Ben kehrte mit samt seinem Jungen zu seiner Farm in Kalifornien zurück und zwar unter den denkbar günstigsten Verhältnissen. Kurz vor seiner Abreise von England hatte ihm Mr. Havisham die Mitteilung gemacht, daß Mylord für den Knaben, der unter Umständen Lord Fauntleroy hätte werden können, etwas thun wolle, und daß er es für das Beste halte, seinerseits eine größere Summe in Grundbesitz in Kalifornien anzulegen, dessen Bewirtschaftung, beziehungsweise die auf demselben zu betreibende Viehzucht Ben unter Bedingungen übernehmen solle, die ihn in den Stand setzen würden, für die Zukunft seines Sohnes ausreichend zu sorgen. Ben verließ also Europa als zukünftiger Herr einer kalifornischen Farm, die so gut wie sein Eigen war, und die er in wenig Jahren als sein alleiniges Besitztum zu sehen hoffen konnte, was auch in der That geschah, und Tom wuchs heran, kräftig und tüchtig und mit ganzem Herzen an seinem Vater hängend. Die beiden hatten überall und in allem Glück und Erfolg, und Ben pflegte zu sagen, daß sein Sohn ihn reichlich für alles frühere Mißgeschick entschädige.

Dick und Mr. Hobbs dagegen – letzterer war mitgekommen, um »allerorten nach dem Rechten zu sehen« – segelten nicht so bald in die Neue Welt zurück. Der Graf hatte von Anfang an im Sinne gehabt, für Dick zu sorgen, und es ward beschlossen, ihm vor allen Dingen eine richtige Erziehung zu teil werden zu lassen, Mr. Hobbs aber hatte bei sich erwogen, daß in Anbetracht des tüchtigen Vertreters, den er für sein Geschäft in Blankstreet gefunden hatte, er sich wohl den Luxus erlauben könne, den Festlichkeiten noch beizuwohnen, die für Lord Fauntleroys achten Geburtstag vorbereitet wurden. Sämtliche Pächter und sogar Tagelöhner waren mit Kind und Kegel dazu geladen, und im Park sollte ein Festschmaus, Spiele und Tanz abgehalten werden und für den Abend waren Freudenfeuer und allerlei Feuerwerk geplant.

»Ganz wie der 4. Juli!« sagte Lord Fauntleroy. »Schade, daß mein Geburtstag nicht am vierten ist, dann könnten wir’s miteinander feiern – gelt?«

Es muß leider zugestanden werden, daß die Freundschaft zwischen dem Grafen und Mr. Hobbs sich vor der Hand noch nicht bis zu der im Interesse der britischen Aristokratie dringend wünschenswerten Innigkeit entwickelt hatte. Mylord hatte im Umgange mit Spezereihändlern unglücklicherweise ebensowenig Erfahrung wie Mr. Hobbs in dem mit »’ristokraten«, und es mochte wohl daran liegen, daß das Gespräch zwischen ihnen nicht recht in Fluß kommen wollte. Ferner muß zugegeben werden, daß die Herrlichkeiten, welche Fauntleroy dem Freunde zu zeigen für seine Pflicht hielt, einen einigermaßen überwältigenden Eindruck auf ihn gemacht hatten, so daß sein Selbstgefühl etwas an fröhlicher Sicherheit eingebüßt zu haben schien.

Das äußere Thor, die steinernen Löwen und die Avenue hatten ihre Wirkung auf das Gemüt des stolzen Republikaners schon nicht ganz verfehlt, und der Anblick des Schlosses selbst, der Terrassen und Blumenbeete, der Gewächshäuser und des unterirdischen Gefängnisses, der Pfauen und Hunde, der Ställe und Waffen, des großen Treppenhauses und der zahllosen Livreediener hatte ihn dann etwas aus der Fassung gebracht, der Ahnensaal jedoch war es, der ihn um den Rest seiner Gemütsruhe brachte.

»Na, scheint so was wie ein Museum, hm?« fragte er, als Fauntleroy ihn in den großen, herrlichen Raum führte.

»Nein, ich – ich glaube nicht,« sagte Cedrik etwas unsicher. »Ich glaube nicht, daß es ein Museum ist. Großvater sagt, das alles seien Verwandte, Onkel und Tanten von ihm.«

»Die alle,« stieß Mr. Hobbs erschüttert hervor. »Die alle, Onkel und Tanten, der Großonkel muß aber eine Familie gehabt haben! Hat er sie alle aufgezogen?«

Er sank ergriffen von der Größe solchen Familienglücks in einen Stuhl und sah ganz aufgeregt um sich, bis es Lord Fauntleroy nicht ohne Schwierigkeit gelang, ihm auseinander zu setzen, daß es sich bei den sämtliche Wände vollständig bedeckenden Porträts nicht um die Nachkommenschaft eines einzigen Großonkels handle.

Zu guter Letzt fand er es aber doch geraten, Mrs. Mellon zu Hilfe zu rufen, welche die Geschichte jedes einzelnen Bildes und die Namen der Maler kannte, und die noch überdies höchst romantische und merkwürdige Dinge aus dem Leben der hier verewigten Lords und Ladies zu erzählen wußte. Nachdem Mr. Hobbs den Stammbaum des Hauses Dorincourt einigermaßen begriffen und einige derartige Erzählungen gehört hatte, fing er an, unter den Schätzen Schloß Dorincourts die Ahnengalerie fast am höchsten zu stellen, und manch liebes Mal sah man ihn von den »Dorincourts Arms«, wo er Quartier genommen hatte, herüberwandeln, um eine Stunde im Ahnensaale zu verbringen und unter stetem Kopfschütteln die gemalten Damen und Herren anzustarren, die ihn ihrerseits ebenso verwundert wieder anstarrten.

»Und lauter Grafen oder beinahe Grafen,« sagte er dann vor sich hin. »Und er wird auch so einer!«

Im Innersten waren ihm die »’ristokraten« und ihre Art zu leben keineswegs so sehr zuwider, als er sich gedacht hatte, und es ist sehr zweifelhaft, ob seine republikanischen Grundsätze durch die nähere Bekanntschaft mit Schlössern und Ahnen und all den sonstigen Annehmlichkeiten nicht in ein bedauerliches Schwanken gerieten. Eines Tages wenigstens vernahm man eine Aeußerung aus seinem Munde, die zu solchem Verdacht Anlaß zu geben ganz geeignet war.

»Na, ich würd‘ mir am End‘ nichts draus machen, auch so ein Graf zu sein.« Das ließ tief blicken.

Es war ein großer Tag für alle, Lord Fauntleroys achter Geburtstag, und Seine kleine Herrlichkeit war glückselig dabei. Wie schön sah der Park nicht aus, gedrängt voll Menschen in ihren besten, buntesten Kleidern und die Zelte mit flatternden Fähnlein darauf, und die große Flagge, die vom Schlosse wehte. Kein einziger, der kommen durfte und konnte, war zu Hause geblieben, denn alle, alle waren ja von Herzen froh, daß ihr kleiner Lord Fauntleroy auch gewiß und wahrhaftig ihr Lord Fauntleroy bleiben und dereinst ihr Herr werden sollte. Jedermann wollte ihn heute sehen, ihn und seine hübsche kleine Mutter, die schon so viele Herzen gewonnen hatte, und jedermann hatte etwas mehr Achtung und weniger Furcht vor dem alten Herrn, weil der kleine Junge ihn so lieb hatte und so unverbrüchlich an ihn glaubte, und auch weil der Graf endlich mit seines Erben Mutter Frieden geschlossen hatte und ihr mit Achtung begegnete. Ja, einige waren sogar der Ansicht, daß die einstige Feindschaft im Begriff stehe, sich in warme Freundschaft zu verwandeln, und daß unter dem zweifachen Einfluß des Kindes und der Mutter noch ein ganz manierlicher alter Edelmann aus ihm werden könne, was dann jedenfalls männiglich zu gute käme.

Welche Scharen von Menschen sich unter den Bäumen und auf dem großen offnen Rasenplatz und unter den Zelten umhertrieben! Pächter und Pächtersfrauen in ihren Sonntagskleidern, Hüten und Shawls; junge Burschen mit ihren Mädchen; Kinder, die sich jagten und fröhlich umhersprangen, und alte Frauen, die in ihren roten Mänteln bei einander standen und schwatzten. Auch im Schlosse gab es Gäste, Damen und Herren, die gekommen waren, um sich den Spaß mit anzusehen, dem kleinen Lord ihren Glückwunsch darzubringen und Mrs. Errols Bekanntschaft zu machen. Lady Lorridaile und Sir Harry hatten sich eingefunden, Sir Thomas Asshe mit seinen Töchtern und selbstverständlich Mr. Havisham, und vor allem die schöne Vivian Herbert in einem ganz entzückenden weißen Kleide, mit einem Spitzenschirm und dem unvermeidlichen Geleite von Verehrern, die ihr aber samt und sonders nicht so interessant zu sein schienen, wie ihr allerjüngster. Als er sie sah, flog er auf sie zu und schlang die Arme um ihren Hals, und sie küßte ihn so herzlich, als ob er ihr kleiner Lieblingsbruder wäre, und sagte: »Lieber Fauntleroy! Herzensjunge! Ach, ich bin so froh, so von Herzen froh –«

Und nachher wandelten die beiden Hand in Hand durch den Park, und er zeigte ihr sämtliche Merkwürdigkeiten, und schließlich führte er sie dahin, wo Mr. Hobbs und Dick sich aufgepflanzt hatten, und stellte ihr die beiden vor.

»Das ist mein alter, ganz alter Freund,« sagte er, »Mr. Hobbs – Miß Herbert – und das ist mein andrer alter Freund, Dick, und ich habe ihnen schon lange erzählt, wie schön du bist, und habe ihnen versprochen, daß sie dich sehen dürften, wenn du zu meinem Geburtstage kommst.«

Miß Herbert reichte beiden in ihrer liebenswürdigen Weise die Hand und plauderte eine Weile mit ihnen, stellte Fragen über Amerika und erkundigte sich, wie ihnen England gefalle, und Cedrik schwieg dazu und sah nur von der Seite mit strahlenden, bewundernden Blicken zu ihr auf und wurde ganz rot vor Freude, als er wahrnahm, daß Mr. Hobbs und Dick sein Entzücken teilten.

»Na, aber,« erklärte Dick nachher mit feierlicher Kennermiene, »das muß ich sagen, so ‚was hab‘ ich noch nicht gesehen. Die – die ist akkurat wie ein Bild – so ‚was, hab‘ ich gedacht, kommt nur in Geschichten vor.«

Jedermann sah ihr nach, wo sie vorüberging, und jedermann sah dem kleinen Lord Fauntleroy nach, und dazu schien die Sonne, die Fahnen flatterten, die Spiele nahmen ihren Verlauf, die Tanzenden flogen unermüdlich dahin, und inmitten der allgemeinen Freude schwamm Seine kleine Herrlichkeit förmlich in einem Meer von Wonne, und die ganze Welt erschien ihm so rosig, als sie nur je einem kleinen Jungen an seinem achten Geburtstag vorgekommen sein kann.

Und noch ein andrer war im innersten Herzen beglückt und glücklich – ein alter Mann, der, wenn er auch sein Lebenlang reich und vornehm gewesen war, doch im rechten Glücklichsein wenig Erfahrung hatte. Vielleicht war’s auch, weil er gelernt hatte, gegen andre gut zu sein, daß er plötzlich auf seine alten Tage erfahren hatte, wie es thut, von Herzen froh zu sein. Allerdings hatte er’s im Gutsein noch lange nicht so weit gebracht, als Fauntleroy glaubte, aber er hatte mindestens gelernt, etwas lieb zu haben in der Welt, und er hatte sich mehrmals darüber ertappt, daß er die wohlthätigen Dinge, zu denen ihn das arglose Vertrauen seines Enkels moralisch nötigte, eigentlich gar nicht ungern that – und das war immerhin ein Anfang. Ueberdies gefiel ihm seines Sohnes Frau mit jedem Tage besser, und es war keine ganz unwichtige Beobachtung, daß er im Begriff stand, auch sie lieb zu gewinnen. Er hörte gern ihre liebliche Stimme und sah gern in ihr reizendes Gesicht, und wenn er abends in seinem Lehnstuhl saß und sie mit ihrem Jungen am Kamin plauderte, hörte er gern unbemerkt zu und vernahm mit einer gewissen Neugier zärtliche, kluge und fein empfundene Worte, wie er sie vordem nie gehört hatte, und er begriff nun wohl, weshalb der kleine Geselle trotz der armseligen Straße in New York und trotz des Umgangs mit Krämern und Stiefelputzern eine vornehme, ritterliche Natur war, deren sich niemand zu schämen hatte, auch wenn es dem Geschick gefiel, ihn plötzlich wie im Märchen in ein Schloß zu versetzen und ihn zum Erben all der Herrlichkeit zu machen.

Die Sache war ja so einfach, es war ein reines, gutes, edelfühlendes Mutterherz, das ihn umgeben und geleitet hatte, und ihn gelehrt, gute Gedanken zu denken und für andre zu sorgen. Das ist sehr wenig und ist sehr einfach und ist vielleicht höher und besser, als alles andre. Er wußte nichts von Titel und Rang, von vornehmem Leben und vornehmen Sitten, aber er war überall und in jeder Lage liebenswert, weil er wahr und einfach und liebenden Herzens war. Und wer das ist, ist auch ein Königskind.

Und der alte Graf Dorincourt war heute wohl mit ihm zufrieden, wenn er ihn im Park sich unter den Leuten umhertreiben, mit manchen plaudern und jeden Gruß mit seinem kleinen, höflichen Komplimentchen erwidern sah, oder wenn er gegen seine Freunde, Mr. Hobbs und Dick, den aufmerksamen Wirt machte, oder sich leise neben seine Mutter oder Miß Herbert schlich und andächtig ihrer Unterhaltung lauschte. Am meisten befriedigt aber war er, als sie alle miteinander zu dem größten Zelt traten, wo die wohlhabenderen, bedeutenderen Pächter mit ihren Familien saßen und sich an Speisen und Getränk gütlich thaten.

Die Trinksprüche hatten eben angefangen, und der offizielle Toast auf den Grafen wurde heute mit einer gewissen Wärme aufgenommen, wie sie noch vor wenig Monaten undenkbar gewesen wäre. Dann aber brachte ein wohlbestallter Landmann die Gesundheit Lord Fauntleroys aus, und wenn an der Popularität Seiner kleinen Herrlichkeit auch noch der geringste Zweifel möglich gewesen wäre, so hätten diese endlosen, jubelnden Hurras, das Gläserklirren und Händeklatschen ihn beseitigen müssen. Ja, die Begeisterung war so groß unter den gutherzigen Leuten, daß nicht einmal die Gegenwart der Damen und Herren vom Schloß ihnen den geringsten Zwang auferlegen konnte. Es entstand ein ganzer Tumult und viel gerührte Blicke der Frauen ruhten auf der blühenden Kindergestalt, die zwischen Großvater und Mutter stand, und feuchten Auges flog es von Mund zu Mund: »Gott segne ihn, den herzigen, kleinen Jungen!«

Der kleine Lord Fauntleroy war glückselig. Er lächelte und machte zahllose Verbeugungen und war ganz purpurrot vor Stolz und Freude.

»Thun sie das, weil sie mich gern haben, Herzlieb?« fragte er stürmisch. »Ganz gewiß? Deshalb, Herzlieb, wirklich? O, wie bin ich froh!«

Und dann legte der Graf seine Hand auf des Knaben Schulter und sagte:

»Fauntleroy, du mußt ihnen danken für ihre Freundlichkeit.«

Cedrik sah betroffen zu ihm auf und blickte dann seine Mutter an.

»Muß ich das?« fragte er mit einem Anflug von Schüchternheit, und als sowohl Herzlieb als Miß Herbert ihm lächelnd zunickten, nahm er sein kleines Herz in beide Hände und trat entschlossen einen Schritt vor. Aller Augen richteten sich auf ihn, und er stand da mit seinem schönen, unschuldigen Kindergesicht, das einen rührenden Ausdruck von Tapferkeit trug, und begann, so laut er konnte, zu sprechen, so daß die hohe klare Stimme weithin vernehmbar war.

»Ich danke Ihnen so sehr! und ich hoffe, daß Sie an meinem Geburtstag recht vergnügt sind – weil ich auch so sehr vergnügt bin – und ich – ich freue mich auch sehr, daß ich Graf werden soll – im Anfang, da hab‘ ich mich nicht so gefreut – und ich – ich habe das Schloß so gern und das Dorf auch – es ist so schön hier – und – und – und wenn ich einmal Graf bin, will ich’s versuchen, gerade so ein guter zu werden, wie mein Großvater.«

Unter donnerndem Jubelruf der begeisterten Menge trat er zurück, schob mit einem leisen Seufzer der Erleichterung seine Hand in die des Grafen und schmiegte sich mit einem fragenden Blick, ob er es so recht gemacht habe, an den alten Herrn.

Das wäre eigentlich das Ende meiner Geschichte, allein ich kann mich nicht enthalten, noch von einer höchst eigenartigen Erscheinung zu berichten, und diese ist, daß der stolze Republikaner Mr. Hobbs sich von Alt-Englands »’ristokraten« so angezogen fühlte und es so unmöglich fand, seinen jungen Freund ohne seine Aufsicht heranwachsen zu lassen, daß er den Eckladen in New York verkaufte und in Seiner Herrlichkeit Dorf Erleboro eine gemischte Warenhandlung errichtete, die bald sehr viele Kunden hatte – die Schloßherrschaft inbegriffen – und Mrs. Dibble viel Herzeleid bereitete. Und wenn auch das persönliche Verhältnis zwischen dem Grafen und ihm kein eigentlich intimes zu nennen war, so wurde der wackere Hobbs mit der Zeit doch »’ristokratischer« als Mylord selbst, studierte jeden Morgen die Hofzeitung und verfolgte die Thätigkeit des Oberhauses mit höchstem Interesse. Etwa nach zehn Jahren war’s, daß Dick, der seine Studienzeit hinter sich hatte und den Bruder in Kalifornien besuchen wollte, an den würdigen Spezereikrämer die Frage richtete, ob er nicht Lust hätte, auch wieder nach Amerika zurückzukehren.

»Könnt’s nicht aushalten dort drüben,« sagte er, bedächtig das Haupt schüttelnd. »Muß in der Nähe von ihm bleiben und nach dem Rechten sehen. Und das Land drüben – solange man jung ist und sich rühren mag, ist’s ja schon gut, aber – es hat keine Traditionen – ja, ja, keine Traditionen!«