Project Description

359. Nacht

Ich bat ihn, mich doch nicht in diesem unglücklichen
Zustand zu verlassen, und mich wenigstens bis zu der nächsten Karawane zu
geleiten. Aber er blieb taub gegen meine Bitten und Wehklagen. Auf diese Weise
meines Augenlichts und alles dessen beraubt, was ich auf der Welt besaß, würde
ich vor Hunger und Betrübnis gestorben sein, wenn nicht eine Karawane, die von
Balsora kam, mich mitleidig mitgenommen und nach Bagdad geführt hätte.

Aus einer Lage, die, wenn auch nicht an Macht und Gewalt,
doch gewiss an Reichtum und Pracht mich den Fürsten gleich stellte, sah ich
mich jetzt hilflos an den Bettelstab gebracht. Ich musste mich also
entschließen, um Almosen zu betteln, was ich denn auch bisher getan habe. Doch
um mein Vergehen gegen Gott abzubüßen, legte ich mir zugleich die Strafe auf,
von der Hand einer jeden mildtätigen Person, die mein Elend bemitleiden würde,
eine Ohrfeige zu empfangen.

Dies ist nun, o Beherrscher der Gläubigen, der Grund
jenes Benehmens, das Euer Majestät gestern so seltsam vorkam und mir vielleicht
euren Zorn zugezogen hat. Ich bitte euch nochmals als euer Sklave um Verzeihung,
und unterwerfe mich gern jeder Strafe, die ich verdient habe. Solltet ihr indes
über die Buße, die ich mir aufgelegt, ein Urteil zu fällen geruhen, so bin
ich überzeugt, dass ihr sie viel zu leicht und weit unter meinem Vergehen
finden werdet.“

Als der Blinde seine Geschichte erzählt hatte, sagte der
Kalif zu ihm: „Baba Abdallah, deine Sünde ist groß. Doch Gott sei gelobt,
dass du die Größe derselben eingesehen und dir diese öffentliche Buße
deshalb aufgelegt hast. Es ist jetzt damit genug. Von nun an setzt du diese
Bußübung für dich fort und höre nicht auf, in jedem Gebet, was du aus
Pflichten der Religion jeden Tag an ihn richtest, ihn um Vergebung zu bitten,
und damit du nicht durch die Sorge um deinen Lebensunterhalt davon abgezogen
werden magst, setze ich dir für dein ganzes Leben ein Almosen aus, nämlich
jeden Tag vier Drachmen meines Gelds, welche dir mein Großwesir verabreichen
lassen wird. Gehe daher nicht weg, und warte, bis er meinen Befehl vollzogen
haben wird.“

Bei diesen Worten warf sich Baba Abdallah vor dem Thron
des Kalifen nieder, und beim Aufstehen dankte er ihm sodann und wünschte ihm
alles mögliche Glück und Heil.

Der Kalif Harun Arreschyd, zufrieden mit der Geschichte
Baba Abdallahs und des Derwisches, wendete sich jetzt an den jungen Mann, den er
seine Stute so übel behandeln gesehen hatte, und fragte ihm um seinen Namen,
wie er es bei dem Blinden gemacht hatte. Der junge Mann sagte ihm, er heiße
Sidi Numan.

„Sidi Numan,“ sagte hierauf der Kalif zu ihm,
„ich habe in meinem Leben schon viele Pferde zureiten gesehen und oft
selber welche zugeritten, aber noch nie habe ich eines so grausam stoßen und
schlagen gesehen, als du gestern auf freier Straße und zum großen ärgernis
aller Zuschauenden, die darüber laut murrten, gegen deine Stute getan hast. ich
ärgerte mich eben so sehr darüber als die Umstehenden, und es fehlte wenig,
dass ich mich nicht – ganz gegen meine sonstige Weise – zu erkennen gab, um
diesem Unwesen zu steuern. Gleichwohl kündigt dein äußeres gar nicht einen
grausamen und barbarischen Menschen an. Ich will sogar glauben, dass du sie
nicht ganz ohne Ursache so behandelst. Da ich weiß, dass es nicht das erste Mal
ist, und dass du schon seit langer Zeit täglich deine Stute so misshandelst, so
wünschte ich wohl den Grund davon zu erfahren, und ich habe dich hierher kommen
lassen, um ihn von dir zu vernehmen. Sage mir daher die Sache ganz so, wie sie
wirklich ist, und verhehle mir nichts.“

Sidi Numan begriff leicht, was der Kalif von ihm
verlangte. Doch diesen Bericht zu geben, setzte ihn in die peinlichste
Verlegenheit. Er änderte mehrmals die Farbe und ließ unwillkürlich die große
Verwirrung blicken, worin er sich befand. Indessen musste er sich entschließen,
den Grund davon anzugeben. Er warf sich daher, bevor er zu sprechen anfing, vor
dem Thron des Kalifen nieder, und nachdem er wieder aufgestanden, wollte er
beginnen, um die Neugier des Kalifen zu befriedigen. Doch er blieb voll
Bestürzung still, minder von der Majestät des Kalifen, vor welchem er
erschien, betroffen, als von dem Inhalt der Erzählung, die er ihm machen
sollte.

Wie ungeduldig auch immer der Kalif von Natur war, seinen
Willen erfüllt zu sehen, ließ er dennoch keinen Unwillen über Sidi Numans
Stillschweigen blicken. Er dachte nämlich, dass es ihm vielleicht an
Dreistigkeit, vor ihm zu reden, fehle, oder dass er durch den Ton, worin er zu
ihm gesprochen, eingeschüchtert worden sei, oder endlich, dass in dem, was er
ihm sagen sollte, Dinge vorkämen, die er lieber zu verschweigen wünschte.

„Sidi Numan,“ sagte der Kalif zu ihm, um ihn zu
beruhigen, „fasse dich, und stelle dir vor, als ob du das, was ich
verlange, nicht mir, sondern irgend einem Freund, der dich darum bäte,
erzählen solltest. Sollte übrigens in dieser Erzählung irgend etwas enthalten
sein, was dich in Verlegenheit setzt, oder wovon du glaubst, dass es mich
beleidigen könnte, so verzeihe ich es dir im voraus. Lass also alle deine
Unruhe fahren, rede frei heraus und verhehle mir nichts, ganz so, als ob du
deinen besten Freund vor dir hättest.“

Sidi Numan, den die letzten äußerungen des Kalifen
beruhigt hatten, nahm endlich das Wort und sagte: „Beherrscher der
Gläubigen, wie groß auch immer die Bestürzung sein mag, von welcher jeder
Sterbliche in der Nähe Euer Majestät und vor dem Glanz eures Thrones befallen
werden muss, so fühle ich mich doch stark genug, um zu glauben, dass diese
ehrfurchtsvolle Scheu mir bis zu dem Grad den Mund verschließen könnte, dass
ich gegen den euch schuldigen Gehorsam fehlen und euch über irgend etwas, das
ihr von mir verlangt, keine Auskunft geben sollte. Wenn ich mich auch nicht für
den vollkommensten Menschen ausgeben darf, so bin ich doch anderseits nicht so
bösartig, dass ich je den Willen gehabt hätte, irgend etwas gegen die Gesetze
zu begehen, das mir Furcht vor ihrer strengen Ahndung einflößen könnte.
Indessen wie gut auch immer mein Wille gewesen ist, so erkenne ich doch, dass
ich nicht von Fehlern, die man aus Unwissenheit begeht, frei geblieben bin. Dies
ist nun mein Fall. Ich sage gleichwohl nicht, dass ich auf die Vergebung baue,
welche Euer Majestät, ohne mich angehört zu haben, gnädigst mir erteilt hat.
Sondern im Gegenteil unterwerfe ich mich eurem gerechten Urteil und selbst der
Strafe, wenn ich sie verdient habe. Ich gestehe, dass seit einiger Zeit die Art
und Weise, wie ich meine Stute behandelt habe, seltsam, grausam und nicht
nachzuahmen ist, aber ich hoffe, dass ihr die Ursache hiervon sehr wohl
begründet und mich selber mehr des Mitleids, als der Strafe würdig finden
werdet. Ich darf euch nicht länger durch eine langweilige Vorrede in gespannter
Erwartung halten. Hört denn also meine Geschichte.“