

»Hm – ja!«

»Was hat er dir geantwortet?«

»Sie hätten sich geschämt, nicht weil sie genossen hätten, sondern weil sie ungehorsam gewesen wären; indem sie die Körperteile bedeckten, die sie verführt hätten, glaubten sie, den begangenen Fehltritt verleugnen zu können. Was man auch sagen mag, ich bin der Meinung, daß Adam viel mehr Schuld hatte als Eva.«

»Wieso?«

»Weil Adam das Verbot von Gott selber erhalten hatte, während Eva es nur von Adam vernommen haben konnte.«

»Ich glaube, alle beide empfingen das Verbot unmittelbar von Gott.«

»Du hast also nicht die Schöpfungsgeschichte gelesen?«

»Du machst dich über mich lustig.«

»Dann hast du sie also schlecht gelesen; denn es steht darin klar und deutlich, daß Gott die Eva schuf, nachdem er Adam verboten hatte, die Früchte vom Baum der Erkenntnis zu essen.«

»Ich finde es seltsam, daß unsere Bibel-Ausleger diesen Umstand nicht hervorgehoben haben, denn er scheint mir sehr wichtig zu sein.«

»Die Theologen sind eben Betrüger; sie sind fast alle Feinde unseres Geschlechts.«

»O, was das anbelangt, so geben sie sehr oft Beweise vom Gegenteil.«

»Bitte, laß uns davon nicht mehr sprechen! Aber mein Lehrer war ein ehrlicher Mann.«

»War er Jesuit?«

»Ja, aber von der kurzen Robe.«

»Was heißt das?«

»Darüber wollen wir ein anderes Mal sprechen.«

»Schön, meine Liebe; wir werden dann sehen, wie die Begriffe: Jesuit und ehrlicher Mann sich miteinander vertragen können.«

»Es gibt Ausnahmen von allen Regeln.«

Meine Pauline war eine tiefe Denkerin, und da sie sehr an ihrer Religion hing, so beschäftigte sie sich mehr damit als ich. Ich hätte diesen ihren Vorzug niemals kennen gelernt, wenn sie nicht meine Bettgenossin geworden wäre. Ich habe mehrere Frauen von solcher Geistesanlage gekannt: um die Höhe ihres Geistes, die Erhabenheit ihrer Seele zu erkennen, muß man sie zuerst dahin bringen, sich der Verdammnis zu ergeben; wenn einem dies gelingt, ist man ihres vollen Vertrauens sicher, denn sie haben kein Geheimnis mehr vor dem Sieger, der sie zu erobern wußte. Hauptsächlich aus diesem Grunde liebt das schwache und reizende Geschlecht die Tapferen und verachtet die Feigen. Allerdings sieht man zuweilen, wie Feiglinge anscheinend bevorzugt werden; aber dies sind Erfolge, die sie nur ihrer Schönheit oder einer Weiberlaune verdanken: die Frauen treiben ihren Spaß mit ihnen, und wenn ein Tapferer dem Feigling den Stock zu kosten gibt, sind sie die ersten, die darüber lachen.

Nach der köstlichsten Nacht, die die Liebe mir verschafft hatte und die mir die süßeste zu sein schien, die der liebe Gott mir jemals gewährt hat, beschloß ich, mein Haus nicht mehr zu verlassen, solange Pauline noch in London bleiben würde.

Das reizende Weib wich nicht einen Augenblick von meiner Seite, abgesehen von der kurzen Zeit, die sie brauchte, um am Sonntag die Messe zu hören. Ich verschloß meine Tür vor aller Welt, selbst vor dem Jünger Äskulaps, denn meine Verstauchung heilte von selbst. Ich beeilte mich, die liebenswürdige Miß Chudleigh von meiner schnellen Heilung in Kenntnis zu setzen; infolgedessen schickte sie nun nicht mehr zweimal täglich zu mir, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen, wie sie es bis dahin getan hatte.

Pauline war nach unserem Liebeskampf auf ihr Zimmer gegangen und kam erst zum Mittagessen wieder herunter. Aber wie strahlte sie da vor Schönheit! Ich glaubte, eine Nereide zu sehen oder vielmehr einen Engel. Ihr Gesicht, das durch ihr Darben zu bleich geworden war, hatte jene Farbe von Lilien und Rosen angenommen, die immer ein Zeichen von Jugend und Gesundheit sind, und auf ihrem Antlitz lag ein Ausdruck von Zufriedenheit und Glück, den ich unermüdlich bewundern mußte.

Da wir beide unsere Bildnisse zu besitzen wünschten, schrieb ich an Martinelli, er möchte mir den besten Maler von London schicken; er sandte mir einen Juden zu, dem seine Aufgabe trefflich gelang. Ich ließ mein Bild in einen Ring fassen, und dies war das einzige Geschenk, das Pauline von mir annehmen wollte, der ich mich doch nur um so reicher gefühlt hätte, wenn sie alles angenommen hätte, was ich besaß.

So verbrachten wir drei Wochen in einem Übermaß von Glück, das keine Feder beschreiben könnte. Ich war vollkommen wieder hergestellt; wir erfreuten uns einer ausgezeichneten Gesundheit, und unsere Liebe war voll Wollust und Gefühl. In jedem Augenblicke des Tages und der Nacht gehörten wir einander an, und da unsere Begierden stets befriedigt wurden und stets wieder von neuem erwachten, so befanden wir uns auf dem Höhepunkt des Glückes. Wir hatten keine Zeit, an die Zukunft zu denken, und vielleicht erhöhte dieser Umstand noch unsere Seligkeit. Mit einem Wort, ich glaube, es ist schwer, sich eine richtige Vorstellung von der Lage zweier Menschen zu machen, denen alle leiblichen Genüsse im Überfluß zu Gebote stehen und die kein Bedenken darin stört; die ganz in der Gegenwart leben und deren Gedanken keine Furcht vor der Zukunft beschäftigt; die durch sich selber und durch alles, was sie angeht, glücklich sind und deren Glück verhundertfacht wird durch die Genüsse, die sie sich unaufhörlich gegenseitig verschaffen. In solcher Lage befand ich mich damals, befand sich meine göttliche Pauline.

Jeden Tag entdeckte ich an meiner Geliebten Eigenschaften, die sie mir immer lieber machten: ihr Geist und ihr glücklicher Charakter waren ein unerschöpflicher Schatz; denn die Natur hatte sie mit moralischen Eigenschaften noch besser bedacht als mit körperlicher Schönheit, und einer ausgezeichneten Erziehung, die ihre Intelligenz gekräftigt hatte, verdankte sie eine außerordentliche Entwicklung aller ihrer Geistesgaben. Pauline hatte außer ihrer weiblichen Schönheit, Anmut und Sanftmut auch jenen festen und stolzen Charakter und den weiten Gesichtskreis, die nur höchstbegabten Männern eigen sind. Schon begann sie zu hoffen, der verhängnisvolle Brief, der sie zurückrufen sollte, werde gar nicht kommen, und Graf Al…. existierte in ihrer Erinnerung nur noch wie ein bedeutungsloser Traum; sie sagte mir manchmal, sie begreife nicht, wie ein hübsches Gesicht eine so materielle Macht ausüben könne, daß es aller Vernunft zum Trotz eine tiefe Neigung hervorrufe. »Ich fühle zu spät,« sagte sie, »daß nur der Zufall eine Vereinigung glücklich machen kann, die durch eine solche animalische Wirkung zustande kommt.«

Der erste August war ein verhängnisvoller Tag für sie und für mich. Pauline empfing aus Lissabon zwei Briefe, die ihr keinen Vorwand übrig ließen, um ihre Rückreise zu verzögern, und ich erhielt aus Paris die Nachricht, daß Frau von Urfé tot sei. Frau du Rumain schrieb mir: zufolge der Aussage ihrer Kammerfrau hätten die Ärzte erklärt, die Marquise habe sich selber umgebracht, indem sie eine zu große Menge einer von ihr als Panacee bezeichneten Flüssigkeit eingenommen habe. Man habe ein Testament gefunden, das nach dem Irrenhause schmecke: sie vermache ihr ganzes Vermögen dem ersten Sohn oder der ersten Tochter, die sie gebären werde; denn sie behaupte, schwanger zu sein.

Mich hatte sie zum Vormund des erwarteten Kindes bestellt, was mir sehr schmerzlich war, denn über eine solche Geschichte mußte ganz Paris mindestens eine Woche lang lachen. Die Gräfin du Châtelet, ihre Tochter, hatte sich ihres ganzen unbeweglichen Vermögens und ihres Portefeuilles bemächtigt, worin man zu meinem großen Erstaunen vierhunderttausend Franken gefunden hatte. Ich war von diesem Schlage wie betäubt, aber ich suchte meinen Schmerz und meine Reue über der Teilnahme zu vergessen, die die beiden Briefe meiner Pauline in mir erregten. Der eine war von ihrer Tante, der andere vom Grafen Oeiras, der sie aufforderte, sobald wie möglich auf dem See- oder Landwege nach Lissabon zurückzukehren, und ihr versicherte, sie werde sofort nach ihrer Ankunft in den Besitz ihres Vermögens gelangen und könne den Grafen Al… offen vor aller Welt heiraten. Er schickte ihr einen Sichtwechsel über zwanzig Millionen Reis. Ich hatte über den geringen Wert dieser Münze niemals nachgedacht und war daher außer mir; aber Pauline sagte mir lachend, der Wert betrage nur zweitausend Pfund Sterling. Immerhin erlaubte diese Summe ihr, wie eine Herzogin zu reisen. Der Minister riet ihr, den Seeweg zu benutzen, sie brauche in diesem Fall ihren Wunsch nur dem Herrn de Saa zu erkennen zu geben, der den Auftrag habe, eine portugiesische Fregatte, die sich augenblicklich in einem der englischen Häfen befinde, ihr zur Verfügung zu stellen. Pauline wollte weder von der Seefahrt noch von Herrn de Saa etwas wissen; kein Mensch sollte glauben können, daß sie zur Rückreise genötigt gewesen sei. Sie war ärgerlich, daß Oeiras ihr die Anweisung geschickt hatte, weil sie daraus sah, daß der Minister sich dem Glauben hingab, sie befinde sich in mißlichen Umständen. Es gelang mir allerdings ohne Mühe, ihr diese Sache im richtigen Lichte darzustellen, und sie gab schließlich zu, daß das Vorgehen des Ministers zartfühlend sei; denn er schrieb ihr nicht, daß er ihr mit der Anweisung ein Geschenk mache; dies würde sie allerdings beleidigt haben.

Pauline war reich und hatte eine große Seele. Dies geht schon daraus hervor, daß sie mich genötigt hatte, ihren Ring anzunehmen, als sie sich sozusagen im Elend befand; ganz gewiß rechnete sie niemals auf meine Börse, obgleich sie überzeugt war, daß ich sie niemals würde verlassen haben. Ich bin sicher, daß sie mich für sehr reich hielt, und ich tat allerdings nichts, woraus sie auf das Gegenteil hätten schließen können.

Wir verbrachten den Tag und sogar die Nacht sehr traurig. Am nächsten Morgen sprach Pauline zu mir mit jenem auserlesenen Feingefühl und mit jener Überzeugungskraft, die nur einem großen Charakter eigen sind:

»Wir müssen uns trennen, mein lieber Freund, und uns zu vergessen suchen; meine Ehre verlangt, daß ich sofort nach meiner Ankunft in Lissabon die Frau des Grafen Al…. werde. Denn alle Welt muß glauben, daß ich mich ihm bereits hingegeben habe; sobald ich aber mich dem Grafen gelobt habe, ist es meine Pflicht, ihm mein Herz wie meine Person ungeteilt zu geben. Dies wird mir nicht schwer werden; denn es ist mir nicht möglich, mir vorzustellen, daß ich auf andere Art glücklich sein könnte, und sobald ich dich nicht mehr sehe, wird mein Pflichtgefühl die Oberhand gewinnen; denn was man wirklich will, muß man auch können. Meine erste Liebe, die du beinahe verwischt hast, wird wieder die alte Gewalt erlangen, sobald ich dich verlassen habe, und ich bin überzeugt, daß ich meinen Gatten lieben werde, denn er ist gut, sanft und liebenswürdig; dies habe ich in den wenigen Tagen, die wir zusammen verlebten, wohl erkennen können.

Nach dieser Vorrede, mein lieber Freund, will ich dir nun sagen, worum ich dich bitten muß und was du mir gewähren mußt, sei es auch nur als eine Gnade: versprich mir, niemals nach Lissabon zu kommen, wenn ich dir nicht die Erlaubnis gebe. Ich hoffe, ich brauche dir nicht die Gründe zu sagen; du darfst es nicht wagen, den Frieden meiner Seele zu stören; denn wenn ich schuldig würde, müßte ich zugleich auch unglücklich werden, und du, der du mich so zärtlich liebst, wirst gewiß nicht das Werkzeug meines Unglücks werden wollen. Ach glaube mir, ich stelle mir vor, ich sei deine Gattin gewesen; sobald wir getrennt sind, werde ich mir einbilden, ich sei Witwe und reise nach Lissabon, um dort eine andere Ehe einzugehen.«

Unter strömenden Tränen schloß ich sie in meine Arme und versprach ihr Gehorsam.

Pauline antwortete dem Minister Oeiras und ihrer Tante, der Äbtissin, sie werde im Laufe des Oktobers in Lissabon eintreffen; sobald sie in Spanien sei, werde sie ihm weitere Nachricht geben. Da sie über die nötigen Mittel verfügte, kaufte sie einen Reisewagen, und nahm eine Kammerjungfer durch Vermittlung der braven Frau, bei der sie im Anfange ihres Londoner Aufenthaltes gewohnt hatte.

Die letzte Woche, die sie mit mir zubrachte, verging mit diesen Reisevorbereitungen. Als besondere Gunst bewilligte sie mir, daß Clairmont sie bis nach Madrid begleiten durfte. Sie sollte mir sofort nach ihrer Ankunft in der spanischen Hauptstadt diesen treuen Diener zurückschicken; aber das Schicksal hatte beschlossen, daß ich ihn nicht wiedersehen sollte, und ich gestehe, dies war einer der schlimmsten Streiche, die es mir in meinem Leben gespielt hat.

Wir verbrachten die letzten acht Tage in Bitternis und Wonne. Wir sahen uns an, ohne zu sprechen; wir sprachen, ohne zu wissen, was wir sagten. Wir vergaßen, uns zu Tisch zu setzen und zu essen; wir gingen zu Bett und hofften, wir würden vor Liebe und Schmerz nicht schlafen können; aber wir täuschten uns. Eine Lethargie, die durch die Erschöpfung unserer Sinne hervorgerufen war, versenkte uns in einen tiefen Schlaf, und wenn wir in inniger Verschlingung erwachten, schilderten tiefe Seufzer und feurige Küsse den wirklichen Zustand unserer Seelen.

Pauline konnte mir und sich das Glück nicht versagen, daß ich sie bis Calais begleitete. Wir reisten am zehnten August ab und hielten uns in Dover nur solange auf, wie notwendig war, um den Wagen auf ein Paketboot bringen zu lassen. Vier Stunden später landeten wir in Calais, wo Pauline, um ihre Witwenschaft zu beginnen, mich bat, in einem Zimmer zu schlafen, das von dem ihrigen getrennt war. Am zwölften August reiste sie ab. Mein armer Clairmont ritt voran, und sie hatte beschlossen, nur bei Tage zu reisen.

Meine Trennung von Pauline hat eine große Ähnlichkeit mit der schmerzlichen Trennung von Henriette, die ich fünfzehn Jahre früher in Genf durchmachen mußte. Auffallend ist die Charakterähnlichkeit dieser beiden unvergleichlichen Frauen, die nur in der Art ihrer Schönheit voneinander verschieden waren. Vielleicht war dies nötig, damit ich mich in die zweite ebenso leidenschaftlich verlieben konnte, wie ich mich in die erste verliebt hatte. Beide waren klug und verständig, beide waren tiefe Denkerinnen, und nur eine verschiedene Erziehung hatte bewirken können, daß die eine heiterer war, mehr Talente und weniger Vorurteile hatte als die andere. Pauline hatte den edlen Stolz ihrer Nation, sie hatte einen Hang zum Ernst, und die Religion war für sie Herzenssache; außerdem übertraf sie Henriette an verliebter Glut und an Neigung zum Liebesgenuß. Ich war mit beiden glücklich, weil ich reich war; sonst hätte ich weder die eine noch die andere überhaupt gekannt. Ich habe sie vergessen, weil wir Menschen alles vergessen; aber wenn ich mir die Erinnerung an sie zurückrufe, finde ich, daß der Eindruck, den Henriette auf mich machte, doch der tiefere war – ohne Zweifel nur deshalb, weil ich damals erst zweiundzwanzig Jahre alt war, während ich in London bereits siebenunddreißig zählte. Je älter ich werde, desto mehr fühle ich, wie das Alter unsere Eindrucksfähigkeit abstumpft, und desto mehr bedauere ich, daß ich nicht das Geheimnis habe finden können, die Jugend festzuhalten, diese glückliche Zeit süßer Einbildungen. Ohnmächtiges Bedauern! Wir müßten enden, wie wir beginnen, oder wir müßten die von der Natur aufgestellte Ordnung umstoßen, das heißt, damit beginnen, womit wir endigen. Noch einmal – ohnmächtiges Bedauern!

Ich schiffte mich am selben Tage wieder ein und hatte eine sehr unangenehme Überfahrt. Trotzdem hielt ich mich in Dover nicht auf, und sobald ich in London angekommen war, schloß ich mich in düsterster Stimmung in einem wirklich britannischen »Spleen« in mein Zimmer ein, um darüber nachzudenken, wie ich Pauline vergessen könnte. Jarbe brachte mich zu Bett. Dieser Jarbe war ein braver Junge, den ich für die Zeit von Clairmonts Abwesenheit in meinen persönlichen Dienst genommen hatte. Als er am nächsten Morgen in mein Zimmer trat, brachte er eine schauderhafte Naivität vor, über die ich bald darauf aber doch lachen mußte.

»Mein Herr,« sagte er zu mir, »die Alte läßt Sie durch mich fragen, ob sie das Schild wieder aushängen soll?«

»Das elende Weib! Sie will wohl, daß ich sie in der Wut erwürge?«

»Aber mein Gott, mein Herr, sie hängt sehr an Ihnen; und als sie Sie so traurig gesehen hat, da hat sie gedacht…«

»Sage ihr, sie soll sich’s nicht wieder einfallen lassen, derartige Gedanken zu haben, und du…«

»O – ich, Herr, werde alles tun, was Sie wollen.«

»Laß mich zufrieden!«

  1. Ich entnehme die Übersetzungen der Verse der bei Georg Müller erschienenen zweibändigen Ariost-Ausgabe von Alfons Kißner. Das herrlich ausgestattete Werk ist eine wahre Herzensfreude für jeden Bücherliebhaber.

Zwölftes Kapitel


Eigentümlichkeiten der Engländer. – Castelbajac. – Graf Schwerin. – Meine Tochter Sophie in Pension. – Die Charpillon.

Ich verbrachte eine jener Nächte, die wie ein beständiges Alpdrücken sind. Traurig und düster stand ich auf; ich war in einer Stimmung, daß ich einen Menschen hätte totschlagen oder auf Herzaß um sein Lebm hätte spielen mögen. Das Dach meines Hauses, das mir bis dahin so schön vorgekommen war, schien mit seinem ganzen Gewicht auf meiner Brust zu lasten. Ich ging aus, ohne an meinen Anzug zu denken; denn ich zog mechanisch meine Reisekleider wieder an. Der Anblick von etwa zwanzig Personen, die in einem Kaffeehause Zeitungen lasen, zog mich an, und ich trat ein.

Ich setzte mich an einen Tisch, den ich zufällig frei fand, und da ich kein Englisch verstehe, beobachtete ich die Gäste, wie sie kamen und gingen. Nach einigen Minuten wurde jedoch meine Aufmerksamkeit durch die Stimme eines Mannes erregt, der französisch sprach und an einen anderen folgende Worte richtete: »Tommy hat sich das Leben genommen, und daran hat er meiner Seel‘ recht getan, denn seine Vermögensverhältnisse waren in der allerschlimmsten Unordnung. Wenn er weitergelebt hätte, wäre er sehr unglücklich geworden.«

»Da irren Sie sich ganz und gar«, sagte der andere mit doktoraler Ruhe. »Da er auch mir schuldig war, war ich gestern dabei, als das Inventar seines Vermögens aufgenommen wurde, und da hat ein jeder sich überzeugen können, daß er einen wahren Anfängerstreich gemacht hat; denn er konnte noch sechs Monate warten, bis er sich das Leben nahm, und hätte trotz der Unordnung seiner Verhältnisse sich’s sehr wohl sein lassen können.«

über diese Art des Rechnens würde ich gelacht haben, wenn ich in einer weniger düsteren Stimmung gewesen wäre; aber es ist eine Tatsache, daß dieses Gefühl negativer Heiterkeit mir gut tat. Ich überlasse es den Physiologen, festzustellen, wie auf einen Menschen eine solche Wirkung hervorgebracht werden kann, daß er aus dem Zustande von Betäubung, worin ihn ein großer Verlust versetzt, in einen Zustand von Gleichgültigkeit übergeht, worin er sich besser befindet.

Ich verließ das Kaffeehaus, ohne ein Wort gesprochen oder auch nur etwas verzehrt zu haben, und ging nach der Börse, um mir Geld geben zu lassen. Bosanquet gab mir sofort so viel, wie ich verlangte, und begleitete mich hierauf. Da ich einen Herrn sah, dessen Gesicht mich interessierte, fragte ich ihn: »Wer ist dieser Herr?«

»Das ist ein Mann, der hunderttausend Pfund wert ist.«

»Und wer ist jener?«

»Das ist einer, der keine zehn wert ist.«

»Aber ich frage Sie ja nicht, wieviele Pfund Sterling die Herren wert sind, sondern ich frage Sie nach ihren Namen.«

»Den weiß ich nicht.«

»Aber wie können Sie ihren Wert abschätzen, ohne ihren Namen zu kennen?«

»Hier macht der Name nichts aus, der Wert aber alles. Einen Menschen kennen heißt: wissen, über welchen Betrag er verfügen kann. Was kommt es denn auch auf einen Namen an? Verlangen Sie von mir tausend Pfund und quittieren Sie darüber in meiner Gegenwart mit dem Namen Attila oder Sokrates – mir genügt das. Sie werden nicht als Seingalt, sondern als Sokrates oder Attila bezahlen, und wir werden lachen.«

»Aber wenn Sie Wechsel unterschreiben?«

»Das ist etwas anderes, denn diese muß ich mit demselben Namen unterzeichnen, den der Aussteller mir gibt.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Sie sind eben kein Engländer und kein Kaufmann.«

»Allerdings nicht.«

Von ihm begab ich mich nach dem Park; da ich aber vorher noch eine Banknote von zwanzig Guineen wechseln wollte, ging ich zu einem reichen Kaufmann, einem Lebemann, den ich im Gasthof kennen gelernt hatte. Ich warf eine Banknote auf seinen Tisch und bat ihn, mir dafür Goldstücke zu geben.

»Kommen Sie in einer Stunde wieder,« sagte er; »ich habe in diesem Augenblick kein Geld hier.«

»Gut; ich werde wieder vorsprechen, wenn ich vom Park zurückkomme.«

»Nehmen Sie Ihre Banknote wieder und geben Sie sie mir, wenn ich Ihnen die zwanzig Goldstücke auszahle.«

»Das ist einerlei. Behalten Sie sie nur; ich zweifle nicht an Ihrer Rechtschaffenheit.«

»Das ist Unsinn, lieber Freund; denn wenn Sie mir die Banknote hierlassen, werde ich Ihnen kein Geld mehr geben, wäre es auch nur, um Ihnen eine Lehre zu verabfolgen.«

»Ich halte Sie einer unredlichen Handlung nicht für fähig.«

»Ich bin es auch nicht; aber wenn es sich um eine so einfache Sache handelt, wie die, eine Banknote in die Tasche zu stecken, was durchaus keine Mühe macht, dann kann der redlichste Mensch glauben, er habe den Gegenwert dafür gegeben, und ein kleiner Irrtum des Gedächtnisses könnte zu einem Streit führen, bei welchem Sie sicherlich unterliegen müßten; denn man würde Ihnen ins Gesicht lachen, falls Sie etwa klagen sollten.«

»Ich fühle die Richtigkeit Ihrer Gründe, besonders in einer Stadt, wo man den Kopf fortwährend voll von Gedanken hat.«

Im Park fand ich Martinelli, dem ich für seinen Decamerone dankte; er hatte mir das Buch inzwischen gesandt. Er beglückwünschte mich zu meinem Wiedererscheinen in der Gesellschaft und zu der schönen Dame, deren glücklicher Besitzer und gewiß auch Sklave ich geworden sei. »Lord Pembroke hat sie gesehen und hat sie reizend gefunden.«

»Wie? Was sagen Sie da? Wo hat er sie gesehen?«

»Mit Ihnen in einem vierspännigen Wagen; Sie fuhren in scharfem Trab nach Rochester zu. Es ist etwa drei oder vier Tage her.«

»Schön, mein lieber Martinelli; jetzt kann ich es Ihnen ja sagen: ich brachte sie nach Calais und werde sie niemals wiedersehen.«

»Werden Sie Ihre Wohnung wieder zu denselben Bedingungen vermieten?«

»Nein, niemals wieder – obgleich der Gott der Liebe mich sehr gnädig behandelt hat. Sie werden mir ein Vergnügen machen, wenn Sie zu mir kommen, so oft Sie Lust haben.«

»Muß ich mich vorher anmelden?«

»Nein, für meine Freunde speist Lukullus bei Lukullus.«

Wir setzten unseren Spaziergang fort, ohne ein bestimmtes Ziel zu haben, und sprachen von Literatur und allerlei Gebräuchen. Plötzlich bemerkte ich in der Nähe von Buckingham-House zu meiner Linken im Gebüsch fünf oder sechs Personen, die ein dringendes Bedürfnis verrichteten und dabei den Vorübergehenden den Hintern zukehrten. Diese Stellung erschien mir empörend unanständig, und ich sprach Martinelli gegenüber meinen Abscheu aus, indem ich besonders bemerkte, diese schamlosen Menschen müßten doch zum mindesten den Vorübergehenden ihr Gesicht zukehren.

»Keineswegs!« rief er; »denn dann würde man sie vielleicht erkennen, und ganz sicherlich würde man sie ansehen, während sie durchaus keine Gefahr laufen, erkannt zu werden, wenn sie nur ihren Hintern den Blicken preisgeben; außerdem nötigen sie dadurch jeden einigermaßen zartfühlenden Menschen, seine Blicke von ihnen abzuwenden.«

»Ich erkenne Ihre Gründe als richtig an, mein lieber Freund, aber Sie werden es natürlich finden, daß so etwas einen Ausländer empört.«

»Natürlich; in allen Ländern wurzeln die besonderen Gebräuche sich ebenso fest ein wie die Vorurteile. Sie haben wohl schon bemerkt, daß ein Engländer, der auf der Straße seine Schleusen öffnen muß, nicht wie bei uns in einen Gang tritt oder sich an eine Tür stellt oder einen Prellstein als Deckung benutzt?«

»Ja, ich habe gesehen, daß Leute sich nach der Mitte der Straße wandten; aber wenn sie es auf diese Weise vermeiden, von den Leuten gesehen zu werden, die auf den Bürgersteigen oder in den Läden sind, so werden sie dafür von denen gesehen, die vorüberfahren, und das ist doch auch nicht richtig.«

»Wer zwingt denn die Herrschaften, die bequem im Wagen fahren, hinzusehen?«

»Das ist allerdings auch wieder wahr.«

Wir gingen bis zum Greenpark und trafen dort Lord Pembroke, der einen Spazierritt machte. Sobald er mich sah, hielt er an und erhob ein lautes Geschrei. Ich erriet die Ursache seiner Überraschung und sagte ihm, ohne seine Frage abzuwarten: »Ich habe zu meinem großen Bedauern meine Freiheit wiedererlangt und fühle mich an meiner guten Tafel sehr vereinsamt.«

»Ich bin ein wenig neugierig, mein lieber Seingalt, und werde vielleicht heute zu Ihnen kommen und Ihnen Gesellschaft leisten.«

Wir trennten uns, und da ich darauf rechnete, daß ich ihn zum Mittagessen bei mir sehen würde, so ging ich nach Hause, um meinem Koch zu sagen, ich würde im Apollosaale speisen. Martinelli hatte sich für diesen Tag schon verpflichtet und konnte daher nicht kommen; aber er zeigte mir eine Ausgangstür des Parkes, die ich noch nicht kannte, und brachte mich auf den Weg.

Als wir in eine Straße einbogen, sahen wir eine Menge Leute, die etwas zu beobachten schienen. Martinelli ging an den Haufen heran, kam dann wieder zu mir und sagte: »Sie werden da etwas Eigentümliches sehen, was Sie Ihren Beobachtungen englischer Gebräuche einverleiben können.«

»Was ist es denn?«

»Ein Mensch, der in einer Viertelstunde an den Folgen eines Faustschlages auf die Schläfe sterben wird, den er bei einer Boxerei von einem anderen braven Mann erhalten hat.«

»Gibt es denn kein Mittel dagegen?«

»Es ist ein Chirurg da, der ihn zu retten verspricht, wenn man ihm erlaubt, den Mann zur Ader zu lassen.«

»Wer kann ihm denn das verbieten?«

»Das ist eben das Merkwürdige: Zwei Männer haben zwanzig Guineen auf das Leben des Mannes gewettet. Der eine hat gesagt: ich wette, daß er stirbt; der andere: ich wette, er wird nicht sterben. Der erste erhebt Einspruch gegen den Aderlaß; denn wenn der Chirurg den Verwundeten heilt, wird der zweite seine zwanzig Guineen verlangen.«

»Ein sehr unglücklicher Mensch und sehr unbarmherzige Wetter!«

»In betreff des Wettens sind die Engländer eigentümliche Leute. Bei ihnen wird auf alles gewettet. Es gibt hier eine Gesellschaft, die man den Wettklub nennt. Wenn Sie Lust haben, dem Verein beizutreten, werde ich Sie vorstellen.«

»Spricht man französisch?«

»Ohne allen Zweifel; denn die Mitglieder sind geistreiche und vornehme Leute.«

»Und was macht man in diesem Klub?«

»Man plaudert, man disputiert; und wenn jemand irgend etwas leugnet, was ein anderer behauptet, so muß eine Wette angenommen werden, falls einer von den beiden sie vorschlägt; sonst muß eine Geldstrafe zugunsten einer allgemeinen Kasse bezahlt werden, die am Ende eines jeden Monats geteilt wird.«

»Lieber Freund, verschaffen Sie mir doch den Zutritt zu diesem reizenden Klub! Ich werde da reich werden; denn ich werde mit meiner Meinung nicht zurückhalten, so oft ich entgegengesetzter Ansicht bin, aber ich werde darauf halten, daß ich meiner Sache sicher bin.«

»Nehmen Sie sich in acht, denn Sie werden es mit starken Gegnern zu tun haben!«

»Aber kommen wir noch einmal auf den sterbenden Mann! Was wird man dem anderen tun, der ihn getötet hat?«

»Man wird seine Hand untersuchen, und wenn diese glatt ist wie die Ihrige und wie die meinige, wird man sich damit begnügen, sie zu zeichnen.«

»Das begreife ich nicht. Bitte, erklären Sie es mir! Woran erkennt man eine gefährliche Hand?«

»Wenn man die Hand gezeichnet findet, so ist dies ein Beweis, daß er bereits einen Menschen getötet hat. Nachdem man seine Hand gezeichnet hat, sagt man zu ihm: Nimm dich in acht, noch einen zu töten; denn wenn du dies tust, wird man dich hängen.«

»Aber wenn dieser Mann angegriffen wird?«

»Er braucht nur seine Hand zu zeigen. Bei diesem Anblick entfernt sich sofort ein jeder und läßt, ihn in Ruhe.«

»Aber wenn man ihn zwingt?«

»Dann befindet er sich in der Notwehr, und wenn er einen Totschlag begeht, wird er freigesprochen, vorausgesetzt, daß er Zeugen hat.«

»Ich wundere mich, daß der Faustkampf erlaubt ist, da er den Tod eines Menschen herbeiführen kann.«

»Er ist nur als Wette erlaubt. Die Gegner werfen vor Beginn des Kampfes ein Geldstück oder mehrere auf die Erde und bekunden dadurch, daß sie eine Wette eingehen. Haben sie das nicht getan, so wird der Sieger gehenkt, wenn er den anderen tötet.«

»O Gesetze, o Sitten!«

Durch solche Beobachtungen lernte ich diese stolze Nation kennen, die so groß und zugleich so klein ist.

Der edle Lord erschien pünktlich zur verabredeten Stunde, und ich bewirtete ihn aufs beste, um ihm Lust zu machen, recht bald wieder zu kommen. Obgleich wir beide allein miteinander speisten, saßen wir sehr lange bei Tisch, denn ich wünschte von ihm Erklärungen über alles, was ich am Morgen gesehen hatte, besonders über den Wettklub. Der liebenswürdige Pembroke riet nur, nicht einzutreten, wenn ich mir nicht etwa vornehmen wollte, eine oder fünf Wochen lang vollständig zu schweigen.

»Aber wenn man mich fragt.«

»Dann müssen Sie ausweichen.«

»Natürlich werde ich ausweichen, wenn ich nicht imstande bin, meine Meinung abzugeben; aber im gegenteiligen Falle wäre selbst Satan nicht imstande, mich zum Schweigen zu bringen.«

»Um so schlimmer.«

»Aber sind es denn Gauner?«

»Ganz gewiß nicht. Es sind lauter Edelleute, Gelehrte, reiche Herren und Lebemänner. Aber sie sind unbarmherzig im Vorschlagen und Annehmen von Wetten.«

»Ist die Kasse reich?«

»Nichts weniger als das, denn man betrachtet es als eine Schande, die Buße zu bezahlen, und nimmt lieber eine mäßige Wette an. Wer wird Sie vorschlagen?«

»Martinelli.«

»Ja, er wird sich an Spencer wenden, der Mitglied der Gesellschaft ist. Ich habe es abgelehnt, mich einführen zu lassen.«

»Warum?«

»Weil ich nicht gerne disputiere.«

»Ich habe den entgegengesetzten Geschmack, und darum will ich mich um meine Zulassung bewerben.«

»Wissen Sie übrigens, Herr von Seingalt, daß Sie ein eigentümlicher Mensch sind?«

»Warum, Mylord?«

»Sie schließen sich einen ganzen Monat lang mit einer Frau ein, die vierzehn Monate in London gelebt hat, ohne daß es einem Menschen gelungen ist, sie kennen zu lernen oder auch nur zu erfahren, aus welchem Lande sie ist! Die Neugier aller Liebhaber seltsamer Dinge ist hierdurch aufs höchste angestachelt worden.«

»Woher haben Sie erfahren, daß sie vierzehn Monate hier gelebt hat?«

»Mehrere Personen haben sie im Hause einer ehrbaren Witwe gesehen, bei der sie den ersten Monat wohnte. Sie hat auf die Anträge, die man ihr machte, niemals auch nur eine Antwort gegeben: Ihr Anschlagzettel hat geradezu Wunder gewirkt.«

»Zum Unglück für mich! Denn ich fühle, daß ich nach ihr kein anderes Weib mehr lieben kann.«

»Ach, das ist Kinderei, mein Lieber. In acht Tagen lieben Sie eine andere, vielleicht morgen schon, wenn Sie zu mir aufs Land kommen und bei mir zu Mittag speisen wollen. Ich traf gestern zufallig in Chelsea eine richtige französische Schönheit, die sich bei mir zum Essen einlud. Ich habe meine Anordnungen getroffen und einigen Freunden, die das Spiel lieben, Bescheid sagen lassen.«

»Das Glücksspiel?«

»Selbstverständlich.«

»Spielt diese reizende Französin gern?«

»Sie nicht, aber ihr Mann.«

»Wie heißt der?«

»Er läßt sich Graf Castelbajac nennen.«

»Ah! Castelbajac?«

»Ja.«

»Gascogner?«

»Ja.«

»Groß, mager, schwarz, pockennarbig?«

»Ganz recht! Ich bin entzückt, daß Sie ihn kennen. Ist seine Frau nicht wirklich eine Schönheit?«

»Das kann ich nicht sagen. Ich habe vor sechs Jahren diesen Castelbajac oder den Herrn, der sich so nennt, kennen gelernt und habe niemals etwas davon gehört, daß er verheiratet wäre. Übrigens stehe ich Ihnen zu Verfügung, Mylord, und es ist mir sehr angenehm, Ihre Gesellschaft mitzumachen. Nur muß ich Sie bitten, nichts zu sagen, falls er etwa so tun sollte, wie wenn er mich nicht kennte; denn er könnte triftige Gründe dazu haben, übermorgen werde ich Ihnen eine Geschichte erzählen können, die dem Herrn keine Ehre macht. Ich wußte nicht, daß er Spieler ist. Ich werde in der Gesellschaft der Wetter auf meiner Hut sein, und ich rate Ihnen, Mylord, seien Sie morgen in Ihrer Gesellschaft auf Ihrer Hut!«

»Ich werde mir den Rat zunutze machen.«

Nachdem Pembroke sich entfernt hatte, ging ich aus und machte einen Besuch bei der Cornelis, die mir vor acht Tagen mitgeteilt hatte, daß meine Tochter krank sei. Sie beklagte sich, daß sie zu zwei verschiedenen Malen, wo sie mich aufgesucht habe, nicht angenommen worden sei, obwohl ich ganz bestimmt zu Hause gewesen sei. Ich antwortete ihr: ich sei in meinem Hause verliebt und glücklich gewesen und habe darum meine Tür vor jedermann verschlossen gehalten. Hiermit mußte sie sich zufrieden geben.

Der Zustand meiner kleinen Sophie beunruhigte mich; sie lag mit starkem Fieber zu Bett, war sehr abgemagert, und ihr ausdrucksvoller Blick sagte mir, daß ein Kummer an ihr nagte. Ihre Mutter war in Verzweiflung, denn sie liebte sie leidenschaftlich, und ich glaubte, sie würde mir die Augen ausreißen, als ich ihr sagte: wenn das Kind sterben sollte, so würde sie sich seinen Tod vorzuwerfen haben. Sophie mit ihrem ausgezeichneten Herzen rief sofort: »Nein, nein, mein lieber Papa!«

Dann fiel sie ihrer Mutter um den Hals und suchte sie durch ihre Liebkosungen zu beruhigen.

Ich rief die Mutter auf die Seite und sagte zu ihr: »An Sophien« Krankheit ist nur die Furcht vor Ihrer übergroßen Strenge schuld. So zärtlich Sie sie lieben, behandeln Sie sie doch mit einem unerträglichen Despotismus. Geben Sie sie für ein paar Jahre in eine Pension, wo sie mit Töchtern aus guten Familien zusammen ist. Teilen Sie ihr dies noch heute Abend mit und Sie sollen sehen, morgen geht es ihr besser.«

»Aber eine gute Pension kostet jährlich hundert Guineen!«

»Wenn die Pension, die Sie wählen, mir zusagt, bin ich bereit, für ein Jahr vorauszubezahlen.«

Als sie dies hörte, umarmte diese Frau, die trotz ihrem Luxus und ihrem scheinbaren Reichtum wirklich in Not war, mich mit allen Anzeichen der lebhaftesten Dankbarkeit.

»Kommen Sie!« rief sie; »kommen Sie, mein lieber Freund, und sagen Sie es selber meiner Tochter. Ich will sehen, was für ein Gesicht sie dazu macht!«

»Gern.«

»Meine liebe Sophie,« sagte ich zu dem Kinde, »deine Mutter und ich sind überzeugt, daß eine Luftveränderung dich bald wieder gesund machen wird. Wenn du ein oder zwei Jahre in einer der besten Pensionen auf dem Lande verbringen willst, so bin ich bereit, sofort für das erste Jahr zu bezahlen.«

»Ich kann nur meiner lieben Mama gehorchen«, sagte Sophie.

»Von Gehorsam ist nicht die Rede. Gehst du gern in die Pension? Sprich dich ganz offen aus!«

»Aber wird es meiner lieben Mama angenehm sein?«

»Sehr angenehm, mein liebes Kind, wenn du gern gehst.«

»O! Dann gehe ich mit dem größten Vergnügen, liebe Mama!«

Bei diesen Worten wurde das Gesicht des Kindes feuerrot – für mich ein deutliches Zeichen, daß ich richtig gesehen hatte. Ich verabschiedete mich von ihnen, indem ich die Cornelis bat, mir Nachricht zu geben.

Am nächsten Morgen um zehn Uhr fragte Jarbe mich, ob ich meine Gesellschaft vergessen habe.

»Nein, aber es ist ja erst zehn Uhr.«

»Allerdings, Herr, aber Sie haben zwanzig Meilen zu fahren.«

»Zwanzig Meilen?«

»Ja, gewiß, Sie müssen ja nach St. Albans.«

»Ich finde es sonderbar, daß Pembroke mir davon nichts gesagt hat. Woher weißt du es denn?«

»Er hat seine Adresse hinterlassen, als er ging.«

»So sind die Engländer!«

Ich nahm die Post, was keine Umstände machte, denn sie ist überall zu haben, und in weniger als drei Stunden war ich an Ort und Stelle. Es gibt nichts Schöneres, als die englischen Landstraßen, und nichts Lieblicheres, als die lachende Landschaft. Nur der Weinstock fehlt, denn Englands Boden, so fruchtbar er ist, taugt doch nicht für den Weinbau.

Das Haus des Lords Pembroke ist nicht groß, kann aber doch bequem zwanzig Herrschaften mit ihren Dienern aufnehmen.

Da die Dame noch nicht gekommen war, zeigte der Lord mir seinen Park, seine Bäder, seine prachtvollen Gewächshäuser und einen Hahn, der in einem Verschlage angekettet war. Dieses Tier sah wirklich zum Erschrecken wild aus.

»Was haben Sie denn da, Mylord?«

»Das ist ein Hahn.«

»Das sehe ich; aber er ist angekettet – warum denn?«

»Weil er wild ist. Er ist sehr verliebt, und wenn er nicht angekettet wäre, würde er auf Liebesabenteuer ausgehen und alle Hähne der Nachbarschaft töten.«

»Aber warum verdammen Sie ihn zum Zölibat?«

»Damit er kriegstüchtig bleibt. Sehen Sie, hier ist die Liste seiner Siege.«

Er zeigte mir eine beglaubigte Liste aller Kämpfe, aus denen der Hahn als Sieger hervorgegangen war, nachdem er seinen Gegner getötet hatte: es waren mehr als dreißig. Ferner zeigte er mir die Stahlsporen, mit denen man ihn an den Kampftagen bewaffnete. Als der Hahn sie sah, fing er an zu zittern und krähte. Ich mußte unwillkürlich lachen, als ich solchen kriegerischen Mut bei einem so kleinen Tier bemerkte. Der Hahn schien vom Kampfteufel besessen zu sein; er hob seine Füße hoch, wie wenn er darum bitten wollte, daß man ihm seine Waffen anschnallte.

Nach den Sporen zeigte Pembroke mir den Helm, der ebenfalls aus sehr glänzendem Stahl verfertigt war.

»Aber,« bemerkte ich, »wenn er solche Vorteile hat, ist er natürlich sicher, seinen Gegner zu besiegen!«

»Durchaus nicht! Denn wenn er mit allen seinen Waffen gerüstet ist, verschmäht er einen Gegner, der nicht dieselben Waffen hat.«

»Das ist kaum zu glauben, Mylord.«

»Es ist vollkommen beglaubigt. Lesen Sie nur!«

Er zeigte mir nun eine Liste, die den ganzen Stammbaum dieses sonderbaren Zweifüßlers enthielt. Er konnte besser als mancher adelige Herr zweiunddreißig Ahnen nachweisen – aber natürlich nur von väterlicher Seite; denn hätte er auch von Seiten der Mütter sein reines Blut nachweisen können, so hätte Lord Pcmbroke ihn zum mindesten mit dem Orden vom Goldenen Vließ dekoriert.

»Dieser Hahn«, sagte er zu mir, »kostet mir hundert Guineen, aber ich würde ihn nicht für tausend hergeben.«

»Hat er Kinder?«

»Er arbeitet daran, aber die Sache ist schwierig.«

Ich erinnere mich nicht mehr, was der Lord mir über die Art dieser Schwierigkeiten sagte. Die Engländer sind das sonderbarste Volk; bei keiner anderen Nation kann der aufmerksame Beobachter so viele Eigentümlichkeiten sehen.

Endlich sah ich einen Wagen mit einer Dame und zwei Kavalieren ankommen. Der eine war der Gauner Castelbajac, der andere ein magerer Herr, der sich als Grafen Schwerin vorstellte, Neffen des berühmten gleichnamigen Feldmarschalls, der auf dem sogenannten Totenbett der Helden und Feld der Ehre starb. General Bekw …, ein Engländer, der das Regiment des Feldmarschalls im Dienste des Königs von Preußen kommandierte und einer der Gäste des Lords Pembroke war, sagte dem Herrn aus Höflichkeit, sein Oheim sei in seiner Gegenwart gestorben. Dies veranlaßte den bescheidenen Neffen, das blutbefleckte Band des Schwarzen Adlerordens aus seiner Tasche zu ziehen und zu uns zu sagen: »Dieses Band trug mein Oheim an seinem Todestage, und Seine Majestät von Preußen hat mir erlaubt, es als ein edles Andenken zu behalten.«

»Aber«, sagte ein anderer von den anwesenden Engländern, »so etwas trägt man doch nicht in der Tasche.«

Der angebliche Schwerin tat, wie wenn er ihn nicht verstände, und dies genügte mir, um zu sehen, wes Geistes Kind er war.

Lord Pembroke bemächtigte sich sofort der Dame, die aber nach meiner Meinung einen Vergleich mit Pauline nicht aushalten konnte; sie war weißer, weil sie blond war, aber sie war weniger groß und hatte nicht den geringsten adeligen Anstand. Sie ließ mich vollkommen kalt, denn das Lächeln machte sie häßlicher, und das ist ein großer Schönheitsfehler bei einer Frau; denn das Lachen muß sie verschönern, damit sie wirklich interessant werde.

Lord Pembroke stellte seine Gäste der Gesellschaft vor, und als er meinen Namen nannte, bezeugte Castelbajac eine große Freude, mich wiederzusehen, obgleich mein Name Seingalt ihm ja erlaubt haben würde, sich zu stellen, als ob er mich nicht kenne.

Wir hielten eine fröhliche Mahlzeit mit englischen Gerichten, und zum Schluß schlug Madame eine Partie Pharao vor.

Da Mylord niemals spielte, so erbot der General sich, zur Unterhaltung der Gesellschaft die Bank zu halten. Er legte etwa hundert Guineen und mehrere Banknoten auf den Tisch; alles in allem mochte die Bank etwa tausend Guineen stark sein. Hierauf gab er jedem Spieler zwanzig Marken, indem er erklärte, daß eine jede zehn Schilling gelte. Da ich nur gegen bar spielen wollte, so nahm ich keine Marken an. Bei der dritten Taille hatte Schwerin seine zwanzig Marken verloren und verlangte neue; als jedoch der Bankhalter ihm sagte, er spiele nicht auf Wort, schwieg der angebliche Neffe des Feldmarschalls und spielte nicht mehr.

Bei bei nächsten Taille kam Castelbajac in dieselbe Lage; da er neben mir saß, bat er mich um Erlaubnis, zehn Goldstücke von meinem Gelde nehmen zu dürfen.

»Sie würden mir Unglück bringen,« sagte ich kalt, indem ich zugleich seine Hand zurückstieß. Er ging in den Garten hinaus, jedenfalls, um die Beleidigung zu verdauen, die ich ihm zugefügt hatte. Die Dame sagte, ihr Mann habe seine Brieftasche vergessen. Eine Stunde darauf legte der General die Karten hin, und ich entfernte mich, indem ich Mylord und die ganze Gesellschaft für den nächsten Tag zum Mittagessen in mein Haus einlud.

Um elf Uhr war ich wieder zu Hause. Ich hatte unterwegs keine Straßenräuber getroffen, wie ich erwartet hatte; ich hatte für diesen Fall sechs Guineen in eine kleine Börse gesteckt, die ich zu opfern bereit war. Ich ließ meinen Koch wecken und sagte ihm, am nächsten Tage hätte ich zwölf Personen zu Tisch, und ich erwartete, daß er mir Ehre machte. Auf meinem Tisch fand ich einen Brief von der Cornelis, die mir schrieb, sie werde am nächsten Sonntag mit ihrer Tochter bei mir speisen und nach dem Essen wollten wir die Pension ansehen, in der sie das Kind unterzubringen gedächte.

Am nächsten Tage kam zuerst Lord Pembroke mit der schönen Französin in einem Wagen mit zwei engen Plätzen; aber diese Enge war der Liebe günstig. Der Gascogner und der Preuße kamen zuletzt.

Wir setzten uns um zwei Uhr zu Tisch und tafelten bis vier Uhr; wir waren alle sehr zufrieden mit meinem Koch und noch mehr mit meinem Weinhändler; denn obwohl wir vierzig Flaschen verschiedener ausgezeichneter Weine geleert hatten, waren wir alle bei Besinnung.

Nach dem Kaffee lud der General alle Anwesenden ein, bei ihm zu Abend zu essen, und Madame Castelbajac forderte mich auf, eine Bank zu legen. Ohne mich lange bitten zu lassen, legte ich tausend Guineen auf; da ich jedoch keine Spielmarken hatte, so erklärte ich, daß ich nur gegen bar spielen und daß ich aufhören würde, sobald es mir paßte.

Die beiden Grafen bezahlten vor Beginn des Spiels dem General ihren Verlust vom vorigen Tage mit zwei Banknoten, die der General mich ihm zu wechseln bat. Ich wechselte den Herren noch zwei andere und legte die vier Scheine unter meine Tabaksdose auf die Seite.

Das Spiel begann. Da ich keinen Kroupier hatte, mußte ich langsam abziehen und dabei auf die beiden Grafen achten, die sich beständig zu ihrem Vorteil irrten. Dies machte mich verdrießlich. Endlich waren sie alle beide auf dem Trockenen und hatten zu meinem Glück auch keine Banknoten mehr. Castelbajac zog einen Wechsel über zweihundert Guineen aus der Tasche und warf mir diesen hin, indem er mich bat, ihn zu diskontieren.

»Ich verstehe mich nicht auf Handelspapiere«, antwortete ich.

Ein Engländer nahm den Wechsel, untersuchte ihn sehr gründlich, und legte ihn dann wieder auf den Tisch, indem er sagte, er kenne weder den Aussteller noch den Akzeptanten noch den Indossanten.

»Der Indossant bin ich,« sagte Castelbajac, »und ich denke, das muß Ihnen genügen.«

Alle Anwesenden lachten, außer mir. Ich nahm den Wechsel, gab ihn höflich dem Herrn zurück und sagte, er könne ihn am nächsten Tage an der Börse diskontieren. Verdrießlich stand er auf und entfernte sich, indem er unverschämte Worte murmelte. Schwerin folgte ihm.

Nachdem die beiden Ehrenmänner sich entfernt hatten, zog ich in aller Ruhe bis tief in die Nacht hinein weiter ab. Obwohl ich im Verlust war, hörte ich endlich auf, weil der General zu sehr im Glück war. Bevor sie gingen, nahmen der Lord und er mich auf die Seite und baten mich, dafür zu sorgen, daß die beiden Schwindler am nächsten Abend nicht zum Essen kämen; »denn«, sagte der General, »wenn der Gascogner sich auch nur die Hälfte der Unverschämtheiten mir zu sagen erlaubte, die er sich Ihnen gegenüber herausgenommen hat, so würde ich ihn zum Fenster hinauswerfen lassen.«

Pembroke sagte ihm, er brauche nur die Frau damit zu beauftragen.

»Glauben Sie,« fragte ich ihn, »daß diese vier Banknoten, die von ihm herrühren, möglicherweise falsch sind?«

»Das ist sehr leicht möglich!«

»Was würden Sie tun, um den Zweifel zu beseitigen?«

»Ich würde sie nach der Bank schicken, um sie wechseln zu lassen.«

»Und wenn die Bank sie als falsch erkennt?«

»Dann würde ich den Verlust ruhig hinnehmen oder ich würde die Gauner verhaften lassen.«

Am nächsten Morgen ging ich selber auf die Bank. Der erste, dem ich meine vier Banknoten gab, reichte sie mir zurück und sagte kalt: »Das ist falsches Geld, mein Herr.«

»Wollen Sie sie, bitte, aufmerksam prüfen!«

»Das ist nicht nötig, die Scheine sind falsch. Geben Sie sie demjenigen zurück, der sie Ihnen gegeben hat; er wird sich nicht lange bitten lassen, sie Ihnen wieder zu wechseln.«

Ich wußte wohl, daß ich die beiden Gauner hinter Schloß und Riegel bringen konnte, aber es widerstrebte mir, dies zu tun. Ich ging zu Lord Pembroke, um mir ihre Adresse sagen zu lassen. Er lag noch im Bett; aber einer von seinen Leuten führte mich zu ihnen. Mein Erscheinen überraschte sie. Ich sagte ihnen ziemlich ruhig, ihre Banknoten wären falsch, und ich bäte sie daher, sie zurückzunehmen und mir dafür vierzig Goldstücke zu geben.

»Ich habe kein Gold,« sagte Castelbajac; »aber was Sie da sagen, überrascht mich sehr. Ich kann die Banknoten nur an den zurückgeben, von dem ich sie habe, das heißt: wenn es dieselben sind, die Sie gestern von uns erhalten haben.«

Bei dieser beleidigenden Andeutung stieg mir das Blut zu Kopfe. Ich warf ihm einen entrüsteten Blick zu und verließ ihn mit einem kurzen Wort, das ihn als das brandmarkte, was er war. Der Bediente, der mich begleitet hatte, führte mich sogleich zu dem zuständigen Richter, der mich meine Aussage beschwören ließ und mir eine Urkunde ausfertigte, die mich ermächtigt«, die Betrüger verhaften zu lassen. Ich gab die Urkunde einem Alderman, der es übernahm, sie zur Ausführung zu bringen, und ging sehr verdrießlich über diese ärgerliche Geschichte nach Hause.

Dort erwartete mich Martinelli; er war gekommen, um mit mir zu speisen. Ich erzählte ihm die Geschichte, ohne ihm jedoch zu sagen, daß die Spitzbuben verhaftet werden sollten. Er faßte die Sache als Philosoph auf und sagte mir ruhig, an meiner Stelle würde er mit den vier Banknoten ein Autodaf veranstalten. Der Rat war gut; leider befolgte ich ihn nicht. Der wackere Martinelli glaubte mir ein Vergnügen zu machen, indem er mir sagte, er habe mit Lord Spencer den Tag meines Eintritts in den Wettklub verabredet. Ich antwortete ihm jedoch, mir sei die Lust vergangen, Mitglied zu werden. Ich hätte diesen Mann, der sich durch sein Wissen ebenso sehr auszeichnete wie durch seinen Lebenswandel, höflich und rücksichtsvoll behandeln sollen. Aber wer könnte wohl je die Tiefen der menschlichen Schwächen ergründen! Oft nimmt man es einem anständigen Menschen übel, daß er einen klugen Rat gibt, den zu befolgen man nicht den Mut hat.

Gegen Abend begab ich mich zum General, bei dem ich die sogenannte Gräfin Castelbajac auf Lord Pembrokes Knien sitzend fand. Das Abendessen war schön und lustig; die beiden unglücklichen Kavaliere erschienen nicht, und es wurde von ihnen nicht gesprochen. Nach Tisch gingen wir in ein anderes Zimmer, wo wir bis Tagesanbruch spielten. Ich ging mit einem Verlust von zwei- oder dreihundert Guineen nach Hause.

Als ich am nächsten Tage sehr spät erwachte, sagte mein Diener mir, es sei ein Mensch da, der mit mir zu sprechen wünsche. Ich ließ ihn hereinkommen, und da er nur englisch sprach, mußte Jarbe mir als Dolmetscher dienen. Der Mann war der Anführer der Polizisten; er ließ mir sagen, daß er gegen Erstattung der Reisekosten bereit sei, Castelbajac in Dover zu verhaften, wohin dieser gegen Mittag abgereist sei. Den anderen werde er ganz bestimmt im Laufe der Nacht einfangen.

Ich gab ihm eine Guinee und ließ ihm sagen, die Verhaftung des zweiten genüge mir, und er könne den anderen ruhig laufen lassen.

Der nächste Tag war ein Sonntag – der einzige Tag der Woche, wo die Cornelis sich in den Lodoner Straßen sehen lassen konnte, ohne befürchten zu müssen, daß ein Polizeibeamter oder ein Gerichtsbote sie verhaftete. Sie kam daher mit ihrer Tochter zu mir, die durch die Aussicht, demnächst ihre Mutter verlassen zu dürfen, wie von einem Zaubermittel wiederhergestellt war. Die Pension, die die Cornelis gewählt hatte, befand sich in Harwich, und dorthin fuhren wir nach dem Essen.

Die Leiterin der Anstalt war katholisch. Trotz ihren sechzig Jahren sah sie frisch aus; sie besaß viel Geist und Weltgewandtheit. Da Lady Harrington ihr bereits eine Empfehlung geschickt hatte, empfing sie die junge Cornelis sehr freundlich. Sie hatte etwa fünfzehn junge Pensionärinnen von dreizehn bis vierzehn Jahren. Als sie ihnen Sophie als neue Kameradin vorstellte, umringten alle diese jungen Damen sie und überhäuften sie mit Liebkosungen. Fünf oder sechs waren Engel von entzückender Schönheit, und zwei oder drei waren abstoßend häßlich. Solche Gegensätze findet man in England öfter als anderswo. Meine Tochter war kleiner als alle anderen, aber sie war schön genug, um keinen Vergleich scheuen zu müssen, und ihre Klugheit machte sie einer jeden ebenbürtig. Sie erwiderte die Liebkosungen mit jener Leichtigkeit des Benehmens, die man in späteren Jahren nur durch lange Übung erwirbt.

Als wir die innere Einrichtung des Hauses besichtigten, begleiteten alle Schülerinnen uns; diejenigen, die gut genug französisch oder italienisch sprachen, redeten mich an und sagten mir, sie würden meine Tochter herzlich lieb haben. Die anderen hielten sich abseits, wie wenn sie sich ihrer Unwissenheit schämten. Wir besahen die Klaviere, die Harfen, die Schulsäle, die Schlafzimmer – alles, und ich fand, daß meine Sophie es gar nicht besser hätte treffen können. Wir gingen daher in das Privatzimmer der Vorsteherin, und die Cornelis zahlte ihr hundert Guineen für ein Jahr voraus, worüber sie sich eine Quittung geben ließ. Hierauf verabredeten wir, Sophie solle von dem Tage an, wo sie mit einem Bett und der erforderlichen Ausrüstung kommen werde, in die Anstalt eintreten und als Pensionärin behandelt werden. Die Cornelis besorgte dies schon am nächsten Sonntag.

Am Tage nach diesem Besuche teilte der Alderman mir mit, der Graf Schwerin sei bei ihm als Gefangener und wünsche mit mir zu sprechen. Anfangs weigerte ich mich; als aber der Bote des Aldermans mir durch Jarbe sagen ließ, der arme Teufel habe keinen Penny, da wurde ich mitleidig und änderte meinen Entschluß; denn da es sich um falsche Banknoten handelte, so würde man ihn nach Newgate gebracht haben, und dort wäre er in großer Gefahr gewesen, an den Galgen zu kommen.

Ich folgte dem Abgesandten des Beamten und ich kann nicht beschreiben, wie schmerzlich mir der Anblick der strömenden Tränen und der verzweifelten Gebärden des Unglücklichen war, der mich flehentlich bat, ich möchte doch Mitleid mit ihm haben. Er schwor mir, die Banknoten seien ihm von Castelbajac gegeben worden; er wisse aber, von wem dieser sie erhalten habe, und er erbot sich, mir die Person zu nennen, wenn ich ihm die Gnade erweisen wolle, ihn wieder in Freiheit setzen zu lassen.

Ein Restchen von Ärger veranlaßte mich, ihm zu antworten, er brauche ja nur die betreffende Person zu nennen und sei dann sicher, nicht gehenkt zu werden. Ich wolle es mir jedoch täglich vier Pence kosten lassen und ihn solange im Gefängnis lassen, bis er mir mein Geld wieder gegeben habe. Auf diese Drohungen hin begann er wieder zu weinen und zu schreien, er sei im allertiefsten Elend; nachdem er alle seine Taschen umgedreht hatte, in denen sich wirklich kein Heller befand, bot er mir das blutige Ordensband seines angeblichen Oheims als Pfand an. Ich freute mich, einen Vorwand zu haben, ohne mich schwach zeigen zu müssen. Ich nahm daher das Band an und gab ihm eine Quittung über seine Schuld, indem ich mich verpflichtete, ihm dieses Brimborium, woran der Schwarze Adler hing, zurückzugeben, sobald er mir vierzig Guineen auszahlen würde.

Nachdem ich meine Abstandserklärung schriftlich gegeben und die Kosten, seiner Haft bezahlt hatte, verbrannte ich in seiner Gegenwart und in der des Aldermans die vier falschen Banknoten und ließ ihn in Freiheit setzen.

Zwei Tage darauf fand die angebliche Gräfin sich bei mir ein und sagte mir, sie wisse nicht, wo sie ihr Haupt niederlegen solle, da Castelbajac und Schwerin abgereist seien. Sie beklagte sich bitterlich über Lord Pembroke, der sie ebenfalls verlassen habe, nachdem sie ihm die unzweifelhaftesten Beweise ihrer Zärtlichkeit gegeben habe. Um sie zu trösten, sagte ich ihr, er würde sehr unrecht daran getan haben, sie vorher zu verlassen, denn er müsse sie als seine Schuldnerin ansehen.

Um die Frau loszuwerden, mußte ich ihr das Reisegeld nach Calais geben. Sie sagte mir, sie wolle den Gascogner nicht wieder sehen; übrigens sei er gar nicht ihr Gatte. Wir werden in drei Jahren dieselben Persönlichkeiten wiederfinden.

Einen oder zwei Tage darauf ließ ein Italiener sich bei mir melden; er gab mir einen Brief meines Freundes Baletti, der mir den Überbringer, Constantini aus Vicenza, empfahl. Dieser komme nach London in einer wichtigen Angelegenheit, die er mir mitteilen müsse. Er bat mich, ihm nützlich zu sein, so sehr ich nur könnte.

Nachdem ich Herrn Constantini versichert hatte, ich würde mich glücklich schätzen, das Vertrauen eines meiner besten Freunde rechtfertigen zu können, faßte er den Mut, mir zu sagen: »Die lange Reise, die ich gemacht habe, hat meine Börse so ziemlich erschöpft; aber ich weiß, daß meine Frau hier ist und daß sie reich ist. Es wird mir leicht sein, ihren Aufenthalt zu entdecken, und wie Sie wissen,, gehört mir als Ehemann alles, was sie besitzt.«

»Das wußte ich nicht.«

»Sie kennen also die Gesetze dieses Landes nicht?«

»Nein.«

»Das tut mir leid, aber es ist so. Ich gedenke morgen zu ihr zu gehen und sie in dem Kleide, das sie auf dem Leibe hat, auf die Straße zu werfen, denn ihre Möbel, Kleider, Wäsche, Schmucksachen gehören mir – mit einem Wort: alles, was sie besitzt, ist mein. Dürfte ich Sie bitten, mich zu begleiten, wenn ich diesen schönen Streich ausübe?«

Ich war ganz verblüfft. Ich fragte ihn, ob er Baletti von seinen Absichten in Kenntnis gesetzt hätte, und er antwortete:

»Ich habe es keinem Menschen auf der ganzen Welt anvertraut; Sie sind der erste, dem ich mich eröffnet habe.«

Ich konnte ihn nicht als einen Wahnsinnigen behandeln, denn er sah nicht danach aus; auch war es wohl möglich, daß das Gesetz, wovon er sprach, in England gültig war. Ich antwortete ihm, ich sei nicht geneigt, mich in diese Angelegenheit einzumischen, die ich übrigens entschieden mißbillige, es sei denn, daß seine Gemahlin die Sachen, die sie in diesem Augenblick besitze, ihm entwendet habe.

»Meine Gattin, mein Herr, hat mir nur meine Ehre gestohlen und hat nur ihr Talent mitgenommen, als sie mich verließ. Sie muß hier ein großes Vermögen erworben haben, und habe ich nicht recht, wenn ich mich desselben bemächtige, wäre es auch nur, um sie zu bestrafen und um mich an ihr zu rächen?«

»Das mag wohl sein; aber da Sie mir ein vernünftiger Mann zu sein scheinen, so frage ich Sie: was würden Sie von mir halten, wenn ich so ohne weiteres bereit wäre, Sie bei einer Handlung zu unterstützen, die ich grausam finde, mögen Sie auch noch so gute Gründe haben? Außerdem wäre es sehr leicht möglich, daß ich Ihre Frau kenne, ja, daß ich sogar deren Freund bin.«

»Ich werde Ihnen den Namen nennen.«

»Nein, tuen Sie das nicht, bitte! obgleich ich keine Signora Constantini kenne.«

»Sie hat ihren Namen geändert, nennt sich Calori und ist Sängerin am Haymarkettheater.«

»Jetzt weiß ich, wer sie ist; und ich sage Ihnen, Sie haben unrecht getan, mir ihren Namen zu nennen.«

»Ich zweifle nicht an Ihrer Verschwiegenheit. Ich werde mich unverzüglich nach ihrer Wohnung erkundigen, denn das ist die Hauptsache.«

Der Mann ging weinend hinaus, und er tat mir leid. Indessen ärgerte ich mich, daß er mich, obgleich ohne mein Zutun, in sein Geheimnis eingeweiht hatte. Einige Stunden darauf machte ich der Binetti einen Besuch, und diese schilderte mir die Verhältnisse aller Virtuosinnen Londons. Als sie an die Calori kam, sagte sie mir, diese habe mehrere Liebhaber gehabt, von denen sie viel Geld erhalten habe; im Augenblick habe sie jedoch keinen Liebhaber außer dem berühmten Geiger Giardini, in den sie sich ernstlich verliebt habe.

»Wo ist sie her?« fragte ich.

»Aus Vicenza.«

»Ist sie verheiratet?«

»Ich glaube nicht.«

Ich dachte schon nicht mehr an diese üble Geschichte, als ich drei oder vier Tage darauf einen Brief aus dem Kings-Bench-Gefängnis erhielt. Er war von Constantini. Der Unglückliche schrieb mir, er sehe in mir den einzigen Freund, den er in London habe, und hoffe daher, ich werde ihn besuchen, um ihm wenigstens einen guten Rat zu geben.

Ich glaubte seiner Bitte nicht mein Ohr verschließen zu dürfen und ging daher in das Gefängnis. Ich fand den unglücklichen Menschen in verzweifelter Stimmung; bei ihm war ein alter englischer Sachwalter, den ich kannte, und der das Italienische radebrechte.

Constantini war am Tage vorher wegen mehrerer von seiner Frau akzeptierter und nicht eingelöster Wechsel verhaftet worden. Die Calori schuldete angeblich tausend Guineen. Der Sachwalter hatte diese Wechsel, fünf an der Zahl, in Händen und war nun zu dem Ehemann gekommen, um diesem einen Vergleich vorzuschlagen.

Ich sah sofort, daß hier ein niederträchtiger Betrug im Werke war; denn die Binetti hatte mir gesagt, daß die Calori sehr reich sei. Ich 3öS bat den Sachwalter, mich einen Augenblick mit dem Gefangenen allein zu lassen, da ich diesem etwas unter vier Augen zu sagen hätte.

»Man verhaftete mich,« sagte er mir, »wegen Schulden meiner Frau und sagte mir, ich müsse sie bezahlen, weil ich ihr Mann sei.«

»Ihnen wird da von Ihrer Frau ein Streich gespielt, weil sie ohne Zweifel erfahren hat, daß Sie in London sind.«

»Sie hat mich vom Fenster aus gesehen.«

»Warum haben Sie mit der Ausführung Ihres Planes solange gezögert?«

»Ich würde ihn heute morgen ausgeführt haben; wie konnte ich auch ahnen, daß die Spitzbübin Schulden hat!«

»Sie hat ja auch keine, und diese Wechsel sind fingiert. Sie sind vordatiert, denn sie sind erst gestern geschrieben worden. Das ist eine böse Geschichte, die ihr teuer zu stehen kommen kann.«

»Aber einstweilen bin ich im Gefängnis!«

»Bleiben Sie ruhig hier und verlassen Sie sich auf mich.«

Ich war empört über diese Spitzbüberei und entschloß mich, die Sache des unglücklichen Mannes zu der meinigen zu machen. Ich ging daher zu Bosanquet und trug ihm den Fall vor. Er antwortete mir, solche Schiebungen kämen in London jeden Tag vor; man wisse aber seit langer Zeit, wie man sie zu vereiteln habe. Wenn ich mich für den Gefangenen interessiere, werde er einen Anwalt besorgen, der ihm aus der Klemme helfen werde; die Frau und ihr Liebhaber, der ihr wahrscheinlich dabei geholfen habe, würden ihr Vorgehen zu bereuen haben. Ich bat ihn, vorzugehen, wie wenn es sich um mich selber handele, und mich nötigenfalls als Bürgen anzusehen.

»Das genügt,« sagte er; »Sie brauchen sich um die ganze Sache nicht mehr zu bekümmern.« Einige Tage später kam Bosanquet zu mir und sagte: »Wie mir der Anwalt, den ich mit der Angelegenheit betraut habe, soeben mitteilt, hat Constantini nicht nur das Gefängnis, sondern sogar England verlassen.«

»Wieso denn? Das ist ja unmöglich!«

»Nein, es ist im Gegenteil sehr einfach. Der Liebhaber seiner Frau wird das Gewitter vorausgesehen haben, und der unglückliche Ehemann wird für eine mehr oder weniger starke Geldsumme bereit gewesen sein, die Flucht zu ergreifen. Damit ist die Sache erledigt. Aber sie ist sehr komisch, und man wird sie bald in den Zeitungen lesen, denn sie ist geradezu ein Musterbeispiel für derartige Fälle. Ganz gewiß wird man Giardini loben, daß er seiner Geliebten diese edle Handlung geraten hat.«

Ich war allerdings mit dem Ausgang der Sache zufrieden, ärgerte mich aber trotzdem etwas über Constantini, daß er dem Liebespaar nicht einen kleinen Denkzettel gegeben hatte. Ich schrieb Baletti die ganze Geschichte, und ich erfuhr von der Binetti, daß die Calori hundert Guineen bezahlt habe; dafür habe Constantini sich verpflichtet, zu fliehen. Einige Jahre später habe ich die Calori in Prag wiedergefunden.

Ein vlamischer Offizier, dem ich in Aachen mit meiner Börse ausgeholfen hatte, machte mir mehrere Besuche; er speiste sogar zwei- oder dreimal bei mir. Ich machte mir Vorwürfe, daß ich so unhöflich gewesen war, ihm nicht einmal einen Anstandsgegenbesuch zu machen, und ich mußte erröten, als ich ihn zufällig auf der Straße traf und er mir in aller Höflichkeit einen leisen Vorwurf machte. Er hatte seine Frau und seine Tochter bei sich in London. Ein wenig Scham und viel Neugier veranlaßten mich unglücklicherweise, ihn in seiner Wohnung aufzusuchen.

Sobald er mich sah, fiel er mir um den Hals und stellte mich seiner Frau vor, indem er mich seinen Retter nannte. Ich mußte alle Komplimente über mich ergehen lassen, die die Gauner stets für anständige Leute, die sie zu betrügen, gedenken, in Bereitschaft halten. Einige Minuten später sah ich eine alte Frau mit einem jungen Mädchen eintreten. Der Offizier stellte mich ihnen als den Chevalier de Seingalt vor, von dem er ihnen schon so oft erzählt habe. Das junge Mädchen spielte die Erstaunte und sagte, sie habe einen Herrn Casanova gekannt, der mir sehr ähnlich sehe. Ich antwortete ihr, dies sei ebenfalls mein Name; ich habe jedoch nicht das Glück, mich ihrer zu erinnern.

»Ich nannte mich damals Ansperger; heute heiße ich jedoch Charpillon; da Sie mich nur ein einzigesmal gesehen und mit mir gesprochen haben, so ist es ja leicht erklärlich, daß Sie mich vergessen haben, zumal, da ich damals erst dreizehn Jahre alt war. Einige Zeit darauf bin ich mit meiner Mutter und meinen Tanten nach London gekommen, und seit vier Jahren wohnen wir hier.«

»Aber mein Fräulein, wo habe ich denn das Vergnügen gehabt, mit Ihnen zu sprechen?«

»In Paris.«

»Und an welchem Ort?«

»Im Palais Marchand. Sie waren in Begleitung einer reizenden Dame und schenkten mir diese Schuhschnallen« – sie zeigte sie mir an ihren Füßen. »Hierauf erwiesen Sie mir auf Veranlassung meiner Tante die Ehre, mich zu umarmen.«

Nun erinnere ich mich der Begebenheit; auch meine Leser werden sich erinnern, daß ich damals die schöne Strumpfhändlerin Baret bei mir hatte.

Ich sagte also zu ihr: »Jetzt entsinne ich mich, mein Fräulein; aber Ihre Frau Tante erkenne ich nicht wieder.«

»Diese hier ist die Schwester jener, die damals bei mir war; aber wenn Sie die Güte haben wollen, bei uns Tee zu trinken, werden Sie sie sehen.«

»Wo wohnen Sie, mein Fräulein?«

»Wir wohnen in Denmark-Street, Soho. Ich werde Ihnen das schmeichelhafte Kompliment, das Sie an mich richteten, schriftlich zeigen.«

Dreizehntes Kapitel


Die Charpillon. – Verhängnisvolle Folgen dieser Bekanntschaft.

Der Name Charpillon erinnerte mich daran, daß ich einen Brief für sie hatte. Ich zog meine Brieftasche, überreichte ihr das Billett und sagte ihr, dieses Briefchen werde uns gleich doppelt miteinander bekannt machen.

»Wie? Ein Briefchen von meinem lieben Botschafter, dem Herrn Prokurator Morosini! Wie mich dies freut! Und Sie sind schon drei Monate in London, mein Herr, und haben nicht daran gedacht, mir dieses Erinnerungszeichen zu überbringen?«

»Ich bekenne, daß ich sehr schuldig bin, mein Fräulein; aber das Briefchen trägt, wie Sie sehen, keine Adresse; außerdem hat Herr von Morosini die Sache durchaus nicht als eilig bezeichnet… Ich freue mich des Zufalls, der es mir heute erlaubt, mich dieser Pflicht zu entledigen.«

»Kommen Sie doch morgen zum Mittagessen zu uns!«

»Das kann ich nicht; ich habe dem Lord Pembroke versprochen, ihn zu erwarten.«

»Werden Sie allein sein?«

»Ich denke, ja. Wir wollen unter vier Augen speisen.«

»Das ist mir angenehm; dann komme ich mit meiner Tante.«

»Hier meine Adresse, mein Fräulein; Sie werden mir ein großes Vergnügen machen, wenn Sie mich besuchen.«

Sie nahm die Adresse, und zu meiner Überraschung sah ich sie lächeln.

»Dann sind Sie also jener Italiener, der den Zettel aushängte, über welchen die ganze Stadt gelacht hat?«

»Der bin ich.«

»Man hat mir gesagt, dieser Spaß sei Ihnen teuer zu stehen gekommen.«

»Ganz im Gegenteil; ich verdanke ihm eine meiner süßesten Erinnerungen.«

»Aber jetzt, da die schöne Dame nicht mehr hier ist, müssen Sie sich wohl recht unglücklich fühlen?«

»Ich gestehe es; aber es gibt Schmerzen, die so süß sind, daß man sie nicht missen möchte.«

»Niemand weiß, wer sie ist, aber Sie müssen das doch wissen.«

»Ja.«

»Machen Sie ein Geheimnis daraus?«

»Ganz gewiß; ich würde lieber sterben, als es verraten.«

»Fragen Sie meine Tante, ob ich nicht hingehen wollte, um bei Ihnen ein Zimmer zu mieten! Meine Mutter wollte es aber nicht erlauben.«

»Wozu haben Sie nötig, eine billige Wohnung zu suchen?«

»Das habe ich allerdings nicht nötig, aber ich wollte gern einmal lachen, und ich hatte Lust, den kühnen Verfasser einer solchen Anzeige zu bestrafen.«

»Wie würden Sie mich bestraft haben?«

»Ich hätte Sie in mich verliebt gemacht und Sie dann entsetzliche Qualen erdulden lassen. O, hätte ich gelacht!«

»Sie glauben also die Macht zu haben, jeden beliebigen Mann in sich verliebt zu machen, und Sie sind imstande, den schnöden Plan zu hegen, die tyrannische Gebieterin des Mannes zu werden, der Ihrer Schönheit die gebührende und von Ihnen erwartete Ehre erweisen würde? Einen solchen Plan kann nur ein Ungeheuer aushecken, und es ist ein Unglück für die Männer, daß Sie ganz und gar nicht so aussehen. Indessen bin ich Ihnen dankbar für Ihre Offenheit und werde mir diese zunutze machen, um auf der Hut zu sein.«

»Dann müßten Sie sich zwingen, mich nicht zu sehen; sonst würden alle Anstrengungen vergeblich sein.«

Da die Charpillon während dieses ganzen Gespräches unaufhörlich lachte, hielt ich ihre Bemerkungen natürlich nur für einen Scherz; aber ich konnte mich nicht enthalten, ihren Geist zu bewundern, der im Verein mit ihrer Schönheit es ihr leicht machen mußte, einen Mann zu unterjochen. Wie dem auch sei – der Tag, da ich dieses Weib kennen lernte, war für mich ein Unglückstag; meine Leser werden selber darüber urteilen können.

Gegen Ende des Septembers 1763 machte ich die Bekanntschaft der Charpillon, und an diesem Tage begann mein Sterben. Wenn der aufsteigende Teil des Lebens dem absteigenden gleich ist – wie es der Fall sein muß –, so glaube ich heute, den ersten November 1797, noch auf etwa vier Lebensjahre rechnen zu dürfen, die nach dem Satze motus in fine velacior sehr schnell vergehen werden.

Die Charpillon, die ganz London gekannt hat, und die, wie ich glaube, noch lebt, war eine jener Schönheiten, an denen man kaum den geringsten körperlichen Mangel entdecken kann. Ihre schönen Haare waren hellrotbraun und von erstaunlicher Länge und Fülle; ihre blauen Augen hatten das natürliche Schmachtende, das dieser Farbe eigen ist, und glänzten zugleich wie die einer Andalusierin; ihre von einer leichten Rosenfarbe angehauchte Haut war blendend weiß; ihr hoher Wuchs ließ erwarten, daß sie mit zwanzig Jahren eine stolze Erscheinung wie Pauline sein werde. Ihre Brüste waren vielleicht ein wenig klein, aber von vollkommener Form; ihre weißen, zarten Hände waren schlank und etwas länger, als sonst Hände gewöhnlich sind; ihre Füße waren sehr klein, ihr Gang hatte jene edle Anmut, die selbst einer nicht schönen Frau so großen Reiz verleiht. Ihr sanftes, offenes Gesicht trug den Ausdruck der Aufrichtigkeit und jenes feinen Zartgefühls, das stets eine unwiderstehliche Waffe für das schöne Geschlecht ist. Leider hatte die Natur gelogen, indem sie ihrem Gesicht diesen Ausdruck gab. Wäre doch lieber alles übrige Betrug gewesen und hätte sie in diesem Punkte die Wahrheit gesagt! Diese Sirene hatte, schon ehe sie mich kannte, daran gedacht, mich unglücklich zu machen, und sie sagte es mir, gleichsam um dadurch ihren Triumph noch zu erhöhen.

Ich war wie betäubt, als ich Malingans Wohnung verließ; ein sinnlicher Mensch wie ich, der in das weibliche Geschlecht leidenschaftlich verliebt war, hätte fröhlich sein müssen, die Bekanntschaft einer seltenen Schönheit gemacht zu haben, die er zur vollständigen Befriedigung seiner Wünsche zu besitzen hoffen durfte. Ich aber war vor Erstaunen wie betäubt, daß Paulinens Bild, das mir immer vor Augen stand und sich gebieterisch vor mir aufrichtete, so oft ich eine Frau sah, deren Schönheit Eindruck auf meine Sinne machen konnte – ich war, wie gesagt, vor Erstaunen wie betäubt, daß dieses Bild nicht imstande war, die Macht einer Charpillon, die ich unwillkürlich verachten mußte, zu vernichten.

Ich söhnte mich mit mir selber aus, indem ich mir einredete, ich sei nur durch die besonderen Umstände, durch den mächtigen Reiz der Neuheit und durch die Hoffnung, daß die Entzauberung bald eintreten werde, verleitet worden. »Ich werde sie nicht mehr so wunderbar finden,« sagte ich mir selber, »sobald ich sie besessen habe, und das kann nicht lange dauern.«

Der Leser wird sich vielleicht für berechtigt halten, mich für einen anmaßenden Gecken zu erklären. Aber wie hätte ich auf den Gedanken kommen können, daß die Charpillon Schwierigkeiten machen würde? Sie hatte sich selber bei mir zum Essen eingeladen; sie hatte dem Prokurator Morosini angehört, der jedenfalls nicht lange nach ihr geschmachtet hatte, denn das war nicht seine Art, und der sie bezahlt haben mußte, denn er war weder jung noch schön. Ganz abgesehen davon, daß ich ihr zu gefallen hoffen durfte, hatte ich Gold und war nicht geizig. So konnte ich also annehmen, daß sie mir keinen Widerstand leisten würde.

Pembroke war mein Freund geworden, seitdem ich das gute Werk an Schwerin getan hatte, und besonders deshalb, weil ich nicht die Hälfte des Betrages vom General zurückverlangt hatte. Er hatte mir gesagt, wir wollten eine Vergnügungspartie machen und auf diese Weise einen angenehmen Tag verbringen. Als er nun vier Gedecke aufgelegt sah, fragte er mich sofort, wer meine beiden anderen Gäste seien. Er war sehr überrascht, als er hörte, daß die Charpillon und ihre Tante kommen sollten, und daß das Mädchen sich selber eingeladen hatte, sobald sie erfuhr, daß er allein mit mir speisen würde.

»Diese Spitzbübin«, erzählte der Lord mir, »hatte mir für einige Augenblicke eine heftige Lust erregt, sie zu besitzen. Als ich sie eines Abends mit ihrer Tante in Vauxhall traf, bot ich ihr zwanzig Guineen, wenn sie allein mit mir in der dunklen Allee spazieren gehen wolle. Sie nahm an, aber unter der Bedingung, daß ich ihr das Geld im voraus gäbe; leider war ich so schwach, dies zu tun. Sie ging mit mir in die Allee hinein; als wir aber ein Stück gegangen waren, ließ sie meinen Arm los, und ich konnte sie die ganze Nacht nicht mehr finden.«

»Sie hätten sie öffentlich ohrfeigen sollen.«

»Damit hätte ich mir eine böse Geschichte aufgeladen; außerdem würde man mich ausgelacht haben. Ich habe es vorgezogen, das Mädchen zu verachten und die Summe, um die sie mich begaunert hatte, zu verschmerzen. Sind Sie verliebt in sie?«

»Nein, aber ich bin neugierig auf sie, wie Sie es gewesen sind.«

»Nehmen Sie sich in acht; denn sie wird alles versuchen, um Sie anzuführen.«

Die Charpillon trat ein, begrüßte Mylord, sagte ihm die artigsten Dinge von der Welt und beachtete mich überhaupt nicht. Sie lacht, scherzt, erzählt den Streich, den sie ihm in Vauxhall gespielt hat, und neckt ihn damit, daß er wegen einer Eulenspiegelei, die ihn doch eigentlich nur noch mehr habe reizen müssen, nicht mehr den Mut gehabt habe, sie noch weiter zu verfolgen.

»Ein anderes Mal werde ich Ihnen nicht wieder weglaufen.«

»Das kann wohl sein, meine Schöne; denn ein anderes Mal werde ich gewiß nicht wieder vorausbezahlen.«

»Pfui! ›Bezahlen‹ ist ein häßliches Wort, das Sie herabsetzt.«

»Und das Sie vielleicht ehrt?«

»Von so etwas spricht man nicht.«

Lord Pembroke lobte ihren Witz und lachte nur über alle unverschämten Bemerkungen, die sie an ihn richtete; offenbar ärgerte sie sich über die Gleichgültigkeit, womit er fortwährend zu ihr sprach. Bald nach dem Essen entfernte sie sich, nachdem sie mir das Versprechen abgenommen hatte, am übernächsten Tage bei ihr zu speisen.

Den nächsten Tag verbrachte ich mit dem liebenswürdigen Lord, der mich ein Bagnio auf englische Art kennen lehrte. Dies ist ein teueres Vergnügen, das ich nicht näher beschreiben will, weil ein jeder es kennt, der sechs Guineen ausgegeben hat, um sich diesen Genuß zu verschaffen. Wir hatten bei dieser Partie zwei sehr hübsche Schwestern, die man die Garich nannte.

Am Tage darauf trieb mich mein böser Stern, zur Charpillon zu gehen. Sie stellte mir ihre Mutter vor, die ich sofort erkannte, obwohl sie alt, krank und abgezehrt war.

Im Jahre 1759 hatte ein Genfer, namens Bolomé, mich überredet, Schmucksachen im Werte von sechstausend Franken an sie zu verkaufen; sie hatte mir dafür zwei Wechsel gegeben, die von ihr und ihren beiden Schwestern auf eben diesen Bolomé gezogen waren: sie nannten sich damals Ansperger. Der Genfer machte vor dem Verfall der Wechsel Bankerott, und die drei Schwestern verschwanden. Man kann sich denken, wie überrascht ich war, sie in England wiederzufinden, und besonders, durch die Charpillon zu ihnen geführt zu werden. Diese wußte von dem üblen Handel ihrer Mutter und ihrer Tanten nichts und hatte ihnen daher nicht gesagt, daß der Chevalier de Seingalt identisch war mit jenem Casanova, den sie um sechstausend Franken geprellt hatten.

»Ich habe das Vergnügen, mich Ihrer zu erinnern, Madame,« waren die ersten Worte, die ich an sie richtete.

»Mein Herr, ich erkenne Sie ebenfalls; der Spitzbube Bolomé …«

»Sprechen wir jetzt nicht davon, Madame; verschieben wir die Auseinandersetzung auf einen anderen Tag! Sie sind krank, wie ich sehe.«

»Ich war dem Tode nahe; aber jetzt geht es ein wenig besser. Meine Tochter hat Sie nicht unter Ihrem Namen angemeldet.«

»Verzeihung, sie hat Ihnen den richtigen Namen gesagt. Ich heiße Seingalt und heiße auch Casanova. Diesen letzteren Namen trug ich in Paris, als ich dort Ihre Tochter kennen lernte, ohne zu wissen, daß sie zu Ihnen gehörte.«

In diesem Augenblick trat die Großmutter, die wie ihre Tochter Ansperger hieß, mit den beiden Tanten ein. Eine Viertelstunde darauf kamen drei Herren, von denen der eine der Chevalier Goudar war, den ich in Paris gekannt hatte. Die beiden anderen kannte ich nicht; sie wurden mir unter den Namen Rostaing und Caumon vorgestellt. Die drei Herren waren Freunde des Hauses – Gauner, deren Aufgabe darin bestand, Dumme heranzuschleppen, um auf diese Weise gegenseitig Vorteil zu haben.

In diese niederträchtige Gesellschaft sah ich mich also eingeführt. Obgleich ich sofort wußte, woran ich war, entfernte ich mich nicht, und nahm mir nicht einmal vor, nicht wieder hinzugehen. Es gibt unbegreifliche Zustände von Verblendung. Ohne Zweifel glaubte ich, nichts zu wagen, wenn ich auf meiner Hut wäre; da ich keine andere Absicht hatte, als ein Liebesverhältnis mit der Tochter anzufangen, so sah ich alles übrige als etwas Unwesentliches an, das mit meinen Absichten nichts zu tun hatte.

Bei Tische stimmte ich in den Ton der Gesellschaft ein, ja, ich ging sofort mit meinem Beispiel voran: ich neckte, ich wurde geneckt, und ich fühlte mich sicher, daß ich meinen Zweck ohne Mühe erreichen würde. Nur eins mißfiel mir: nachdem sie sich entschuldigt hatte, daß sie mich schlecht bewirtet habe, bat die Charpillon mich, sie und die ganze Gesellschaft an einem Tage, den ich selbst bestimmen möchte, zum Abendessen einzuladen. Da ich mich nicht ausreden konnte, so bat ich sie, den Tag selber zu bestimmen, und sie tat dies, nachdem sie ihre würdigen Berater um ihre Meinung gefragt hatte.

Nach dem Kaffee spielten wir vier Robber Whist. Ich verlor. Gegen Mitternacht ging ich gelangweilt und unzufrieden mit mir selber nach Hause. Leider aber war ich nicht gebessert; denn das Frauenzimmer hatte mich völlig behext.

Immerhin besaß ich die Kraft, zwei Tage vergehen zu lassen, ohne sie aufzusuchen. Am dritten – das war der, den sie für das verfluchte Abendessen bestimmt hatte – sah ich sie schon am Morgen um neun Uhr mit ihrer Tante eintreten.

»Ich bin gekommen,« sagte sie in liebenswürdigstem Ton, »um mit Ihnen zu frühstücken und mit Ihnen über ein Geschäft zu sprechen.«

»Sofort oder nach dem Frühstück?«

»Nachher; denn wir müssen allein sein.«

Wir frühstückten; hierauf ging die Tante in ein anderes Zimmer, und die Charpillon schilderte mir die Lage ihrer Familie und sagte dann, alle Not würde ein Ende haben, wenn ihre Tante hundert Guineen besäße.

»Was würde sie dann tun?«

»Sie würde Lebensbalsam machen. Sie hat das Rezept und würde gewiß ein Vermögen damit verdienen.«

Hierauf schilderte sie mit Behagen die wunderbaren Eigenschaften dieses Balsams, den wahrscheinlichen Absatz in einer Stadt wie London und die Vorteile, die ich selber davon haben würde; denn ich würde natürlich am Gewinn beteiligt sein. Außerdem würden ihre Mutter und ihre Tante sich schriftlich verpflichten, mir die hundert Guineen nach sechs Jahren zurückzuzahlen.

»Ich werde Ihnen nach dem Abendessen eine bestimmte Antwort geben.«

Hierauf nahm ich die schmeichelnde und unternehmende Miene eines Verliebten an, der den höchsten Genuß sucht. Aber alle meine Anstrengungen waren vergebens, obgleich es mir gelungen war, sie auf mein breites Sofa auszustrecken. Geschmeidig wie eine Schlange entschlüpfte die Charpillon mir und lief lachend zu ihrer Tante. Ich folgte ihr und mußte ebenfalls lachen, als sie mir die Hand hinstreckte und mir sagte: »Leben Sie wohl! Auf heute Abend!«

Als ich allein war, fand ich diesen Anfang ganz natürlich, und er erschien mir durchaus nicht von schlechter Vorbedeutung, besonders, wenn ich an die hundert Guineen dachte, die sie brauchte und von mir erbeten hatte. Ich sah wohl, daß ich nicht daran denken konnte, mich um die Huld eines Mädchens von ihrem Charakter zu bewerben, ohne diese Summe zu zahlen. Ich dachte daher auch nicht daran, zu feilschen, aber sie mußte ihrerseits wissen, daß sie die hundert Guineen nicht bekommen würde, wenn sie es sich einfallen lassen sollte, die Zimperliche zu spielen. Meine Sache war es, mich so einzurichten, daß ich nicht zu befürchten brauchte, von ihr geprellt zu werden.

Als am Abend die Gesellschaft da war, forderte die Schöne mich auf, bis zum Essen eine kleine Bank zu legen; ich antwortete aber nur mit einem lauten Lachen, das sie nicht erwartet hatte.

»Dann wollen wir doch wenigstens eine Partie Whist spielen!«

»Mir scheint,« antwortete ich ihr, »Sie haben es nicht eilig, Ihre Antwort betreffs der schwebenden Angelegenheit zu erhalten.«

»Ach so! Sie haben sich wohl entschlossen, nicht wahr?«

»Ja. Kommen Sie!«

Sie folgte mir ins Nebenzimmer. Ich ließ sie auf dem Sofa Platz nehmen und sagte ihr: »Die hundert Guineen stehen zu Ihrer Verfügung.«

»Geben Sie sie meiner Tante; denn sonst würden die Herren sich einbilden, ich hätte sie durch eine schimpfliche Gefälligkeit erlangt.«

»Sie können sich darauf verlassen.«

Nach dieser Versicherung wollte ich mich ihrer bemächtigen; aber alle meine Anstrengungen waren wiederum vergeblich, und ich gab sie schließlich auf, als sie zu mir sagte: »Sie werden niemals, weder durch Geld noch durch Gewalt, etwas von mir erlangen; aber Sie können alles von meiner Freundschaft erhoffen, wenn ich Sie unter vier Augen vollkommen sanft finde.«

Ich ging in den Salon zurück. Ich fühlte eine teuflische Wut in allen meinen Adern, und um diese zu verbergen, beteiligte ich mich an einer Whistpartie, die während unserer Abwesenheit zustande gekommen war. Die Charpillon war von sprühender Heiterkeit, aber sie langweilte mich. Beim Abendessen saß sie mir zur Rechten; sie ärgerte mich durch hundert Ausgelassenheiten, die mich in den siebenten Himmel versetzt haben würden, wenn sie mich nicht zweimal an einem Tage abgewiesen hätte.

Nach dem Essen nahm sie mich auf die Seite und sagte mir: wenn ich die hundert Guineen geben wollte, würde sie die Tante ins Nebenzimmer rufen. Ich sagte: »Es müßte ja schriftlich gemacht werden, und das würde zeitraubend sein; wir wollen die Sache auf einen anderen Tag verschieben.«

»Wollen Sie den Zeitpunkt bestimmen?«

Ich zog meine Börse voll Gold aus der Tasche, zeigte sie ihr und sagte: »Der Zeitpunkt wird da sein, sobald Sie ihn kommen lassen wollen.«

Als meine abscheulichen Gäste fort waren, wurde ich mir darüber klar, daß die junge Intrigantin es auf mich abgesehen hatte, um mich zu prellen und mir mein Geld zu entlocken, ohne mir dafür etwas zu bewilligen. Ich beschloß daher, auf sie zu verzichten. Der Kampf hatte mich gedemütigt; trotzdem fühlte ich mich von der Schönheit dieses Mädchens stark angezogen, obgleich alles andere an ihr mich abstieß.

Ich fühlte das Bedürfnis, mich zu zerstreuen und meine Gedanken durch andere Gegenstände abzulenken. In dieser Absicht fuhr ich am nächsten Tage, mit einem riesigen Korb voll Zuckerzeug versehen, zu meiner Tochter.

Ich machte die ganze jugendliche Gesellschaft glücklich; denn Sophie strahlte vor Freude, alle diese Leckereien unter ihre Kameradinnen verteilen zu können, die sie dankbar annahmen. Kinder sind ja so leicht glücklich zu machen und sind so dankbar für alle Freundschaft.

Ich fand den Tag so köstlich, daß ich eine Zeitlang sehr oft wieder hinging. Ich brachte ihnen eine Menge Kinkerlitzchen, von denen sie entzückt waren. Die Vorsteherin überhäufte mich mit höflichen Aufmerksamkeiten, und meine Tochter, die mich nur ihren lieben Papa nannte, überzeugte mich jeden Tag mehr, daß ich die zärtlichsten Vatergefühle für sie empfand.

Es waren noch keine drei Wochen vergangen, da konnte ich mir schon Glück wünschen, die Charpillon vergessen und durch eine unschuldige Liebe ersetzt zu haben. Allerdings gefiel eine von den Freundinnen meiner Tochter mir ein bißchen zu sehr, um mich ganz wunschlos zu lassen.

In diesem Zustand befand sich meine Seele, als ich eines Morgens um acht Uhr die Lieblingstante der Charpillon bei mir eintreten sah. Sie sagte mir, ihre Nichte und die ganze Familie seien tief betrübt, daß sie mich seit jener Abendgesellschaft, die ich ihnen gegeben hätte, nicht wiedergesehen hätten; besonders sie bedauere es, da ihre Nichte ihr Hoffnung gemacht habe, ich werde ihr die Mittel zur Bereitung des Lebensbalsams geben.

»Allerdings, Madame, würde ich Ihnen hundert Guineen gegeben haben, wenn Ihre Nichte mich wie einen Freund behandelt hätte; aber sie hat mir sogar die Gunstbeweise verweigert, die eine Vestalin bewilligt haben würde, und Sie wissen wohl, daß sie das nicht ist.«

»Verzeihen Sie, wenn ich lache! Das liebe Kind ist ein bißchen unbesonnen und manchmal etwas rappelköpfig; sie gibt sich nur hin, wenn sie überzeugt ist, geliebt zu werden. Sie hat mir alles erzählt. Sie liebt Sie, aber sie befürchtet, Ihre Liebe sei nur eine Laune. Diesen Augenblick liegt sie wegen einer starken Erkältung zu Bett; sie glaubt ein wenig Fieber zu haben. Suchen Sie sie auf; ich bin gewiß, Sie werden sie nicht unzufrieden verlassen.«

Diese wohlberechnete Rede, die mir nur Verachtung hätte einflößen sollen, erweckte in mir die heftigste Begierde. Ich stimmte in das Lachen der Alten ein und fragte sie schließlich, zu welcher Stunde ich hingehen solle, um die Schöne ganz bestimmt im Bett zu finden.

»Kommen Sie sofort und klopfen Sie nur einmal.«

»Gehen Sie voraus und erwarten Sie mich!«

Ich wünschte mir Glück, am Ziel zu sein und keinen Betrug zu fürchten zu haben; denn da ich mich mit der Tante auseinandergesetzt hatte und diese für mich war, so hatte ich keinen Zweifel mehr.

Ich zog meinen Überrock an, und es war noch keine Viertelstunde vergangen, da klopfte ich schon in der verabredeten Weise an die Tür der Charpillon. Die Tante kam auf den Fußspitzen herangeschlichen, öffnete mir und sagte: »Kommen Sie in einer halben Stunde wieder! Ihr ist ein Bad verordnet worden, und sie hat sich gerade eben in die Wanne gelegt.«

»Das ist wieder eine gemeine Betrügerei! Sie sind eine Lügnerin, wie Ihre Nichte eine infame Intrigantin ist.«

»Sie sind hart und ungerecht; aber wenn Sie mir versprechen wollen, vernünftig zu sein, will ich Sie in den dritten Stock führen, wo sie ihr Bad nimmt. Sie kann dann sagen, was sie will; jedenfalls werden Sie die Überzeugung haben, daß ich Sie nicht betrüge.«

»Wenn Sie die Wahrheit sagen, so wollen wir gehen!«

Sie geht die Treppe hinauf; ich folge ihr leise; sie öffnet eine Tür und schiebt mich in ein Zimmer hinein, dessen Tür sie hinter mir schließt. Die Charpillon lag in einer großen Badewanne, mit dem Kopfende nach der Tür. Die niederträchtige Kokette tat, wie wenn sie mich für ihre Tante hielte, machte keine Bewegung und sagte: »Geben Sie mir Handtücher, Tante!«

Sie lag in der verführerischsten Stellung da, und da die Wanne nur halb voll war, konnte ich mich an allen Schönheiten des Körpers einer Venus weiden, ohne daß die Flüssigkeit, die sie wie eine leichte Gaze bedeckte, meinen gierigen Blicken etwas entzog.

Sobald sie mich erblickte, stieß sie einen Schrei aus, kauerte sich zusammen und rief mit erheucheltem Zorn: »Gehen Sie!«

»Schreien Sie nicht, meine Schöne! Ich lasse mich nicht mehr anführen.«

»Gehen Sie!«

»Nein; lassen Sie mich erst wieder zu mir kommen!«

»Ich sage Ihnen noch einmal: gehen Sie!«

»Nein. Aber seien Sie ruhig und fürchten Sie keine Vergewaltigung. Die würde Ihnen nur zu gut in Ihre Pläne passen.«

»Meine Tante soll mir das bezahlen! Darauf kann sie sich verlassen.«

»Wie Sie wollen; aber sie wird in mir einen Freund finden. Ich werde Sie nicht anrühren; aber bitte, entwickeln Sie sich!«

»Wie? Ich soll mich entwickeln?«

»Ja, legen Sie sich wieder so hin, wie Sie bei meinem Eintritt lagen!«

»O! das tue ich ganz gewiß nicht. Gehen Sie!«

»Ich habe Ihnen schon gesagt, ich gehe nicht. Aber Sie brauchen nichts zu befürchten … für Ihre Jungfräulichkeit.«

»Sie sind ein Ungeheuer!«

Sie kauerte sich noch mehr zusammen und bot dabei meinen Blicken ein Bild, das noch verführerischer war als das erste. Dann schlug sie auf einmal einen sanften Ton an und sagte: »Ich bitte Sie, lieber Freund, gehen Sie! Ich werde Ihnen später dafür erkenntlich sein.«

Da sie jedoch sah, daß ihr dies nichts nützte, und daß ich, ohne sie zu berühren, bereits dabei war, selber das Feuer zu löschen, das sie in meinen Sinnen entzündet hatte, drehte sie mir den Rücken zu, damit ich nicht denken sollte, sie fände Vergnügen daran, mir zuzusehen, und damit nicht etwa dieser Gedanke meinen brutalen Genuß vermehrte. Ich wußte das alles, aber für mich war es notwendig, meine Besinnung wiederzuerlangen, und ich mußte mich daher erniedrigen, um die mich fortreißende Glut meiner Sinne zu beschwichtigen, übrigens war es mir nicht unlieb, die Wirkung dieses Notbehelfs zu bemerken, denn diese brutale Befriedigung bewies mir, daß das Übel nicht tief saß, da es durch eine bloße tierische Betätigung zu beseitigen war.

Als ich eben fertig war, trat die Tante ein. Ohne ein Wort zu sagen, ging ich hinaus. Zu meiner Freude empfand ich nur Verachtung für einen so kalt berechnenden Charakter, der gar kein Gefühl kannte.

An der Haustür holte die Tante mich ein; sie fragte mich, ob ich zufrieden sei, und lud mich ein, in ihr Wohnzimmer zu treten.

»Jawohl, ich bin sehr zufrieden – zufrieden nämlich, daß ich euch alle beide jetzt kenne. Da ist die Belohnung!«

Mit diesen Worten zog ich eine Banknote von hundert Guineen hervor und warf sie ihr dummerweise zu, indem ich ihr sagte, sie könnte ihren Lebensbalsam anfertigen; aus ihrer Unterschrift mache ich mir nichts, denn ich wisse, was die wert sei. Ich besaß nicht die Kraft, fortzugehen, ohne ihr etwas zu geben, wie ich es hätte tun sollen, und die erfahrene Kupplerin war schlau genug, das sofort zu begreifen.

Als ich wieder nach Hause kam und reiflich über das Abenteuer nachdachte, erfüllte mich ein Gefühl von Freude und Befriedigung. So kehrte denn bald meine gute Laune zurück, und ich glaubte sicher zu sein, daß ich das Haus dieses elenden Gezüchtes niemals wieder betreten würde. Es waren sieben Weiber, darunter zwei Mägde; um ihren Unterhalt zu bestreiten, war ihnen jedes Mittel recht. Wenn sie bei ihren Beratungen die Notwendigkeit erkannten, sich der Hilfe von Männern zu bedienen, wandten sie sich an die drei Schufte, die ich vorhin nannte, und die ihrerseits, um existieren zu können, auf diese Weiber angewiesen waren.

Ich dachte nur noch daran, mich aufs beste zu amüsieren, und besuchte zu diesem Zwecke alle Orte, wo ich mich vergnügen konnte. Fünf oder sechs Tage nach der Badeszene traf ich in Vauxhall die Spitzbübin mit ihrer Tante und Goudar. Ich wich ihr aus; sie ging mir jedoch nach und warf mir mit einer Sirenenstimme mein schlechtes Betragen vor. Ich gab ihr eine schroffe Antwort; sie machte sich jedoch nichts daraus, sondern trat in eine Laube und lud mich ein, eine Tasse Tee mit ihr zu trinken.

»Ich will keinen Tee,« antwortete ich ihr; »ich will lieber zu Abend essen.«

»Ich bin bereit, mit Ihnen zu speisen. Sie werden mich nicht zurückweisen, wenn Sie nicht etwa noch einen Groll gegen mich haben.«

Ich befahl, vier Gedecke aufzulegen, und im nächsten Augenblick saßen wir beisammen, wie wenn wir die besten Freunde gewesen wären.

Ihre verführerischen Reden, ihre Heiterkeit, ihre Reize zwangen mich wieder unter ihren Bann. Der Wein trug dazu bei, meine Seele zu erniedrigen, und ich schlug ihr vor, einen Spaziergang in den dunklen Alleen zu machen, indem ich bemerkte, sie werde mich hoffentlich nicht so behandeln wie Lord Pembroke. Sie antwortete mir sanft und mit einem Schein von Aufrichtigkeit, der mich beinahe getäuscht hätte: sie wolle ganz und gar die Meine sein, aber bei hellem Licht und nur unter der Bedingung, daß sie die Genugtuung habe, mich jeden Tag wie einen wahren Freund des Hauses bei sich zu sehen.

»Ich verspreche es Ihnen; aber geben Sie mir sofort ein kleines Pröbchen Ihrer Zärtlichkeit.«

»Nein! Unter keinen Umständen!«

Ich stand auf, um die Rechnung zu bezahlen, und entfernte mich, ohne ein Wort zu sagen. Ihre Bitte, sie nach Hause zu bringen, schlug ich ab. Mein Kopf war ein wenig benebelt, als ich nach Haus kam; ich legte mich sofort zu Bett.

Als ich am andern Morgen erwachte, war mein erster Gedanke ein Gefühl des Glücks, daß sie mich nicht beim Wort genommen hatte; ich fühlte instinktmäßig, daß ich alle Beziehungen zwischen diesem Geschöpf und mir hätte abbrechen sollen. Ich fühlte, daß sie eine unüberwindliche Herrschaft über mich ausübte und daß es nur ein einziges Mittel gab, mich davor zu schützen, daß sie mich noch weiterhin betrog: ich mußte entweder beharrlich ihren Anblick meiden, oder ich mußte, wenn ich noch weiter mit ihr verkehrte, ohne jeden Hintergedanken auf den Genuß ihrer gefährlichen Reize völlig verzichten.

Da dieses Zweite mir unmöglich erschien, beschloß ich, mich standhaft an das erste Mittel zu halten; aber das unwürdige Geschöpf ging darauf aus, alle meine Vorsätze zuschanden zu machen. Die Art und Weise, wie sie ihre Absicht zu erreichen suchte, war offenbar das Ergebnis einer von ihrer ganzen Clique abgehaltenen Beratung.

Einige Tage nach dem Abendessen von Vauxhall erschien Goudar bei mir und sagte: »Ich wünsche Ihnen Glück zu Ihrem weisen Entschluß, nicht mehr zu den Anspergers zu gehen; denn wenn Sie noch weiter hingegangen wären, hätten Sie sich immer mehr in die Schöne verliebt, und diese würde Sie schließlich an den Bettelstab bringen.«

»Sie halten mich wohl für sehr dumm? Wenn ich sie gefällig gefunden hätte, so würde sie mich erkenntlich gefunden haben, ohne daß ich jedoch in den Beweisen dieser Erkenntlichkeit über meine Kräfte gegangen wäre. Hätte ich sie grausam gefunden, aber nicht so lächerlich, wie sie sich benommen hat, so hätte ich jeden Tag tun können, was ich bereits getan habe, und wäre darum doch noch nicht an den Bettelstab gekommen.«

»Ich wünsche Ihnen Glück dazu, denn das ist ein Beweis, daß Sie über solide Mittel verfügen. Sie sind also fest entschlossen, sie nicht wiederzusehen?«

»Sehr fest.«

»Sie sind also nicht in sie verliebt?«

»Ich war es, aber ich habe es mir abgewöhnt, und in einigen Tagen werde ich sie vollständig vergessen haben. Ich dachte schon nicht mehr an sie, als ich sie neulich mit Ihnen in Vauxhall traf.«

»Das beweist, daß Sie nicht geheilt sind. Glauben Sie mir, man wird von einer Liebe nicht geheilt, wenn man die Geliebte flieht; denn wenn man in derselben Stadt lebt, kann es zu leicht vorkommen, daß man sich wieder begegnet, und Pulver ist ein feuergefährlicher Stoff.«

»Kennen Sie ein besseres Mittel?«

»Gewiß! Man muß sich durch Genuß übersättigen. ES ist wohl möglich, daß die Charpillon Sie nicht liebt; aber Sie sind reich, und sie hat nichts. Für eine runde Summe hätten Sie sie haben können; Sie wären dann auf angenehme Weise geheilt worden, wenn Sie gefunden hätten, daß sie Ihrer Beständigkeit nicht würdig ist; denn schließlich wissen Sie doch, wer sie ist.«

»Ich würde dieses Mittel gern angewandt haben, wenn ich nicht klar und deutlich ihre Absicht entdeckt hätte.«

»Diese hätten Sie zuschanden machen können, wenn Sie eine vernünftige Abmachung getroffen hätten. Sie hätten niemals vorausbezahlen sollen. Ich weiß alles.«

»Was können Sie wissen?«

»Ich weiß, daß sie Ihnen hundert Guineen kostet und daß Sie nicht einmal einen Kuß von ihr bekommen haben. Nun, mein lieber Herr, für dieses Geld hätten Sie sie ganz bequem in Ihrem Bett haben können. Sie prahlt damit, sie habe Sie angeführt, so klug Sie sich auch dünken mögen.«

»Dieses Geld habe ich ihrer Tante aus Mitleid gegeben.«

»Ja, für die Anfertigung ihres Lebensbalsams; aber Sie werden zugeben,daß ohne die Nichte die Tante nichts bekommen haben würde.«

»Ich gebe es zu; aber sagen Sie mir: was bewegt Sie, heute in dieser Weise zu mir zu sprechen? Sie gehören doch zu ihrer Clique?«

»Nichts, das schwöre ich Ihnen, als ein freundschaftliches Gefühl für Sie. Wenn Sie meinen, daß ich zu ihrer Clique gehöre, so irren Sie sich. Das will ich Ihnen beweisen, indem ich Ihnen erzähle, wie ich das Mädchen, ihre Mutter, ihre Großmutter und ihre beiden Tanten kennen lernte: Vor sechzehn Monaten war ich eines Abends in Vauxhall. Da sah ich den venetianischen Prokurator, Herrn von Morosini, ganz allein spazieren gehen. Er war gerade eben in London eingetroffen, um im Namen seiner Republik dem König die Glückwünsche zur Thronbesteigung zu überbringen. Da ich sah, daß der hohe Herr ganz entzückt war und mit großem Vergnügen die Londoner Schönheiten musterte, hatte ich den Einfall, ihn anzureden und ihm zu sagen, daß alle diese Nymphen ihm zu Diensten stünden, und daß er nur der, die ihm am besten gefiele, sein Schnupftuch zuzuwerfen brauchte. Als er hierüber lachte, sagte ich ihm, es sei kein Scherz von mir. Hierauf bezeichnete er eine mit dem Auge und fragte mich, ob diese Dame ebenfalls zu seiner Verfügung stehe. Da ich sie nicht kannte, bat ich ihn, er möchte seinen Spaziergang fortsetzen, ich würde ihm sofort Bescheid bringen. Da ich keine Zeit zu verlieren hatte und außerdem an ihrem ganzen Benehmen sah, daß ich es nicht mit einer Vestalin zu tun haben würde, trat ich an das junge Mädchen, und ihre Begleiterin heran und sagte ihr, der Botschafter sei in sie verliebt, und wenn sie ihn empfangen wolle, werde ich ihn ihr zuführen. Die Tante sagte mir, die Bekanntschaft eines Herrn von so hohem Range könne für ihre Nichte nur eine große Ehre sein. Ich erhielt ihre Adresse und ging dem Botschafter nach. Unterwegs traf ich einen meiner Bekannten, der ein großer Kenner von dieser Art Ware ist. Ich zeigte ihm die Adresse, die ich noch in der Hand hielt und erfuhr von ihm, was für eine Sorte die Charpillon ist.«

»War sie es?«

»Ja. Mein Freund sagte mir, sie sei eine junge Schweizerin, die noch nicht auf das große Trottoir gekommen sei; das würde aber nicht lange mehr dauern, denn sie sei nicht reich und habe einen zahlreichen Anhang zu ernähren.

Ich ging zu meinem Venetianer, sagte ihm, daß die Sache in Ordnung sei, und bat ihn, mir anzugeben, zu welcher Stunde ich ihn am nächsten Tage vorstellen könne, indem ich ihn darauf aufmerksam machte, daß sie ihn nicht allein empfangen werde, da sie bei ihrer Mutter und ihren Tanten wohne.

›Das ist mir durchaus nicht unangenehm,‹ antwortete der Botschafter mir, ›es ist mir im Gegenteil lieb, daß sie nicht öffentlich ist.‹

Nachdem wir uns für den nächsten Tag verabredet hatten, trennten wir uns.

Ich sagte den Damen, wann wir kommen würden, und belehrte sie, wie sie sich dem hohen Herrn gegenüber zu verhalten hätten: sie müßten nämlich tun, wie wenn sie ihn nicht kennten. Hierauf ging ich nach Hause.

Am nächsten Tage ging ich zu Herrn von Morosini; wir nahmen einen Fiaker, und ich führte ihn inkognito zu den Damen, bei denen wir eine Stunde in allen Ehren verbrachten, und ohne daß irgend ein Vorschlag gemacht wurde; hierauf gingen wir wieder. Unterwegs sagte der Botschafter mir, er werde mir am nächsten Tage in seiner Wohnung seine Bedingungen schriftlich geben; zu diesen Bedingungen wünsche er das Mädchen zu besitzen, aber sonst nicht.

Die Bedingungen lauteten: Das Fräulein sollte allein in einem möblierten Häuschen wohnen, das ihr nichts kosten würde. Sie dürfte keinen Menschen dort empfangen. Seine Exzellenz würde ihr monatlich fünfzig Guineen geben und würde ihr das Abendessen bezahlen, so oft er Lust hätte, die Nacht mit ihr zu verbringen. Er beauftragte mich, ein Haus für sie ausfindig zu machen, wenn seine Bedingungen angenommen würden. Die Mutter sollte den Vertrag mit unterschreiben.

Da der Botschafter es eilig hatte, brachte ich die Angelegenheit in drei Tagen in Ordnung; ich verlangte jedoch von der Mutter ein Schriftstück, wodurch sie sich verpflichtete, mir ihre Tochter für eine Nacht zu überlassen, sobald der Botschafter wieder abgereist wäre; man wußte, daß er in London nur ein Jahr bleiben würde.«

Goudar zog dieses Schriftstück aus der Tasche und zeigte es mir; ich las es mehrere Male mit ebensogroßer Überraschung wie Freude; hierauf fuhr er in seiner Erzählung fort:

»Durch die Abreise des Botschafters wurde die Charpillon frei; sie hatte nun nacheinander Lord Baltimore, Lord Grosvenor, den portugiesischen Gesandten, Herrn de Saa und mehrere andere, jedoch keinen offiziellen Liebhaber. Ich habe von der Mutter verlangt, sie solle mir, laut ihrer Verpflichtung, meine Nacht verschaffen; aber sie führt mich an der Nase herum, und die Tochter, die mich nicht leiden kann, lacht mir ins Gesicht, wenn ich ein Wort davon sage. Ich kann sie nicht verhaften lassen, denn sie ist noch minderjährig; aber eines schönen Tages werde ich die Mutter ins Gefängnis bringen, und dann sollen Sie sehen, wie ganz London lachen wird. Jetzt wissen Sie, warum ich diese Frauenzimmer besuche; Sie haben unrecht, wenn Sie glauben, ich hätte irgend etwas mit ihren Anschlägen zu tun. Indessen kann ich Ihnen versichern, daß man auf Mittel und Wege sinnt, Sie zu prellen, und das wird ihnen gelingen, wenn Sie nicht sehr auf Ihrer Hut sind.«

»Sagen Sie der Mutter, ich stelle ihr noch hundert Guineen zur Verfügung, wenn sie mir eine einzige Nacht mit ihrer Tochter verschaffen kann.«

»Ist das Ihr Ernst?«

»Ganz gewiß; aber ich will erst nach der Operation bezahlen.«

»Das ist das wahre Mittel, um nicht angeführt zu werden. Ich übernehme den Auftrag mit Vergnügen.«

Ich behielt den Burschen zum Mittagessen bei mir; denn bei dem Lebenswandel, den ich in London führte, konnte er mir nur nützlich sein. Er wußte alles und erzählte mir eine Menge galanter Geschichten, die ich mit Vergnügen hörte. Obwohl ein richtiger Taugenichts, war Goudar übrigens doch nicht ohne einige gute Eigenschaften. Er war Verfasser mehrerer Werke, die zwar schlecht waren, aber doch einen gewissen Geist bekundeten. Er schrieb damals seinen »Chinesischen Spion« und verfaßte täglich fünf oder sechs Briefe in den verschiedenen Kaffeehäusern, in die der Zufall ihn führte. Ich schrieb auch einige für ihn, die ihm viel Vergnügen machten. Der Leser wird sehen, unter welchen Umständen ich ihn einige Jahre darauf in Neapel wiederfand.

Schon am nächsten Tage, in einem Augenblick, wo ich durchaus nicht daran dachte, sah ich die Charpillon bei mir eintreten. Mit einer ernsten Miene, die man bei einem anreren Mädchen für Bescheidenheit hätte halten können, sagte sie zu mir: »Ich bitte Sie nicht um ein Frühstück, sondern nur um eine Erklärung und möchte Ihnen Miß Lorenzi vorstellen.«

Ich machte ihr und ihrer Begleiterin eine Verbeugung und sagte:

»Was für eine Erklärung wünschen Sie, mein Fräulein?«

Bei diesen Worten glaubte Miß Lorenzi, die ich zum ersten Male sah, und die gewissermaßen die Stelle des obligaten Satyrs auf den Bildern der Venus vertrat, uns allein lassen zu müssen, und ich sagte Jarbe, ich sei für niemanden zu Hause. Damit die Begleiterin meiner Nymphe sich nicht langweilte, befahl ich, ihr ein Frühstück vorzusetzen.

»Mein Herr,« begann die Charpillon, »ist es wahr, daß Sie den Chevalier Goudar beauftragt haben, meiner Mitter zu sagen, Sie würden ihr hundert Guineen dafür geben, daß ich eine Nacht mit Ihnen verbringe?«

»Nicht dafür, daß Sie sie mit mir verbringen, sondern erst, wenn Sie sie mit mir verbracht haben werden. Ist es nicht genug?«

»Keine Scherze, bitte! Es handelt sich hier nicht um ein Feilschen um den Preis. Ich bin nicht gekommen, um um den Preis zu feilschen; ich will nur wissen, ob Sie das Recht zu haben glauben, mich zu beleidigen, und ob Sie sich einbilden, ich sei gegen eine solche Beschimpfung unempfindlich.«

»Wenn Sie sich beschimpft fühlen, so kann ich Ihnen den Gefallen tun, zu glauben, daß ich unrecht habe; aber ich gestehe, ich erwartete nicht, daß Sie sich für berechtigt hielten, mir einen solchen Vorwurf zu machen. Goudar ist ein intimer Bekannter von Ihnen, und der Vorschlag ist nicht der erste dieser Art, den der Chevalier Ihnen gemacht hat. Ich konnte mich nicht unmittelbar an Sie wenden, denn ich weiß jetzt, woran ich mit Ihnen bin, da Sie sich ja nur eine Ehre daraus machen, Ihr Wort zu brechen.«

»Ich kümmere mich nicht um die wenig schmeichelhaften Bemerkungen, die Sie sich gegen mich erlauben, aber ich will Sie daran erinnern, daß ich Ihnen gesagt habe, Sie werden mich niemals, weder durch Gewalt noch für Geld, bekommen, sondern nur, wenn Sie mich durch Ihr Benehmen in Sie verliebt machen. Beweisen Sie mir, daß ich Ihnen nicht Wort gehalten habe. Im Gegenteil, haben Sie Ihr Wort gebrochen: erstens, indem Sie mich im Bade überraschten, dann wieder gestern, indem Sie von meiner Mutter verlangten, mich Ihnen zur Befriedigung Ihrer tierischen Lust auszuliefern. Nur ein Halunke wie Goudar konnte solchen Auftrag von Ihnen übernehmen.«

»Goudar ein Halunke! Der ist ja Ihr allerbester Freund! Sie wissen doch, daß er Sie liebt, und daß er nur in der Hoffnung, Sie zu besitzen, Ihnen den Botschafter verschafft hat. Das Schriftstück, das er bei sich hat, beweist Ihr Unrecht. Sie sind seine Schuldnerin; kommen Sie daher dieser Verpflichtung nach, und dann nennen Sie ihn einen Halunken, wenn Sie sich selber unschuldig finden können. Weinen Sie nicht! Ich kenne die Quelle Ihrer Tränen; sie ist nicht von der Art, die man mit Stolz nennen kann. Sie ist unrein.«

»Sie kennen sie nicht. Ich liebe Sie, und es ist sehr hart für mich, daß ich mich so von Ihnen behandelt sehen muß.«

»Wenn Sie mich lieben, so haben Sie es sehr verkehrt angefangen, um mich davon zu überzeugen.«

»Ebenso verkehrt, wie Sie es angefangen haben, um mich von Ihrer Achtung zu überzeugen. Sie haben mich vom Anfang an wie eine ganz gemeine Prostituierte behandelt; gestern haben Sie mich behandelt wie ein willenloses Tier, wie eine erbärmliche Sklavin meiner Mutter. Mir scheint, wenn Sie nur ein wenig Gefühl für die einfachste Schicklichkeit gehabt hätten, so hätten Sie sich an mich selber wenden müssen; aber nicht so, wie Sie es getan haben, sondern schriftlich. Dazu hätten Sie nicht dieses elenden Boten bedurft; ich hätte Ihnen auf alle Fälle geantwortet, und Sie hätten nicht zu befürchten brauchen, von mir betrogen zu werden.«

»Nehmen Sie an, ich hätte an Sie geschrieben – was würden Sie mir geantwortet haben?«

»Ich will ganz offen sein: ich würde Ihnen, ohne etwas von den hundert Guineen zu sagen, versprochen haben. Sie zu befriedigen, unter der Bedingung, daß Sie mir vierzehn Tage lang den Hof machten, indem Sie mich in meiner Wohnung besuchten, ohne jemals auch nur die geringste Gefälligkeit zu verlangen. Wir hätten im Familienkreise miteinander gelebt, hätten gelacht und gescherzt; wir wären ins Theater gegangen, hätten Spaziergänge gemacht, und ich würde mich rasend in Sie verliebt haben. Dann hätten Sie mich bekommen, wie Sie’s verdient hätten, nicht aus Gefälligkeit, sondern aus Liebe. Ich kann immer noch gar nicht begreifen, daß ein Mann wie Sie sich damit begnügen kann, wenn eine Person, die er liebt, sich ihm nur aus Gefälligkeit oder aus Eigennutz hingibt. Finden Sie das nicht demütigend für beide Teile? Sie können mir’s glauben: ich schäme mich, wenn ich daran denke, daß ich stets nur aus Gefälligkeit geliebt habe. Ich Unglückliche! Ich fühle mich zur Liebe geschaffen und ich habe einen Augenblick geglaubt, Sie seien der Mann, den mein guter Stern nach England geführt habe, um mich durch wahre Liebe glücklich zu machen. Aber Sie haben im Gegenteil mein Unglück nur verschlimmert! Sie sind der erste Mann, der mich hat weinen sehen. Sie haben mir sogar mein Familienleben verbittert; denn meine Mutter wird niemals das Geld bekommen, das Sie ihr haben anbieten lassen, und wenn es mir nur einen einzigen Kuß kosten sollte.«

»Es tut mir leid, Ihnen wehgetan zu haben; denn das konnte niemals meine Absicht sein. Aber ich sehe kein Mittel dagegen.«

»Kommen Sie zu uns – das wird das rechte Mittel sein. Behalten Sie Ihr Geld, das ich verachte. Wenn Sie mich lieben, so erobern Sie mich wie ein rechter Liebhaber, aber nicht mit brutalen Mitteln. Ich werde Ihnen entgegenkommen; denn Sie können jetzt an meiner Liebe nicht mehr zweifeln.«

Diese Rede schien mir zu natürlich zu sein, um eine Falle enthalten zu können. So ließ ich mich denn fangen: ich versprach ihr, alles zu tun, was sie wünschte, aber nur während der von ihr festgesetzten zwei Wochen. Sie bestätigte ihr Versprechen, indem sie es noch einmal wiederholte, und ihre Stirn erheiterte sich wieder. Die Charpillon war zu einer ausgezeichneten Komödiantin geboren.

Sie stand auf, um zu gehen. Als ich sie um einen Kuß als Pfand unserer Versöhnung bat, sagte sie mir mit einem Lächeln, dem sie den größten Reiz zu verleihen wußte, wir dürften nicht damit anfangen, unsere Bedingungen zu verletzen. Sie ging. Ich war verliebt und folglich voll Reue über mein früheres Benehmen gegen sie.

Hätte die Sirene, anstatt mir mündlich ihre Predigt zu halten, mir ihre Auseinandersetzungen schriftlich geschickt, so würde das ganze Märchen mich wahrscheinlich kalt gelassen haben, und ich hätte darüber gelacht; denn in einem Brief hätte ich nicht ihre Tränen gesehen, nicht ihre entzückenden Gesichtszüge, nicht ihre Blicke, die so feurig zu einem Richter sprachen, der schon im voraus durch die Leidenschaft bestochen war. Ohne Zweifel hatte sie dies vorausgesehen, denn der Instinkt der Frau ist so fein, daß in Herzensangelegenheiten das bloße Gefühl sie in einer Minute mehr lehrt, als wir Männer unser ganzes Leben lang lernen.

Gleich an demselben Abend begann ich meine Besuche, und an dem Empfang, der mir zuteil wurde, glaubte ich den Triumph meiner heldenmütigen Entsagung zu erkennen:

Quel che l’uom vede, Amor gli fà invisibile,
E l’invisibil fà veder Amor.

Was einer sieht, die Liebe macht’s unsichtbar;
Und was unsichtbar ist, sie macht es sehn.

Ich verbrachte die vierzehn Tage, ohne ihr auch nur die Hand zu küssen, und ich betrat nicht ein einziges Mal ihr Haus, ohne ihr ein wertvolles Geschenk mitzubringen, das sie mit bezaubernder Anmut und mit anscheinend grenzenloser Dankbarkeit entgegennahm. Außerdem unternahmen wir, um die Zeit zu verkürzen, jeden Tag irgendeinen Ausflug in die Umgegend von London oder gingen ins Theater. Ich kann rechnen, daß diese vierzehn Tage mit ihren Dummheiten mir mindestens vierhundert Guineen kosteten.

Am letzten Tage der Frist fragte ich sie in Gegenwart ihrer Mutter, ob sie wünschte, daß wir die letzte Nacht in ihrem oder in meinem Hause verbrächten. Die Mutter sagte mir, wir würden darüber nach dem Abendessen entscheiden. Ich wandte nichts dagegen ein, obgleich ich ihr gern gesagt hätte, daß bei mir das Abendessen feiner und leckerer und daher eine bessere Vorbereitung für den bevorstenden Liebeskampf sein würde.

Nach dem Essen nahm die Mutter mich auf die Seite und sagte mir, ich möchte mich mit der übrigen Gesellschaft entfernen und später wiederkommen. Obgleich ich bei mir selber über diese überflüssige Geheimtuerei lachte, gehorchte ich. Als ich wieder kam, fand ich im Wohnzimmer Mutter und Tochter, und auf dem Fußboden war ein Bett zurecht gemacht.

Obgleich diese Zurichtung nicht eben nach meinem Geschmack war, war ich doch so verliebt, daß ich mich damit begnügte. Ich glaubte nun endlich, daß jede Gefahr einer Täuschung beseitigt wäre, war jedoch sehr erstaunt, als die Mutter mir gute Nacht wünschte und mich fragte, ob ich die hundert Guineen vorausbezahlen wollte.

»Pfui!« rief die Tochter, und die Mutter ging hinaus.

Wir schlossen uns ein.

Der Augenblick war da, wo meine Liebe, die ganz gegen meine sonstigen Gewohnheiten so lange im Zaum gehalten worden war, endlich der Knechtschaft entrinnen sollte. Ich ging also mit offenen Armen auf sie zu. Sie entzog sich jedoch meinen Liebkosungen, wenngleich mit sanftem Wesen, und bat mich, ich möchte mich zuerst hinlegen; sie würde sich zurecht machen und mir sogleich folgen.

Ich fügte mich ihrem Willen, kleidete mich aus und legte mich liebeglühend zu Bett. Voller Wonne sah ich sie sich ausziehen; aber als sie fertig war, löschte sie die Kerzen aus. Als ich mich hierüber beklagte, sagte sie mir, sie könne bei Licht nicht schlafen. Da ich wußte, daß dies von der Schönen eine reine Laune sein mußte, begann ich den Verdacht zu hegen, daß sie mir Schwierigkeiten machen wollte, um mich dadurch noch mehr anzustacheln; ich hoffte jedoch, auch diese zu besiegen, und faßte mich abermals in Geduld.

Sobald ich sie neben mir liegen fühlte, näherte ich mich ihr, um sie in meine Arme zu schließen; aber ich fand sie zusammengekauert und mit gekreuzten Armen und den Kopf auf die Brust gelegt in ihr langes Hemd eingewickelt. Soviel ich bat, schalt, fluchte – sie blieb in ihrer Lage, ohne ein Wort zu sagen.

Anfangs hielt ich es für einen Scherz; bald aber überzeugte ich mich, daß es keiner war, und merkte, daß ich wiederum angeführt war. So war ich denn in meinen eigenen Augen ein elender Dummkopf, um so mehr, da ich mich um einer abscheulichen Prostituierten willen erniedrigt hatte.

In einer solchen Lage schlägt die Liebe leicht in Wut um. Ich packte sie wie einen Sack, rollte sie hin und her, stieß sie; aber vergebens – sie leistete keinen Widerstand, sagte aber auch kein Wort. Ich sah, daß das Hemd ihr Hauptschutzmittel war, und es gelang mir, es auf dem Rücken zu zerreißen, aber es war mir nicht möglich, es vollständig von ihr abzustreifen. Mit den Schwierigkeiten wuchs meine Wut: Meine Hände wurden zu Klauen, und ich ersparte ihr nicht die grausamsten Mißhandlungen. Aber das alles nützte mir nichts. Ich entschloß mich endlich, von ihr abzulassen, als ich meine Hand an ihrer Kehle hatte und die Versuchung fühlte, sie zu erwürgen.

Grausame Nacht, entsetzliche Nacht! In allen Tonarten sprach ich zu dem Scheusal: mit Sanftmut, Zorn, Vernunftgründen, Vorstellungen, Drohungen, Wut, Verzweiflung, Tränen, Schimpfworten und den schrecklichsten Beleidigungen drang ich auf sie ein; sie widerstand mir drei volle Stunden, ohne eine einzige Antwort zu geben, ohne jemals trotz allen Mißhandlungen ihre unbequeme Lage aufzugeben.

Um drei Uhr morgens stand mein Kopf in Flammen; mein Körper war besudelt, ermattet, mein Geist wie betäubt. Ich faßte endlich den Entschluß, mich im Dunkeln anzuziehen. Ich öffnete die Zimmertür, fand aber die Haustür verschlossen; ich machte Lärm, und eine Magd öffnete mir. Ich ging nach Hause und legte mich zu Bett; aber die beleidigte Natur verweigerte mir die Ruhe, deren ich bedurfte. Ich trank eine Tasse Schokolade, aber ich konnte sie nicht verdauen. Bald darauf ergriff mich ein Fieberschauer, der erst am nächsten Tage aufhörte; dann aber war ich an allen Gliedern wie gelähmt.

Ich mußte einige Tage im Bett liegen bleiben, aber ich wußte, daß ich bald wieder meine volle Gesundheit erlangt haben würde. Wie Balsam ergoß es sich durch alle meine Adern, als ich die Gewißheit erlangte, endlich von meinem Wahnsinn geheilt zu sein. Dies erkannte ich daran, daß ich an keinen Racheplan dachte. Ich schämte mich so, daß ich mich selber verabscheute.

Als mich das Fieber befiel, hatte ich meinem Bedienten befohlen, alle Besucher abzuweisen, niemanden bei mir zu melden und alle ankommenden Briefe in meinen Schreibtisch zu legen. Ich wollte nichts hören und sehen, bevor ich gänzlich wiederhergestellt war.

Am nächsten Tage fühlte ich mich wieder wohl und befahl Jarbe, mir meine Briefe zu geben. Ich fand einen von Pauline, die mir von Madrid aus schrieb, Clairmont habe ihr beim Übergang über einen Fluß das Leben gerettet; da sie einen Diener wie ihn nicht finden zu können glaube, so habe sie beschlossen, ihn bis Lissabon zu behalten; sie werde ihn von dort aus zu Schiff nach England schicken. Damals freute ich mich über diesen Beschluß; aber er wurde meinem treuen Clairmont und infolgedessen auch mir verhängnisvoll. Vier Monate darauf erfuhr ich, daß das Schiff, mit welchem er gesegelt war, untergegangen war, und da ich ihn nicht wiedergesehen habe, so habe ich nicht daran zweifeln können, daß dieser ausgezeichnete Diener in den Wellen umgekommen ist.

Unter den Londoner Briefen fand ich zwei von der niederträchtigen Mutter der niederträchtigen Charpillon und einen von dieser selbst. Der erste war sofort am Morgen nach der schrecklichen Nacht geschrieben. Die Mutter, die nicht wußte, daß ich krank war, teilte mir mit, ihre Tochter liege mit einem starken Fieber zu Bett; sie sei infolge der von mir erhaltenen Schläge mit Wunden bedeckt; daher sei sie, die Mutter, genötigt, mich vor Gericht zu belangen. In dem zweiten, der vom nächsten Tage war, schrieb sie mir, sie habe gehört, daß auch ich krank sei wie ihre Tochter; sie bedauere dies, denn ihre Tochter habe ihr gestanden, ich könne vielleicht Gründe haben, mich über sie zu beklagen; aber sie werde sich bei unserer ersten Zusammenkunft rechtfertigen. Der Brief der Charpillon war ebenfalls am zweiten Tage geschrieben. Sie sagte mir, sie sehe ihr Unrecht vollkommen ein und sei nur erstaunt, daß ich sie nicht getötet hätte, als ich sie an der Gurgel packte; sie schwor mir, sie würde sich nicht gewehrt haben, denn in der entsetzlichen Zwangslage, in der sie sich befunden habe, sei es ihre Pflicht gewesen, alles hinzunehmen. Sie sei überzeugt, daß ich entschlossen sei, nicht wieder zu ihr zu gehen; darum bitte sie mich, sie nur ein einziges Mal in meinem Hause zu empfangen, denn sie müsse mir sofort etwas mitteilen, was für mich von Wichtigkeit sei; sie könne es mir aber nur mündlich sagen. Goudar hatte mir am Morgen geschrieben, er habe mir etwas zu sagen und werde um die Mittagsstunde kommen. Ich gab Befehl, ihn eintreten zu lassen.

Zu meinem Erstaunen erzählte der eigentümliche Mensch mir mit allen Einzelheiten den Auftritt, den ich mit der Charpillon gehabt hatte. »Ich habe die ganze Schilderung von der Mutter, der die Tochter alles erzählt hat. Die Charpillon hat kein Fieber gehabt, aber ihr ganzer Leib war mit schwarzen Flecken bedeckt, deutlichen Beweisstücken der empfangenen Schläge. Den größten Kummer aber machte der alten Kupplerin, daß sie die hundert Goldstücke nicht bekommen hat, die Sie ihr gewiß vorausbezahlt haben würden, wenn die Tochter es gewollt hätte.«

»Sie hätte sie am Morgen bekommen, wenn sie gefügig gewesen wäre.«

»Sie hatte ihrer Mutter unter Eid versprochen, es nicht zu sein. Geben Sie nur alle Hoffnung auf, sie zu besitzen, wenn die Mutter nicht ihre Einwilligung gibt.«

»Und warum gibt sie diese nicht?«

»Sie behauptet, Sie werden sie verlassen, sobald Sie sie genossen haben.«

»Das könnte wohl sein; aber bevor ich sie verlassen hätte, würde ich sie mit Geschenken überhäuft haben. Jetzt ist sie ebenfalls verlassen und hat keine Hoffnung, irgend etwas zu bekommen.«

»Sind Sie fest entschlossen, bei Ihrem Vorsatz zu bleiben?«

«Ganz fest.«

»Das ist der vernünftigste Entschluß, den Sie fassen können; ich rate Ihnen sehr, bleiben Sie dabei. Indessen möchte ich Ihnen etwas zeigen, was Sie überraschen wird. Ich komme in wenigen Augenblicken wieder.«

Als er wiederkam, hatte er einen Packträger bei sich, der einen mit einer Schürze überzogenen Lehnstuhl in mein Zimmer brachte. Sobald wir allein waren, nahm Goudar den Überzug ab und fragte mich, ob ich den Stuhl kaufen wolle.

»Was soll ich denn damit? Das Möbel sieht überdies nicht verlockend aus.«

»Trotzdem verlangt man hundert Guineen dafür.«

»Ich würde keine drei dafür geben.«

»Der Lehnstuhl hat fünf Federn, die sich gleichzeitig lösen, sobald ein Mensch sich hineinsetzt. Der Vorgang vollzieht sich sehr schnell: zwei Federn umgreifen die Arme und halten sie fest umklammert; zwei andere bemächtigen sich der Knie und spreizen die Schenkel soweit wie möglich; die fünfte Feder hebt den Sitz in die Höhe, so daß die gefangen gehaltene Person eine gekrümmte Stellung einnehmen muß.«

Nachdem er diese Beschreibung gegeben hatte, setzte Goudar sich auf die gewöhnliche Art in den Stuhl; sofort spielten die Federn, und ich sah ihn in der Stellung einer Frau, die ein Kind gebärt.

»Lassen Sie die schöne Charpillon sich auf diesen Stuhl setzen, und die Sache ist erledigt.«

Ich mußte unwillkürlich über die Erfindung lachen, die ich ebenso sinnreich wie teuflisch fand; es widerstrebte mir jedoch, mich eines solchen Mittels zu bedienen.

»Ich werde den Stuhl nicht kaufen,« sagte ich zu ihm; »aber Sie tun mir einen Gefallen, wenn Sie ihn mir bis morgen hier lassen.«

»Nicht einmal eine Stunde, wenn Sie ihn nicht etwa kaufen; denn der Besitzer wartet hier ganz in der Nähe auf mich.«

»Dann lassen Sie ihm also den Stuhl zurückbringen und kommen Sie zum Essen wieder.«

Er zeigte mir, was ich zu tun hatte, um ihm seine Freiheit wiederzugeben. Hierauf zog er die Schutzdecke über den Stuhl, ließ den Packträger hereinkommen und ging.

Die Wirkung des Mechanismus war unfehlbar, und es war durchaus nicht Geiz, was mich davon abhielt, den Stuhl zu kaufen. Wie ich bereits sagte, fand ich die Erfindung teuflisch und auf den ersten Blick abstoßend; außerdem aber bedurfte es nur geringer Überlegung, um mir zu sagen, daß die Anwendung mich an den Galgen bringen könnte, da ich mich in einem Lande befand, dessen Richter mehr über die bei einem Verbrechen bekundete moralische Gesinnung, als über das Verbrechen selbst urteilen, überhaupt hätte ich mich bei kaltem Blut niemals entschließen können, mich der Charpillon gewaltsam zu bemächtigen, noch weniger mit Hilfe dieser schrecklichen Maschine, bei deren Anwendung sie vor Furcht hätte sterben können.

Beim Essen sagte ich Goudar, die Charpillon habe an mich geschrieben und mich um eine Unterredung in meinem Hause gebeten. Ich hätte daher den Lehnstuhl gern behalten, um ihr zu zeigen, daß ich mich ihrer hätte bemächtigen können, wenn ich gewollt hätte. Ich zeigte ihm den Brief, und er riet mir, auf ihren Vorschlag einzugehen, wäre es auch nur aus Neugier.

Ich hatte es nicht eilig, dies Geschöpf mit blauen Flecken an Gesicht und Brust wiederzusehen; denn diese Flecken hätte sie mir gewiß gezeigt, um mich zu rühren und wegen meiner Roheit zu beschämen. Ich ließ daher acht oder zehn Tage vergehen, ohne sie zu empfangen. Goudar kam jeden Tag und unterrichtete mich über die Beratungen dieser Weiberbande, die darauf ausging, nur von Gaunereien zu leben.

Ich erfuhr von ihm, daß die Großmutter eine Bernerin war, die sich ohne jedes Recht den Namen Ansperger angemaßt hatte; denn sie war nur die Geliebte eines ehrenwerten Bürgers dieses Namens gewesen, dem sie vier Mädchen geboren hatte; die Mutter der Charpillon war die jüngste von diesen, und da sie ziemlich hübsch war und einen ausschweifenden Lebenswandel führte, hatte die Regierung sie samt ihrer Mutter und ihren Schwestern ausgewiesen. Sie hatte sich hierauf in der Freigrafschaft niedergelassen, wo sie eine Zeitlang vom Verkauf des Lebensbalsams lebten. Dort kam die Charpillon zur Welt; nach der Behauptung der Mutter soll ein Graf de Coutainvilliers der Vater sein. Da das Mädchen hübsch wurde, glaubte die Mutter, sie müsse in Paris ihr Glück machen. Sie ließ sich dort nieder; da aber ihr Lebensbalsam trotz aller Güte nicht für ihren Unterhalt ausreichte, und da die Charpillon, weil sie noch zu jung war, niemanden fand, der sie unterhalten wollte, da ihr endlich wegen ihrer Schulden das Gefängnis drohte, so faßte sie auf den Rat ihres damaligen Liebhabers Rostaing den Beschluß, nach London zu ziehen.

Goudar schilderte mir dann den ganzen Schwindelbetrieb, wovon die Familie lebte; mich interessierte dies damals, aber den Leser könnte es nicht interessieren; er wird mir daher wohl Dank wissen, wenn ich darüber hinweggehe.

Da ich die Sprache des Landes nicht kannte und durchaus nichts zu tun hatte, so schätzte ich mich beinahe glücklich, über Goudar verfügen zu können. Er machte mich mit den berühmtesten Londoner Kurtisanen bekannt, besonders auch mit der vielgefeierten Kitty Fisher, die damals schon anfing, aus der Mode zu kommen. Ferner zeigte er mir in einem Bierausschank, wo wir eine Flasche »Strongbeer« – das besser ist als Wein – tranken, eine Aufwärterin, die sechzehn Jahre alt und ein wahres Wunder von Schönheit war. Sie war eine katholische Irländerin und hieß Sarah. Ich wollte sie erobern oder kaufen, aber Goudar hatte seine bestimmten Absichten mit ihr und entführte sie auch wirklich das Jahr darauf.

Schließlich heiratete er sie, und sie ist eben jene Sarah Goudar, die in Neapel, Florenz, Venedig und an anderen Orten glänzte und die wir vier oder fünf Jahre später, immer mit ihrem Gemahl, wiederfinden werden. Goudar hatte die Absicht, sie als die Geliebte Ludwigs des Fünfzehnten an die Stelle der Dubarry zu bringen; aber eine lettre de cachet nötigte ihn, anderswo sein Glück zu versuchen. Glückliche Zeiten der lettres de cachet, ach, ihr seid nicht mehr!

Der Charpillon wurde es schließlich zu langweilig, auf eine Antwort zu warten; als vierzehn Tage verstrichen waren, ohne daß sie ein Wort von mir gehört hatte, beschloß sie, den Angriff zu erneuern. Ohne Zweifel war dies das Ergebnis einer sehr geheimen Beratung; denn Goudar hatte mir nichts davon gesagt.

Sie kam allein in einer Sänfte zu mir, und dies bestimmte mich, sie zu empfangen. Ich trank gerade meine Schokolade und empfing sie, ohne aufzustehen und ohne ihr ein Frühstück anzubieten. Sie bat mich in bescheidenem Tone selber darum und setzte sich neben mich, indem sie mir ihr Gesicht zum Kuß hinhielt; dies hatte sie früher niemals getan. Ich wandte den Kopf ab, aber selbst diese unerhörte Zurückweisung brachte sie nicht aus der Fassung, sondern sie sagte: »Ohne Zweifel sind es die noch allzu sichtbaren Spuren Ihrer Schläge, die Ihnen mein Gesicht abschreckend erscheinen lassen.«

»Sie lügen! Ich habe Sie nicht geschlagen.«

»Einerlei; Ihre Tigerklauen haben Male an meinem ganzen Körper hinterlassen. Sehen Sie her! Sie laufen ja keine Gefahr, daß das, was ich Ihnen zeige, Sie verführen könnte. Übrigens ist es Ihnen ja nichts Neues.«

Mit diesen Worten entblößte das schurkische Weib sich und zeigte meinen Blicken die ganze Oberfläche ihres Körpers, worauf wirklich trotz der seither verstrichenen Zeit noch einige fahle Flecke zu sehen waren.

Ich Feigling! Warum habe ich nicht meine Augen abgewandt. Warum? Ich will es dir sagen, Leser: weil sie schön war, weil ich ihre Reize liebte und weil die »Reize« nicht ihren Namen verdienten, wenn sie nicht die Macht hätten, die Vernunft zum Schweigen zu bringen. Ich tat, wie wenn ich nicht hinsähe; aber wie lächerlich mußte ich dabei aussehen! Ich errötete über mich selber. Ein unwissendes kleines Mädchen, das nicht, wie ich, in staubigen alten Büchern studiert hatte, wußte mehr als ich. Ja, sie wußte, daß das Gift durch alle meine Poren drang. Plötzlich, als sie annahm, ich sei vom Gift glühender Begierden genügend durchseucht, brachte sie ihre Kleidung wieder in Ordnung und setzte sich wieder an meine Seite. Offenbar war sie überzeugt, daß es mir lieb gewesen wäre, wenn sie mit diesem berauschenden Schauspiel noch nicht aufgehört hätte.

Ich nahm mich jedoch, so gut ich konnte, zusammen und sagte ihr, es sei ihre eigene Schuld, wenn ich ihr so weh getan habe; denn ich könnte nicht einmal darauf schwören, daß diese Quetschungen von mir herrührten.

»Ich weiß,« antwortete sie, »daß alles meine eigene Schuld gewesen ist; denn wenn ich gefügig gewesen wäre, wie ich es hätte sein sollen, wären Sie nicht grausam, sondern zärtlich gewesen. Aber Reue macht begangenes Unrecht gut, und ich bin hier, um Sie um Verzeihung zu bitten. Kann ich darauf hoffen?«

»Ich kann Ihnen diese Bitte nicht abschlagen. Ich trage Ihnen nichts mehr nach, und es tut mir nur leid, nicht mir selber vergeben zu können. Jetzt aber können Sie gehen, denn Sie brauchen auf mich nicht mehr zu rechnen; ich hoffe, Sie werden in Zukunft nicht mehr versuchen, meine Ruhe zu stören.«

»Es geschehe, wie Sie wünschen. Aber Sie wissen nicht alles, und ich bitte Sie, mich einen Augenblick anzuhören.«

»Da ich nichts zu tun habe, so können Sie bleiben und sprechen; ich werde Ihnen zuhören.«

Vernunft und Ehre zwangen mich, den Stolzen und Kalten zu spielen; in Wirklichkeit aber war ich tief bewegt, und was das Schlimmste war: ich fühlte mich geneigt, zu glauben, daß das Mädchen nur deshalb wieder zu mir gekommen war, weil sie endlich zu verdienen wünschte, daß ich ihr Freund und Liebhaber würde.

Was sie mir zu sagen hatte, hätte in einer Viertelstunde gesagt werden können, aber allerlei Abschweifungen, geschickte Wiederholungen, Tränenergüsse brachten es dahin, daß sie zwei Stunden dazu brauchte, mir zu sagen, ihre Mutter habe sie bei ihrer Seele schwören lassen, die Nacht so mit ihr zu verbringen, wie sie es getan habe. Zum Schluß sagte sie mir, sie wolle endlich keine Sklavin mehr sein, und sei daher bereit, mir unter denselben Bedingungen anzugehören wie dem Herrn von Morosini. Sie wolle bei mir wohnen, weder ihre Mutter noch ihre anderen Verwandten sehen und werde mit mir nur dahin gehen, wohin ich wünsche; aber ich müsse ihr monatlich eine gewisse Summe aussetzen, die sie ihrer Mutter geben werde, damit diese sie nicht durch die Gerichte beunruhige; denn sie sei noch nicht in dem Alter, sich für unabhängig erklären zu dürfen. Sie aß mit mir zu Mittag; diesen Vorschlag machte sie mir jedoch erst am Abend, als ich wieder ruhig geworden und nach ihrer Meinung in der richtigen Stimmung war, mich von neuem betören zu lassen. Ich sagte ihr, wir könnten miteinander leben, wie sie es vorschlüge; ich wollte jedoch den Vertrag mit ihrer Mutter abschließen, und sie würde mich daher schon am nächsten Tage in ihrer Wohnung sehen. Diese Erklärung schien sie zu überraschen.

Wahrscheinlich würde die Charpillon mir an diesem Tage alles bewilligt haben, was ich nur hätte wünschen können, und dann wäre in Zukunft von Widerstand und Täuschung nicht mehr die Rede gewesen. Warum habe ich also nicht alles von ihr verlangt? Weil die Liebe, die geschickt macht, zuweilen auch das Gegenteil bewirkt; weil ich mir einbildete, ich sitze an diesem Tage gewissermaßen über die Verbrecherin zu Gericht und es würde daher eine niedrige Handlung sein, wenn ich mich an ihr rächte, indem ich meine Liebesbegierden befriedigte; und vielleicht auch, lieber Leser, weil ich in diesem Augenblick ein Dummkopf war, wie ich es in meinem Leben manchesmal gewesen bin.

Die Charpillon mußte wütend sein, als sie von mir ging; ohne Zweifel war sie entschlossen, sich dafür zu rächen, daß ich an diesem Tage gewissermaßen ihre Person verachtet hatte.

Goudar war sehr überrascht, als ich ihm am nächsten Tage von dem Besuch erzählte und ihm sagte, wie kläglich ich den Tag verwandt hatte. Ich bat ihn, mir ein möbliertes Häuschen zu besorgen, wie Morosini es gehabt hatte. Am Abend suchte ich das hinterlistige Weib in ihrer Wohnung auf; ich war immer noch auf den ernsten Ton gestimmt, dessen Lächerlichkeit ihr ohne Zweifel nicht entgehen konnte.

Da ich sie mit ihrer Mutter allein fand, setzte ich ihnen sofort meinen Plan auseinander. »Ihre Tochter«, sagte ich zur Mutter, »bekommt in Chelsea ein Haus, worin ich Herr bin; außerdem erhält sie monatlich fünfzig Guineen, womit sie anfangen kann, was sie will.«

»Wieviel Sie ihr monatlich geben, ist mir einerlei; ich will davon nichts wissen. Aber wenn sie von mir fortgeht, um anderswo zu wohnen, soll sie mir die hundert Guineen geben, die sie eigentlich von Ihnen dafür bekommen sollte, daß Sie die Nacht mit ihr zubrachten.«

»Eigentlich ist es ja Ihre Schuld, wenn sie sie nicht bekommen hat. Aber wir wollen die Sache kurz machen: Sie wird Ihnen das Geld geben.«

»Bis Sie das Haus gefunden haben,« sagte die Tochter, »werden Sie mich, hoffe ich, besuchen.«

»Ja.«

Schon am nächsten Tage fuhr Goudar mit mir nach Chelsea und zeigte mir ein hübsches Haus; ich mietete es und zahlte zehn Guineen für einen Monat voraus, nachdem ich meine Bedingungen gemacht und mir eine Quittung hatte geben lassen. Am Nachmittag ging ich zu der Mutter und schloß mit ihr den Handel ab; die Tochter war dabei zugegen und bereit, mir zu folgen. Die Mutter verlangte von mir die hundert Guineen, und ich gab sie ihr. Ich fürchtete nicht mehr, betrogen zu werden, denn die ganze kleine Ausrüstung ihrer Tochter war bereits in meiner Wohnung.

Wir fuhren ab und waren bald in Chelsea. Die Charpillon fand das Haus vollkommen nach ihrem Geschmack; wir machten einen Spaziergang und speisten dann fröhlich zu Abend. Nach dem Essen legten wir uns zu Bett, und sie bewilligte mir Liebkosungen und das Vorspiel; als ich aber zum Hauptangriff schritt, fand ich einen Widerstand, den ich nicht erwartet hatte. Sie schützte gewisse natürliche Gründe vor. Ich war nicht der Mann, mir aus einer solchen Kleinigkeit etwas zu machen; aber alle meine Anstrengungen waren vergeblich: sie widerstand mir, aber sie tat dies so sanft und liebenswürdig, daß ich schließlich von ihr abließ und einschlief.

Da ich vor ihr erwachte, wollte ich mich überzeugen, ob sie die Wahrheit gesagt hatte. Vorsichtig hob ich die Decke auf, schob ihr Hemd zur Seite und sah, daß sie mich wiederum angeführt hatte. Sie wachte auf und wollte sich mir widersetzen; aber es war zu spät. Ich machte ihr wegen der neuen Täuschung nur sanfte Vorwürfe, und bereit, alles zu verzeihen, schickte ich mich an, die verlorene Zeit wieder einzuholen. Sie schlug jedoch einen hohen Ton an und schimpfte, daß ich sie überrascht hätte. Ich suchte ihren Zorn zu besänftigen, indem ich sie bat, sich mir zu ergeben; das unwillige Geschöpf aber machte sich meine Sanftmut zunutze, verdoppelte den Widerstand und wollte mir nichts erlauben. Ich durchschaute ihre Absicht und beschloß, sie in Ruhe zu lassen, machte jedoch meiner Entrüstung in Worten Luft, wie ihr Benehmen sie verdient hatte, Anfangs lächelte die freche Person nur verächtlich; sie richtete sich im Bett auf und begann sich anzukleiden; dann aber erlaubte sie sich die unverschämtesten Antworten. Außer mir über den gemeinen Ton, den sie anschlug, gab ich ihr eine kräftige Ohrfeige und versetzte ihr einen Fußtritt, daß sie der Länge nach auf die Diele fiel. Sie fing an zu schreien, stampfte mit den Füßen und machte einen fürchterlichen Lärm. Der Wirt kam herauf, und sie sprach mit ihm englisch, während ihr das Blut aus der Nase strömte.

Zu meinem Glück sprach der Wirt italienisch. Er sagte mir, sie wolle gehen, und riet mir, mich dem nicht zu widersetzen, denn sonst könnte sie mir eine sehr unangenehme Geschichte an den Hals hängen und er würde genötigt sein, gegen mich auszusagen. Ich antwortete ihm: »Lassen Sie sie so schnell wie möglich verschwinden; hoffentlich sehe ich sie niemals wieder.«

Sie stillte die Blutung, zog sich fertig an und entfernte sich in einem Tragstuhl. Ich blieb stumm und gleichsam versteinert zurück; ich fühlte mich unwürdig, noch weiter zu leben, und fand das Benehmen des unglücklichen Mädchens unbegreiflich und unglaublich.

Als nach etwa einer Stunde die dumpfe Betäubung von mir gewichen war, entschloß ich mich, ihr ihren Koffer durch einen Fiaker zuzuschicken; hierauf ging ich nach Hause, befahl, keinen Menschen vorzulassen, und legte mich zu Bett.

Ich verbrachte vierundzwanzig Stunden mit bitteren Gedanken. Als schließlich die Vernunft sich geltend machte, sah ich ein, daß ich ihr unrecht getan hatte, und fand mich in meinen eigenen Augen verächtlich. Von dem Gefühl, das mich damals beherrschte, ist nur ein Schritt zum Selbstmord. Glücklicherweise und mit Recht tat ich diesen Schritt nicht.

Am nächsten Tage wollte ich gerade ausgehen, als Goudar kam. Er bat mich, mit ihm wieder hineinzugehen, da er mir etwas Wichtiges mitzuteilen habe. Er sagte mir, die Charpillon sei zu Hause und habe eine so stark geschwollene Wange, daß sie sich nicht sehen lassen könne. Er riet mir, alle meine Ansprüche gegen sie oder ihre Mutter aufzugeben; sonst sei sie entschlossen, mich durch eine Verleumdung, die mir das Leben kosten könne, zugrunde zu richten. Denen, die England und besonders London kennen, brauche ich nicht zu sagen, welcher Art diese Verleumdung sein sollte, die bei den Engländern so leicht glaubhaft zu machen ist und sich auf die Greuel bezieht, die einst Sodoms Untergang veranlaßten. Goudar sagte mir: »Die Mutter hat mich gebeten, die Sache zu vermitteln; sie will Ihnen durchaus nichts zuleide tun, wenn Sie sie in Ruhe lassen.«

Nachdem ich den Tag mit diesem Vermittler verbracht und mich stundenlang in dummen Klagen ergangen hatte, sagte ich ihm, er könne der Mutter mitteilen, daß ich meine Ansprüche aufgeben wolle; ich möchte jedoch gern wissen, ob sie und ihre Tochter den Mut haben würden, diese Zusicherung aus meinem eigenen Munde zu empfangen.

»Ich will es ausrichten,« antwortete er mir; »aber ich bedauere Sie, denn Sie werden wieder in ihre Netze geraten, und sie werden Sie zugrunde richten, ohne Ihre Wünsche zu befriedigen. Sie tun mir leid.«

Ich bildete mir ein, die beiden Geschöpfe würden nicht den Mut haben, mich zu empfangen. Aber wie wenig kannte ich sie! Goudar kam und sagte mir lachend, die Mutter hoffe, ich werde stets ein Freund des Hauses bleiben. Es wäre mir, glaube ich, angenehm gewesen, eine abschlägige Antwort zu erhalten; denn ich wünschte, diese Elende, die mir soviel innerliche Unruhe bereitete, nicht wiederzusehen; aber ich hatte nicht die Kraft, wie ein Mann zu handeln und mir den einzigen Vorteil zunutze zu machen, den ihre Habsucht mir bot. Gegen Abend ging ich zu ihnen und saß eine Stunde lang, ohne eine Silbe zu sprechen, der Charpillon gegenüber, die ihre Blicke auf eine Stickerei gesenkt hielt. Von Zeit zu Zeit tat sie, wie wenn sie eine Träne trocknete, und ab und zu enthüllte sie ihr Gesicht, um mir zu zeigen, wie ich ihre Wange zugerichtet hatte.

Jeden Tag ging ich zu ihr und saß schweigend da, bis endlich die Spur der bösen Ohrfeige gänzlich verschwunden war. Während dieser törichten Besuche durchdrang das Gift heißer Begierde mich so ganz und gar, daß sie mir alles, was ich besaß, für eine einzige Gunstbezeigung hätte abnehmen können, wenn sie meinen Zustand geahnt hätte.

Als sie wieder schön war, starb ich vor Begier, sie wieder in meinen Armen zu sehen, wie ich sie sanft und liebkosend bereits einmal, wenn auch nur unvollkommen, besessen hatte. Ich kaufte einen prachtvollen Stehspiegel und ein herrliches Frühstücksgeschirr von Meißener Porzellan und sandte ihr diese Geschenke mit einem Liebesbrief, der mich in ihren Augen entweder als den größten Verschwender oder als den erbärmlichsten Menschen erscheinen lassen mußte. Sie antwortete mir, sie erwarte mich in ihrem Zimmer zum Abendessen unter vier Augen, um mir, wie ich es verdiene, die zärtlichsten Beweise ihrer Dankbarkeit zu geben.

Dieser Brief raubte mir so völlig die Besinnung, daß ich in einem Wahnsinnsanfalle von Begeisterung den Entschluß faßte, ihr die beiden Wechsel über sechstausend Franken anzuvertrauen, die Bolomé mir ausgestellt hatte, und die mir das Recht gaben, ihre Mutter und ihre Tante ins Gefängnis bringen zu lassen.

Beseligt von dem Glück, das meiner wartete, und von dem Gedanken, daß ich es durch die heroische Handlung verdiente, die ich der Charpillon gegenüber begehen wollte, ging ich zum Abendessen zu ihr. Sie empfing mich mit ihrer Mutter im Wohnzimmer, und ich sah voller Freude den Spiegel über dem Kamin angebracht und das Porzellangeschirr auf einem Tischchen stehen. Nachdem sie mich hundertmal ihrer Zärtlichkeit versichert hatte, lud sie mich ein, auf ihr Zimmer zu gehen, und ihre Mutter wünschte uns eine gute Nacht.

Ich war freudetrunken. Nachdem wir eine leckere kleine Mahlzeit zu uns genommen hatten, zog ich aus meiner Brieftasche die beiden Wechsel, deren Geschichte ich ihr erzählte. Dann übergab ich sie ihr und sagte, ich würde sie an ihre Ordre indossieren, sobald sie mich als bevorzugten Liebhaber behandelt hätte; ich wollte ihr dadurch beweisen, daß ich nicht im geringsten daran dächte, mich an ihrer Mutter und an ihren Tanten rächen zu wollen. Ich ließ mir von ihr versprechen, die Wechsel nicht aus den Händen zu geben. Sie nahm sie dankbar an, pries mein edles Benehmen und schloß endlich die Wechsel sorgfältig in ihre Kassette ein, nachdem sie mir alles versprochen hatte.

Nun glaubte ich ihr Beweise meiner Leidenschaft geben zu können. Ich fand sie sanft; als ich aber die Frucht pflücken wollte, umschlang sie mich fest mit ihren Armen, kreuzte ihre Beine und weinte heiße Tränen.

Ich zwang mich zur Ruhe und fragte sie, ob sie ihr Benehmen ändern würde, wenn wir beieinander im Bett lägen. Sie seufzte, schwieg einen Augenblick und sagte dann: »Nein.«

Diese Antwort versteinerte mich. Länger als eine Viertelstunde saß ich da, ohne mich zu rühren, ohne ein Wort zu sprechen. Dann stand ich mit scheinbarer Ruhe auf und nahm meinen Mantel und meinen Degen.

»Wie?« rief sie, »Sie wollen nicht die Nacht mit mir verbringen?«

»Nein.«

»Werden wir uns morgen sehen?«

»Ich hoffe es. Leben Sie wohl!«

Ich verließ diese Hölle, ging nach Hause und legte mich zu Bett.