Der Brief, den mir Clerval übergab, war von Elisabeth und lautete:

Liebster Viktor!

Du bist krank gewesen, sehr krank, und auch die immerwährenden Briefe des guten, lieben Clerval können mich nicht genügend beruhigen. Ich weiß, daß Du nicht schreiben, keine Feder anrühren darfst; aber ein Wort, ein einziges Wort von Dir genügt, um unsere Befürchtungen zu zerstreuen. Ich meinte, jede Post könne dieses einzige Wort endlich bringen, und nur meine feste Überzeugung, daß das geschehen müsse, hielt Onkel davon ab, die Reise nach Ingolstadt zu unternehmen. Ihn habe ich allerdings abgehalten, die Unbequemlichkeiten, ja sogar Gefahren dieser langen Reise auf sich zu nehmen; aber wie oft habe ich es bedauert, daß ich selbst sie nicht wagen konnte! Ich bildete mir ein, daß den Dienst an Deinem Krankenbett eine alte Lohnpflegerin tat, die niemals Deine Wünsche so erraten und sie so erfüllen konnte, wie es Deine arme Elisabeth verstanden hätte. Aber das ist nun vorüber! Clerval schreibt, daß es Dir in der Tat wieder wesentlich besser geht, und ich bitte Dich flehentlich, mir dies mit eigener Hand zu bestätigen.

Werde nur bald wieder gesund und komme dann wieder heim zu uns. Du wirst ein glückliches, friedliches Heim finden und fühlen, wie sehr die Deinen an Dir hängen. Dein Vater ist noch sehr rüstig und hat keinen anderen Wunsch als den, Dich zu sehen, zu wissen, daß es Dir wohl geht. Dann trübt aber auch keine Wolke sein gütiges Antlitz. Wie wirst du Dich freuen, Ernst wiederzusehen. Wie der groß geworden ist! Er ist jetzt gerade sechzehn Jahre und voller Übermut und Kühnheit. Als echter Schweizer beabsichtigt er, in fremde Kriegsdienste zu treten; allerdings sind wir damit nicht recht einverstanden, wenigstens so lange der ältere Bruder noch fort ist. Dein Vater will von der Sache überhaupt nichts wissen, aber Ernst besaß nie Deinen Fleiß und Deine Freude am Studium. Er sieht es mehr als etwas Nebensächliches an und verbringt seine Zeit meist in der frischen Luft, auf Berghängen und am Seegestade. Ich fürchte, daß er ein Müßiggänger wird, wenn wir seinem Willen nicht nachgeben und ihn den Beruf wählen lassen, den er sich in den Kopf gesetzt hat.

Bei uns hat sich recht wenig geändert; nur die Kleinen sind herangewachsen, seit Du von uns gegangen bist. Der blaue See, die Berge mit ihren Schneehäuptern – sie verändern ihr Antlitz nicht. Und mir scheint es, als herrschte in unserem ruhigen Heim und in unseren friedlichen Herzen dasselbe Gesetz der Unveränderlichkeit. Meine alltäglichen Beschäftigungen füllen meine Zeit ganz aus und machen mir Freude, und mein Lohn ist es, wenn ich frohe, glückliche Gesichter um mich sehe. Nur etwas ist in unserem kleinen Haushalt anders geworden, seit Du nicht mehr hier bist. Erinnerst Du Dich noch, wie Justine Moritz zu uns kam? Vielleicht nicht mehr, darum will ich Dir die Sache mit ein paar Worten ins Gedächtnis zurückrufen. Frau Moritz war eine Witwe mit vier Kindern, von denen Justine das dritte war. Dieses Mädchen war immer ihres Vaters Liebling gewesen; aber merkwürdigerweise mochte ihre Mutter sie nicht ausstehen und behandelte sie sehr schlecht, als der Vater tot war. Meine Mutter merkte das und machte Frau Moritz den Vorschlag, die Kleine, die eben erst zwölf Jahre alt geworden war, in unserem Hause dienen zu lassen. Die republikanischen Einrichtungen unseres Landes bringen einfachere und schönere Lebensformen mit sich, als man sie vielleicht in den Monarchien, die uns umgeben, kennt. Deshalb ist auch kein so großer Unterschied zwischen der wohlhabenden und der dienenden Klasse, und die letzteren sind deshalb, weil sie nicht als minderwertig gelten, feiner und moralischer als ihre in der gleichen Lage befindlichen Mitmenschen in anderen Ländern. Ein Dienstmädchen in Genf ist etwas wesentlich anderes als ein solches in Frankreich oder in England. Justine, die in unsere Familie eintrat, nahm allerdings eine dienende Stellung ein, die aber in unserem glücklichen Lande weder Unwissenheit bedingt noch auch ein Opfer der Menschenwürde bedeutet.

Du erinnerst Dich sicher, daß Du Justine sehr gern hattest, und ich weiß, daß Du eines Tages sagtest, daß ein Blick aus Justines Augen imstande sei, jede üble Laune von Dir zu vertreiben. Auch Deine Mutter war ihr sehr zugetan und beschloß, ihr eine bessere Erziehung zu geben, als sie ursprünglich beabsichtigt hatte. Diese Wohltat ward ihr reichlich vergolten, denn Justine war das dankbarste Geschöpf, das man sich denken kann. Nicht, daß sie schmeichelte; aber ihre Augen verrieten, wie sehr sie ihre Herrin vergötterte. Wenngleich sie sehr lebhaft, in mancher Hinsicht sogar unachtsam war, beobachtete sie doch mit der größten Aufmerksamkeit jede Bewegung, jede Miene Deiner Mutter. Diese galt ihr als Muster aller Vollkommenheit und sie bemühte sich, ihr in Rede und Haltung zu gleichen, so daß sie mich heute noch immer an die Entschlafene erinnert.

Als dann Deine geliebte Mutter starb, waren wir alle zu sehr in unseren Gram vertieft, um von der armen Justine Notiz zu nehmen, die die Kranke mit der hingebendsten Liebe gepflegt hatte. Das Mädchen wurde sehr krank, aber andere Prüfungen waren ihr noch vorbehalten.

Nach und nach starben alle ihre Brüder und Schwestern dahin und ihre Mutter hatte niemand mehr als sie, die vernachlässigte Tochter. Und da begann sich das Gewissen der alten Frau zu rühren: sie glaubte in dem Tode ihrer Lieblinge ein Strafgericht für ihre Ungerechtigkeit zu erkennen. Sie war katholisch und ich glaube, daß ihr Beichtvater sie in dieser Ansicht nur noch bestärkt hat. Kurz, einige Monate nach Deiner Abfahrt nach Ingolstadt wurde Justine zu ihrer Mutter zurückberufen. Armes Ding! Sie weinte bitterlich, als sie uns verließ; seit dem Tode Deiner Mutter war sie ganz verändert und ihre frühere Lebhaftigkeit war einer herzgewinnenden Weichheit und Milde gewichen. Aber der Aufenthalt bei ihrer Mutter war gar nicht geeignet, sie wieder fröhlich zu machen. Die arme Frau war nicht sehr beständig in ihrer Reue. Oftmals bat sie Justine, ihr doch ihre Unfreundlichkeiten zu verzeihen, aber dann wieder klagte sie sie an, daß sie am Tode ihrer Brüder und Schwestern schuld sei. Dieser immerwählende Gram nagte an Frau Moritz, die immer verdrießlicher und reizbarer wurde, bis sie endlich auf ewig Ruhe fand. Sie starb bei dem Herannahen des kalten Wetters zu Beginn des letzten Winters. Justine ist wieder bei uns und ich kann Dir nur versichern, daß ich sie herzlich lieb habe. Sie ist sehr klug und nett und außergewöhnlich hübsch. Wie ich Dir schon sagte, erinnert sie mich in Miene und Haltung immerwährend an Deine Mutter.

Noch muß ich Dir mit ein paar Worten über unseren lieben, kleinen Wilhelm berichten. Ich wollte, Du könntest ihn sehen. Er ist sehr groß für sein Alter, hat lachende, blaue Augen, dunkle Augenbrauen und gelocktes Haar. Wenn er lacht, erscheinen auf seinen Wangen zwei rosige Grübchen. Er hat bereits einige kleine Bräute; die liebste von allen ist ihm aber Luise Biron, ein reizendes Kind von fünf Jahren.

Ich nehme an, daß Dir auch ein kleiner Klatsch über unsere Genfer Bekannten erwünscht ist. Fräulein Mansfeld hat sich mit einem jungen Engländer, Herrn John Melbourne, verlobt, während ihre häßliche Schwester Manon letzten Herbst einen reichen Bankier, Herrn Duvillard, geheiratet hat. Dein Schulfreund Ludwig Manoir hat mit viel Mißgeschick zu kämpfen gehabt. Es geht ihm aber jetzt wieder gut und man erzählt sich, daß er im Begriffe sei, eine liebenswürdige Französin, Frau Tavernier, zu heiraten. Sie ist Witwe und viel älter als er; aber sie wird von allen Seiten verehrt und angebetet.

Während des Schreibens merke ich, daß ich mich selbst damit in bessere Laune versetzt habe; aber nun, wo ich schließen möchte, kehrt meine Angst wieder. Schreibe, lieber, guter Viktor, eine Zeile, ein Wort wird uns reich machen. Henry lassen wir tausendmal danken für seine Liebe, seine Güte und seine vielen Briefe; wir werden es ihm nie vergessen. Lebwohl, Lieber; schone Dich recht und vergiß nicht zu schreiben – ich bitte Dich darum!

*

Genf, den 18. März 17..

Elisabeth Lavenza.

»Teure, geliebte Elisabeth,« rief ich aus, nachdem ich den Brief zu Ende gelesen, »ich werde sofort schreiben und dich von der Angst befreien, die du um mich hast.« Ich schrieb – allerdings nicht ohne bedeutende Anstrengung; aber meine Genesung hatte begonnen und machte rasche Fortschritte. Nach weiteren vierzehn Tagen durfte ich das erste Mal wieder mein Zimmer verlassen.

Das erste, was ich nach meiner Genesung tat, war, daß ich Clerval bei verschiedenen Professoren der Universität einführte. Daß dabei mehrere Wunden meiner Seele wieder aufbrachen, ist nicht zu verwundern. Seit jener Unglücksnacht, die das Ende meiner Mühen, aber auch den Anfang meines Elends bildete, hatte ich einen gewissen Widerwillen schon gegen das Wort Naturphilosophie. Wenn ich auch gesundheitlich vollkommen wiederhergestellt war, so war doch schon der Anblick eines der Chemie dienenden Instrumentes geeignet, von neuem nervöse Erschütterungen hervorzurufen. Henry hatte das gemerkt und deshalb alle Apparate wegräumen lassen. Er hatte auch dafür Sorge getragen, daß ich ein anderes Zimmer bezog, denn er empfand, daß ich ein Grauen vor dem Raume hatte, der mir bisher als Laboratorium gedient. Aber all die Vorsichtsmaßregeln halfen nicht, als wir unsere Besuche bei den Professoren machen mußten. Herr Waldmann verursachte mir Qualen, als er gütig und ehrlich die erstaunlichen Fortschritte pries, die ich in den Wissenschaften gemacht hatte. Er fühlte bald heraus, daß mir dieses Thema unangenehm war; da er aber meine inneren Beweggründe nicht wissen konnte, schrieb er meine Verlegenheit meiner Bescheidenheit zu und wechselte das Thema insofern, als er auf die Wissenschaft im allgemeinen überging, allerdings in der Absicht, mich herauszustreichen. Was sollte ich tun? Er meinte es gut, tat mir aber weh. Mir war es wie einem, dem man nach und nach all die Instrumente vorzeigt, mit denen er dann geschunden und hingerichtet werden soll. Ich erschauerte bei seinen Worten, konnte aber meine Pein nicht zeigen. Clerval, der sehr rasch die Gedanken und Gefühle anderer zu erraten verstand, lenkte dann das Gespräch ab, in dem er seine vollständige Unkenntnis dieser Dinge entschuldigend erwähnte. Ich dankte meinem treuen Freunde innerlich, durfte aber doch nicht diesem Gefühle mit Worten Ausdruck geben. Er war offenbar überrascht, versuchte aber niemals, mein Geheimnis zu erforschen. Und obschon ich ihn grenzenlos liebte und verehrte, brachte ich es doch nicht übers Herz, ihm das Ereignis anzuvertrauen, das immer in meiner Seele gegenwärtig war und das vielleicht auf einen andern einen noch tieferen Eindruck machen konnte als auf mich selbst.

Herr Krempe sprach in wesentlich anderer Weise, und in meiner empfindlichen, seelischen Verfassung taten mir seine rauhen, ungelenken Lobsprüche noch weher als die feinen, anerkennenden Worte Waldmanns. »Hol der Teufel den Jungen!« schrie er. »Ich versichere Ihnen, Herr Clerval, er hat uns alle ausgestochen. Ja, ja, schauen Sie nur; deswegen ist es doch wahr. Ein junger Dachs, der noch ein paar Jahre vorher an Cornelius Agrippa glaubte, wie an das Evangelium, ist nun uns allen an der ganzen Universität voran. Nun, nun,« fuhr er fort, als er den leidenden Ausdruck in meinem Gesichte bemerkt hatte, »ich weiß, Herr Frankenstein ist bescheiden, wie es sich für junge Leute besonders gut ziemt. Junge Leute dürfen sich noch nicht allzuviel zutrauen, wissen Sie, Herr Clerval. Auch ich war bescheiden, wie ich noch jung war; aber das wird ja dann später alles anders.«

Herr Krempe war damit auf ein Thema übergegangen, das mir nicht so unangenehm war, nämlich auf einen Lobhymnus seiner selbst.

Clerval hatte meine Neigung zu den Naturwissenschaften nie geteilt und auch seine Lektüre hatte sich immer wesentlich von der meinen unterschieden. Er hatte die Universität bezogen mit der festen Absicht, orientalische Philologie zu studieren und sich damit einen Lebensberuf zu schaffen. Das Persische, Arabische und Sanskrit waren seine Lieblingssprachen, und es war ihm ein Leichtes, mich zu veranlassen, daß auch ich diese Fächer belegte. Müßiggang war mir von jeher ein Greuel gewesen, und gerade jetzt, wo ich meine früheren Studien wieder zu hassen begann und alles zu vergessen wünschte, war es mir lieb, in meinem Freunde einen Arbeitsgenossen zu haben und in den geistigen Schätzen des Orients nicht nur Belehrung, sondern auch Ablenkung zu finden. Es war mir nicht, wie ihm, darum zu tun, mir genaue, detaillierte Kenntnisse zu erwerben, sondern ich wollte mich nur der Zerstreuung halber damit beschäftigen. Ich las nur um des Inhalts willen und meine Mühe machte sich reichlich belohnt; ihr Ernst ist sanft und ihre Freude erhebend, wie ich es in keiner anderen Literatur kennen lernte. Wo man diese orientalischen Schriften liest, meint man, das Leben fließe nur im linden Sonnenlichte und in berauschendem Rosenduft dahin. Wie verschieden sind dagegen die herben, heroischen Dichtungen der Griechen und Römer!

Der Sommer floß dahin und meine Rückkehr nach Genf wurde auf Ende Herbst festgesetzt. Durch verschiedene Zufälligkeiten kam es aber nicht dazu, und unterdessen brach der Winter herein, der mit Schnee und Eis die Straßen unbenutzbar machte, so daß ich meine Abreise auf den folgenden Frühling verschieben mußte. Dieser neue Aufschub fiel mir sehr schwer, denn ich sehnte mich danach, meine Heimat und meine Lieben zu sehen. Ich hatte meine Abreise auch deswegen verzögert, weil ich Henry nicht ganz allein in der fremden Stadt lassen, sondern ihn erst noch mit einigen Einwohnern derselben bekannt machen wollte. Wir verbrachten den Winter ganz vergnügt, und der Frühling, der ungewöhnlich spät einsetzte, entschädigte uns mit allen Mitteln für sein Säumen.

Schon war es Mai geworden und ich erwartete Tag für Tag den Brief aus der Heimat, der meine endgültige Abreise festlegen sollte. Henry schlug mir vor, mit ihm eine Fußtour in die Umgebung von Ingolstadt zu machen, damit ich mich von dem Landstriche, in dem ich einige Zeit gelebt, verabschieden könne. Ohne Zögern stimmte ich zu, denn ich war ein großer Freund körperlicher Übungen, außerdem war ja Clerval mein Genosse auf meinen Streifereien in der prächtigen Bergwelt meiner Heimat gewesen.

Vierzehn Tage blieben wir fort. An Geist und Körper hatte ich mich schon erholt und sog neue Kraft aus der reinen, heilsamen Luft, dem abwechselungsreichen Anblick der Natur und den Gesprächen meines Freundes. Das Studium hatte mich vordem vollkommen von meinen Mitgeschöpfen getrennt und mich einsam gemacht. Aber Clerval gelang es, wieder die besseren Gefühle meines Herzens die Oberhand gewinnen zu lassen; ich hatte wieder Freude an der Natur und an den unschuldigen Kindergesichtern. Ein edler Freund! Wie aufrichtig er mich liebte und sich bemühte, mich auf seine Höhe zu erheben! Selbstsucht hatte mich kleinlich und engherzig gemacht, aber sein Edelmut und seine Liebe öffneten mir das Herz. Ich wurde wieder dasselbe glückliche Geschöpf, das ich vorher gewesen, sorglos und froh. Da ich glücklich war, hatte auch die Natur die Macht, freudige Gefühle in mir zu erwecken. Heiterer Himmel und grünende Wiesen erfüllten mich mit Entzücken. Es war eine herrliche Zeit; die Frühlingsblüten zierten noch Baum und Strauch und die Blumen des Sommers brachen schon überall hervor. Die Gedanken, die mich im vergangenen Jahre so schwer bedrückt hatten, trotzdem ich mir alle Mühe gab, sie von mir zu werfen, waren von mir gewichen.

Henry war glücklich, als er mich so froh sah. Er war unerschöpflich an gedankenreicher Konversation, und oftmals erfand er nach Art der persischen und arabischen Märchendichter Geschichten von wunderbarer Schönheit und Glut. Zuweilen wiederholte er mir meine Lieblingsdichter oder begann mit mir Diskussionen, die er mit großer Beharrlichkeit durchfocht.

Sonntag Nachmittag kehrten wir in unsere Universitätsstadt zurück. Die Bauern tanzten und alle Welt schien glücklich und sorglos. Ich selbst war in köstlicher Laune, und voll unbändiger Heiterkeit und Fröhlichkeit wäre ich selbst am liebsten gesprungen.