14. Kapitel

Maß und Schrift

Die Kunst des Messens unterwirft dem Menschen die Welt; durch die Kunst des Schreibens hört seine Erkenntnis auf, so vergänglich zu sein, wie er selbst ist; sie beide geben dem Menschen, was die Natur ihm versagte, Allmacht und Ewigkeit. Es ist der Geschichte Recht und Pflicht, den Völkern auch auf diesen Bahnen zu folgen.

Um messen zu können, müssen vor allen Dingen die Begriffe der zeitlichen, räumlichen und Gewichtseinheit und des aus gleichen Teilen bestehenden Ganzen, das heißt die Zahl und das Zahlensystem entwickelt werden. Dazu bietet die Natur als nächste Anhaltspunkte für die Zeit die Wiederkehr der Sonne und des Mondes oder Tag und Monat, für den Raum die Länge des Mannesfußes, der leichter mißt als der Arm, für die Schwere diejenige Last, welche der Mann mit ausgestrecktem Arm schwebend auf der Hand zu wiegen (librare) vermag oder das „Gewicht“ (libra). Als Anhalt für die Vorstellung eines aus gleichen Teilen bestehenden Ganzen liegt nichts so nahe als die Hand mit ihren fünf oder die Hände mit ihren zehn Fingern, und hierauf beruht das Dezimalsystem. Es ist schon bemerkt worden, daß diese Elemente alles Zählens und Messens nicht bloß über die Trennung des griechischen und lateinischen Stammes, sondern bis in die fernste Urzeit zurückreichen. Wie alt namentlich die Messung der Zeit nach dem Monde ist, beweist die Sprache; selbst die Weise, die zwischen den einzelnen Mondphasen verfließenden Tage nicht von der zuletzt eingetretenen vorwärts, sondern von der zunächst zu erwartenden rückwärts zu zählen, ist wenigstens älter als die Trennung der Griechen und Lateiner. Das bestimmteste Zeugnis für das Alter und die ursprüngliche Ausschließlichkeit des Dezimalsystems bei den Indogermanen gewährt die bekannte Übereinstimmung aller indogermanischen Sprachen in den Zahlwörtern bis hundert einschließlich. Was Italien anlangt, so sind hier alle ältesten Verhältnisse vom Dezimalsystem durchdrungen: es genügt, an die so gewöhnliche Zehnzahl der Zeugen, Bürgen, Gesandten, Magistrate, an die gesetzliche Gleichsetzung von einem Rind und zehn Schafen, an die Teilung des Gaues in zehn Kurien und überhaupt die durchstehende Dekuriierung, an die Limitation, den Opfer- und Ackerzehnten, das Dezimieren, den Vornamen Decimus zu erinnern. Dem Gebiet von Maß und Schrift angehörige Anwendungen dieses ältesten Dezimalsystems sind zunächst die merkwürdigen italischen Ziffern. Konventionelle Zahlzeichen hat es noch bei der Scheidung der Griechen und Italiker offenbar nicht gegeben. Dagegen finden wir für die drei ältesten und unentbehrlichsten Ziffern, für ein, fünf, zehn, drei Zeichen, I, V oder A, X, offenbar Nachbildungen des ausgestreckten Fingers, der offenen und der Doppelhand, welche weder den Hellenen noch den Phönikern entlehnt, dagegen den Römern, Sabellern und Etruskern gemeinschaftlich sind. Es sind die Ansätze zur Bildung einer national italischen Schrift und zugleich Zeugnisse von der Regsamkeit des ältesten, dem überseeischen voraufgehenden binnenländischen Verkehrs der Italiker; welcher aber der italischen Stämme diese Zeichen erfunden und wer von wem sie entlehnt hat, ist natürlich nicht auszumachen. Andere Spuren des rein dezimalen Systems sind auf diesem Gebiet sparsam; es gehören dahin der Vorsus, das Flächenmaß der Sabeller von 100 Fuß ins Gevierte und das römische zehnmonatliche Jahr. Sonst ist im allgemeinen in denjenigen italischen Maßen, die nicht an griechische Festsetzungen anknüpfen und wahrscheinlich von den Italikern vor Berührung mit den Griechen entwickelt worden sind, die Teilung des „Ganzen“ (as) in zwölf „Einheiten“ (unciae) vorherrschend. Nach der Zwölfzahl sind eben die ältesten latinischen Priesterschaften, die Kollegien der Salier und Arvalen sowie auch die etruskischen Städtebünde geordnet. Die Zwölfzahl herrscht im römischen Gewichtsystem, wo das Pfund (libra), und im Längenmaß, wo der Fuß (pes) in zwölf Teile zerlegt zu werden pflegen; die Einheit des römischen Flächenmaßes ist der aus dem Dezimal- und Duodezimalsystem zusammengesetzte „Trieb“ (actus) von 120 Fuß ins GevierteUrsprünglich sind sowohl „actus“ Trieb, wie auch das noch häufiger vorkommende Doppelte davon, „iugerum“, Joch, wie unser „Morgen“ nicht Flächen-, sondern Arbeitsmaße und bezeichnen dieser das Tage-, jener das halbe Tagewerk, mit Rücksicht auf die namentlich in Italien scharf einschneidende Mittagsruhe des Pflügers.. Im Körpermaß mögen ähnliche Bestimmungen verschollen sein.

Wenn man erwägt, worauf das Duodezimalsystem beruhen, wie es gekommen sein mag, daß aus der gleichen Reihe der Zahlen so früh und allgemein neben der Zehn die Zwölf hervorgetreten ist, so wird die Veranlassung wohl nur gefunden werden können in der Vergleichung des Sonnen- und Mondlaufs. Mehr noch als an der Doppelhand von zehn Fingern ist an dem Sonnenkreislauf von ungefähr zwölf Mondkreisläufen zuerst dem Menschen die tiefsinnige Vorstellung einer aus gleichen Einheiten zusammengesetzten Einheit aufgegangen und damit der Begriff eines Zahlensystems, der erste Ansatz mathematischen Denkens. Die feste duodezimale Entwicklung dieses Gedankens scheint national italisch zu sein und vor die erste Berührung mit den Hellenen zu fallen.

Als nun aber der hellenische Handelsmann sich den Weg an die italische Westküste eröffnet hatte, empfanden zwar nicht das Flächen-, aber wohl das Längenmaß, das Gewicht und vor allem das Körpermaß, das heißt diejenigen Bestimmungen, ohne welche Handel und Wandel unmöglich ist, die Folgen des neuen internationalen Verkehrs. Der älteste römische Fuß ist verschollen; der, den wir kennen und der in frühester Zeit bei den Römern in Gebrauch war, ist aus Griechenland entlehnt und wurde neben seiner neuen römischen Einteilung in Zwölftel auch nach griechischer Art in vier Hand- (palmus) und sechzehn Fingerbreiten (digitus) geteilt. Ferner wurde das römische Gewicht in ein festes Verhältnis zu dem attischen gesetzt, welches in ganz Sizilien herrschte, nicht aber in Kyme – wieder ein bedeutsamer Beweis, daß der latinische Verkehr vorzugsweise nach der Insel sich zog; vier römische Pfund wurden gleich drei attischen Minen oder vielmehr das römische Pfund gleich anderthalb sizilischen Litren oder Halbminen gesetzt. Das seltsamste und buntscheckigste Bild aber bieten die römischen Körpermaße teils in den Namen, die aus den griechischen entweder durch Verderbnis (amphora, modius nach μέδιμνος congius aus χοεύς, hemina, cyathus) oder durch Übersetzung (acetabulum von οξύβαφον) entstanden sind, während umgekehrt ξέστης Korruption von sextarius ist; teils in den Verhältnissen. Nicht alle, aber die gewöhnlichen Maße sind identisch: für Flüssigkeiten der Congius oder Chus, der Sextarius, der Cyathus, die beiden letzteren auch für trockene Waren, die römische Amphora ist im Wassergewicht dem attischen Talent gleichgesetzt und steht zugleich im festen Verhältnisse zu dem griechischen Metretes von 3 : 2, zu dem griechischen Medimnos von 2 : 1. Für den, der solche Schrift zu lesen versteht, steht in diesen Namen und Zahlen die ganze Regsamkeit und Bedeutung jenes sizilisch-latinischen Verkehrs geschrieben.

Die griechischen Zahlzeichen nahm man nicht auf; wohl aber benutzte der Römer das griechische Alphabet, als ihm dies zukam, um aus den ihm unnützen Zeichen der drei Hauchbuchstaben die Ziffern 50 und 1000, vielleicht auch die Ziffer 100 zu gestalten. In Etrurien scheint man auf ähnlichem Wege wenigstens das Zeichen für 100 gewonnen zu haben. Später setzte sich wie gewöhnlich das Ziffersystem der beiden benachbarten Völker ins gleiche, indem das römische im wesentlichen in Etrurien angenommen ward.

In gleicher Weise ist der römische und wahrscheinlich überhaupt der italische Kalender, nachdem er sich selbständig zu entwickeln begonnen hatte, später unter griechischen Einfluß gekommen. In der Zeiteinteilung drängt sich die Wiederkehr des Sonnenauf- und -unterganges und des Neu- und Vollmondes am unmittelbarsten dem Menschen auf; demnach haben Tag und Monat, nicht nach zyklischer Vorberechnung, sondern nach unmittelbarer Beobachtung bestimmt, lange Zeit ausschließlich die Zeit gemessen. Sonnenauf- und -untergang wurden auf dem römischen Markte durch den öffentlichen Ausrufer bis in späte Zeit hinab verkündigt, ähnlich vermutlich einstmals an jedem der vier Mondphasentage die von da bis zum nächstfolgenden verfließende Tagzahl durch die Priester abgerufen. Man rechnete also in Latium und vermutlich ähnlich nicht bloß bei den Sabellern, sondern auch bei den Etruskern nach Tagen, welche, wie schon gesagt, nicht von dem letztverflossenen Phasentag vorwärts, sondern von dem nächsterwarteten rückwärts gezählt wurden; nach Mondwochen, die bei der mittleren Dauer von 7⅜ Tagen zwischen sieben- und achttägiger Dauer wechselten; und nach Mondmonaten, die gleichfalls bei der mittleren Dauer des synodischen Monats von 29 Tagen 12 Stunden 44 Minuten bald neunundzwanzig-, bald dreißigtägig waren. Eine gewisse Zeit hindurch ist den Italikern der Tag die kleinste, der Mond die größte Zeiteinteilung geblieben. Erst späterhin begann man Tag und Nacht in je vier Teile zu zerlegen, noch viel später der Stundenteilung sich zu bedienen; damit hängt auch zusammen, daß in der Bestimmung des Tagesanfangs selbst die sonst nächstverwandten Stämme auseinandergehen, die Römer denselben auf die Mitternacht, die Sabeller und die Etrusker auf den Mittag setzen. Auch das Jahr ist, wenigstens als die Griechen von den Italikern sich schieden, noch nicht kalendarisch geordnet gewesen, da die Benennungen des Jahres und der Jahresteile bei den Griechen und den Italikern völlig selbständig gebildet sind. Doch scheinen die Italiker schon in der vorhellenischen Zeit wenn nicht zu einer festen kalendarischen Ordnung, doch zur Aufstellung sogar einer doppelten größeren Zeiteinheit fortgeschritten zu sein. Die bei den Römern übliche Vereinfachung der Rechnung nach Mondmonaten durch Anwendung des Dezimalsystems, die Bezeichnung einer Frist von zehn Monaten als eines „Ringes“ (annus) oder eines Jahrganzen trägt alle Spuren des höchsten Altertums an sich. Später, aber auch noch in einer sehr frühen und unzweifelhaft ebenfalls jenseits der griechischen Einwirkung liegenden Zeit ist, wie schon gesagt wurde, das Duodezimalsystem in Italien entwickelt und, da es eben aus der Beobachtung des Sonnenlaufs als des Zwölffachen des Mondlaufs hervorgegangen ist, sicher zuerst und zunächst auf die Zeitrechnung bezogen worden; damit wird es zusammenhängen, daß in den Individualnamen der Monate – welche erst entstanden sein können, seit der Monat als Teil eines Sonnenjahres aufgefaßt wurde –, namentlich in den Namen des März und des Mai, nicht Italiker und Griechen, aber wohl die Italiker unter sich übereinstimmen. Es mag also das Problem, einen zugleich dem Mond und der Sonne entsprechenden praktischen Kalender herzustellen – diese in gewissem Sinne der Quadratur des Zirkels vergleichbare Aufgabe, die als unlösbar zu erkennen und zu beseitigen es vieler Jahrhunderte bedurft hat –, in Italien bereits vor der Epoche, wo die Berührungen mit den Griechen begannen, die Gemüter beschäftigt haben; indes diese rein nationalen Lösungsversuche sind verschollen. Was wir von dem ältesten Kalender Roms und einiger andern latinischen Städte wissen – über die sabellische und etruskische Zeitmessung ist überall nichts überliefert –, beruht entschieden auf der ältesten griechischen Jahresordnung, die der Absicht nach zugleich den Phasen des Mondes und den Sonnenfahrzeiten folgte und aufgebaut war auf der Annahme eines Mondumlaufs von 29½ Tagen, eines Sonnenumlaufs von 12½ Mondmonaten oder 368¾ Tagen und dem stetigen Wechsel der vollen oder dreißigtägigen und der hohlen oder neunundzwanzigtägigen Monate sowie der zwölf- und der dreizehnmonatlichen Jahre, daneben aber durch willkürliche Aus- und Einschaltungen in einiger Harmonie mit den wirklichen Himmelserscheinungen gehalten ward. Es ist möglich, daß diese griechische Jahrordnung zunächst unverändert bei den Latinern in Gebrauch gekommen ist; die älteste römische Jahrform aber, die sich geschichtlich erkennen läßt, weicht zwar nicht im zyklischen Ergebnis und ebenso wenig in dem Wechsel der zwölf- und der dreizehnmonatlichen Jahre, wohl aber wesentlich in der Benennung wie in der Abmessung der einzelnen Monate von ihrem Muster ab. Dies römische Jahr beginnt mit Frühlingsanfang; der erste Monat desselben und der einzige, der von einem Gott den Namen trägt, heißt nach dem Mars (Martius), die drei folgenden vom Sprossen (aprilis), Wachsen (maius) und Gedeihen (iunius), der fünfte bis zehnte von ihren Ordnungszahlen (quinctilis, sextilis, september, october, november, december), der elfte vom Anfangen (ianuarius, 1, 178), wobei vermutlich an den nach dem Mittwinter und der Arbeitsruhe folgenden Wiederbeginn der Ackerbestellung gedacht ist, der zwölfte und im gewöhnlichen Jahr der letzte vom Reinigen (februarius). Zu dieser im stetigen Kreislauf wiederkehrenden Reihe tritt im Schaltjahr noch ein namenloser „Arbeitsmonat“ (mercedonius) am Jahresschluß, also hinter dem Februar hinzu. Ebenso wie in den wahrscheinlich aus dem altnationalen herübergenommenen Namen der Monate ist der römische Kalender in der Dauer derselben selbständig: für die vier aus je sechs dreißig- und sechs neunundzwanzigtägigen Monaten und einem jedes zweite Jahr eintretenden, abwechselnd dreißig- und neunundzwanzigtägigen Schaltmonat zusammengesetzten Jahre des griechischen Zyklus (354 + 384 + 354 + 383 = 1475 Tage) sind in ihm gesetzt worden vier Jahre von je vier – dem ersten, dritten, fünften und achten – einunddreißig- und je sieben neunundzwanzigtägigen Monaten, ferner einem in drei Jahren acht-, in dem vierten neunundzwanzigtägigen Februar und einem jedes andere Jahr eingelegten siebenundzwanzigtägigen Schaltmonat (355 + 383 + 355 + 382 = 1475 Tage). Ebenso ging dieser Kalender ab von der ursprünglichen Einteilung des Monats in vier, bald sieben-, bald achttägige Wochen; er ließ die achttägige Woche ohne Rücksicht auf die sonstigen Kalenderverhältnisse durch die Jahre laufen, wie unsere Sonntage es tun, und setzte auf deren Anfangstage (noundinae) den Wochenmarkt. Er setzte daneben ein für allemal das erste Viertel in den einunddreißigtägigen Monaten auf den siebenten, in den neunundzwanzigtägigen auf den fünften, Vollmond in jenen auf den fünfzehnten, in diesen auf den dreizehnten Tag. Bei dem also fest geordneten Verlauf der Monate brauchte von jetzt ab allein die Zahl der zwischen dem Neumond und dem ersten Viertel liegenden Tage angekündigt zu werden; davon empfing der Tag des Neumonds den Namen des Rufetages (kalendae). Der Anfangstag des zweiten, immer achttägigen Zeitabschnitts des Monats wurde – der römischen Sitte gemäß, den Zieltag der Frist mit in dieselbe einzuzählen – bezeichnet als Neuntag (nonae). Der Tag des Vollmonds behielt den alten Namen idus (vielleicht Scheidetag). Das dieser seltsamen Neugestaltung des Kalenders zu Grunde liegende Motiv scheint hauptsächlich der Glaube an die heilbringende Kraft der ungeraden Zahl gewesen zu seinAus derselben Ursache sind sämtliche Festtage ungerade, sowohl die in jedem Monat wiederkehrenden (kalendae am 1., nonae am 5. oder 7., idus am 13. oder 15.) als auch, mit nur zwei Ausnahmen, die Tage der oben erwähnten 45 Jahresfeste. Dies geht so weit, daß bei mehrtägigen Festen dazwischen die geraden Tage ausfallen, also z. B. das der Carmentis am 11., 15. Januar, das Hainfest am 19., 21. Juli, die Gespensterfeier am 9., 11., 13. Mai begangen wird., und wenn er im allgemeinen an die älteste griechische Jahrform sich anlehnt, so tritt in seinen Abweichungen von dieser bestimmt der Einfluß der damals in Unteritalien übermächtigen, namentlich in Zahlenmystik sich bewegenden Lehren des Pythagoras hervor. Die Folge aber war, daß dieser römische Kalender, so deutlich er auch die Spur an sich trägt, sowohl mit dem Mond- wie mit dem Sonnenlauf harmonieren zu wollen, doch in der Tat mit dem Mondlauf keineswegs so übereinkam, wie wenigstens im ganzen sein griechisches Vorbild, den Sonnenfahrzeiten aber, eben wie der älteste griechische, nicht anders als mittels häufiger willkürlicher Ausschaltungen folgen konnte, und da man den Kalender schwerlich mit größerem Verstande gehandhabt als eingerichtet hat, höchst wahrscheinlich nur sehr unvollkommen folgte. Auch liegt in der Festhaltung der Rechnung nach Monaten oder, was dasselbe ist, nach zehnmonatlichen Jahren ein stummes, aber nicht mißzuverstehendes Eingeständnis der Unregelmäßigkeit und Unzuverlässigkeit des ältesten römischen Sonnenjahres. Seinem wesentlichen Schema nach wird dieser römische Kalender mindestens als allgemein latinisch angesehen werden können. Bei der allgemeinen Wandelbarkeit des Jahresanfangs und der Monatsnamen sind kleinere Abweichungen in der Bezifferung und den Benennungen mit der Annahme einer gemeinschaftlichen Grundlage wohl vereinbar; ebenso konnten bei jenem Kalenderschema, das tatsächlich von dem Mondumlauf absieht, die Latiner leicht zu ihren willkürlichen, etwa nach Jahrfesten abgegrenzten Monatlängen kommen, wie denn beispielsweise in den albanischen die Monate zwischen 16 und 36 Tagen schwanken. Wahrscheinlich also ist die griechische Trieteris von Unteritalien aus frühzeitig wenigstens nach Latium, vielleicht auch zu anderen italischen Stämmen gelangt und hat dann in den einzelnen Stadtkalendern weitere untergeordnete Umgestaltungen erfahren.

Zur Messung mehrjähriger Zeiträume konnte man sich der Regierungsjahre der Könige bedienen; doch ist es zweifelhaft, ob diese dem Orient geläufige Datierung in Griechenland und Italien in ältester Zeit vorgekommen ist. Dagegen scheint an die vierjährige Schaltperiode und die damit verbundene Schatzung und Sühnung der Gemeinde eine der griechischen Olympiadenzählung der Anlage nach gleiche Zählung der Lustren angeknüpft zu haben, die indes infolge der bald in der Abhaltung der Schatzungen einreißenden Unregelmäßigkeit ihre chronologische Bedeutung früh wieder eingebüßt hat.

Jünger als die Meßkunst ist die Kunst der Lautschrift. Die Italiker haben sowenig wie die Hellenen von sich aus eine solche entwickelt, obwohl in den italischen Zahlzeichen, etwa auch in dem uralt italischen und nicht aus hellenischem Einfluß hervorgegangenen Gebrauch des Losziehens mit Holztäfelchen, die Ansätze zu einer solchen Entwicklung gefunden werden können. Wie schwierig die erste Individualisierung der in so mannigfaltigen Verbindungen auftretenden Laute gewesen sein muß, beweist am besten die Tatsache, daß für die gesamte aramäische, indische, griechisch-römische und heutige Zivilisation ein einziges, von Volk zu Volk und von Geschlecht zu Geschlecht fortgepflanztes Alphabet ausgereicht hat und heute noch ausreicht; und auch dieses bedeutsame Erzeugnis des Menschengeistes ist gemeinsame Schöpfung der Aramäer und der Indogermanen. Der semitische Sprachstamm, in dem der Vokal untergeordneter Natur ist und nie ein Wort beginnen kann, erleichtert eben deshalb die Individualisierung des Konsonanten; weshalb denn auch hier das erste, der Vokale aber noch entbehrende Alphabet erfunden worden ist. Erst die Inder und die Griechen haben, jedes Volk selbständig und in höchst abweichender Weise, aus der durch den Handel ihnen zugeführten aramäischen Konsonantenschrift das vollständige Alphabet erschaffen durch Hinzufügung der Vokale, welche erfolgte durch die Verwendung von vier für die Griechen als Konsonantenzeichen unbrauchbarer Buchstaben für die vier Vokale a e i o und durch Neubildung des Zeichens für u, also durch Einführung der Silbe in die Schrift statt des bloßen Konsonanten, oder wie Palamedes bei Euripides sagt:

Heilmittel also ordnend der Vergessenheit
Fügt ich lautlos‘ und lautende in Silben ein
Und fand des Schreibens Wissenschaft den Sterblichen.

Dies aramäisch-hellenische Alphabet ist denn auch den Italikern zugebracht worden und zwar durch die italischen Hellenen, nicht aber durch die Ackerkolonien Großgriechenlands, sondern durch die Kaufleute etwa von Kyme oder Tarent, von denen es zunächst nach den uralten Vermittlungsstätten des internationalen Verkehrs in Latium und Etrurien, nach Rom und Caere gelangt sein wird. Das Alphabet, das die Italiker empfingen, ist keineswegs das älteste hellenische: es hatte schon mehrfache Modifikationen erfahren, namentlich den Zusatz der drei Buchstaben ξ φ χ und die Abänderung der Zeichen für υ γ λDie Geschichte des Alphabets bei den Hellenen besteht im wesentlichen darin, daß gegenüber dem Uralphabet von 23 Buchstaben, das heißt dem vokalisierten und mit dem u vermehrten phönikischen, die verschiedenartigsten Vorschläge zur Ergänzung und Verbesserung desselben gemacht worden sind und daß jeder dieser Vorschläge seine eigene Geschichte gehabt hat. Die wichtigsten dieser Vorschläge, die auch für die Geschichte der italischen Schrift im Auge zu behalten vor. Interesse ist, sind die folgenden.

  1. Einführung eigener Zeichen für die Laute ξ φ χ. Dieser Vorschlag ist so alt, daß mit einziger Ausnahme desjenigen der Inseln Thera, Melos und Kreta alle griechischen und schlechterdings alle aus dem griechischen abgeleiteten Alphabete unter dem Einfluß desselben stehen. Ursprünglich ging er wohl dahin, die Zeichen Χ ξι, Φ φι, Ψ χι dem Alphabet am Schluß anzufügen, und in dieser Gestalt hat er auf dem Festland von Hellas mit Ausnahme von Athen und Korinth und ebenso bei den sizilischen und italischen Griechen Annahme gefunden. Die kleinasiatischen Griechen dagegen und die der Inseln des Archipels, ferner auf dem Festland die Korinther scheinen, als dieser Vorschlag zu ihnen gelangte, für den Laut ~i bereits das fünfzehnte Zeichen des phönikischen Alphabets (Samech) Ξ im Gebrauch gehabt zu haben; sie verwendeten deshalb von den drei neuen Zeichen zwar das Φ auch für φι, aber das Χ nicht für ξι sondern für χι. Das dritte, ursprünglich für χι erfundene Zeichen ließ man wohl meistenteils fallen; nur im kleinasiatischen Festland hielt man es fest, gab ihm aber den Wert ψι. Der kleinasiatischen Schreibweise folgte auch Athen, nur daß hier nicht bloß das ψι, sondern auch das ξι nicht angenommen, sondern dafür wie früher der Doppelkonsonant geschrieben ward.
  2. Ebenso früh, wenn nicht noch früher, hat man sich bemüht, die naheliegende Verwechslung der Formen für i und s zu verhüten; denn sämtliche uns bekannte griechische Alphabete tragen die Spuren des Bestrebens, beide Zeichen anders und schärfer zu unterscheiden. Aber schon in ältester Zeit müssen zwei Änderungsvorschläge gemacht sein, deren jeder seinen eigenen Verbreitungskreis gefunden hat: entweder man verwendete für den Sibilanten, wofür das phönikische Alphabet zwei Zeichen, das vierzehnte (M) für sch und das achtzehnte (Σ) für s, darbot, statt des letzteren, lautlich angemesseneren vielmehr jenes – und so schrieb man in älterer Zeit auf den östlichen Inseln, in Korinth und Kerkyra und bei den italischen Achäern – oder man ersetzte das Zeichen des i durch einfachen Strich І, was bei weitem das Gewöhnlichere war und in nicht allzu später Zeit wenigstens insofern allgemein ward, als das gebrochene i 5 überall verschwand, wenngleich einzelne Gemeinden das s in der Form M auch neben dem І festhielten.
  3. Jünger ist die Ersetzung des leicht mit Γ γ zu verwechselnden λ Λ durch V, der wir in Athen und Böotien begegnen, während Korinth und die von Korinth abhängigen Gemeinden denselben Zweck dadurch erreichten, daß sie dem γ statt der haken- die halbkreisförmige Gestalt C gaben.
  4. Die ebenfalls der Verwechslung sehr ausgesetzten Formen für ρ Ρ p p und r P wurden unterschieden durch Umgestaltung des letzteren in R; welche jüngere Form nur den kleinasiatischen Griechen, den Kretern, den italischen Achäern und wenigen anderen Landschaften fremd geblieben ist, dagegen sowohl in dem eigentlichen wie in Großgriechenland und Sizilien weit überwiegt. Doch ist die ältere Form des r p hier nicht so früh und so völlig verschwunden wie die ältere Form des l; diese Neuerung fällt daher ohne Zweifel später.

Die Differenzierung des langen und kurzen e und des langen und kurzen o ist in älterer Zeit beschränkt geblieben auf die Griechen Kleinasiens und der Inseln des Ägäischen Meeres.

Alle diese technischen Verbesserungen sind insofern gleicher Art und geschichtlich von gleichem Wert, als eine jede derselben zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Orte aufgekommen ist und sodann ihren eigenen Verbreitungsweg genommen und ihre besondere Entwicklung gefunden hat. Die vortreffliche Untersuchung A. Kirchhoffs (Studien zur Geschichte des griechischen Alphabets. Gütersloh 1863), welche auf die bisher so dunkle Geschichte des hellenischen Alphabets ein helles Licht geworfen und auch für die ältesten Beziehungen zwischen Hellenen und Italikern wesentliche Daten ergeben, namentlich die bisher ungewisse Heimat des etruskischen Alphabets unwiderleglich festgestellt hat, leidet insofern an einer gewissen Einseitigkeit, als sie auf einen einzelnen dieser Vorschläge verhältnismäßig zu großes Gewicht legt. Wenn überhaupt hier Systeme geschieden werden sollen, darf man die Alphabete nicht nach der Geltung des X als ξ oder als χ in zwei Klassen teilen, sondern wird man das Alphabet von 23 und das von 25 oder 26 Buchstaben und etwa in dem letzteren noch das kleinasiatisch-ionische, aus dem das spätere Gemeinalphabet hervorgegangen ist, und das gemeingriechische der älteren Zeit zu unterscheiden haben. Es haben aber vielmehr im Alphabet die einzelnen Landschaften sich den verschiedenen Modifikationsvorschlägen gegenüber wesentlich eklektisch verhalten und ist der eine hier, der andere dort rezipiert worden. Eben insofern ist die Geschichte des griechischen Alphabets so lehrreich, als sie zeigt, wie in Handwerk und Kunst einzelne Gruppen der griechischen Landschaften die Neuerungen austauschten, andere in keinem solchen Wechselverhältnis standen. Was insbesondere Italien betrifft, so ist schon auf den merkwürdigen Gegensatz der achäischen Ackerstädte zu den chalkidischen und dorischen mehr kaufmännischen Kolonien aufmerksam gemacht worden; in jenen sind durchgängig die primitiven Formen festgehalten, in diesen die verbesserten Formen angenommen, selbst solche, die von verschiedenen Seiten kommend sich gewissermaßen widersprechen, wie das C Y neben dem V l. Die italischen Alphabete stammen, wie Kirchhoff gezeigt hat, durchaus von dem Alphabet der italischen Griechen und zwar von dem chalkidisch-dorischen her; daß aber die Etrusker und die Latiner nicht die einen von den andern, sondern beide unmittelbar von den Griechen das Alphabet empfingen, setzt besonders die verschiedene Form des r außer Zweifel. Denn während von den vier oben bezeichneten Modifikationen des Alphabets, die die italischen Griechen überhaupt angehen (die fünfte blieb auf Kleinasien beschränkt), die drei ersten bereits durchgeführt waren, bevor dasselbe auf die Etrusker und Latiner überging, war die Differenzierung von p und r noch nicht geschehen, als dasselbe nach Etrurien kam, dagegen wenigstens begonnen, als die Latiner es empfingen, weshalb für r die Etrusker die Form R gar nicht kennen, dagegen bei den Faliskern und den Latinern mit der einzigen Ausnahme des Dresselschen Tongefäßes ausschließlich die jüngere Form begegnet.

Welchen gewaltigen Eindruck die Erwerbung des Buchstabenschatzes auf die Empfänger machte und wie lebhaft sie die in diesen unscheinbaren Zeichen schlummernde Macht ahnten, beweist ein merkwürdiges Gefäß aus einer vor Erfindung des Bogens gebauten Grabkammer von Caere, worauf das altgriechische Musteralphabet, wie es nach Etrurien kam, und daneben ein daraus gebildetes etruskisches Syllabarium, jenem des Palamedes vergleichbar, verzeichnet ist – offenbar eine heilige Reliquie der Einführung und der Akklimatisierung der Buchstabenschrift in Etrurien.

Nicht minder wichtig als die Entlehnung des Alphabets ist für die Geschichte dessen weitere Entwicklung auf italischem Boden, ja vielleicht noch wichtiger; denn hierdurch fällt ein Lichtstrahl auf den italienischen Binnenverkehr, der noch weit mehr im Dunkeln liegt als der Verkehr an den Küsten mit den Fremden. In der ältesten Epoche der etruskischen Schrift, in der man sich im wesentlichen des eingeführten Alphabets unverändert bediente, scheint der Gebrauch desselben sich auf die Etrusker am Po und in der heutigen Toskana beschränkt zu haben; dieses Alphabet ist alsdann, offenbar von Atria und Spina aus, südlich an der Ostküste hinab bis in die Abruzzen, nördlich zu den Venetern und später sogar zu den Kelten an und in den Alpen, ja jenseits derselben gelangt, sodaß die letzten Ausläufer desselben bis nach Tirol und Steiermark reichen. Die jüngere Epoche geht aus von einer Reform des Alphabets, welche sich hauptsächlich erstreckt auf die Einführung abgesetzter Zeilenschrift, auf die Unterdrückung des o, das man im Sprechen vom u nicht mehr zu unterscheiden wußte, und auf die Einführung eines neuen Buchstabens f, wofür dem überlieferten Alphabet das entsprechende Zeichen mangelte. Diese Reform ist offenbar bei den westlichen Etruskern entstanden und hat, während sie jenseits des Apennin keinen Eingang fand, dagegen bei sämtlichen sabellischen Stämmen, zunächst bei den Umbrern sich eingebürgert; im weiteren Verlaufe sodann hat das Alphabet bei jedem einzelnen Stamm, den Etruskern am Arno und um Capua, den Umbrern und Samniten seine besonderen Schicksale erfahren, häufig die Mediae ganz oder zum Teil verloren, anderswo wieder neue Vokale und Konsonanten entwickelt. Jene westetruskische Reform des Alphabets aber ist nicht bloß so alt wie die ältesten in Etrurien gefundenen Gräber, sondern beträchtlich älter, da das erwähnte, wahrscheinlich in einem derselben gefundene Syllabarium das reformierte Alphabet bereits in einer wesentlich modifizierten und modernisierten Gestalt gibt; und da das reformierte selbst wieder, gegen das primitive gehalten, relativ jung ist, so versagt sich fast der Gedanke dem Zurückgehen in jene Zeit, wo dies Alphabet nach Italien gelangte.

Erscheinen sonach die Etrusker als die Verbreiter des Alphabets im Norden, Osten und Süden der Halbinsel, so hat sich dagegen das latinische Alphabet auf Latium beschränkt und hier im ganzen mit geringen Veränderungen sich behauptet; nur fielen γ κ und ζ ς allmählich lautlich zusammen, wovon die Folge war, daß je eins der homophonen Zeichen (κ ζ) aus der Schrift verschwand. In Rom waren diese nachweislich schon vor dem Ende des vierten Jahrhunderts der Stadt beseitigtDies ist die 1, 227 angeführte Inschrift der Spange von Praeneste. Dagegen hat selbst schon auf der ficoronischen Kiste c den späteren Wert von κ. kennt sie nicht. Wer nun erwägt, daß in den ältesten Abkürzungen der Unterschied von γ c und κ k noch regelmäßig durchgeführt wirdWenn dies richtig ist, so muß die Entstehung der Homerischen Gedichte, wenn auch natürlich nicht gerade die der uns vorliegenden Redaktion, weit vor die Zeit fallen, in welche Herodot die Blüte des Homeros setzt (100 vor Rom 850); denn die Einführung des hellenischen Alphabets in Italien gehört wie der Beginn des Verkehrs zwischen Hellas und Italien selbst erst der nachhomerischen Zeit an.. Für das hohe Alter der Schreibkunst in Rom sprechen auch sonst zahlreiche und deutliche Spuren. Die Existenz von Urkunden aus der Königszeit ist hinreichend beglaubigt: so des Sondervertrags zwischen Gabii und Rom, den ein König Tarquinius, und schwerlich der letzte dieses Namens, abschloß, und der, geschrieben auf das Fell des dabei geopferten Stiers, in dem an Altertümern reichen, wahrscheinlich dem gallischen Brande entgangenen Tempel des Sancus auf dem Quirinal aufbewahrt ward; des Bündnisses, das König Servius Tullius mit Latium abschloß und das noch Dionysios auf einer kupfernen Tafel im Dianatempel auf dem Aventin sah – freilich wohl in einer nach dem Brand mit Hilfe eines latinischen Exemplars hergestellten Kopie, denn daß man in der Königszeit schon in Metall grub, ist nicht wahrscheinlich. Auf den Stiftungsbrief dieses Tempels beziehen sich noch die Stiftungsbriefe der Kaiserzeit als auf die älteste derartige römische Urkunde und das gemeinschaftliche Muster für alle. Aber schon damals ritzte man (exarare, scribere verwandt mit scrobesEbenso altsächsisch writan eigentlich reißen, dann schreiben. ) oder malte (linere, daher littera) auf Blätter (folium), Bast (liber) oder Holztafeln (tabula, albuni), später auch auf Leder und Leinen. Auf leinene Rollen waren die heiligen Urkunden der Samniten wie der anagninischen Priesterschaft geschrieben, ebenso die ältesten, im Tempel der Göttin der Erinnerung (Iuno moneta) auf dem Kapitol bewahrten Verzeichnisse der römischen Magistrate. Es wird kaum noch nötig sein, zu erinnern an das uralte Marken des Hutviehs (scriptura), an die Anrede im Senat „Väter und Eingeschriebene“ (patres conscripti), an das hohe Alter der Orakelbücher, der Geschlechtsregister, des albanischen und des römischen Kalenders. Wenn die römische Sage schon in der frühesten Zeit der Republik von Hallen am Markte spricht, in denen die Knaben und Mädchen der Vornehmen lesen und schreiben lernten, so kann das, aber muß nicht notwendig erfunden sein. Nicht die Unkunde der Schrift, vielleicht nicht einmal der Mangel an Dokumenten hat uns die Kunde der ältesten römischen Geschichte entzogen, sondern die Unfähigkeit der Historiker derjenigen Zeit, die zur Geschichtsforschung berufen war, die archivalischen Nachrichten zu verarbeiten, und ihre Verkehrtheit, für die älteste Epoche Schilderung von Motiven und Charakteren, Schlachtberichte und Revolutionserzählungen zu begehren und über deren Erfindung zu vernachlässigen, was die vorhandene schriftliche Überlieferung dem ernsten und entsagenden Forscher nicht verweigert haben würde.

Die Geschichte der italischen Schrift bestätigt also zunächst die schwache und mittelbare Einwirkung des hellenischen Wesens auf die Sabeller im Gegensatz zu den westlicheren Völkern. Daß jene das Alphabet von den Etruskern, nicht von den Römern empfingen, erklärt sich wahrscheinlich daraus, daß sie das Alphabet schon besaßen, als sie den Zug auf den Rücken des Apennin antraten, die Sabiner wie die Samniten also dasselbe schon vor ihrer Entlassung aus dem Mutterlande in ihre neuen Sitze mitbrachten. Andererseits enthält diese Geschichte der Schrift eine heilsame Warnung gegen die Annahme, welche die spätere, der etruskischen Mystik und Altertumströdelei ergebene römische Bildung aufgebracht hat und welche die neuere und neueste Forschung geduldig wiederholt, daß die römische Zivilisation ihren Keim und ihren Kern aus Etrurien entlehnt habe. Wäre dies wahr, so müßte hier vor allem eine Spur sich davon zeigen; aber gerade umgekehrt ist der Keim der latinischen Schreibkunst griechisch, ihre Entwicklung so national, daß sie nicht einmal das so wünschenswerte etruskische Zeichen für f sich angeeignet hatDas Rätsel, wie die Latiner dazu gekommen sind, das griechische dem v entsprechende Zeichen für das lautlich ganz verschiedene f zu verwenden, hat die Spange von Praeneste gelöst mit ihrem fhefhaked für fecit und damit zugleich die Herleitung des lateinischen Alphabets von den chalkidischen Kolonien Unteritaliens bestätigt. Denn in einer, demselben Alphabet angehörigen böotischen Inschrift findet sich in dem Worte fhekadamoe (Gustav Meyer, Griechische Grammatik, § 244 a. E.) dieselbe Lautverbindung, und ein aspiriertes v mochte allerdings dem lateinischen f lautlich sich nähern.. Ja wo Entlehnung sich zeigt, in den Zahlzeichen, sind es vielmehr die Etrusker, die von den Römern wenigstens das Zeichen für 50 übernommen haben.

Endlich ist es charakteristisch, daß in allen italischen Stämmen die Entwicklung des griechischen Alphabets zunächst in einer Verderbung desselben besteht. So sind die Mediae in den sämtlichen etruskischen Dialekten untergegangen, während die Umbrer γ d, die Samniten d, die Römer γ einbüßten und diesen auch d mit r zu verschmelzen drohte. Ebenso fielen den Etruskern schon früh o und u zusammen, und auch bei den Lateinern finden sich Ansätze derselben Verderbnis. Fast das Umgekehrte zeigt sich bei den Sibilanten; denn während der Etrusker die drei Zeichen z s sch festhält, der Umbrer zwar das letzte wegwirft, aber dafür zwei neue Sibilanten entwickelt, beschränkt sich der Samnite und der Falisker auf s und z gleich dem Griechen, der spätere Römer sogar auf s allein. Man sieht, die feineren Lautverschiedenheiten wurden von den Einführern des Alphabets, gebildeten und zweier Sprachen mächtigen Leuten, wohl empfunden; aber nach der völligen Lösung der nationalen Schrift von dem hellenischen Mutteralphabet fielen allmählich die Mediae und ihre Tenues zusammen und wurden die Sibilanten und Vokale zerrüttet, von welchen Lautverschiebungen oder vielmehr Lautzerstörungen namentlich die erste ganz ungriechisch ist. Die Zerstörung der Flexions- und Derivationsformen geht mit dieser Lautzerrüttung Hand in Hand. Die Ursache dieser Barbarisierung ist also im allgemeinen keine andere als die notwendige Verderbnis, welche an jeder Sprache fortwährend zehrt, wo ihr nicht literarisch und rationell ein Damm entgegengesetzt wird; nur daß von dem, was sonst spurlos vorübergeht, hier in der Lautschrift sich Spuren bewahrten. Daß diese Barbarisierung die Etrusker in stärkerem Maße erfaßte als irgendeinen der italischen Stämme, stellt sich zu den zahlreichen Beweisen ihrer minderen Kulturfähigkeit; wenn dagegen, wie es scheint, unter den Italikern am stärksten die Umbrer, weniger die Römer, am wenigsten die südlichen Sabeller von der gleichen Sprachverderbnis ergriffen wurden, so wird der regere Verkehr dort mit den Etruskern, hier mit den Griechen wenigstens mit zu dieser Erscheinung beigetragen haben.