2. Kapitel

Die Reformbewegung und Tiberius Gracchus

Ein volles Menschenalter nach der Schlacht von Pydna erfreute der römische Staat sich der tiefsten, kaum hie und da an der Oberfläche bewegten Ruhe. Das Gebiet dehnte über die drei Weltteile sich aus; der Glanz der römischen Macht und der Ruhm des römischen Namens waren in dauerndem Steigen; aller Augen ruhten auf Italien, alle Talente, aller Reichtum strömten dahin: eine goldene Zeit friedlicher Wohlfahrt und geistigen Lebensgenusses schien dort beginnen zu müssen. Mit Bewunderung erzählten sich die Orientalen dieser Zeit von der mächtigen Republik des Westens, „die die Königreiche bezwang fern und nah, und wer ihren Namen vernahm, der fürchtete sich; mit den Freunden und Schutzbefohlenen aber hielt sie guten Frieden. Solche Herrlichkeit war bei den Römern, und doch setzte keiner die Krone sich auf und prahlte keiner im Purpurgewand; sondern wen sie Jahr um Jahr zu ihrem Herrn machten, auf den hörten sie, und war bei ihnen nicht Neid noch Zwietracht.“

So schien es in der Ferne; in der Nähe sahen die Dinge anders aus. Das Regiment der Aristokratie war im vollen Zuge, sein eigenes Werk zu verderben. Nicht als wären die Söhne und Enkel der Besiegten von Cannae und der Sieger von Zama so völlig aus der Art ihrer Väter und Großväter geschlagen; es waren weniger andere Menschen, die jetzt im Senate saßen, als eine andere Zeit. Wo eine geschlossene Zahl alter Familien festgegründeten Reichtums und ererbter staatsmännischer Bedeutung das Regiment führt, wird sie in den Zeiten der Gefahr eine ebenso unvergleichlich zähe Folgerichtigkeit und heldenmütige Opferfähigkeit entwickeln wie in den Zeiten der Ruhe kurzsichtig, eigensüchtig und schlaff regieren – zu dem einen wie dem andern liegen die Keime im Wesen der Erblichkeit und der Kollegialität. Der Krankheitsstoff war längst vorhanden, aber ihn zu entwickeln bedurfte es der Sonne des Glückes. In Catos Frage, was aus Rom werden solle, wenn es keinen Staat mehr zu fürchten haben werde, lag ein tiefer Sinn. Jetzt war man so weit: jeder Nachbar, den man hätte fürchten mögen, war politisch vernichtet, und von den Männern, welche unter der alten Ordnung der Dinge, in der ernsten Schule des Hannibalischen Krieges erzogen waren und aus denen der Nachklang jener gewaltigen Zeit bis in ihr spätestes Alter noch widerhallte, rief der Tod einen nach dem andern ab, bis endlich auch die Stimme des letzten von ihnen, des alten Cato, im Rathaus und auf dem Marktplatz verstummte. Eine jüngere Generation kam an das Regiment, und ihre Politik war eine arge Antwort auf jene Frage des alten Patrioten. Wie das Untertanenregiment und die äußere Politik unter ihren Händen sich gestalteten, ist bereits dargelegt worden. Womöglich noch mehr ließ man in den inneren Angelegenheiten das Schiff vor dem Winde treiben; wenn man unter innerem Regiment mehr versteht als die Erledigung der laufenden Geschäfte, so ward in dieser Zeit überhaupt in Rom nicht regiert. Der einzige leitende Gedanke der regierenden Korporation war die Erhaltung und womöglich Steigerung ihrer usurpierten Privilegien. Nicht der Staat hatte für sein höchstes Amt ein Anrecht auf den rechten und den besten Mann, sondern jedes Glied der Kamaraderie ein angeborenes, weder durch unbillige Konkurrenz der Standesgenossen noch durch Übergriffe der Ausgeschlossenen zu verkürzendes Anrecht auf das höchste Staatsamt. Darum steckte die Clique zu ihrem wichtigsten politischen Ziel sich die Beschränkung der Wiederwahl zum Konsulat und die Ausschließung der „neuen Menschen“; es gelang denn auch in der Tat, jene um das Jahr 603 (151) gesetzlich untersagt zu erhalten16 und auszureichen mit einem Regiment adliger Nullitäten. Auch die Tatenlosigkeit der Regierung nach außen hin hängt ohne Zweifel mit dieser gegen die Bürgerlichen ausschließenden und gegen die einzelnen Standesglieder mißtrauischen Adelspolitik zusammen. Man konnte gemeine Leute, deren Adelsbrief ihre Taten waren, von den lauteren Kreisen der Aristokratie nicht sicherer fern halten, als indem man überhaupt es keinem gestattete, Taten zu verrichten; auch würde dem bestehenden Regiment der allgemeinen Mittelmäßigkeit selbst ein adliger Eroberer Syriens oder Ägyptens schon unbequem gewesen sein. Allerdings fehlte es auch jetzt an einer Opposition nicht, und sie war sogar bis zu einem gewissen Grade erfolgreich. Man verbesserte die Rechtspflege. Die Administrativjurisdiktion, wie der Senat sie entweder selbst oder gelegentlich durch außerordentliche Kommissionen über die Provinzialbeamten ausübte, reichte anerkanntermaßen nicht aus; es war eine für das ganze öffentliche Leben der römischen Gemeinde folgenreiche Neuerung, daß im Jahre 605 (149) auf Vorschlag des Lucius Calpurnius Piso eine ständige Senatorenkommission (quaestio ordinaria) niedergesetzt ward, um die Beschwerden der Provinzialen gegen die vorgesetzten römischen Beamten wegen Gelderpressung in gerichtlichen Formen zu prüfen. Man suchte die Komitien von dem übermächtigen Einfluß der Aristokratie zu emanzipieren. Die Panazee auch der römischen Demokratie war die geheime Abstimmung in den Versammlungen der Bürgerschaft, welche zuerst für die Magistratswahlen durch das Gabinische (615 139), dann für die Volksgerichte durch das Cassische (617 137), endlich für die Abstimmung über Gesetzvorschläge durch das Papirische Gesetz (623 131) eingeführt ward. In ähnlicher Weise wurden bald nachher (um 625 129) die Senatoren durch Volksbeschluß angewiesen, bei dem Eintritt in den Senat ihr Ritterpferd abzugeben und also auf den bevorzugten Stimmplatz in den achtzehn Ritterzenturien zu verzichten. In diesen auf die Emanzipation der Wählerschaft von dem regierenden Herrenstand gerichteten Maßregeln mochte die Partei, die sie veranlaßte, vielleicht den Anfang zu einer Regeneration des Staates erblicken; in der Tat ward dadurch in der Nichtigkeit und Unfreiheit des gesetzlich höchsten Organs der römischen Gemeinde auch nicht das mindeste geändert, ja dieselbe allen, die es anging und nicht anging, nur noch handgreiflicher dargetan. Ebenso prahlhaftig und ebenso eitel war die förmliche Anerkennung der Unabhängigkeit und Souveränität der Bürgerschaft, welche ihr durch die Verlegung ihres Versammlungsplatzes von der alten Dingstatt unter dem Rathaus auf den Marktplatz zuteil ward (um 609 145).

Aber diese Fehde der formalen Volkssouveränität gegen die tatsächlich bestehende Verfassung war zum guten Teil scheinhafter Art. Die Parteiphrasen prasselten und klirrten; von den Parteien selbst war in den wirklich und unmittelbar praktischen Angelegenheiten wenig zu spüren. Das ganze siebente Jahrhundert hindurch bildeten die jährlichen Gemeindewahlen zu den bürgerlichen Ämtern, namentlich zum Konsulat und zur Zensur, die eigentlich stehende Tagesfrage und den Brennpunkt des politischen Treibens; aber nur in einzelnen seltenen Fällen waren in den verschiedenen Kandidaturen auch entgegengesetzte politische Prinzipien verkörpert; regelmäßig blieben dieselben rein persönliche Fragen und war es für den Gang der Angelegenheiten gleichgültig, ob die Majorität der Wahlkörper dem Cäcilier oder dem Cornelier zufiel. Man entbehrte also dessen, was die Übelstände des Parteilebens alle überträgt und vergütet, der freien und gemeinschaftlichen Bewegung der Massen nach dem als zweckmäßig erkannten Ziel, und duldete sie dennoch alle lediglich zum Frommen des kleinen Spiels der herrschenden Koterien.

Es war dem römischen Adligen verhältnismäßig leicht, die Ämterlaufbahn als Quästor und Volkstribun zu betreten, aber die Erlangung des Konsulats und der Zensur war auch ihm nur durch große und jahrelange Anstrengungen möglich. Der Preise waren viele, aber der lohnenden wenige; die Kämpfer liefen, wie ein römischer Dichter einmal sagt, wie in einer an den Schranken weiten, allmählich mehr und mehr sich verengenden Bahn. Das war recht, solange das Amt war, wie es hieß, eine „Ehre“, und militärische, politische, juristische Kapazitäten wetteifernd um die seltenen Kränze warben; jetzt aber hob die tatsächliche Geschlossenheit der Nobilität den Nutzen der Konkurrenz auf und ließ nur ihre Nachteile übrig. Mit wenigen Ausnahmen drängten die den regierenden Familien angehörenden jungen Männer sich in die politische Laufbahn, und der hastige und unreife Ehrgeiz griff bald zu wirksameren Mitteln, als nützliche Tätigkeit für das gemeine Beste war. Die erste Bedingung für die öffentliche Laufbahn wurden mächtige Verbindungen; dieselbe begann also nicht wie sonst im Lager, sondern in den Vorzimmern der einflußreichen Männer. Was sonst nur Schutzbefohlene und Freigelassene getan, daß sie ihrem Herrn am frühen Morgen aufzuwarten kamen und öffentlich in seinem Gefolge erschienen, das übertrug sich jetzt auf die neue vornehme Klientel. Aber auch der Pöbel ist ein großer Herr und will als solcher respektiert sein. Der Janhagel fing an, es als sein Recht zu fordern, daß der künftige Konsul in jedem Lumpen von der Gasse das souveräne Volk erkenne und ehre und jeder Bewerber bei seinem „Umgang“ (ambitus) jeden einzelnen Stimmgeber bei Namen begrüße und ihm die Hand drücke. Bereitwillig ging die vornehme Welt ein auf diesen entwürdigenden Ämterbettel. Der richtige Kandidat kroch nicht bloß im Palast, sondern auch auf der Gasse und empfahl sich der Menge durch Liebäugeleien, Nachsichtigkeiten, Artigkeiten von feinerer oder gröberer Qualität. Der Ruf nach Reformen und die Demagogie wurden dazu vernutzt, sich bei dem Publikum bekannt und beliebt zu machen; und sie wirkten um so mehr, je mehr sie nicht die Sache angriffen, sondern die Person. Es ward Sitte, daß die bartlosen Jünglinge vornehmer Geburt, um sich glänzend in das öffentliche Leben einzuführen, mit der unreifen Leidenschaft ihrer knabenhaften Beredsamkeit die Rolle Catos weiterspielten und aus eigener Machtvollkommenheit sich womöglich gegen einen recht hochstehenden und recht unbeliebten Mann zu Anwälten des Staats aufwarfen; man ließ es geschehen, daß das ernste Institut der Kriminaljustiz und der politischen Polizei ein Mittel für den Ämterbewerb ward. Die Veranstaltung oder, was noch schlimmer war, die Verheißung prachtvoller Volkslustbarkeiten war längst die gleichsam gesetzliche Vorbedingung zur Erlangung des Konsulats; jetzt begannen auch schon, wie das um 595 (159) dagegen erlassene Verbot bezeugt, die Stimmen der Wähler geradezu mit Geld erkauft zu werden. Vielleicht die schlimmste Folge des dauernden Buhlens der regierenden Aristokratie um die Gunst der Menge war die Unvereinbarkeit dieser Bettler- und Schmeichlerrolle mit derjenigen Stellung, welche der Regierung den Regierten gegenüber von Rechts wegen zukommt. Das Regiment ward dadurch aus einem Segen für das Volk zum Fluch. Man wagte es nicht mehr, über Gut und Blut der Bürger zum Besten des Vaterlandes nach Bedürfnis zu verfügen. Man ließ die Bürgerschaft sich an den gefährlichen Gedanken gewöhnen, daß sie selbst von der vorschußweisen Entrichtung direkter Abgaben gesetzlich befreit sei – nach dem Kriege gegen Perseus ist kein Schoß mehr von der Gemeinde gefordert worden. Man ließ lieber das Heerwesen verfallen, als daß man die Bürger zu dem verhaßten überseeischen Dienst zwang; wie es den einzelnen Beamten erging, die die Konskription nach der Strenge des Gesetzes durchzuführen versuchten, ist schon gesagt worden.

In verhängnisvoller Weise verschlingen sich in dem Rom dieser Zeit die zwiefachen Mißstände einer ausgearteten Oligarchie und einer noch unentwickelten, aber schon im Keime vom Wurmfraß ergriffenen Demokratie. Ihren Parteinamen nach, welche zuerst in dieser Periode gehört werden, wollten die „Optimaten“ den Willen der Besten, die „Popularen“ den der Gemeinde zur Geltung bringen; in der Tat gab es in dem damaligen Rom weder eine wahre Aristokratie noch eine wahrhaft sich selber bestimmende Gemeinde. Beide Parteien stritten gleichermaßen für Schatten und zählten in ihren Reihen nur entweder Schwärmer oder Heuchler. Beide waren von der politischen Fäulnis gleichmäßig ergriffen und in der Tat beide gleich nichtig. Beide waren mit Notwendigkeit in den Status quo gebannt, da weder hüben noch drüben ein politischer Gedanke, geschweige denn ein politischer Plan sich fand, der über diesen hinausgegangen wäre, und so vertrugen denn auch beide sich miteinander so vollkommen, daß sie auf jeden Schritt sich in den Mitteln wie in den Zwecken begegneten und der Wechsel der Partei mehr ein Wechsel der politischen Taktik als der politischen Gesinnung war. Das Gemeinwesen hätte ohne Zweifel gewonnen, wenn entweder die Aristokratie statt der Bürgerschaftswahlen geradezu einen erblichen Turnus eingeführt oder die Demokratie ein wirkliches Demagogenregiment aus sich hervorgebracht hätte. Aber diese Optimaten und diese Popularen des beginnenden siebenten Jahrhunderts waren die einen für die andern viel zu unentbehrlich, um sich also auf Tod und Leben zu bekriegen; sie konnten nicht bloß nicht einander vernichten, sondern, wenn sie es gekonnt hätten, hätten sie es nicht gewollt. Darüber wich denn freilich politisch wie sittlich das Gemeinwesen immer mehr aus den Fugen und ging seiner völligen Auflösung entgegen.

Es ging denn auch die Krise, durch welche die römische Revolution eröffnet ward, nicht aus diesem dürftigen politischen Konflikt hervor, sondern aus den ökonomischen und sozialen Verhältnissen, welche die römische Regierung wie alles andere lediglich gehen ließ und welche also Gelegenheit fanden, den seit langem gärenden Krankheitsstoff jetzt ungehemmt mit furchtbarer Raschheit und Gewaltsamkeit zu zeigen. Seit uralter Zeit beruhte die römische Ökonomie auf den beiden ewig sich suchenden und ewig hadernden Faktoren, der bäuerlichen und der Geldwirtschaft. Schon einmal hatte die letztere im engsten Bunde mit dem großen Grundbesitz Jahrhunderte lang gegen den Bauernstand einen Krieg geführt, der mit dem Untergang zuerst der Bauernschaft und demnächst des ganzen Gemeinwesens endigen zu müssen schien, aber ohne eigentliche Entscheidung abgebrochen ward infolge der glücklichen Kriege und der hierdurch möglich gemachten umfänglichen und großartigen Domanialaufteilung. Es ward schon früher gezeigt, daß in derselben Zeit, welche den Gegensatz zwischen Patriziern und Plebejern unter veränderten Namen erneuerte, das unverhältnismäßig anschwellende Kapital einen zweiten Sturm gegen die bäuerliche Wirtschaft vorbereitete. Zwar der Weg war ein anderer. Ehemals war der kleine Bauer ruiniert worden durch Vorschüsse, die ihn tatsächlich zum Meier seines Gläubigers herabdrückten; jetzt ward er erdrückt durch die Konkurrenz des überseeischen und insonderheit des Sklavenkorns. Man schritt fort mit der Zeit; das Kapital führte gegen die Arbeit, das heißt gegen die Freiheit der Person, den Krieg, natürlich wie immer in strengster Form Rechtens, aber nicht mehr in der unziemlichen Weise, daß der freie Mann der Schulden wegen Sklave ward, sondern von Haus aus mit rechtmäßig gekauften und bezahlten Sklaven; der ehemalige hauptstädtische Zinsherr trat auf in zeitgemäßer Gestalt als industrieller Plantagenbesitzer. Allein das letzte Ergebnis war in beiden Fällen das gleiche: die Entwertung der italischen Bauernstellen, die Verdrängung der Kleinwirtschaft zuerst in einem Teil der Provinzen, sodann in Italien durch die Gutswirtschaft; die vorwiegende Richtung auch dieser in Italien auf Viehzucht und auf Öl- und Weinbau; schließlich die Ersetzung der freien Arbeiter in den Provinzen wie in Italien durch Sklaven. Eben wie die Nobilität deshalb gefährlicher war als das Patriziat, weil jene nicht wie dieses durch eine Verfassungsänderung sich beseitigen ließ, so war auch diese neue Kapitalmacht darum gefährlicher als die des vierten und fünften Jahrhunderts, weil gegen sie mit Änderungen des Landrechts nichts auszurichten war.

Ehe wir es versuchen, den Verlauf dieses zweiten großen Konflikts von Arbeit und Kapital zu schildern, wird es notwendig, über das Wesen und den Umfang der Sklavenwirtschaft hier einige Andeutungen einzuschalten. Wir haben es hier nicht zu tun mit der alten, gewissermaßen unschuldigen Feldsklaverei, wonach der Bauer entweder zugleich mit seinem Knechte ackert oder auch, wenn er mehr Land besitzt, als er bewirtschaften kann, denselben entweder als Verwalter oder auch unter Verpflichtung zur Ablieferung eines Teils vom Ertrag gewissermaßen als Pächter über einen abgeteilten Meierhof setzt; solche Verhältnisse bestanden zwar zu allen Zeiten – um Comum zum Beispiel waren sie noch in der Kaiserzeit die Regel –, allein als Ausnahmezustände bevorzugter Landschaften und milde verwalteter Güter. Hier ist die Großwirtschaft mit Sklaven gemeint, welche im römischen Staat wie einst im karthagischen aus der Übermacht des Kapitals sich entwickelte. Während für den Sklavenbestand der älteren Zeit die Kriegsgefangenschaft und die Erblichkeit der Knechtschaft ausreichten, beruht diese Sklavenwirtschaft, völlig wie die amerikanische, auf systematisch betriebener Menschenjagd, da bei der auf Leben und Fortpflanzung der Sklaven wenig Rücksicht nehmenden Nutzungsweise die Sklavenbevölkerung beständig zusammenschwand und selbst die stets neue Massen auf den Sklavenmarkt liefernden Kriege das Defizit zu decken nicht ausreichten. Kein Land, wo dieses jagdbare Wild sich vorfand, blieb hiervon verschont; selbst in Italien war es keineswegs unerhört, daß der arme Freie von seinem Brotherrn unter die Sklaven eingestellt ward. Das Negerland jener Zeit aber war Vorderasien17, wo die kretischen und kilikischen Korsaren, die rechten gewerbsmäßigen Sklavenjäger und Sklavenhändler, die Küsten Syriens und die griechischen Inseln ausraubten, wo mit ihnen wetteifernd die römischen Zollpächter in den Klientelstaaten Menschenjagden veranstalteten und die Gefangenen unter ihr Sklavengesinde untersteckten – es geschah dies in solchem Umfang, daß um 650 (100) der König von Bithynien sich unfähig erklärte, den verlangten Zuzug zu leisten, da aus seinem Reich alle arbeitsfähigen Leute von den Zollpächtern weggeschleppt seien. Auf dem großen Sklavenmarkt in Delos, wo die kleinasiatischen Sklavenhändler ihre Ware an die italischen Spekulanten absetzten, sollen an einem Tage bis zu 10000 Sklaven des Morgens ausgeschifft und vor Abend alle verkauft gewesen sein – ein Beweis zugleich, welche ungeheure Zahl von Sklaven geliefert ward und wie dennoch die Nachfrage immer noch das Angebot überstieg. Es war kein Wunder. Bereits in der Schilderung der römischen Ökonomie des sechsten Jahrhunderts ist es dargelegt worden, daß dieselbe wie überhaupt die gesamte Großwirtschaft des Altertums auf dem Sklavenbetriebe ruht. Worauf immer die Spekulation sich warf, ihr Werkzeug war ohne Ausnahme der rechtlich zum Tier herabgesetzte Mensch. Durch Sklaven wurden großenteils die Handwerke betrieben, so daß der Ertrag dem Herrn zufiel. Durch die Sklaven der Steuerpachtgesellschaft wurde die Erhebung der öffentlichen Gefälle in den untern Graden regelmäßig beschafft. Ihre Hände besorgten den Grubenbau, die Pechhütten und was derart sonst vorkommt; schon früh kam es auf, Sklavenherden nach den spanischen Bergwerken zu senden, deren Vorsteher sie bereitwillig annahmen und hoch verzinsten. Die Wein- und Olivenlese wurde in Italien nicht von den Leuten auf dem Gut bewirkt, sondern einem Sklavenbesitzer in Akkord gegeben. Die Hütung des Viehs ward allgemein durch Sklaven beschafft; der bewaffneten, häufig berittenen Hirtensklaven auf den großen Weidestrecken Italiens ist bereits gedacht worden, und dieselbe Art der Weidewirtschaft ward bald auch in den Provinzen ein beliebter Gegenstand der römischen Spekulation – so war zum Beispiel Dalmatien kaum erobert (599 155), als die römischen Kapitalisten anfingen, dort in italischer Weise die Viehzucht im großen zu betreiben. Aber in jeder Beziehung weit schlimmer noch war der eigentliche Plantagenbau, die Bestellung der Felder durch eine Herde nicht selten mit dem Eisen gestempelter Sklaven, welche mit Fußschellen an den Beinen unter Aufsehern des Tags die Feldarbeiten taten und nachts in dem gemeinschaftlichen, häufig unterirdischen Arbeiterzwinger zusammengesperrt wurden. Diese Plantagenwirtschaft war aus dem Orient nach Karthago gewandert und scheint durch die Karthager nach Sizilien gelangt zu sein, wo, wahrscheinlich aus diesem Grunde, die Plantagenwirtschaft früher und vollständiger als in irgendeinem anderen Gebiet der römischen Herrschaft durchgebildet auftritt18. Die Leontinische Feldmark von etwa 30 000 Jugera urbaren Landes, die als römische Domäne von den Zensoren verpachtet wurde, finden wir einige Dezennien nach der Gracchenzeit geteilt unter nicht mehr als 84 Pächter, von denen also durchschnittlich auf jeden 360 Jugera kamen und unter denen nur ein einziger Leontiner, die übrigen fremde, meistens römische Spekulanten waren. Man sieht hieraus, mit welchem Eifer die römischen Spekulanten hier in die Fußstapfen ihrer Vorgänger traten und welche großartigen Geschäfte mit sizilischem Vieh und sizilischem Sklavenkorn die römischen und nichtrömischen Spekulanten gemacht haben werden, die mit ihren Hutungen und Pflanzungen die schöne Insel bedeckten. Italien indes blieb von dieser schlimmsten Form der Sklavenwirtschaft für jetzt noch wesentlich verschont. Wenngleich in Etrurien, wo die Plantagenwirtschaft zuerst in Italien aufgekommen zu sein scheint und wo sie wenigstens vierzig Jahre später in ausgedehntestem Umfange bestand, höchstwahrscheinlich schon jetzt es an Arbeiterzwingern nicht fehlte, so ward doch die italische Ackerwirtschaft in dieser Zeit noch überwiegend durch freie Leute oder doch durch ungefesselte Knechte, daneben durch Akkordierung größerer Arbeiten an Unternehmer betrieben. Recht deutlich zeigt sich der Unterschied des italischen Sklavenwesens von dem sizilischen darin, daß bei dem sizilischen Sklavenaufstand 619-622 (135-1 S2) allein die Sklaven der nach italischer Weise lebenden mamertinischen Gemeinde sich nicht beteiligten.

Das Meer von Jammer und Elend, das in diesem elendesten aller Proletariate sich vor unsern Augen auftut, mag ergründen, wer den Blick in solche Tiefen wagt; es ist leicht möglich, daß mit denen der römischen Sklavenschaft verglichen die Summe aller Negerleiden ein Tropfen ist. Hier kommt es weniger auf den Notstand der Sklavenschaft selbst an als auf die Gefahren, die sie über den römischen Staat brachte und auf das Verhalten der Regierung denselben gegenüber. Daß dies Proletariat weder durch die Regierung ins Leben gerufen war noch geradezu von ihr beseitigt werden konnte, leuchtet ein; es hätte dies nur geschehen können durch Heilmittel, die noch schlimmer gewesen wären als das Übel. Der Regierung lag nur ob, teils die unmittelbare Gefahr für Eigentum und Leben, womit das Sklavenproletariat die Staatsangehörigen bedrohte, durch eine ernstliche Sicherheitspolizei abzuwenden, teils auf die möglichste Beschränkung des Proletariats durch Hebung der freien Arbeit hinzuwirken. Sehen wir, wie die römische Aristokratie diesen beiden Aufgaben nachkam.

Wie die Polizei gehandhabt ward, zeigen die allerorts ausbrechenden Sklavenverschwörungen und Sklavenkriege. In Italien schienen die wüsten Vorgänge, wie sie in den unmittelbaren Nachwehen des Hannibalischen Krieges vorgekommen waren, sich jetzt zu erneuern; auf einmal mußte man in der Hauptstadt 150, in Minturnae 450, in Sinuessa gar 4000 Sklaven aufgreifen und hinrichten lassen (621 133). Noch schlimmer stand es begreiflicherweise in den Provinzen. Auf dem großen Sklavenmarkt zu Delos und in den attischen Silbergruben hatte man um dieselbe Zeit die aufständischen Sklaven mit den Waffen zu Paaren zu treiben. Der Krieg gegen Aristonikos und seine kleinasiatischen „Sonnenstädter“ war wesentlich ein Krieg der Besitzenden gegen die empörten Sklaven. Am ärgsten aber stand es natürlicherweise in dem gelobten Lande des Plantagensystems, in Sizilien. Die Räuberwirtschaft war daselbst, zumal im Binnenlande, längst ein stehendes Übel; sie fing an, sich zur Insurrektion zu steigern. Ein reicher und mit den italischen Herren in industrieller Exploitierung seines lebendigen Kapitals wetteifernder Pflanzer von Enna (Castrogiovanni), Damophilos, ward von seinen erbitterten Feldsklaven überfallen und ermordet; worauf die wilde Schar in die Stadt Enna strömte und dort derselbe Vorgang in größerem Maßstab sich erneuerte. In Masse erhoben die Sklaven sich gegen ihre Herren, töteten oder knechteten sie und riefen an die Spitze des schon ansehnlichen Insurgentenheeres einen Wundermann aus dem syrischen Apameia, der Feuer zu speien und zu orakeln verstand, bisher als Sklave Eunus genannt, jetzt als Haupt der Insurgenten Antiochos der König der Syrer. Warum auch nicht? Hatte doch wenige Jahre zuvor ein anderer syrischer Knecht, der nicht einmal ein Prophet war, in Antiocheia selbst das königliche Stirnband der Seleukiden getragen. Der tapfere „Feldherr“ des neuen Königs, der griechische Sklave Achäos, durchstreifte die Insel, und nicht bloß die wilden Hirten strömten von nah und fern unter die seltsamen Fahnen – auch die freien Arbeiter, die den Pflanzern alles Üble gönnten, machten mit den empörten Sklaven gemeinschaftliche Sache. In einer anderen Gegend Siziliens folgte ein kilikischer Sklave, Kleon, einst in seiner Heimat ein dreister Räuber, dem gegebenen Beispiel und besetzte Akragas, und da die Häupter miteinander sich vertrugen, gelang es ihnen nach manchen geringeren Erfolgen zuletzt, den Prätor Lucius Hypsaeus selbst mit seiner größtenteils aus sizilischen Milizen bestehenden Armee gänzlich zu schlagen und sein Lager zu erobern. Hierdurch kam fast die ganze Insel in die Gewalt der Aufständischen, deren Zahl nach den mäßigsten Angaben sich auf 70000 Waffenfähige belaufen haben soll; die Römer sahen sich genötigt, drei Jahre nacheinander (620-622 134-132) Konsuln und konsularische Heere nach Sizilien abzusenden, bis nach manchen unentschiedenen, ja zum Teil unglücklichen Gefechten endlich mit der Einnahme von Tauromenion und von Enna der Aufstand überwältigt war. Vor der letzteren Stadt, in die sich die entschlossenste Mannschaft der Insurgenten geworfen hatte, um sich in dieser unbezwinglichen Stellung zu verteidigen, wie sich Männer verteidigen, die an Rettung wie an Begnadigung verzweifeln, lagerten die Konsuln Lucius Calpurnius Piso und Publius Rupilius zwei Jahre hindurch und bezwangen sie endlich mehr durch den Hunger als durch die Waffen19.

Das waren die Ergebnisse der Sicherheitspolizei, wie sie von dem römischen Senat und dessen Beamten in Italien und den Provinzen gehandhabt ward. Wenn die Aufgabe, das Proletariat zu beseitigen, die ganze Macht und Weisheit der Regierung erfordert und nur zu oft übersteigt, so ist dagegen die polizeiliche Niederhaltung desselben für jedes größere Gemeinwesen verhältnismäßig leicht. Es stände wohl um die Staaten, wenn die besitzlosen Massen ihnen keine andere Gefahr bereiteten, als wie sie auch droht von Bären und Wölfen; nur der Ängsterling und wer mit der albernen Angst der Menge Geschäfte macht, prophezeit den Untergang der bürgerlichen Ordnung in Sklavenaufständen oder Proletariatinsurrektionen. Aber selbst dieser leichteren Aufgabe der Bändigung der gedrückten Massen ward von der römischen Regierung trotz des tiefsten Friedens und der unerschöpflichen Hilfsquellen des Staats keineswegs genügt. Es war dies ein Zeichen ihrer Schwäche; aber nicht ihrer Schwäche allein. Von Rechts wegen war der römische Statthalter verpflichtet, die Landstraßen rein zu halten und die aufgegriffenen Räuber, wenn es Sklaven waren, ans Kreuz schlagen zu lassen; natürlich, denn Sklavenwirtschaft ist nicht möglich ohne Schreckensregiment. Allein in dieser Zeit war in Sizilien wohl auch mitunter, wenn die Straßen allzu unsicher wurden, von dem Statthalter eine Razzia veranstaltet, aber um es mit den italischen Pflanzern nicht zu verderben, wurden die gefangenen Räuber von der Behörde in der Regel an ihre Herren zu gutfindender Bestrafung abgegeben; und diese Herren waren sparsame Leute, welche ihren Hirtenknechten, wenn sie Kleider begehrten, mit Prügel antworteten und mit der Frage, ob denn die Reisenden nackt durch das Land zögen. Die Folge solcher Konnivenz war denn, daß nach Überwältigung des Sklavenaufstandes der Konsul Publius Rupilius alles, was lebend in seine Hände kam, es heißt über 20000 Menschen, ans Kreuz schlagen ließ. Es war freilich nicht länger möglich, das Kapital zu schonen.

Unendlich schwerer zu gewinnende, freilich auch unendlich reichere Früchte verhieß die Fürsorge der Regierung für Hebung der freien Arbeit und folgeweise für Beschränkung des Sklavenproletariats. Leider geschah in dieser Beziehung schlechterdings gar nichts. In der ersten sozialen Krise hatte man gesetzlich dem Gutsherrn vorgeschrieben, eine nach der Zahl seiner Sklavenarbeiter abgemessene Anzahl freier Arbeiter zu verwenden. Jetzt ward auf Veranlassung der Regierung eine punische Schrift über den Landbau, ohne Zweifel eine Anweisung zur Plantagenwirtschaft nach karthagischer Art, zu Nutz und Frommen der italischen Spekulation ins Lateinische übersetzt -das erste und einzige Beispiel einer von dem römischen Senat veranlaßten literarischen Unternehmung! Dieselbe Tendenz offenbart sich in einer wichtigeren Angelegenheit oder vielmehr in der Lebensfrage für Rom, in dem Kolonisierungssystem. Es bedurfte nicht der Weisheit, nur der Erinnerung an den Verlauf der ersten sozialen Krise Roms, um zu begreifen, daß gegen ein agrikoles Proletariat die einzige ernstliche Abhilfe in einem umfassenden und regularisierten Emigrationssystem bestand, wozu die äußeren Verhältnisse Roms die günstigste Gelegenheit darboten. Bis gegen das Ende des sechsten Jahrhunderts hatte man in der Tat dem fortwährenden Zusammenschwinden des italischen Kleinbesitzes durch fortwährende Gründung neuer Bauernhufen entgegengewirkt. Es war dies zwar keineswegs in dem Maße geschehen, wie es hätte geschehen können und sollen; man hatte nicht bloß das seit alten Zeiten von Privaten okkupierte Domanialland nicht eingezogen, sondern auch weitere Okkupationen neugewonnenen Landes gestattet und andere sehr wichtige Erwerbungen, wie namentlich das Gebiet von Capua, zwar nicht der Okkupation preisgegeben, aber doch auch nicht zur Verteilung gebracht, sondern als nutzbare Domäne verwertet. Dennoch hatte die Landanweisung segensreich gewirkt, vielen der Notleidenden Hilfe und allen Hoffnung gegeben. Allein, nach der Gründung von Luna (577 177) findet sich, außer der vereinzelt stehenden Anlage der picenischen Kolonie Auximum (Osimo) im Jahre 597 (157), von weiteren Landanweisungen auf lange hinaus keine Spur. Die Ursache ist einfach. Da seit der Besiegung der Boier und Apuaner außer den wenig lockenden ligurischen Tälern neues Gebiet in Italien nicht gewonnen ward, war daselbst kein anderes Land zu verteilen als das verpachtete oder okkupierte Domanialland, dessen Antastung der Aristokratie begreiflicherweise jetzt ebensowenig genehm war wie vor dreihundert Jahren. Das außerhalb Italien! gewonnene Gebiet zur Verteilung zu bringen, schien aber aus politischen Gründen unzulässig; Italien sollte das herrschende Land bleiben und die Scheidewand zwischen italischen Herren und dienenden Provinzialen nicht fallen. Wenn man nicht die Rücksichten der höheren Politik oder gar die Standesinteressen beiseite setzen wollte, blieb der Regierung nichts übrig, als dem Ruin des italischen Bauernstandes zuzusehen, und also geschah es. Die Kapitalisten fuhren fort, die kleinen Besitzer auszukaufen, auch wohl, wenn sie eigensinnig blieben, deren Äcker ohne Kaufbrief einzuziehen, wobei es begreiflich nicht immer gütlich abging – eine besonders beliebte Weise war es, dem Bauer, während er im Felde stand, Weib und Kinder vom Hofe zu stoßen und ihn mittels der Theorie der vollendeten Tatsache zur Nachgiebigkeit zu bringen. Die Gutsbesitzer fuhren fort, statt der freien Arbeiter sich vorwiegend der Sklaven zu bedienen, schon deshalb, weil diese nicht wie jene zum Kriegsdienst abgerufen werden konnten, und dadurch das freie Proletariat auf das gleiche Niveau des Elends mit der Sklavenschaft herabzudrücken. Sie fuhren fort, durch das spottwohlfeile sizilische Sklavenkorn das italische von dem hauptstädtischen Markt zu verdrängen und dasselbe auf der ganzen Halbinsel zu entwerten. In Etrurien hatte die alte einheimische Aristokratie im Bunde mit den römischen Kapitalisten schon im Jahre 520 (184) es so weit gebracht, daß es dort keinen freien Bauern mehr gab. Es konnte auf dem Markt der Hauptstadt laut gesagt werden, daß die Tiere ihr Lager hätten, den Bürgern aber nichts geblieben sei als Luft und Sonnenschein und daß die, welche die Herren der Welt hießen, keine Scholle mehr ihr eigen nennten. Den Kommentar zu diesen Worten lieferten die Zählungslisten der römischen Bürgerschaft. Vom Ende des Hannibalischen Krieges bis zum Jahre 595 (159) ist die Bürgerzahl in stetigem Steigen, wovon die Ursache wesentlich zu suchen ist in den fortdauernden und ansehnlichen Verteilungen von Domanialland; nach 595 (159), wo die Zählung 328000 waffenfähige Bürger ergab, zeigt sich dagegen ein regelmäßiges Sinken, indem sich die Liste im Jahre 600 (154) auf 324000, im Jahre 607 (147) auf 322000, im Jahre 623 (131) auf 319000 waffenfähige Bürger stellt – ein erschreckendes Ergebnis für eine Zeit tiefen inneren und äußeren Friedens. Wenn das so fortging, löste die Bürgerschaft sich auf in Pflanzer und Sklaven und konnte schließlich der römische Staat, wie es bei den Parthern geschah, seine Soldaten auf dem Sklavenmarkt kaufen.

So standen die äußeren und inneren Verhältnisse Roms, als der Staat eintrat in das siebente Jahrhundert seines Bestandes. Wohin man auch das Auge wandte, fiel es auf Mißbräuche und Verfall; jedem einsichtigen und wohlwollenden Mann mußte die Erwägung sich aufdrängen, ob denn hier nicht zu helfen und zu bessern sei. Es fehlte an solchen in Rom nicht; aber keiner schien mehr berufen zu dem großen Werk der politischen und sozialen Reform als der Lieblingssohn des Aemilius Paullus, der Adoptivenkel des großen Scipio, der dessen glorreichen Afrikanernamen nicht bloß kraft Erb-, sondern auch kraft eigenen Rechtes trug, Publius Cornelius Scipio Aemilianus Africanus (570-625 184-129). Gleich seinem Vater war er ein maßvoller, durch und durch gesunder Mann, nie krank am Körper und nie unsicher über den nächsten und notwendigen Entschluß. Schon in seiner Jugend hatte er sich ferngehalten von dem gewöhnlichen Treiben der politischen Anfänger, dem Antichambrieren in den Zimmern der vornehmen Senatoren und den gerichtlichen Deklamationen. Dagegen liebte er die Jagd – als Siebzehnjähriger hatte er, nachdem er den Feldzug gegen Perseus unter seinem Vater mit Auszeichnung mitgemacht hatte, als Belohnung dafür sich freie Pirsch in dem seit vier Jahren unberührten Wildhag der Könige von Makedonien erbeten – und vor allen Dingen wandte er gern seine Muße auf wissenschaftlichen und literarischen Genuß. Durch die Fürsorge seines Vaters war er früh in diejenige echte griechische Bildung eingeführt worden, welche über das geschmacklose Hellenisieren der gemeinen Halbbildung hinaushob; durch seine ernste und treffende Würdigung des Echten und des Schlechten in dem griechischen Wesen und durch sein adliges Auftreten imponierte dieser Römer den Höfen des Ostens, ja sogar den spottlustigen Alexandrinern. Seinen Hellenismus erkannte man vor allem in der feinen Ironie seiner Rede und in seinem klassisch reinen Latein. Obwohl nicht eigentlich Schriftsteller, zeichnete er doch wie Cato seine politischen Reden auf – sie wurden gleich den Briefen seiner Adoptivschwester, der Mutter der Gracchen, von den späteren Literatoren als Meisterstücke mustergültiger Prosa geschätzt – und zog mit Vorliebe die besseren griechischen und römischen Literaten in seinen Kreis, welcher plebejische Umgang ihm freilich nicht wenig verdacht ward von denjenigen Kollegen im Senat, die auf ihre edle Geburt als einzige Auszeichnung angewiesen waren. Ein sittlich fester und zuverlässiger Mann, galt sein Wort bei Freund und Feind; er mied Bauten und Spekulationen und lebte einfach; dafür handelte er in Geldangelegenheiten nicht bloß ehrlich und uneigennützig, sondern auch mit einer dem kaufmännischen Sinn seiner Zeitgenossen seltsam dünkenden Zartheit und Liberalität. Er war ein tüchtiger Soldat und Offizier; aus dem Afrikanischen Krieg brachte er den Ehrenkranz heim, der wegen Rettung gefährdeter Bürger mit eigener Lebensgefahr erteilt zu werden pflegte, und beendete den Krieg als Feldherr, den er als Offizier begonnen hatte; an wirklich schwierigen Aufgaben sein Feldherrngeschick zu erproben, boten die Umstände ihm keine Gelegenheit. Scipio war so wenig wie sein Vater eine geniale Natur – davon zeugt schon seine Vorliebe für Xenophon, den nüchternen Militär und korrekten Schriftsteller –, aber ein rechter und echter Mann, der vor andern berufen schien, dem beginnenden Verfall durch organische Reformen zu wehren. Um so bezeichnender ist es, daß er es nicht versucht hat. Zwar half er, wo und wie er konnte, Mißbräuche abstellen und verhindern und arbeitete namentlich hin auf Verbesserung der Rechtspflege. Hauptsächlich durch seinen Beistand vermochte Lucius Cassius, ein tüchtiger Mann von altväterischer Strenge und Ehrenhaftigkeit, gegen den heftigsten Widerstand der Optimaten, sein Stimmgesetz durchzubringen, welches für die noch immer den wichtigsten Teil der Kriminaljurisdiktion umfassenden Volksgerichte die geheime Abstimmung einführte. Ebenso zog er, der die Knabenanklagen nicht hatte mitmachen mögen, in seinen reifen Jahren selbst mehrere der schuldigsten Männer der Aristokratie vor die Gerichte. In gleichem Geiste hat er als Feldherr vor Karthago und vor Numantia die Weiber und die Pfaffen zu den Toren des Lagers hinausgejagt und das Soldatengesindel wieder zurück gezwungen unter den eisernen Druck der alten Heereszucht, als Zensor (612 142) unter der vornehmen Welt der glattkinnigen Manschettenträger aufgeräumt und mit ernsten Worten die Bürgerschaft ermahnt, an den rechtschaffenen Sitten der Väter treulich zu halten. Aber niemand, und er selber am wenigsten, konnte es verkennen, daß die Verschärfung der Rechtspflege und das vereinzelte Dazwischenfahren nicht einmal Anfänge waren zur Heilung der organischen Übel, an denen der Staat krankte. An diese hat Scipio nicht gerührt. Gaius Laelius (Konsul 614 140), Scipios älterer Freund und sein politischer Lehrmeister und Vertrauter, hatte den Plan gefaßt, die Einziehung des unvergebenen, aber vorläufig okkupierten italischen Domaniallandes vorzuschlagen und durch dessen Aufteilung der zusehends verfallenden italischen Bauernschaft Hilfe zu bringen; allein er stand von dem Vorschlag ab, als er sah, welchen Sturm er zu erregen im Begriff war, und ward fortan „der Verständige“ genannt. Auch Scipio dachte also. Er war von der Größe des Übels völlig durchdrungen und griff, wo er nur sich selber wagte, mit ehrenwertem Mut ohne Ansehen der Person rücksichtslos an und durch; allein er hatte sich auch überzeugt, daß dem Lande nur zu helfen sei um den Preis derselben Revolution, die im vierten und fünften Jahrhundert aus der Reformfrage sich entsponnen hatte, und ihm schien, mit Recht oder mit Unrecht, das Heilmittel schlimmer als das Übel. So stand er mit dem kleinen Kreis seiner Freunde zwischen den Aristokraten, die ihm seine Befürwortung des Cassischen Gesetzes nie verziehen, und den Demokraten, denen er doch auch nicht genügte noch genügen wollte, während seines Lebens einsam, nach seinem Tode gefeiert von beiden Parteien, bald als Vormann der Aristokratie, bald als Begünstiger der Reform. Bis auf seine Zeit hatten die Zensoren bei der Niederlegung ihres Amtes die Götter angerufen, dem Staat größere Macht und Herrlichkeit zu verleihen; der Zensor Scipio betete, daß sie geneigen möchten, den Staat zu erhalten. Sein ganzes Glaubensbekenntnis liegt in dem schmerzlichen Ausruf.

Aber wo der Mann verzagte, der zweimal das römische Heer aus tiefem Verfall zum Siege geführt hatte, da getraute sich ein tatenloser Jüngling, zum Retter Italiens sich aufzuwerfen. Er hieß Tiberius Sempronius Gracchus (591-621 163-133). Sein gleichnamiger Vater (Konsul 577, 591; Zensor 585 177, 163;169) war das rechte Musterbild eines römischen Aristokraten. Die glänzende, nicht ohne Bedrückung der abhängigen Gemeinden zuwege gebrachte Pracht seiner ädilizischen Spiele hatte ihm schweren und verdienten Tadel vom Senat zugezogen, während er durch sein Einschreiten in dem leidigen Prozeß gegen die persönlich ihm verfeindeten Scipionen sein ritterliches und wohl auch sein Standesgefühl, durch sein energisches Auftreten gegen die Freigelassenen in seiner Zensur seine konservative Gesinnung betätigte und als Statthalter der Ebroprovinz durch Tapferkeit und vor allem durch Gerechtigkeit sich um sein Vaterland ein bleibendes Verdienst und zugleich in den Gemütern der unterworfenen Nation ein dauerndes Gedächtnis in Ehrfurcht und Liebe erwarb.

Seine Mutter Cornelia war die Tochter des Siegers von Zama, welcher ebenjenes hochherzigen Dazwischentretens wegen den bisherigen Gegner sich zum Schwiegersohn erkoren hatte, sie selbst eine hochgebildete und bedeutende Frau, die nach dem Tode ihres viel älteren Gemahls die Hand des Königs von Ägypten zurückgewiesen hatte und im Andenken an den Gemahl und den Vater die drei ihr gebliebenen Kinder erzog. Der ältere von den beiden Söhnen, Tiberius, war eine gute und sittliche Natur, sanften Blicks und ruhigen Wesens, wie es schien, zu allem andern eher bestimmt als zum Agitator der Massen. Mit allen seinen Beziehungen und Anschauungen gehörte er dem Scipionischen Kreise an, dessen feine griechische und nationale Durchbildung er und seine Geschwister teilten. Scipio Aemilianus war zugleich sein Vetter und seiner Schwester Gemahl; unter ihm hatte Tiberius als Achtzehnjähriger die Erstürmung Karthagos mitgemacht und durch seine Tapferkeit das Lob des strengen Feldherrn und kriegerische Auszeichnungen erworben. Daß der tüchtige junge Mann die Anschauungen über den Verfall des Staats an Haupt und Gliedern, wie sie in diesem Kreise gangbar waren, die Gedanken namentlich über die Hebung des italischen Bauernstandes mit aller Lebendigkeit und allem Rigorismus der Jugend in sich aufnahm und steigerte, ist begreiflich; waren es doch nicht bloß die jungen Leute, denen das Zurückweichen des Laelius vor der Durchführung seiner Reformideen nicht verständig erschien, sondern schwach. Appius Claudius, der gewesene Konsul (611 143) und Zensor (618 136), einer der angesehensten Männer des Senats, tadelte mit all der gewaltsamen Leidenschaftlichkeit, die in dem Geschlecht der Claudier erblich war und blieb, daß der Scipionische Kreis den Plan der Domänenaufteilung so rasch wieder habe fallen lassen; um so bitterer, wie es scheint, weil er mit Scipio Aemilianus bei der Bewerbung um die Zensur in persönliche Konflikte gekommen war. Ebenso sprach Publius Crassus Mucianus sich aus, der derzeitige Oberpontifex, als Mensch und Rechtsgelehrter im Senat wie in der Bürgerschaft allgemein verehrt. Sogar dessen Bruder Publius Mucius Scaevola, der Begründer der wissenschaftlichen Jurisprudenz in Rom, schien dem Reformplan nicht abgeneigt, und seine Stimme war von um so größerem Gewicht, als er gewissermaßen außerhalb der Parteien stand. Ähnlich dachte Quintus Metellus, der Überwinder Makedoniens und der Achäer, mehr aber noch als seiner Kriegstaten halber geachtet als ein Muster alter Zucht und Sitte in seinem häuslichen wie in seinem öffentlichen Leben. Tiberius Gracchus stand diesen Männern nahe, namentlich dem Appius, dessen Tochter er, und dem Mucianus, dessen Tochter sein Bruder zum Weib genommen hatte; es war kein Wunder, daß der Gedanke sich in ihm regte, den Reformplan selber wiederaufzunehmen, sobald er sich in einer Stellung befinden werde, die ihm verfassungsmäßig die Initiative gestatte. Persönliche Motive mochten ihn hierin bestärken. Der Friedensvertrag, den Mancinus 617 (147) mit den Numantinern abschloß, war wesentlich Gracchus‘ Werk; daß der Senat ihn kassiert hatte, daß der Feldherr deswegen den Feinden ausgeliefert worden und Gracchus mit den übrigen höheren Offizieren dem gleichen Schicksal nur durch die größere Gunst, deren er bei der Bürgerschaft genoß, entgangen war, konnte den jungen rechtschaffenen und stolzen Mann nicht milder stimmen gegen die herrschende Aristokratie. Die hellenischen Rhetoren, mit denen er gern philosophierte und politisierte, der Mytilenäer Diophanes, der Kymäer Gaius Blossius, nährten in seiner Seele die Ideale, mit denen er sich trug; als seine Absichten in weiteren Kreisen bekannt wurden, fehlte es nicht an billigenden Stimmen, und mancher öffentliche Anschlag forderte den Enkel des Afrikaners auf, des armen Volkes, der Rettung Italiens zu gedenken.

Am 10. Dezember 620 (134) übernahm Tiberius Gracchus das Volkstribunat. Die entsetzlichen Folgen der bisherigen Mißregierung, der politische, militärische, ökonomische, sittliche Verfall der Bürgerschaft lagen eben damals nackt und bloß jedermann vor Augen. Von den beiden Konsuln dieses Jahres focht der eine ohne Erfolg in Sizilien gegen die aufständischen Sklaven und war der andere, Scipio Aemilianus, seit Monaten beschäftigt, eine kleine spanische Landstadt nicht zu besiegen, sondern zu erdrücken. Wenn es noch einer besonderen Aufforderung bedurfte, um Gracchus‘ Entschluß zur Tat werden zu lassen, sie lag in diesen, jedes Patrioten Gemüt mit unnennbarer Angst erfüllenden Zuständen. Sein Schwiegervater versprach Beistand mit Rat und Tat, man durfte hoffen auf die Unterstützung des Juristen Scaevola, der kurz vorher zum Konsul für 621 (133) erwählt worden war. So beantragte Gracchus gleich nach Antritt seines Amtes die Erlassung eines Ackergesetzes, das in gewissem Sinn nichts war als eine Erneuerung des Licinisch-Sextischen vom Jahre 387 der Stadt (367). Es sollten danach die sämtlichen okkupierten und von den Inhabern ohne Entgelt benutzten Staatsländereien – die verpachteten, wie zum Beispiel das Gebiet von Capua, berührte das Gesetz nicht – von Staats wegen eingezogen werden, jedoch mit der Beschränkung, daß der einzelne Okkupant für sich 500 und für jeden Sohn 250, im ganzen jedoch nicht über 1000 Morgen zu bleibendem und garantiertem Besitz solle behalten oder dafür Ersatz in Land in Anspruch nehmen dürfen. Für etwaige, von den bisherigen Inhabern vorgenommene Verbesserungen, wie Gebäude und Pflanzungen, scheint man Entschädigung bewilligt zu haben. Das also eingezogene Domanialland sollte in Lose von 30 Morgen zerschlagen und diese teils an Bürger, teils an italische Bundesgenossen verteilt werden, nicht als freies Eigentum, sondern als unveräußerliche Erbpacht, deren Inhaber das Land zum Feldbau zu benutzen und eine mäßige Rente an die Staatskasse zu zahlen sich verpflichteten. Ein Kollegium von drei Männern, die als ordentliche und stehende Beamte der Gemeinde angesehen und jährlich von der Volksversammlung gewählt wurden, ward mit dem Einziehungs- und Aufteilungsgeschäft beauftragt, wozu später noch der wichtige und schwierige Auftrag kam, rechtlich festzustellen, was Domanialland und was Privateigentum sei. Die Aufteilung war demnach angelegt als auf unbestimmte Zeit fortgehend, bis daß die sehr ausgedehnten und schwer festzustellenden italischen Domänen reguliert sein würden. Mit dem Licinisch-Sextischen Gesetz verglichen waren neu in dem Sempronischen Ackergesetz teils die Klausel zu Gunsten der beerbten Besitzer, teils die für die neuen Landstellen beantragte Erbpachtgutsqualität und Unveräußerlichkeit, teils und vor allem die regulierte und dauernde Exekutive, deren Fehlen in dem älteren Gesetz hauptsächlich bewirkt hatte, daß dasselbe ohne nachhaltige praktische Anwendung geblieben war.

Den großen Grundbesitzern, die jetzt wie vor drei Jahrhunderten ihren wesentlichen Ausdruck fanden im Senat, war also der Krieg erklärt, und seit langem zum erstenmal stand wieder einmal ein einzelner Beamter in ernsthafter Opposition gegen die aristokratische Regierung. Sie nahm den Kampf auf in der für solche Fälle hergebrachten Weise, die Ausschreitungen des Beamtentums durch dieses selbst zu paralysieren. Ein Kollege des Gracchus, Marcus Octavius, ein entschlossener und von der Verwerflichkeit des beantragten Domanialgesetzes ernstlich überzeugter Mann, tat Einspruch, als dasselbe zur Abstimmung gebracht werden sollte; womit verfassungsmäßig der Antrag beseitigt war. Gracchus sistierte nun seinerseits die Staatsgeschäfte und die Rechtspflege und legte seine Siegel auf die öffentlichen Kassen; man nahm es hin – es war unbequem, aber das Jahr ging ja doch auch zu Ende. Gracchus, ratlos, brachte sein Gesetz zum zweitenmal zur Abstimmung; natürlich wiederholte Octavius seinen Einspruch, und auf die flehentliche Bitte seines Kollegen und bisherigen Freundes, ihm die Rettung Italiens nicht zu wehren, mochte er erwidern, daß darüber, wie Italien gerettet werden könne, eben die Ansichten verschieden, sein verfassungsmäßiges Recht aber, gegen den Antrag des Kollegen seines Veto sich zu bedienen, außer allem Zweifel sei. Der Senat machte jetzt den Versuch, Gracchus einen leidlichen Rückzug zu eröffnen; zwei Konsulare forderten ihn auf, die Angelegenheit in der Kurie weiterzuverhandeln, und eifrig ging der Tribun hierauf ein. Er suchte in diesen Antrag hineinzulegen, daß der Senat damit die Domanialaufteilung im Prinzip zugestanden habe; allein weder lag dies darin, noch war der Senat irgend geneigt, in der Sache nachzugeben; die Verhandlungen endigten ohne jedes Resultat. Die verfassungsmäßigen Wege waren erschöpft. In früheren Zeiten hatte man unter solchen Verhältnissen es sich nicht verdrießen lassen, den gestellten Antrag für dies Jahr zur Ruhe zu legen, aber in jedem folgenden ihn wiederaufzunehmen, bis der Ernst des Forderns und der Druck der öffentlichen Meinung den Widerstand brachen. Jetzt lebte man rascher. Gracchus schien auf dem Punkte angelangt, wo er entweder auf die Reform überhaupt verzichten oder die Revolution beginnen mußte; er tat das letztere, indem er mit der Erklärung vor die Bürgerschaft trat, daß entweder er oder Octavius aus dem Kollegium ausscheiden müsse, und diesem ansann, die Bürger darüber abstimmen zu lassen, welchen von ihnen sie entlassen wollten. Octavius weigerte sich natürlich, auf diesen wunderlichen Zweikampf einzugehen; die Interzession war eben dazu da, solchen Meinungsverschiedenheiten der Kollegen Raum zu gewähren. Da brach Gracchus die Verhandlung mit dem Kollegen ab und wandte sich an die versammelte Menge mit der Frage, ob nicht der Volkstribun, der dem Volk zuwiderhandle, sein Amt verwirkt habe; und die Versammlung, längst gewohnt, zu allen an sie gebrachten Anträgen ja zu sagen und größtenteils zusammengesetzt aus dem vom Lande hereingeströmten und bei der Durchführung des Gesetzes persönlich interessierten agrikolen Proletariat, bejahte fast einstimmig die Frage. Marcus Octavius ward auf Gracchus‘ Befehl durch die Gerichtsdiener von der Tribunenbank entfernt und hierauf unter allgemeinem Jubel das Ackergesetz durchgebracht und die ersten Teilungsherren ernannt. Die Stimmen fielen auf den Urheber des Gesetzes nebst seinem erst zwanzigjährigen Bruder Gaius und seinem Schwiegervater Appius Claudius. Eine solche Familienwahl steigerte die Erbitterung der Aristokratie. Als die neuen Beamten sich wie üblich an den Senat wandten, um ihre Ausstattungs- und Taggelder angewiesen zu erhalten, wurden jene verweigert und ein Taggeld angewiesen von 24 Assen (10 Groschen). Die Fehde griff immer weiter um sich und ward immer gehässiger und persönlicher. Das schwierige und verwickelte Geschäft der Abgrenzung, Einziehung und Aufteilung der Domänen trug den Hader in jede Bürgergemeinde, ja selbst in die verbündeten italischen Städte. Die Aristokratie hatte es kein Hehl, daß sie das Gesetz vielleicht, weil sie müsse, sich gefallen lassen, der unberufene Gesetzgeber aber ihrer Rache nimmermehr entgehen werde; und die Ankündigung des Quintus Pompeius, daß er den Gracchus an demselben Tage, wo er das Tribunat niederlege, in Anklagestand versetzen werde, war unter den Drohungen, die gegen den Tribun fielen, noch bei weitem nicht die schlimmste. Gracchus glaubte, wahrscheinlich mit Recht, seine persönliche Sicherheit bedroht und erschien auf dem Markt nicht mehr ohne eine Gefolge von drei- bis viertausend Menschen, worüber er selbst von dem der Reform an sich nicht abgeneigten Metellus im Senat bittere Worte hören wußte. Überhaupt, wenn er gemeint hatte, mit Durchbringung seines Ackergesetzes am Ziele zu sein, so hatte er jetzt zu lernen, daß er erst am Anfang stand. Das „Volk“ war ihm zu Dank verpflichtet; aber er war ein verlorener Mann, wenn er keinen anderen Schirm mehr hatte als diese Dankbarkeit des Volkes, wenn er demselben nicht unentbehrlich blieb und durch andere und weitergreifende Vorschläge neue und immer neue Interessen und Hoffnungen an sich knüpfte. Ebendamals war durch das Testament des letzten Königs von Pergamon den Römern Reich und Vermögen der Attaliden zugefallen; Gracchus beantragte bei dem Volk, den pergamenischen Schatz unter die neuen Landbesitzer zur Anschaffung des erforderlichen Beschlags zu verteilen und vindizierte überhaupt, gegen die bestehende Übung, der Bürgerschaft das Recht, über die neue Provinz definitiv zu entscheiden. Weitere populäre Gesetze, über Abkürzung der Dienstzeit, über Ausdehnung des Provokationsrechts, über die Aufhebung des Vorrechts der Senatoren, ausschließlich als Zivilgeschworene zu fungieren, sogar über die Aufnahme der italischen Bundesgenossen in den römischen Bürgerverband, soll er vorbereitet haben; wie weit seine Entwürfe in der Tat gereicht haben, läßt sich nicht entscheiden, gewiß ist nur, daß Gracchus seine einzige Rettung darin sah, das Amt, das ihn schützte, von der Bürgerschaft auf ein zweites Jahr verliehen zu erhalten, und daß er, um diese verfassungswidrige Verlängerung zu bewirken, weitere Reformen in Aussicht stellte. Hatte er anfangs sich eingesetzt, um das Gemeinwesen zu retten, so wußte er jetzt schon, um sich zu retten, das Gemeinwesen aufs Spiel setzen. Die Bezirke traten zusammen zur Wahl der Tribunen für das nächste Jahr, und die ersten Abteilungen gaben ihre Stimmen für Gracchus; aber die Gegenpartei drang mit ihrem Einspruch schließlich wenigstens insoweit durch, daß die Versammlung unverrichteter Sache aufgelöst und die Entscheidung auf den folgenden Tag verschoben ward. Für diesen setzte Gracchus alle Mittel in Bewegung, erlaubte und unerlaubte: er zeigte sich dem Volke im Trauergewand und empfahl ihm seinen unmündigen Knaben; für den Fall, daß die Wahl abermals durch Einspruch gestört werden würde, traf er Vorkehrungen, den Anhang der Aristokratie mit Gewalt von dem Versammlungsplatz vor dem Kapitolinischen Tempel zu vertreiben. So kam der zweite Wahltag heran; die Stimmen fielen wie an dem vorhergehenden und wieder erfolgte der Einspruch; der Auflauf begann. Die Bürger zerstreuten sich; die Wahlversammlung war faktisch aufgehoben; der Kapitolinische Tempel ward geschlossen; man erzählte sich in der Stadt, bald daß Tiberius die sämtlichen Tribunen abgesetzt habe, bald daß er ohne Wiederwahl sein Amt fortzuführen entschlossen sei. Der Senat versammelte sich im Tempel der Treue, hart bei dem Jupitertempel; die erbittertsten Gegner des Gracchus führten in der Sitzung das Wort; als Tiberius die Hand nach der Stirn bewegte, um in dem wilden Getümmel dem Volke zu erkennen zu geben, daß sein Leben bedroht sei, hieß es, er fordere schon die Leute auf, sein Haupt mit der königlichen Binde zu schmücken. Der Konsul Scaevola ward angegangen, den Hochverräter sofort töten zu lassen; als der gemäßigte, der Reform an sich keineswegs abgeneigte Mann das ebenso unsinnige wie barbarische Begehren unwillig zurückwies, rief der Konsular Publius Scipio Nasica, ein harter und leidenschaftlicher Aristokrat, die Gleichgesinnten auf, sich zu bewaffnen, wie sie könnten, und ihm zu folgen. Von den Landleuten war zu den Wahlen fast niemand in die Stadt gekommen; das Stadtvolk wich scheu auseinander, als es die vornehmen Männer mit Stuhlbeinen und Knütteln in den Händen zornigen Auges heranstürmen sah; Gracchus versuchte, von wenigen begleitet, zu entkommen. Aber er stürzte auf der Flucht am Abhang des Kapitols und ward von einem der Wütenden – Publius Satureius und Lucius Rufus stritten sich später um die Henkerehre – vor den Bildsäulen der sieben Könige am Tempel der Treue durch einen Knüttelschlag auf die Schläfe getötet; mit ihm dreihundert andere Männer, keiner durch Eisenwaffen. Als es Abend geworden war, wurden die Körper in den Tiberfluß gestürzt; vergebens bat Gaius, ihm die Leiche seines Bruders zur Bestattung zu vergönnen. Solch einen Tag hatte Rom noch nicht erlebt. Der mehr als hundertjährige Hader der Parteien während der ersten sozialen Krise hatte zu keiner Katastrophe geführt, wie diejenige war, mit der die zweite begann. Auch den besseren Teil der Aristokratie mochte schaudern; indes man konnte nicht mehr zurück. Man hatte nur die Wahl, eine große Zahl der zuverlässigsten Parteigenossen der Rache der Menge preiszugeben oder die Verantwortung der Untat auf die Gesamtheit zu übernehmen; das letztere geschah. Man hielt offiziell daran fest, daß Gracchus die Krone habe nehmen wollen, und rechtfertigte diesen neuesten Frevel mit dem uralten des Ahala; ja man überwies sogar die weitere Untersuchung gegen Gracchus‘ Mitschuldige einer besonderen Kommission und ließ deren Vormann, den Konsul Publius Popillius, dafür sorgen, daß durch Blutsentenzen gegen eine große Anzahl geringer Leute der Bluttat gegen Gracchus nachträglich eine Art rechtlichen Gepräges aufgedrückt ward (622 132). Nasica, gegen den vor allen anderen die Menge Rache schnaubte und der wenigstens den Mut hatte, sich offen vor dem Volke zu seiner Tat zu bekennen und sie zu vertreten, ward unter ehrenvollen Vorwänden nach Asien gesandt und bald darauf (624 130) abwesend mit dem Oberpontifikat bekleidet. Auch die gemäßigte Partei trennte sich hierin nicht von ihren Kollegen. Gaius Laelius beteiligte sich bei den Untersuchungen gegen die Gracchaner; Publius Scaevola, der die Ermordung zu verhindern gesucht hatte, verteidigte sie später im Senat; als Scipio Aemilianus nach seiner Rückkehr aus Spanien (622 132) aufgefordert ward, sich öffentlich darüber zu erklären, ob er die Tötung seines Schwagers billige oder nicht, gab er die wenigstens zweideutige Antwort, daß, wofern er nach der Krone getrachtet habe, er mit Recht getötet worden sei.

Versuchen wir über diese folgenreichen Ereignisse zu einem Urteil zu gelangen. Die Einrichtung eines Beamtenkollegiums, das dem gefährlichen Zusammenschwinden der Bauernschaft durch umfassende Gründung neuer Kleinstellen aus dem gesamten, dem Staat zur Verfügung stehenden italischen Grundbesitz entgegenzuwirken hatte, war freilich kein Zeichen eines gesunden volkswirtschaftlichen Zustandes, aber unter den obwaltenden politischen und sozialen Verhältnissen zweckmäßig. Die Aufteilung der Domänen ferner war an sich keine politische Parteifrage; sie konnte bis auf die letzte Scholle durchgeführt werden, ohne daß die bestehende Verfassung geändert, das Regiment der Aristokratie irgend erschüttert ward. Ebensowenig konnte hier von einer Rechtsverletzung die Rede sein. Anerkanntermaßen war der Eigentümer des okkupierten Landes der Staat; der Inhaber konnte als bloß geduldeter Besitzer in der Regel nicht einmal den gutgläubigen Eigentumsbesitz sich zuschreiben, und wo er ausnahmsweise es konnte, stand ihm entgegen, daß gegen den Staat nach römischem Landrecht die Verjährung nicht lief. Die Domänenaufteilung war keine Aufhebung, sondern eine Ausübung des Eigentums; über die formelle Rechtsbeständigkeit derselben waren alle Juristen einig. Allein damit, daß die Domänenaufteilung weder der bestehenden Verfassung Eintrag tat noch eine Rechtsverletzung in sich schloß, war der Versuch, diese Rechtsansprüche des Staats jetzt durchzuführen, politisch noch keineswegs gerechtfertigt. Was man wohl in unsern Tagen erinnert hat, wenn ein großer Grundherr rechtlich ihm zustehende, aber tatsächlich seit langen Jahren nicht erhobene Ansprüche plötzlich in ihrem ganzen Umfang geltend zu machen beginnt, konnte mit gleichem und besserem Rechte auch gegen die Gracchische Rogation eingewendet werden. Unleugbar hatten diese okkupierten Domänen zum Teil seit dreihundert Jahren sich in erblichem Privatbesitz befunden; das Bodeneigentum des Staats, das seiner Natur nach überhaupt leichter als das des Bürgers den privatrechtlichen Charakter verliert, war an diesen Grundstücken so gut wie verschollen und die jetzigen Inhaber durchgängig durch Kauf oder sonstigen lästigen Erwerb zu diesen Besitzungen gelangt. Der Jurist mochte sagen was er wollte; den Geschäftsleuten erschien die Maßregel als eine Expropriation der großen Grundbesitzer zum Besten des agrikolen Proletariats; und in der Tat konnte auch kein Staatsmann sie anders bezeichnen. Daß die leitenden Männer der catonischen Epoche nicht anders geurteilt hatten, zeigt sehr klar die Behandlung eines ähnlichen, zu ihrer Zeit vorgekommenen Falles. Das im Jahre 543 (211) zur Domäne geschlagene Gebiet von Capua und den Nachbarstädten war in den folgenden unruhigen Zeiten tatsächlich größtenteils in Privatbesitz übergegangen. In den letzten Jahren des sechsten Jahrhunderts, wo man vielfältig, besonders durch Catos Einfluß bestimmt, die Zügel des Regiments wieder straffer anzog, beschloß die Bürgerschaft, das campanische Gebiet wieder an sich zu nehmen und zum Besten des Staatsschatzes zu verpachten (582 172). Dieser Besitz beruhte auf einer nicht durch vorgängige Aufforderung, sondern höchstens durch Konnivenz der Behörden gerechtfertigten und nirgends viel über ein Menschenalter hinaus fortgesetzten Okkupation; dennoch wurden die Inhaber nicht anders als gegen eine im Auftrag des Senats von dem Stadtprätor Publius Lentulus ausgeworfene Entschädigungssumme aus dem Besitz gesetzt (ca. 589 165)20. Weniger bedenklich vielleicht, aber doch auch nicht unbedenklich war es, daß für die neuen Landlose Erbpachtqualität und Unveräußerlichkeit festgestellt ward. Die liberalsten Grundsätze in bezug auf die Verkehrsfreiheit hatten Rom groß gemacht, und es vertrug sich sehr wenig mit dem Geist der römischen Institutionen, daß diese neuen Bauern von oben herab angehalten wurden, ihr Grundstück in einer bestimmten Weise zu bewirtschaften, und daß für dasselbe Retraktrechte und alle der Verkehrsbeschränkung anhängenden Einschnürungsmaßregeln festgestellt wurden.

Man wird einräumen, daß diese Einwürfe gegen das Sempronische Ackergesetz nicht leicht wogen. Dennoch entscheiden sie nicht. Jene tatsächliche Expropriation der Domänenbesitzer war sicher ein großes Übel; aber sie war dennoch das einzige Mittel, um einem noch viel größeren, ja den Staat geradezu vernichtenden, dem Untergang des italischen Bauernstandes, wenigstens auf lange hinaus zu steuern. Darum begreift man es wohl, warum die ausgezeichnetsten und patriotischsten Männer auch der konservativen Partei, an ihrer Spitze Gaius Laelius und Scipio Aemilianus, die Domänenaufteilung an sich billigten und wünschten.

Aber wenn der Zweck des Tiberius Gracchus wohl der großen Majorität der einsichtigen Vaterlandsfreunde gut und heilsam erschienen ist, so hat dagegen der Weg, den er einschlug, keines einzigen nennenswerten und patriotischen Mannes Billigung gefunden und finden können. Rom wurde um diese Zeit regiert durch den Senat. Wer gegen die Majorität des Senats eine Verwaltungsmaßregel durchsetzte, der machte Revolution. Es war Revolution gegen den Geist der Verfassung, als Gracchus die Domänenfrage vor das Volk brachte; Revolution auch gegen den Buchstaben, als er das Korrektiv der Staatsmaschine, durch welches der Senat die Eingriffe in sein Regiment verfassungsmäßig beseitigte, die tribunizische Interzession durch die mit unwürdiger Sophistik gerechtfertigte Absetzung seines Kollegen nicht bloß für jetzt, sondern für alle Folgezeit zerstörte. Indes nicht hierin liegt die sittliche und politische Verkehrtheit von Gracchus‘ Tun. Für die Geschichte gibt es keine Hochverratsparagraphen; wer eine Macht im Staat zum Kampf aufruft gegen die andere, der ist gewiß ein Revolutionär, aber vielleicht zugleich ein einsichtiger und preiswürdiger Staatsmann. Der wesentliche Fehler der Gracchischen Revolution liegt in einer nur zu oft übersehenen Tatsache: in der Beschaffenheit der damaligen Bürgerversammlungen. Das Ackergesetz des Spurius Cassius und das des Tiberius Gracchus hatten in der Hauptsache denselben Inhalt und denselben Zweck; dennoch war das Beginnen beider Männer nicht weniger verschieden als die ehemalige römische Bürgerschaft, welche mit den Latinern und Hernikern die Volskerbeute teilte, und die jetzige, die die Provinzen Asia und Africa einrichten ließ. Jene war eine städtische Gemeinde, die zusammentreten und zusammen handeln konnte; diese ein großer Staat, dessen Angehörige in einer und derselben Urversammlung zu vereinigen und diese Versammlung entscheiden zu lassen ein ebenso klägliches wie lächerliches Resultat gab. Es rächte sich hier der Grundfehler der Politie des Altertums, daß sie nie vollständig von der städtischen zur staatlichen Verfassung oder, was dasselbe ist, von dem System der Urversammlungen zum parlamentarischen fortgeschritten ist. Die souveräne Versammlung Roms war, was die souveräne Versammlung in England sein würde, wenn statt der Abgeordneten die sämtlichen Wähler Englands zum Parlament zusammentreten wollten: eine ungeschlachte, von allen Interessen und allen Leidenschaften wüst bewegte Masse, in der die Intelligenz spurlos verschwand; eine Masse, die weder die Verhältnisse zu übersehen noch auch nur einen eigenen Entschluß zu fassen vermochte; eine Masse vor allem, in welcher, von seltenen Ausnahmefällen abgesehen, unter dem Namen der Bürgerschaft ein paar hundert oder tausend von den Gassen der Hauptstadt zufällig aufgegriffene Individuen handelten und stimmten. Die Bürgerschaft fand sich in den Bezirken wie in den Hundertschaften durch ihre faktischen Repräsentanten in der Regel ungefähr ebenso genügend vertreten wie in den Kurien durch die daselbst von Rechts wegen sie repräsentierenden dreißig Gerichtsdiener; und eben wie der sogenannte Kurienbeschluß nichts war als ein Beschluß desjenigen Magistrats, der die Gerichtsdiener zusammenrief, so war auch der Tribus- und Zenturienbeschluß in dieser Zeit wesentlich nichts als ein durch einige obligate Jaherren legalisierter Beschluß des vorschlagenden Beamten. Wenn aber in diesen Stimmversammlungen, den Komitien, sowenig man es auch mit der Qualifikation genau nahm, im ganzen doch nur Bürger erschienen, so war dagegen in den bloßen Volksversammlungen, den Kontionen, platz- und schreiberechtigt, was nur zwei Beine hatte, Ägypter und Juden, Gassenbuben und Sklaven. In den Augen des Gesetzes bedeutete allerdings ein solches Meeting nichts; es konnte nicht abstimmen noch beschließen. Allein tatsächlich beherrschte dasselbe die Gasse und schon war die Gassenmeinung eine Macht in Rom und kam etwas darauf an, ob diese wüste Masse bei dem, was ihr mitgeteilt ward, schwieg oder schrie, ob sie klatschte und jubelte oder den Redner auspfiff und anheulte. Nicht viele hatten den Mut, die Haufen anzuherrschen, wie es Scipio Aemilianus tat, als sie wegen seiner Äußerung über den Tod seines Schwagers ihn auszischten: Ihr da, sprach er, denen Italien nicht Mutter ist sondern Stiefmutter, ihr habt zu schweigen! Und da sie noch lauter tobten: ihr meint doch nicht, daß ich die losgebunden fürchten werde, die ich in Ketten auf den Sklavenmarkt geschickt habe?

Daß man der verrosteten Maschine der Komitien sich für die Wahlen und für die Gesetzgebung bediente, war schon übel genug. Aber wenn man diesen Massen, zunächst den Komitien und faktisch auch den Kontionen, Eingriffe in die Verwaltung gestattete und dem Senat das Werkzeug zur Verhütung solcher Eingriffe aus den Händen wand; wenn man gar diese sogenannte Bürgerschaft aus dem gemeinen Säckel sich selber Äcker samt Zubehör dekretieren ließ; wenn man einem jeden, dem die Verhältnisse und sein Einfluß beim Proletariat die Gelegenheit gab, die Gassen auf einige Stunden zu beherrschen, die Möglichkeit eröffnete, seinen Projekten den legalen Stempel des souveränen Volkswillens aufzudrücken, so war man nicht am Anfang, sondern am Ende der Volksfreiheit, nicht bei der Demokratie angelangt, sondern bei der Monarchie. Darum hatten in der vorigen Periode Cato und seine Gesinnungsgenossen solche Fragen nie an die Bürgerschaft gebracht, sondern lediglich sie im Senat verhandelt. Darum bezeichnen Gracchus‘ Zeitgenossen, die Männer des Scipionischen Kreises, das Flaminische Ackergesetz von 522 (232), den ersten Schritt auf jener verhängnisvollen Bahn, als den Anfang des Verfalles der römischen Größe. Darum ließen dieselben den Urheber der Domanialteilung fallen und erblickten in seinem schrecklichen Ende gleichsam einen Damm gegen künftige ähnliche Versuche, während sie doch die von ihm durchgesetzte Domanialteilung selbst mit aller Energie festhielten und nutzten – so jammervoll standen die Dinge in Rom, daß redliche Patrioten in die grauenvolle Heuchelei hineingedrängt wurden, den Übeltäter preiszugeben und die Frucht der Übeltat sich anzueignen. Darum hatten auch die Gegner des Gracchus in gewissem Sinne nicht unrecht, als sie ihn beschuldigten, nach der Krone zu streben. Es ist für ihn viel mehr eine zweite Anklage als eine Rechtfertigung, daß dieser Gedanke ihm selber wahrscheinlich fremd war. Das aristokratische Regiment war so durchaus verderblich, daß der Bürger, der den Senat ab- und sich an dessen Stelle zu setzen vermochte, vielleicht dem Gemeinwesen mehr noch nützte, als er ihm schadete. Allein dieser kühne Spieler war Tiberius Gracchus nicht, sondern ein leidlich fähiger, durchaus wohlmeinender, konservativ patriotischer Mann, der eben nicht wußte, was er begann, der im besten Glauben, das Volk zu rufen, den Pöbel beschwor und nach der Krone griff, ohne selbst es zu wissen, bis die unerbittliche Konsequenz der Dinge ihn unaufhaltsam drängte in die demagogisch-tyrannische Bahn, bis mit der Familienkommission, den Eingriffen in das öffentliche Kassenwesen, den durch Not und Verzweiflung erpreßten weiteren „Reformen“, der Leibwache von der Gasse und den Straßengefechten der bedauernswerte Usurpator Schritt für Schritt sich und andern klarer hervortrat, bis endlich die entfesselten Geister der Revolution den unfähigen Beschwörer packten und verschlangen. Die ehrlose Schlächterei, durch die er endigte, richtet sich selber, wie sie die Adelsrotte richtet, von der sie ausging; allein die Märtyrerglorie, mit der sie Tiberius Gracchus‘ Namen geschmückt hat, kam hier wie gewöhnlich an den unrechten Mann. Die besten seiner Zeitgenossen urteilten anders. Als dem Scipio Aemilianus die Katastrophe gemeldet ward, sprach er die Worte Homers: „Also verderb‘ ein jeder, der ähnliche Werke vollführt hat!“ Und als des Tiberius jüngerer Bruder Miene machte, in gleicher Weise aufzutreten, schrieb ihm die eigene Mutter: „Wird denn unser Haus des Wahnsinns kein Ende finden? Wo wird die Grenze sein? Haben wir noch nicht hinreichend uns zu schämen, den Staat verwirrt und zerrüttet zu haben?“ So sprach nicht die besorgte Mutter, sondern die Tochter des Überwinders der Karthager, die noch ein größeres Unglück kannte und erfuhr als den Tod ihrer Kinder.

  1. Im Jahre 537 (217) wurde das die Wiederwahl zum Konsulat beschränkende Gesetz auf die Dauer des Krieges in Italien (also bis 551 203) suspendiert (Liv. 27, 6). Nach Marcellus‘ Tode 546 (208) aber sind Wiederwahlen zum Konsulat, wenn die abdizierenden Konsuln von 592 (162) nicht mitgerechnet werden, überhaupt nur vorgekommen in den Jahren 547, 554, 560, 579, 585, 586, 591, 596, 599, 602 (207, 200, 194, 175, 169, 168, 163, 158, 155, 152); also nicht öfter in diesen sechsundfünfzig als zum Beispiel in den zehn Jahren 401-410 (353-344). Nur eine von diesen, und eben die letzte, ist mit Verletzung des zehnjährigen Intervalls erfolgt; und ohne Zweifel ist die seltsame Wahl des Marcus Marcellus, Konsul 588 (166) und 599 (155), zum dritten Konsulat für 602 (152), deren nähere Umstände wir nicht kennen, die Veranlassung der gesetzlichen Untersagung der Wiederwahl zum Konsulat überhaupt (Liv. ep. 56) geworden; zumal da dieser Antrag, als von Cato unterstützt (p. 55 Jordan), vor 605 (149) eingebracht worden sein muß.
  2. Auch damals wurde es geltend gemacht, daß die Menschenrasse daselbst durch besondere Dauerhaftigkeit sich vorzugsweise zum Sklavenstand eigne. Schon Plautus (Trip. 542) preist „den Syrerschlag, der mehr verträgt als ein andrer sonst“.
  3. Auch die hybrid griechische Benennung des Arbeitshauses (ergastulum von εργάζομαι nach Analogie von stabulum, operculum) deutet darauf, daß diese Wirtschaftsweise aus einer Gegend des griechischen Sprachgebiets und in einer noch nicht hellenisch durchgebildeten Zeit den Römern zukam.
  4. Noch jetzt finden sich vor Castrogiovanni, da, wo der Aufgang am wenigsten jäh ist, nicht selten römische Schleuderkugeln mit dem Namen des Konsuls von 621 (133): L. Piso L. f. cos.
  5. Die bisher nur aus Cicero (leg. agr. 2, 31, 82; vgl. Liv. 42, 2, 19) teilweise bekannte Tatsache wird jetzt durch die Fragmente des Licinianus (p. 4) wesentlich vervollständigt. Die beiden Berichte sind dahin zu vereinigen, daß Lentulus die Possessoren gegen eine von ihm festgesetzte Entschädigungssumme expropriierte, bei den wirklichen Grundeigentümern aber nichts ausrichtete, da er sie zu expropriieren nicht befugt war und sie auf Verkauf sich nicht einlassen wollten.