Das Letzte auf Erden

Die Statuetten und Bilder in Evas Zimmer waren mit weißen Tüchern verhüllt, und nur leises Atemholen und gedämpfte Schritte hörte man dort, und das Licht stahl sich feierlich durch die teilweise geschlossenen Fenster.

Das Bett war weiß verhangen, und unter der ruhenden Engelsgestalt lag ein schlummerndes Kind, schlummernd, um nie wieder zu erwachen.

Für solche, wie du bist, geliebte Eva, gibt es keinen Tod! Weder die Nacht noch den Schatten des Todes; nur ein so glänzendes Verschwimmen, wie wenn der Morgenstern im goldenen Frühlicht aufgeht. Dein ist der Sieg ohne die Schlacht – die Krone ohne den Kampf.

So dachte St. Clare, als er mit übereinandergeschlagenen Armen vor der Leiche stand und sie betrachtete. Ach! Wer wagt zu sagen, was er dachte? Denn von der Stunde an, wo Stimmen im Sterbezimmer gesagt hatten: »Sie ist verschieden«, war alles um ihn ein wüster Nebel gewesen, eine schwere Dämmerung des Schmerzes. Er hatte Stimmen an sein Ohr schlagen hören; er war gefragt worden und hatte geantwortet; sie hatten ihn gefragt, wann das Begräbnis sei, und wo sie begraben werden solle; und er hatte ungeduldig geantwortet, daß ihm das einerlei sei.

Adolf und Rosa hatten das Sterbezimmer eingerichtet; so leichtfertig, launenhaft und kindisch sie auch im allgemeinen waren, so waren sie doch weichherzig und voller Gefühl.

Es standen immer noch Blumen im Zimmer – alle weiß, zart und wohlriechend, mit zierlichen, trauernden Blättern. Auf Evas kleinem mit einer weißen Decke überzogenen Tischchen stand ihre Lieblingsvase mit einer einzigen weißen Moosrosenknospe. Die Falten der Draperien und der Vorhänge hatten Adolf und Rosa mit dem feinen Blick, der ihrer Rasse eigentümlich ist, geordnet und wieder geordnet. Selbst jetzt, wo St. Clare nachdenklich dastand, kam die kleine Rosa mit einem Korbe weißer Blumen mit vorsichtigem leisem Schritt in das Zimmer. Sie trat zurück, als sie St. Clare erblickte, und blieb ehrerbietig stehen; aber da sie sah, daß er sie nicht bemerkte, kam sie näher, um die Leiche zu schmücken. St. Clare sah sie, wie in einem Traume, während sie zwischen die zarten Händchen einen schönen Capjasmin steckte und mit bewunderungswürdigem Geschmack andere Blumen rund um das ganze Lager anbrachte.

Die Tür ging wieder auf, und Topsy mit vom Weinen geschwollenen Augen erschien, etwas unter der Schürze versteckt haltend. Rosa machte eine rasche abwehrende Gebärde, aber jene trat einen Schritt ins Zimmer herein.

»Du mußt hinaus«, sagte Rosa mit scharfem bestimmtem Flüstern: »Du hast hier nichts zu suchen.«

»O bitte, laß mich! Ich habe eine Blume mitgebracht – eine so hübsche Blume!« sagte Topsy und hielt eine halb aufgeblühte Teerosenknospe empor. »Laß mich nur die einzige hinlegen.«

»Marsch fort!« sagte Rosa noch entschiedener.

»Sie soll bleiben!« sagte St. Clare plötzlich mit dem Fuße stampfend. »Sie soll hereinkommen.«

Rosa entfernte sich rasch, und Topsy trat ans Bett und legte ihre Blume zu Füßen der Leiche, dann warf sie sich plötzlich mit einem Schrei wilder Verzweiflung neben dem Bett nieder und weinte und stöhnte laut.

Miß Ophelia kam in das Zimmer geeilt und versuchte, sie aufzuheben und zu beruhigen; aber vergebens.

»O Miß Eva! O Miß Eva! Ich wollte, ich wäre auch tot – ja gewiß!« Es lag eine wilde herzzerreißende Verzweiflung in diesem Aufschrei; das Blut schoß in St. Clares weißes marmorgleiches Gesicht, und die ersten Tränen, die er seit Evas Tode geweint, standen ihm in den Augen.

»Steh auf, Kind!« sagte Miß Ophelia mit sanfterer Stimme: »Weine nicht so. Miß Eva ist im Himmel; sie ist ein Engel geworden.«

»Aber ich kann sie nicht sehen!« sagte Topsy. »Ich werde sie nie wieder sehen!« und sie fing wieder an zu schluchzen.

Alle standen einen Augenblick lang schweigend da.

»Sie sagte, sie hätte mich lieb«, sagte Topsy – »das hat sie gesagt! O Gott, o Gott! Ich habe nun niemanden mehr – niemanden!«

»Das ist nur zu wahr«, sagte St. Clare; »aber bitte«, sagte er zu Miß Ophelia, »versuche du, ob du das arme Geschöpf nicht trösten kannst.«

»Ich wollte, ich wäre gar nicht geboren«, sagte Topsy. »Es lag mir gar nichts daran, auf die Welt zu kommen; und ich sehe gar keinen Nutzen dabei.«

Miß Ophelia hob sie sanft, aber fest vom Boden auf und nahm sie mit in ihr Zimmer; aber bis sie dort waren, fielen ihr ein paar Tränen aus den Augen.

»Topsy, du armes Kind«, sagte sie, als sie dieselbe in ihr Zimmer führte, »verzweifle nicht! Ich kann dich lieben, obgleich ich nicht bin, wie das geliebte, selige Kind. Ich hoffe, ich habe durch sie ein wenig von der Liebe unseres Heilands gelernt. Ich kann dich liebhaben; ich werde dich lieben und versuchen, dir beizustehen, daß du eine gute Christin wirst.«

Miß Ophelias Stimme sagte mehr, als ihre Worte, und mehr noch als diese sagten die ehrlichen Tränen, welche aus ihren Augen strömten. Von dieser Stunde an erlangte sie einen Einfluß auf das Gemüt des verlassenen Kindes, den sie nie wieder verlor.

»O meine Eva, deren kurze Spanne Zeit auf dieser Erde so viel Gutes bewirkt hat«, dachte St. Clare, »welche Rechenschaft werde ich von meinen vielen Jahren abzulegen haben?«

Eine Weile lang hörte man leises Geflüster und Schritte in dem Zimmer, wie einer nach dem andern hereinschlich, um die Leiche zu sehen; und dann kam der kleine Sarg; und dann war das Begräbnis, und Wagen fuhren vor der Tür vor und Freunde kamen und setzten sich nieder; und man sah weiße Schärpen und Bänder und Kreppschleifen und Trauernde in schwarzem Krepp; und es wurden Worte aus der Bibel gelesen und Gebete gesprochen; und St. Clare lebte und ging herum und bewegte sich wie einer, der jede seiner Tränen vergossen hat. Bis zuletzt erblickte er nur einen Gegenstand, den goldenen Lockenkopf im Sarge; aber dann sah er, wie das Tuch darüber gebreitet und der Deckel des Sarges verschlossen wurde; und er ging mit, als sie ihn neben die andern stellten, bis zu einem kleinen Fleck hinten im Garten, und dort neben der Moosbank, wo sie und Tom so oft miteinander gesprochen und gesungen und gelesen hatten, war das kleine Grab. St. Clare stand neben demselben – schaute mit leerem Blick hinab; er sah, wie sie den kleinen Sarg hinunterließen; er hörte undeutlich die feierlichen Worte: »Ich bin die Auferstehung und das Leben; wer an mich glaubt, der wird nicht sterben, sondern das ewige Leben haben«, und wie die Erde darauf geworfen wurde und das kleine Grab ausfüllte, konnte er es nicht für wahr halten, daß sie seine Eva hier vor seinen Augen verscharrten.

Und so war es auch nicht! – Nicht Eva, sondern nur den schwachen Keim der strahlenden unsterblichen Gestalt, in der sie noch erscheinen wird an dem Tage Christi unseres Herrn.

Und sie waren alle fort, und die Leidtragenden kehrten alle zurück nach dem Hause, das sie nicht mehr sehen sollte; und aus Maries Zimmer war das Licht ausgesperrt, und sie lag auf dem Bett und schluchzte und stöhnte in unbezwinglichem Schmerz und rief jeden Augenblick nach allen ihren Dienstboten. Natürlich hatten diese keine Zeit zu weinen – wozu auch? Der Schmerz war ihr Schmerz, und sie war fest überzeugt, daß niemand auf Erden ihn so wie sie fühlte oder fühlen könnte und wollte.

»St. Clare vergoß keine Träne«, sagte sie: »Er sympathisierte nicht im mindesten mit ihr; es sei wirklich wunderbar, zu denken, wie hartherzig und gefühllos er sein müsse, da er doch jedenfalls wisse, wie sie leide.« So sehr sind die Menschen die Sklaven ihrer Augen und Ohren, daß viele von den Dienstboten wirklich glaubten, Missis leide bei weitem am meisten bei dieser Gelegenheit, vorzüglich, da Marie jetzt Anfälle von hysterischen Krämpfen bekam und nach dem Arzt schickte und erklärte, sie liege im Sterben; und das Laufen und Rennen und das Herbeischleppen von Wärmflaschen und das Warmmachen von Flanell und das Reiben und der allgemeine Lärm, den diese Anfälle verursachten, waren eine wahre Zerstreuung.

Tom jedoch hatte ein Gefühl in seinem Herzen, das ihn zu seinem Herrn hinzog. Er folgte ihm, traurig und sehnsüchtig, wohin er ging; und wenn er ihn so blaß und ruhig in Evas Zimmer über ihrer aufgeschlagenen kleinen Bibel sitzen sah, obgleich er keinen Buchstaben oder kein Wort darin erkannte, da sah Tom in diesem ruhigen, starren, tränenlosen Auge größeren Schmerz als in allem Seufzen und Jammern Mariens.

In wenigen Tagen kehrte die Familie St. Clare wieder nach der Stadt zurück, denn Augustin verlangte in der Ruhelosigkeit des Schmerzes nach einer anderen Umgebung, um seinen Gedanken eine andere Richtung zu geben. So verließen sie denn Haus und Garten mit dem kleinen Grabe und begaben sich wieder nach New Orleans, und St. Clare bewegte sich geschäftig auf den Straßen und war bestrebt, die Kluft in seinem Herzen mit Eile und Rührigkeit und Ortsveränderungen auszufüllen; und Leute, die ihn auf der Straße sahen oder ihm in dem Café begegneten, erfuhren den Verlust, den er erlitten, nur durch den Flor um seinen Hut, denn er lächelte und spaßte und las die Zeitungen und unterhielt sich über Politik und besorgte Geschäftsangelegenheiten; und wer konnte wissen, daß diese ganze lächelnde Außenseite nur eine hohle Schale um ein Herz sei, das ein dunkles und stilles Grab war.

»Mr. St. Clare ist ein eigener Mann«, sagte Marie zu Miß Ophelia in klagendem Tone. »Ich glaubte immer, wenn er etwas auf der Welt liebte, so sei es unsere teuere Eva, aber er scheint sie sehr leicht zu vergessen. Ich kann ihn nie dazu bringen, von ihr zu sprechen. Ich glaubte wahrhaftig, er würde mehr Gefühl zeigen!«

»Stille Wasser sind oft die tiefsten, habe ich immer sagen hören«, sagte Miß Ophelia orakelhaft.

»Ach, das glaube ich gar nicht; das ist alles nur Rederei. Wenn Leute Gefühl haben, so werden sie es zeigen – sie können nicht anders; aber es ist immer ein großes Unglück, viel Gefühl zu besitzen. Ich wollte lieber, ich hätte eine Natur, wie St. Clare. Meine Gefühle nagen mir so am Herzen!«

»Aber gewiß, Missis, Master St. Clare wird so mager wie ein Schatten. Sie sagen, er esse gar nichts«, sagte Mammy. »Ich weiß, daß er Miß Eva nicht vergißt; das kann niemand – das liebe gesegnete Wesen!« setzte sie hinzu und wischte sich die Augen.

»Nun, jedenfalls nimmt er gar keine Rücksicht auf mich«, sagte Marie; »er hat mir kein Wort der Teilnahme gesagt, und er muß doch wissen, wieviel mehr eine Mutter fühlt, als es einem Manne je möglich ist.«

»Das Herz kennt seine eigene Bitterkeit«, sagte Miß Ophelia mit Ernst.

»Das denke ich eben auch. Ich weiß recht gut, was ich fühle – kein anderer Mensch scheint es zu wissen. Eva erriet es manchmal, aber sie ist nicht mehr!« Und Marie legte sich zurück in ihrem Sofa und schluchzte trostlos.

Marie war eine von den unglücklich konstituierten Sterblichen, in deren Augen alles, was für immer verloren ist, einen Wert annimmt, den es nie hatte, solange sie im Besitz desselben waren. Was sie besaß, schien sie nur zu besitzen, um Fehler darin zu finden; aber sowie es nicht mehr vorhanden war, so legte sie einen ungemessenen Wert darauf.

Zu gleicher Zeit mit diesem Gespräch in der Wohnstube fand ein anderes in der Bibliothek St. Clares statt.

Tom, der seinem Herrn beständig voller Unruhe Schritt für Schritt nachging, hatte ihn einige Stunden vorher in die Bibliothek gehen sehen; und nachdem er vergeblich gewartet hatte, ob er wieder herausgehen werde, beschloß er, sich etwas darin zu tun zu machen. Er trat leise ein. St. Clare lag auf einem Sofa am hinteren Ende des Zimmers. Er lag auf seinem Gesicht, und Evas Bibel lag aufgeschlagen nicht weit von ihm. Tom ging zu ihm hin und blieb vor dem Sofa stehen. Er zögert, und während er noch zögerte, erhob sich St. Clare plötzlich. Das ehrliche Gesicht so voller Schmerz und mit einem so flehenden Ausdruck von Liebe und Teilnahme fiel seinem Herrn auf. Er legte seine Hand auf die Toms und beugte sich mit dem Kopfe darüber.

»Ach, Tom, die ganze Welt ist so leer, wie ein hohles Ei.«

»Ich weiß es, Master – ich weiß es«, sagte Tom. »Aber ach, wenn Master nur hinaufsehen wollte – hinauf, wo unsere liebe Miß Eva ist – hinauf zu dem lieben Herrn Jesus!«

»Ach, Tom! Ich blicke hinauf; aber das Schlimmste ist, daß ich gar nichts oben sehe. Ich wollte, ich könnte was sehen.«

Tom seufzte schwer.

»Es scheint Kindern und armen ehrlichen Burschen, wie du bist, gegeben zu sein, zu sehen, was wir nicht sehen«, sagte St. Clare. »Woher kommt das?«

»Du hast solches verborgen vor den Weisen und Klugen, und hast’s offenbart den Unmündigen«, sagte Tom halblaut vor sich hin; »ja, Vater, also war es wohlgefällig vor Dir.«

»Tom, ich glaube nicht – ich kann nicht glauben; ich habe mir das Zweifeln angewöhnt«, sagte St. Clare. »Ich möchte dieser Bibel glauben, und ich kann nicht.«

»Guter Master, beten Sie zu dem guten Gott: Ich glaube, lieber Herr, hilf meinem Unglauben!«

»Wer weiß etwas von etwas?« sagte St. Clare zu sich selbst, während seine Augen träumerisch herumschweiften. »War alle diese schöne Liebe und Treue nur eine von den ewig wechselnden Phasen menschlichen Gefühls, die auf nichts Wirklichem beruhen und mit dem letzten Atemzuge vergehen? Und gibt es keine Eva mehr – keinen Himmel – keinen Christus – nichts?«

»Ach, lieber Master, wohl gibt es noch etwas! Ich weiß es; ich bin davon überzeugt«, sagte Tom und sank auf die Knie. »Lieber, lieber Master, glauben Sie!«

»Woher weißt du, daß es einen Christus gibt, Tom? Du hast nie den Herrn gesehen.«

»Ich habe ihn in meiner Seele gefühlt, Master – fühle ihn jetzt! O, Master, als man mich wegverkaufte von meiner Alten und den Kindern, war ich fast ebenso verzweifelt. Es war mir, als wäre nichts mehr übrig auf der Welt; und dann stand der gute Herr bei mir und sprach: ›Fürchte dich nicht, Tom!‹ und er bringt Licht und Freude in die Seele des Armen und macht, daß alles Friede wird; und ich fühle mich so glücklich und liebe jedermann und bin bereit des Herrn zu sein, und des Herrn Willen geschehen zu lassen und dorthin zu gehen, wohin mich der Herr sendet. Ich weiß, daß das nicht von mir kommen konnte, denn ich war ein armes unglückliches Menschenkind; es kam von dem Herrn; und ich weiß, daß er es auch für Master tun wird.«

Tom sprach mit halb erstickter Stimme. St. Clare legte den Kopf auf seine Schulter und drückte die harte, treue, schwarze Hand.

»Ich würde beten, Tom, wenn jemand da wäre, wenn ich bete; aber es ist mir stets, als spräche ich in die leere Luft. Aber bete du, Tom, und zeige mir, wie ich beten soll.«

Toms Herz war voll; er schüttete es im Gebete aus, wie Wasser, das ein Damm lange zurückgehalten hat. Eine Sache war klar genug: Tom glaubte, es höre ihn jemand, mochte jemand da sein oder nicht. Ja, St. Clare fühlte sich selbst auf der Flut seines Glaubens und Gefühls fast bis an die Tore des Himmels getragen, den er sich so lebendig vorzustellen schien. Es schien ihn Eva näherzubringen.

»Ich danke dir, guter Tom«, sagte St. Clare, als Tom aufstand. »Ich höre dich gern, Tom; aber jetzt geh und laß mich allein; ein andermal wollen wir mehr davon sprechen.«

Tom verließ schweigend das Zimmer.