Das, was für Wronskiy fast ein ganzes Jahr hindurch der einzige Lebenswunsch gewesen war, der alle seine früheren Wünsche ersetzte; das, was für Anna ein unmöglicher, entsetzlicher, und gerade deshalb um so mehr verführerischer Traum von Seligkeit gewesen – diesem Wunsch war jetzt Genüge geschehen. –

Bleich, mit bebenden Kinnbacken, stand er vor ihr und beschwor sie, sich zu beruhigen, ohne selbst zu wissen, worüber und worin.

»Anna, Anna! sprach er mit bebender Stimme, »Anna, um Gottes willen!« –

Aber je lauter er rief, um so tiefer senkte sie das einst so stolze, heiterschöne, jetzt entehrte Haupt. Sie war gebrochen und stürzte von dem Diwan, auf welchem sie gesessen zu Boden, zu seinen Füßen: sie würde auf den Teppich geglitten sein, hätte er sie nicht gehalten.

»Mein Gott! Vergieb mir!« schluchzte sie und preßte seine Hände auf ihren Busen.

So sündig fühlte sie sich, so schuldbeladen, daß ihr nur noch übrig blieb, sich zu erniedrigen und um Vergebung zu betteln. Im Leben stand jetzt, außer ihm, ihr niemand mehr zur Seite, sie hatte niemand mehr, so daß nur an ihn allein sie ihre Bitte um Verzeihung richtete. Wenn sie ihn anschaute, empfand sie physisch ihre Erniedrigung und mehr vermochte sie sich nicht zu sagen.

Er aber empfand, was ein Mörder empfinden muß, wenn er den Körper sieht, der durch ihn des Lebens beraubt ist.

Der Körper, welcher hier des Lebens beraubt wurde, war ihre Liebe, oder vielmehr die erste Periode derselben. Es lag etwas Furchtbares, Abstoßendes in den Erinnerungen an das, was jetzt mit einem so furchtbaren Preis von Schande bezahlt worden war.

Die Scham über ihre seelische Entblößung erstickte sie und teilte sich auch ihm mit. Aber nicht genug, daß das ganze Entsetzen des Mörders vor der Leiche des Getöteten hier zu Tage trat, es galt jetzt auch, den Leichnam in Stücke zu zerschneiden, den Kadaver zu verstecken, es galt das auszunutzen, was der Mörder durch seinen Mord erworben hatte.

Mit Erbitterung, gleichsam voll Leidenschaft, wirft sich der Mörder auf diesen Leichnam, er zerrt ihn herum und zertrennt ihn.

So bedeckte auch er jetzt ihr Gesicht, ihre Schultern mit Küssen. Sie hielt seine Hand fest und bewegte sich nicht. Diese Küsse waren das, was erkauft worden war durch Schande; diese Hand da, die ihr fürderhin sein sollte, – war die Hand ihres Mitschuldigen.

Sie hob diese Hand und küßte sie; er fiel auf seine Kniee nieder und suchte ihr Angesicht zu sehen, aber sie barg es und sprach nicht.

Endlich, gleichsam als sammle sie alle Kräfte, erhob sie sich und stieß ihn weg. Noch immer war ihr Antlitz schön, doch desto mehr war es beklagenswert.

»Vorbei,« sagte sie, »ich habe nun nichts mehr, als dich. Denke daran.«

»Ich kann nicht nur denken an das, was ja mein ganzes Leben ist. Für die Minute dieser Seligkeit« –

»Welche Seligkeit!« antwortete sie mit Ekel und Entsetzen, und ihr Schrecken teilte sich unwillkürlich auch ihm mit. »Um Gott; kein Wort, kein Wort mehr!«

Sie erhob sich schnell und entfernte sich von ihm.

»Kein Wort mehr,« wiederholte sie und mit einem Ausdruck kalter Verzweiflung auf den Zügen, der ihm befremdend erschien, ging sie.

Sie empfand, daß sie in diesem Augenblick das Gefühl des Ekels nicht auszudrücken vermöge, das Gefühl der Freude und des Schreckens – bei diesem Eintritt in ein neues Leben; sie wollte nicht darüber sprechen und es nicht mit falschen Worten fad machen.

Aber auch späterhin, weder am nächsten noch am übernächsten Tage, fand sie nicht nur keine Worte, mit denen sie das ganze Gewirr ihrer Empfindungen hätte ausdrücken können: sie fand nicht einmal Gedanken, mit denen sie selbst völlig das hätte überdenken können, was auf ihrer Seele lag.

Sie sprach m sich selbst: »Nein, jetzt kann ich nicht darüber nachdenken, später will ich es thun, wenn ich ruhiger geworden sein werde.«

Aber diese Beruhigung im Denken trat nie ein; stets, wenn sie sich dessen erinnerte, was sie gethan und was mit ihr werden würde, was sie zu thun habe, überkam sie ein Entsetzen und sie scheuchte diese Gedanken hinweg von sich.

»Später, später,« sagte sie, »wenn ich ruhiger geworden sein werde.«

Im Schlafe aber, während dessen sie keine Macht über ihre Gedanken hatte, da stellte sich ihr ihre Lage in ihrer ganzen ungeheuren Nacktheit vor Augen. Ein und dasselbe Traumgesicht suchte sie fast jede Nacht.

Ihr träumte, beide Männer seien ihre Gatten und spendeten ihr ihre Liebkosungen. Aleksey Aleksandrowitsch weinte und küßte ihr die Hand und sprach, wie gut ist alles jetzt! – Aleksey Wronskiy war daneben und auch er war ihr Gatte, und sie wunderte sich darüber, daß dies ihr früher unmöglich geschienen und erklärte beiden lachend, dies sei bei weitem einfacher und beide müßten jetzt zufrieden und glücklich sein. Aber dieser Traum quälte sie wie ein Alp und sie erwachte voll Entsetzen.