Seit der Zeit, wo wir in unserer Erzählung Die drei Musketiere d’Artagnan in der Rue des Fossoyeurs No. 12 verließen, war vieles und besonders viele Jahre vorübergegangen.

D’Artagnan hatte es nicht an sich fehlen lassen, wohl aber sein Glück. Viel hatte er auch durch den Verlust seiner Freunde verloren, denn wie alle feinen und geistreichen Naturen setzte er sich leicht mit allen guten Eigenschaften, die ihm entgegentraten, in Einklang. Athos verließ ihn zuerst, um sich auf ein kleines Landgut zurückzuziehen, das er in der Gegend von Blois geerbt hatte; sodann Porthos, um seine Prokuratorin zu heiraten, und endlich Aramis, um wirklich in den geistlichen Stand einzutreten und sich zum Abbé machen zu lassen.

Obgleich jetzt Leutnant der Musketiere geworden, sah sich d’Artagnan nach dem Weggang der Freunde vereinzelt. Eine Zeit lang hatte die liebliche Erinnerung an Madame Bonacieux dem Geiste des jungen Leutnants noch eine ideale Richtung gegeben; aber wie die Erinnerung an alle Dinge dieser Welt vergänglich ist, so verwischte sich auch diese allmählich. Von den zwei entgegengesetzten Naturen, die in d’Artagnan lebten, trug die materielle endlich den Sieg davon, und so war d’Artagnan allmählich das geworden, was man jetzt einen echten Troupier nennt.

Darum hatte d’Artagnan nicht gerade seine ursprüngliche Feinheit verloren, nein, durchaus nicht. Diese Feinheit hatte sich im Gegenteil vielleicht noch vermehrt oder war wenigstens doppelt auffallend unter einer etwas plumpen Hülle; aber diese Feinheit richtete sich nicht auf die großen Dinge des Lebens, sondern auf den materiellen Wohlstand, d. h. auf den Besitz eines guten Lagers, einer guten Tafel, einer guten Wirtin.

Und d’Artagnan hatte dies alles seit sechs Jahren in der Rue Tiquetonne unter dem Schilde der Rehziege gefunden.

In der ersten Zeit seines Aufenthalts in diesem Gasthofe verliebte sich die Wirtin, eine schöne, frische Flamänderin von fünf- bis sechsundzwanzig Jahren, sterblich in ihn. Der unbequeme Gatte, dem d’Artagnan zehnmal zum Schein gedroht hatte, er werde ihm seinen Degen durch den Leib rennen, war an einem schönen Morgen verschwunden, um für immer zu desertieren, nachdem er heimlicherweise einige Fässer Wein verkauft und das Geld und die Juwelen mitgenommen hatte. Man hielt ihn für tot; seine Frau besonders behauptete keck, er sei hinübergegangen. Endlich nach drei Jahren einer Verbindung, die d’Artagnan sich wohl hütete zu brechen, denn er fand jedes Jahr seine Geliebte und sein Lager angenehmer als zuvor, erhielt d’Artagnan Befehl, mit seiner Musketierkompanie an der Expedition nach Franche Comté teilzunehmen. Als er ausrückte, gab es großes Wehklagen, Tränen ohne Ende, feierliche Versprechungen, treu zu bleiben, alles von seiten der Wirtin, wohlverstanden. D’Artagnan war zu sehr vornehmer Mann, um etwas zu geloben; auch versprach er nur, alles zu tun, was in seinen Kräften liege, um den Ruhm seines Namens zu erhöhen.

In dieser Hinsicht kennt man d’Artagnan. Er setzte sich auf eine bewundernswürdige Weise den Gefahren aus. Und als er an der Spitze seiner Kompanie angriff, erhielt er eine Kugel durch die Brust, die ihn auf das Schlachtfeld niederstreckte. Man sah ihn vom Pferde fallen, man sah, daß er sich nicht wieder erhob, man hielt ihn für tot, und alle, welche Hoffnung hatten, ihm in seinem Grad zu folgen, sagten auf gut Glück, er sei es.

Aber d’Artagnan war nicht der Mann, der sich nur so töten ließ. Nachdem er während der Tageshitze ohnmächtig auf dem Schlachtfelde liegen geblieben war, bewirkte die Kühle der Nacht, daß er wieder zu sich kam. Er erreichte ein Dorf, klopfte an die Türe des schönsten Hauses und wurde aufgenommen, wie die Franzosen überall und immer aufgenommen werden, wenn sie verwundet sind; man verband, pflegte, heilte ihn, und als er sich wieder besser fühlte denn je, schlug er eines schönen Morgens den Weg nach Frankreich ein, in Frankreich die Straße nach Paris, und in Paris die Richtung nach der Rue Tiquetonne.

Wer d’Artagnan fand sein Zimmer von einem vollständigen Männerkleiderständer besetzt, abgesehen von einem Degen, der an der Wand befestigt war.

Er wird zurückgekommen sein, dachte er; desto schlimmer und desto besser.

Es versteht sich, daß d’Artagnan immer an den Gatten dachte.

Er erkundigte sich: neue Kellner, neue Magd, die Herrin des Hauses war spazierengegangen.

Allein? fragte d’Artagnan. – Mit dem Herrn. – Der Herr ist also zurückgekehrt? – Allerdings, antwortete die Magd naiv.

Wenn ich Geld hätte, sprach d’Artagnan zu sich selbst, so würde ich gehen, aber ich habe keines. Ich muß bleiben und bei Durchkreuzung der ehelichen Pläne dieses ungelegenen Gastes den Rat meiner Wirtin befolgen.

Er vollendete eben diesen Monolog, da rief plötzlich die Magd:

Ah! sieh da, hier kommt gerade die Madame mit dem Herrn.

D’Artagnan warf einen Blick weit in die Straße hinaus und sah wirklich die Wirtin am Arme eines ungeheuren Schweizers zurückkehren. Der Schweizer wiegte sich im Gehen mit einer Miene, die d’Artagnan an seinen Freund Porthos erinnerte.

Das ist der Herr? sprach d’Artagnan zu sich selbst. Oh! oh! er ist gewaltig gewachsen, wie mir scheint. Und er setzte sich in dem Saal an einen recht augenfälligen Platz.

Die Wirtin bemerkte d’Artagnan bei ihrem Eintritte sogleich und stieß einen kurzen Schrei aus. Bei diesem Schrei stand d’Artagnan, der sich für erkannt hielt, rasch auf, lief auf sie zu und umarmte sie zärtlich. Der Schweizer schaute ganz verdutzt die Wirtin an, die todesbleich dastand.

Ah, Ihr seid es, Herr! Was wollt Ihr von mir? fragte sie in der größten Unruhe.

Der Herr ist Euer Vetter? der Herr ist Euer Bruder? sprach d’Artagnan, ohne sich im geringsten aus der Rolle bringen zu lassen, die er spielte; und ohne eine Antwort von ihr abzuwarten, warf er sich in die Arme des Helvetiers.

Wer ist dieser Mensch? fragte dieser.

Die Wirtin antwortete nur mit krampfhaften Zuckungen.

Wer ist dieser Schweizer? fragte d’Artagnan.

Der Herr will mich heiraten, antwortete die Wirtin zwischen zwei Krampfanfällen.

Euer Gatte ist also endlich gestorben?

Was geht das Euch an? entgegnete der Schweizer.

Es geht mich viel an, sprach d’Artagnan, insofern Ihr diese Frau ohne meine Einwilligung nicht heiraten könnt, und insofern ich sie nicht gebe.

Der Schweizer wurde purpurrot, wie eine Gichtrose. Er trug eine schöne, mit Gold besetzte Uniform; d’Artagnan war in einen grauen Mantel gehüllt. Der Schweizer maß sechs Fuß, d’Artagnan kaum über fünf. Der Schweizer glaubte sich zu Hause; d’Artagnan erschien ihm als ein Eindringling.

Wollt Ihr Euch wohl von hier entfernen? sagte der Schweizer und stampfte heftig mit dem Fuße, wie ein Mensch, der im Ernst zornig zu werden anfängt.

Ich? Keineswegs, sagte d’Artagnan.

Aber man braucht nur die Wache herbeizuholen! rief ein Kellner, der nicht begreifen konnte, wie dieser kleine Mensch sich unterstand, dem großen Manne den Platz streitig zu machen.

Du, sagte d’Artagnan, den der Zorn ebenfalls an den Haaren zu fassen anfing, indem er den Kellner beim Ohre nahm. Du bleibst auf dieser Stelle, oder ich reiße dir aus, was ich in der Hand halte. Ihr aber, erhabener Abkömmling von Wilhelm Tell, Ihr packt Eure Kleider, die in meinem Zimmer sind und mich belästigen, alsbald zusammen und sucht Euch schleunigst eine andere Herberge.

Der Schweizer brach in ein schallendes Gelächter aus.

Ich gehen? sagte er, und warum?

Ah, das ist gut, erwiderte d’Artagnan, ich sehe, daß Ihr französisch versteht. Dann macht einen Gang mit mir, und ich werde Euch das übrige erklären.

D’Artagnan führte den Schweizer fort, trotz der Wehklagen der Wirtin, die ihr Herz wieder zu ihrer alten Liebe sich hinneigen fühlte.

Die zwei Gegner gingen geradezu nach den Fossés Montmartre. Es war Nacht, als sie dort ankamen. D’Artagnan bat den Schweizer höflich, ihm das Zimmer abzutreten und nicht mehr zurückzukommen. Dieser zog seinen Degen.

Dann werdet Ihr hier ruhen, sprach d’Artagnan. Es ist eine garstige Lagerstätte, aber ich bin nicht schuld daran, denn Ihr habt es so gewollt.

Bei diesen Worten zog er ebenfalls vom Leder und kreuzte den Degen mit seinem Gegner.

Er hatte es mit einer rohen Faust zu tun, aber seine Geschmeidigkeit tat es jeder Kraft zuvor. Der Stoßdegen des Schweizers fand nie den des Musketiers. Der Schweizer erhielt zwei Degenstiche und nahm es anfangs nicht wahr; plötzlich aber nötigten ihn Blutverlust und Schwäche, sich zu setzen.

Seht, sprach d’Artagnan, hab‘ ich es Euch nicht vorher gesagt? Ihr seid nun weit vorgerückt, Ihr halsstarriger Mensch. Zum Glück habt Ihr nur für vierzehn Tage. Bleibt hier, und ich werde Euch Eure Kleider durch den Aufwärter schicken. Adieu!

Darauf kehrte er ganz heiter in die Wohnung zurück und schickte wirklich die Kleider an den Schweizer ab, den der Aufwärter auf demselben Platze sitzend fand, wo ihn d’Artagnan gelassen hatte, und noch ganz verblüfft über das kecke Benehmen seines Gegners.

Der Aufwärter, die Wirtin und das ganze Haus legten gegen d’Artagnan die allergrößte Achtung an den Tag. Als er mit seiner Wirtin allein war, sagte er: Nun, schöne Madeleine, Ihr wißt, welcher Unterschied zwischen einem Schweizer und einem Edelmann besteht, Ihr aber habt Euch wie eine Schankwirtin benommen. Desto schlimmer für Euch; denn unter diesen Umständen verliert Ihr meine Achtung und meine Kundschaft. Ich habe den Schweizer fortgejagt, um Euch zu demütigen; aber ich werde hier nicht bleiben. Ich kann nicht weilen, wo ich verachte. Holla! Aufwärter! Man bringe mein Felleisen in die Liebestonne, Rue des Bourdonnais. Gott befohlen, Madame.

D’Artagnan war, wie es scheint, während er diese Worte sprach, zugleich majestätisch und rührend. Die Wirtin warf sich ihm zu Füßen, bat ihn um Verzeihung und hielt ihn mit süßer Gewalt zurück. Was soll ich noch mehr sagen? Der Bratspieß drehte sich, der Ofen summte, die schöne Madeleine weinte; d’Artagnan fühlte, wie sich Hunger, Kälte und Liebe zu gleicher Zeit wieder in ihm regten; er vergab, und nachdem er vergeben hatte, blieb er. So kam es, daß d’Artagnan in der Rue Tiquetonne in der Herberge zur Rehziege wohnte.