An einem sonnigen Wintertag, als die Sonne schon unterging, erlegte Peter im Birkenbestand der Grableiten eine Rehgeiß. Die stark blutende Beute, die er hinter sich herschleifte, hinterließ eine breite rote Spur im Schnee. Tags darauf gewahrte er beim Holzholen deutliche Abdrücke von langsohligen Bärentatzen. Die Fährte ging bis zum Klammbach, den Peter auf den Gangsteinen überschritten hatte. Diese Entdeckung ließ ihn befürchten, die Bären könnten sich noch näher an die Höhle wagen, vielleicht sogar eindringen. Ihr Winterschlaf schien vorbei zu sein.

Immer wieder stellte er sich vor, wie sein Kampf mit einem Bären verlaufen würde; er glaubte nämlich, daß ein im Winterschlaf gestörter Bär beutehungrig herumschweife. Er zweifelte, ob die klobige Steinspitze seines Speeres das zottige, dicke Fell des Ungetüms zu durchdringen vermöchte. Aus dem Allerlei suchte er den langen, bereits angeschliffenen Splitter vom jüngst gespaltenen Röhrenknochen des Hirsches hervor. Die weiße, fingerdicke Außenkruste des Knochens ließ sich auch auf dem Sandstein nur schwer scharfschleifen, sie war steinhart. Mit viel Mühe und Geduld gelang es Peter, den Knochensplitter zu einem langen, schmal zugespitzten, zweischneidigen Dolch umzuschleifen. Der ließ sich gut statt des Steinkeils in den gespaltenen Speer schäften. Dann nahm er eine eingewässerte Darmsaite, umwickelte die Schäftungsstelle und ließ alles erst einmal gut trocken werden. Um ganz sicher zu gehen, festigte er das Ganze noch dick mit Harzwachs. Wenn das nicht hielt!

Peter häutete die Rehgeiß ab, und Eva übernahm, wie gewohnt, das Ausweiden. Da fand sie unterhalb des Herzens ein zart gebautes, noch unbehaartes Rehkitz, dessen Leib an einem Schlauch hing, wie eine Blumenknospe am Stiel hängt, durch den sie von der Mutterstaude ernährt wird. Eine dumpfe Ahnung vom Wunder des werdenden Lebens dämmerte in Eva auf. Dann aber stieg ihr die Zornesröte in die Wangen. Weinend machte sie Peter heftige Vorwürfe, daß er das werdende Leben im Mutterleib zerstört hatte. Dieses zarte Wunder Gottes, der das Junge fürsorglich im Leibe der Mutter wachsen ließ, damit es dort reife und zum eigenen Leben fähig werde. Peter suchte sich zu rechtfertigen: »Ich kann mich doch nicht darum kümmern, ob eine Rehgeiß tragend ist. Wir brauchen Felle und Fleisch. Dafür hab‘ ich zu sorgen!« Tief im Herzen aber schämte er sich und ging Eva aus den Augen.

In der folgenden Nacht, Peter schlief längst, lag Eva noch wach; sie weinte um das Muttertier und das Junge. Plötzlich fuhr sie erschrocken auf und lauschte. Deutlich hatte sie Schritte gehört, schwere, tappende Schritte. Das war nicht Peter! Angestrengt horchte sie in die mondhelle Nacht. Nichts regte sich. Von der Luke her fiel ein bläulichweißes Lichtband schräg in ihre Kammer. Eva verließ ihr Lager, hüllte sich fröstelnd in ein Fell und sah hinaus. Über den Klammwänden stand der Mond, groß, rund, eine weiße Scheibe.

Und wieder kam ein Geräusch, ein Pusten und Schnuppern, dann ein Scharren im Schnee. Schauer überliefen sie. Die Furcht vor Waldgeistern ließ sie erzittern, sie hätte sich am liebsten verkrochen, um nichts mehr zu hören. Aber die Angst vor der unbestimmten Gefahr trieb sie hinunter zu Peter. Der schlief im vollen Mondschein mit offenem Munde und schnarchte. Sie faßte ihn an der Schulter und flüsterte ihm ins Ohr: »Peter, draußen ist wer!«

Verschlafen streckte er sich und rieb die Augen. Plötzlich sprang er auf. Jetzt hatte auch er etwas vernommen. Mit einem Schlage war er völlig wach. Deutlich hörte er, daß unten im Schnee, über der Fleischgrube gescharrt wurde. Jetzt schlugen zwei Steine, die auf den Deckreisern lagen, hart gegeneinander…

Peter schlich geräuschlos zur Schutzmauer, wo die frische Haut der Rehgeiß noch am Türgitter hing. Behutsam stellte er es beiseite, hielt sich mit den Fingerspitzen an den obersten Steinen der Mauer fest und neigte sich weit vor. Einen mächtigen Bären sah er, der eben dabei war, die Decksteine von der Fleischgrube zu räumen. Peter überlegte einen Augenblick, machte zwei Schritte nach links, so daß er genau oberhalb der Fleischgrube stand. Alle seine Kräfte aufbietend, stemmte er sich gegen die Schutzmauer, und im nächsten Augenblick gaben die nur lose aufeinandergehäuften Steinblöcke nach. Polternd stürzten sie in die Tiefe. Ihrem wuchtigen Fall folgte ein grauenhaftes, langgezogenes Heulen, das mit tiefen Tönen einsetzte und in ein Stöhnen überging. Eva hatte inzwischen ein Bündel harziger Kiefernzweige entzündet und neigte sich, die lodernde Fackel in der Hand, weit über die Mauer hinaus. Peter raffte seinen Speer auf, den er neben seinem Lager liegen hatte, und sauste die Felsrinne hinunter.

Mühsam versuchte sich das verwundete Raubtier zu erheben. Sein Rumpf war von schweren Steinen bedeckt. Es öffnete den Rachen und wandte sich brüllend gegen den Menschen. Da stieß ihm der vor Entsetzen tollkühn Gewordene die schlanke Spitze der Waffe durch das weit aufgerissene Maul tief in den Schlund. Das Tier schlug mit den mächtigen Pranken nach dem Angreifer.

Peter riß den Speer zurück und beendete das Leiden des Tieres, indem er ihm die Waffe ins Herz bohrte. Der Bär erhob sich nicht mehr. Nach einigen krampfhaften Tatzenschlägen ins Leere blieb er reglos liegen. Dick quoll sein Herzblut aus der breiten Wunde. Jetzt stürzte sich der Sieger auf den gefällten Feind, preßte seinen Mund auf die Wundränder und schlürfte in gierigen Zügen das warme Blut des Starken, als wolle er dessen Kraft in sich aufnehmen.

Eva empfand Bewunderung und ein Grauen vor Peter. Erschlagen hatte er den gefürchteten Bären, und jetzt schlürfte er seine Kraft in sich ein, trank des Mächtigen Blut!

Still zog sie sich zurück. Von dieser Stunde an wußte sie, daß Peter ihr an roher Kraft überlegen war. Er aber, den die schneidende Kälte bald ernüchterte, verbrachte den Rest der Nacht und den Morgen damit, die Mauer notdürftig auszubessern und in der Wärme eines gewaltigen Feuers den Bären abzuhäuten.

Dann kroch er in seine Schlafgrube und schlief unter der schweren, noch feuchten Bärenhaut bis zum kommenden Mittag, wie berauscht vom starken Geruch, der dem Fell des Besiegten entströmte.

*

Wieder setzte der Winter mit aller Strenge ein. Stürme brausten einher und deckten den Grund mannshoch mit schimmernden Schneedünen, die, angeweht und fortgetragen, die Oberfläche stetig veränderten, bis Tauwetter und Frost sie unter einer Eiskruste erstarren ließen. Das Leben der Höhlensiedler war meist von harter Arbeit und tiefem Schlaf ausgefüllt.

Wenn Peter an stürmischen Tagen den schwerbeladenen Holzschlitten heimgebracht hatte, verkroch er sich steif vor Kälte und Erschöpfung unter sein Bärenfell und verschlief einen halben Tag, während Eva sich mit dem Zerkleinern und Schichten der ungefügen Äste plagte.

An windstillen, frostfreien Tagen pflegten die beiden sich in der behaglich durchwärmten Höhle mit Arbeiten zu beschäftigen, die geschmeidige Finger erforderten. Das Ausbessern der Steinbeile, das Zuschleifen knöcherner Pfeilspitzen, das Ergänzen der schadhaft gewordenen, ungleich gegerbten Fellbekleidung, all das waren dringende Aufgaben.

Peter erinnerte sich seines Versprechens, Eva das Bild der Ahnl zu schaffen.

Wenn er bis tief in den Tag hineingeschlafen hatte und nachts nicht gleich Ruhe fand, kreisten seine Gedanken um diese künstlerische Aufgabe, die ihm – nachts – kinderleicht erschien. Als er endlich daranging, seine Vorstellung von der Ahnl in knetbarem Lehm festzuhalten, da wurde eine verhutzelte Gestalt daraus, die nicht nur Hände und Füße hatte: Durch die Hakennase, die sich dem Kinn näherte und durch das gescheitelte Haar erinnerte die Figur tatsächlich ein wenig an die alte Frau. Eine zweite Lehmpuppe, etwas kleiner und mit flachem, ausdruckslosem Gesicht, sollte Peters Mutter vorstellen, deren Aussehen in seiner Seele verblaßt war; er hatte ihr ein winziges Püppchen in die Arme gegeben, das sein totes Schwesterchen sein sollte. Ermutigt von seinem Erfolg, bildete er noch einen alten Mann, der sich auf einen überlangen Bergstock stützte. Ein wallender Vollbart kennzeichnete ihn als den Ähnl. So roh auch die Darstellungen waren, die Höhlenkinder sahen nicht das, was sie vor Augen, sondern das, was sie in den Seelen hatten.

In der Nähe der Feuerstelle hartgetrocknet, wurden die Ahnenbilder in einer halbdunklen Felsennische der oberen Kammer aufgestellt.

Die Striche im Steinkalender führten von Sonntag zu Sonntag.

Die Kinder gingen am heiligen Tag nicht mehr zum tiefverschneiten Grabhügel; sie verrichteten ihre Andachten vor den Bildern der Ahnen, die sie mit Gott vereint wußten. Hier sprachen sie mit ihren Schutzgeistern. Hier suchte Eva Trost, wenn sie sich krank wähnte und bat um Schutz vor bösen Geistern. Hier erneuerte Peter seinen Mut für bekannte und geahnte Gefahren.

Und immer war es ihm, als spräche die Ahnl zu ihm: »Paß auf Eva auf, laß ihr kein Leid geschehen, sei gut zu ihr.«

Mochten auch die Gegensätze im Wesen der beiden wie eine unsichtbare Wand zwischen ihnen stehen, sie hatten doch manche gute Stunde miteinander; denn helfen, geben und nehmen gehören zum glücklichen Leben. Und das anerkennende Wort für den, der etwas Gutes zuwege gebracht hat! Auch die Höhlenkinder erfuhren die Wahrheit dieser Erkenntnis. Am Lob des anderen entzündete sich das Selbstvertrauen und wagte sich an neue, größere Aufgaben. So träumte Peter davon, die Wohnhöhlen zu erweitern, Bären, Wildkatzen und Schlangen auszurotten, durchlochte Steinbeile herzustellen.

Auch Eva dachte und plante weit voraus: Gut schließende Kleider wollte sie nähen, daß Peter und ihr weder Kälte noch Mücken etwas anhaben sollten. Betrachtete sie den hartgebrannten Lehmscherben mit dem Fußabdruck, so erschlossen sich ihr lockende Möglichkeiten. Der knetbare Lehm behielt ja jede Gestalt, die man ihm gab! Eva sah sich als Hausmutter, der es an nichts gebrach, und sie hoffte, daß es ihr gelingen werde, Peter zu ändern. Er mußte sein rohes Wesen ablegen; sie wünschte es, sie brauchte es – vielleicht tat er es ihr zuliebe.