Von Woche zu Woche wurde der Talgrund reicher an Blumen. Die Tage wurden länger. Als die Sonne dicht neben der Henne unterging, hatte sie den Ort wieder erreicht, an dem sie zur Zeit der Kastanienreife untergegangen war. Damals war es Herbst gewesen, jetzt war es endlich wieder Frühling. Tage und Nächte waren wieder gleich. Der Föhn, der Schneefresser, hatte die Halden des Heimlichen Grunds von allen Spuren des Winters reingeleckt, und im Walde hatte er das tote Holz aus den Kronen geräumt, manchen morschen Baumriesen hingestreckt. Die Laubbäume unter der Südwand prangten im Knospengrün, und aus den mageren Zweigen der Lärchen auf der Moorleiten sproßten die blaßgrünen Büschel junger Nadeln. Die Welt wurde von Tag zu Tag schöner. Die Kalkhalden der Salzleiten leuchteten im Schmuck der fleischroten Frühlingsheide und der duftenden Goldprimel, deren Blütendolden sich über weißbestäubten, saftstrotzenden Blattsternen auf schlanken Schäften wiegten. Duftschwaden strichen von den Hängen zu Tal, wo sie sich mit den Wohlgerüchen großblütiger Veilchen und nickender Frühlingsknotenblumen vermengten. Waldbienen und Hummeln flogen schwerfällig dahin mit ihren dicken Höschen voll Blütenstaub.

Auch Peter und Eva waren im Sonnenschein stets unterwegs. Aber nicht sorglos trabten sie dahin; er trug seine Waffen und sie den Feuerkorb, stets gefaßt, es mit den Bären aufnehmen zu müssen, die den Talkessel unsicher machten. Doch wenn sie mit ihren Grabhölzern und holzgeschäfteten Steinmessern die noch zarten Blattsterne der Wegwarte, des Maßliebchens, des Wegerichs, des Baldrians, die üppigen Stauden der Brunnenkresse und die weichen Ranken der Gundelrebe als Wildgemüse ausstachen, folgten ihre Blicke den summenden Bienen und gaukelnden Faltern.

Auch der Geröllboden des Steinfeldes war nicht schmucklos. Lichthungrig reckte der Huflattich seine zartbeschuppten Stengel mit den hellgelben Blütenkörbchen der Sonne entgegen. Und am Waldrand schimmerten die weißen Blütendolden des Bärenlauchs, dessen breite, fettig glänzende Blätter so stark rochen.

Eva freute sich über den Gesang der Vögel, über die Balz der Waldhühner, Peter aber wollte jagen. Eier und Fleisch wollte er haben, frisches Fleisch und nicht mehr die ausgetrockneten, scharfgebeizten Reste der Wintervorräte! Es behagte ihm nicht mehr, sich hauptsächlich von Kräuter- und Wurzelmus zu nähren, wie es Eva in ihrer Freude am langentbehrten Gemüse tat. Oft stand er mitten in der Nacht auf und ging auf die Jagd.

An einem hellen Morgen trug er einen Auerhahn heim und prahlte damit, daß er ihn in der Frühdämmerung während des Hennenlockens erlegt hatte. Wochen später brachte er eine Auerhenne, die er beim Brüten erschlagen hatte. Eva war empört darüber, daß er nicht einmal eine brütende Vogelmutter verschonte. Der Auerhahn war zäh und die Henne mager. Peter freute sich auf die rotgelben, dunkelgetupften Eier. Es waren fünf Stück. Als Eva das erste öffnete, fiel ein Küken heraus, das aber noch nicht lebensfähig war. Die noch weichen Beinchen konnten den Leib nicht tragen, matt ließ es das Köpfchen hängen. Obwohl Eva das Vogelkind in die hohle Hand nahm und es mit ihrem Hauch wärmte, starb es vor ihren Augen. Keines der übrigen Eier war genießbar.

Ärgerlich warf Peter die kleinen Vogelleichen über die Brüstung der Schutzmauer hinaus auf den Köderplatz und verlangte barsch, Eva solle die Henne braten. Widerwillig tat sie es und gab außer Salz kein anderes Gewürz daran. Peter sollte merken, daß eine Bruthenne keine gute Brathenne abgibt. So ärgerte sich einer über den anderen, dieses und manches andere Mal. Groll stand zwischen den beiden, die aufeinander angewiesen waren.

Beutegierig durchstreifte Peter das Tal und ließ bald da, bald dort sein Lagerfeuer lodern, an dem er das erlegte Wild frisch briet und verzehrte. Eva hielt sich meist unweit der Höhle am Bocksgrabenbach auf. Aus seinem tief eingerissenen Bett sammelte sie das angetragene Schwemmholz auf, um damit das Herdfeuer zu nähren, das sie nun allein zu betreuen hatte. Zum Binden ihrer Bürde benutzte sie biegsame Weidengerten und Rindenstreifen, die sich samt dem saftreichen Bast von den Zweigen lösten. Von den abgestorbenen, moderfeuchten Zweigen, deren Rinde verwittert war, gingen ganze Strähnen Bastfasern ab. Dies brachte sie auf den Gedanken, aus dem Bast einen leichten Schurz und einen Schultermantel zu flechten. Dazu mußte sie viel Bast haben. Sie suchte die dichten Weidenbestände am Klammbach unweit des Sonnsteins auf, schnitt mit ihrem Steinmesser einen großen Vorrat von Weidenruten und stapelte sie am Fuße des Steigbaumes auf. Als sie nach einigen Tagen merkte, daß sich die Rinde von den abgestorbenen Ruten nicht lösen wollte, lagerte sie diese am Bachrand in einer mit Sickerwasser gefüllten Vertiefung ein. Fast jeden Tag trug sie einen neuen Vorrat schlanker, unverzweigter Gerten herbei.

Während sie eifrig sammelte, vergaß sie Peter und allen Verdruß und lauschte dem Trillern der Wasseramseln, mit dem sich das Gezwitscher der Grünfinken, der winzigen Goldhähnchen, der Zaunkönige und anderer Sänger zu einem vielstimmigen Chor vereinte.

Dann kamen wieder Tage tiefer Niedergeschlagenheit und einer unerklärlichen körperlichen Schwäche. Hatte sie sich beim Schleppen der angeschwemmten Holzblöcke überanstrengt? Mußte sie sterben? Eva bekam Angst. In ihrer Bangigkeit ging sie, trotz ihrer Furcht vor Bären, zum Grab der Ahnl. Ihr klagte sie ihren Kummer und bat sie um Beistand, um Fürsprache bei Gott. Während sie vor dem Grabhügel kniete, knackte es im Jungholz. Eine Rehgeiß trat mit einem weißgetüpfelten Kitz aus den Stauden hervor und äugte neugierig herüber zu dem weinenden Menschenkind. Das Kitz aber schmiegte sich an die Mutter und trank eifrig Milch. Unverwandt sah die Ricke mit ihren großen Augen nach dem staunenden Mädchen, das von dem Geheimnis der Mutterschaft zu ahnen begann.

Aus den drei Kastanien, die Eva im Herbst als Totenopfer am Grabhügel niedergelegt hatte, sproßten drei Schößlinge empor. Zwischen den großen Steinen, mit denen Peter das Gras zugedeckt hatte, bemerkte Eva einen Fingerknochen der Verstorbenen. Seltsame Gedanken bemächtigten sich Evas. Stieg mit den Bäumchen, die aus dem Leib der Toten wuchsen, nicht auch deren Seele empor zu ihr? Reichte die Ahnl ihr die Hand? War es ein Hilfeversprechen? Sie beugte sich zum Grabhügel nieder und nahm das gebleichte Fingerknöchelchen an sich. Auf der Brust wollte sie es tragen. Etwas von der Ahnl wollte sie bei sich haben, zum Schutz und Trost. Dann trug sie in ihren Händen Erde und Steine herbei, um die Hand der Großmutter vor jeder Entweihung zu schützen.

Getröstet verließ Eva die Stätte. Und als sie nach wenigen Tagen ihre frühere Gesundheit wieder erlangte, da glaubte sie fest daran, die Ahnl habe ihr geholfen.