Der geängstigte Dichter durchrannte mit langen Beinen manche Straße und manchen Winkel; ein panischer Schrecken trieb ihn fort, bis ihm der Athem ausging. Jetzt gewann die Philosophie des Dichters über die blinde Furcht wieder die Oberhand, und er stellte sich folgendes Dilemma: Meister Peter Gringoire, sprach er zu sich selbst, indem er mit dem Finger an seinen Hirnkasten klopfte, es scheint mir, daß Ihr davon gelaufen seid, wie ein Narr. Die Teufelsjungen hatten sicherlich vor Euch eben so viel Angst, als Ihr vor ihnen. Habt Ihr denn nicht das Klappern ihrer Holzschuhe gehört, als sie gegen Süd davon liefen, während Ihr nach Nord entflohet? Eines von beiden: entweder haben sie die Flucht ergriffen, und dann ist der Strohsack, den sie in ihrem Schrecken auf dem Platze ließen, gerade das gastliche Bett, nach dem Ihr Euch schon so lange sehnt, und das Euch jetzt die heilige Jungfrau so wunderbar zuschickt, um Euch für das moralische Stück zu belohnen, welches Ihr zu ihren Ehren gedichtet habt; oder aber die Jungen haben nicht die Flucht ergriffen, und in diesem Falle haben sie Feuer an den Strohsack gelegt, und das ist gerade das Feuer, dessen Ihr benöthigt seid, um Euch zu wärmen und zu trocknen. In beiden Fällen also, gutes Feuer oder gutes Bett, bleibt immer der Strohsack ein Geschenk, das Euch der Himmel verliehen hat. Vielleicht hat die gebenedeite Jungfrau Maria an der Straßenecke Mauconseil den Hufschmied Eustach Moubon bloß darum sterben lassen, um Euch für diese Nacht eine Lagerstätte zu verschaffen, und es wäre sehr undankbar von Euch, wenn Ihr diese himmlische Gabe verschmähen wolltet. Reißt also nicht ferner aus, wie ein Burgunder vor einem Franzosen, und sucht nicht vor Euch, was Ihr hinter Euch laßt! Und kurz und gut, Meister Peter Gringoire, Ihr seid ein Esel!

Nachdem unser Dichter dieses Selbstgespräch gehalten hatte, und zu besagtem Schlußsatze gekommen war, kehrte er um, den ersehnten Strohsack zu suchen. Er irrte jedoch vergebens in dem verworrenen Knäuel dieser Gassen und Winkel herum, und konnte keinen Ausgang aus ihnen finden. Verflucht seien die Sackgäßchen und Straßenwinkel! rief er unmuthig aus. Der Teufel hat sie nach dem Bilde seiner höllischen Ofengabel gemacht!

In diesem Augenblicke blendete seine Augen ein röthlicher Schein, der aus dem Ende einer langen und engen Straße kam. Gelobt sei Gott! sprach Peter Gringoire freudig, dort unten brennt mein Strohsack. Salve, Salve, maris stella!

Mit diesen Worten schritt er rasch vorwärts in der engen ungepflasterten Straße, die immer kothiger und abschüssiger wurde. Sie war nicht einsam und verlassen; da und dort bewegten sich, in ihrer ganzen Länge, undeutliche und unförmliche Gestalten, die alle ihre Richtung nach dem röthlichen Scheine nahmen, der vom äußersten Ende der Straße leuchtete, jenen schwerfälligen Insekten gleich, die bei Nacht, von einem Grashalm zum andern, dem Feuer eines Hirten zufliegen.

Peter Gringoire schritt rasch vorwärts und hatte bald eine dieser Larven erreicht, welche sich mühsam hinter den andern herschleppte; es war ein elendes krüppelhaftes Wesen, dem die Beine fehlten und das auf den Händen fortrutschte. Als er verwundert stehen blieb, rief ihm eine klägliche Menschenstimme zu: »La buona mancia, Signor! La buona mancia, Signor!«

»Hol‘ mich der Teufel,« sagte unser Dichter, und ging weiter, »wenn ich verstehe, was Du willst!«

Bald stieß er auf eine andere dieser wandelnden Massen. Es war ein Lahmer, hinkend und einarmig, und zwar so einarmig und so hinkend, daß das verwickelte System der Krücken und hölzernen Füße, auf denen er wandelte, ihm das Ansehen eines vorwärts schreitenden Mauergerüstes gab. Unser Dichter, welcher klassische Vergleichungen liebte, nannte ihn in Gedanken den lebenden Dreifuß des Neptun.

Dieser lebende Dreifuß erhob seinen Hut bis zur Höhe des Kinns unseres Poeten und schrie ihm in die Ohren: »Sennor caballero, para comprar un pedaso de pan!«

Es scheint, sprach Peter Gringoire für sich, daß diese Mißgeburt auch eine Sprache hat, aber der Teufel verstehe sie!

Er verdoppelte den Schritt. Ein Blinder ging vor ihm her, mit einem langen Bart, mit einem Knotenstock vor sich hintappend und von einem großen Hunde geführt, »Facitote caritatem!« rief ihm der Blinde in näselndem Tone zu.

»Endlich,« sagte der Poet, »treffe ich doch Einen, der eine christliche Sprache spricht. Ich muß ein sehr mildthätiges Aussehen haben, daß man bei der gänzlichen Schwindsucht meiner Börse doch Almosen von mir bettelt. Mein Freund, ich habe vergangene Woche mein letztes Hemd verkauft, oder, weil Du doch nur Ciceros Sprache verstehst. Vendidi hebdomade nuper transita meam ultimam chemisam.«

Mit diesen Worten kehrte er dem Blinden den Rücken und setzte seinen Weg fort. Der Blinde aber holte auf einmal weit aus und schritt so rasch vorwärts, wie Einer, der zwei gute Augen hat. Zu gleicher Zeit erhoben sich die Lahmen und Hinkenden und rannten mit großer Geschwindigkeit und unter furchtbarem Geräusch ihrer Krücken und hölzernen Beine hinter ihm her.

Caritatem! La buona mancia! Un pedaso de pan!« gellte es in die Ohren des geängstigten Poeten.

»O babylonische Sprachverwirrung!« rief er aus und rannte davon; der Blinde und die Lahmen rasch hinter ihm her; und rund um ihn, so lang und breit die Straße war, wimmelte es von Blinden, Lahmen, Einarmigen, Einäugigen und Aussätzigen, die sich alle vorwärts nach der röthlichen Flamme bewegten. Der arme Peter Gringoire, immer noch von den drei Mißgeburten verfolgt, und in der Mitte dieser sonderbaren, fremdartigen Wesen wandelnd, wußte nicht, was aus ihm werden sollte.

Der Gedanke kam ihm, einen Versuch zu machen, ob er nicht umkehren könne, aber es war zu spät, die ganze Legion der Mißgeburten hatte sich hinter ihm geschlossen. Er schritt demnach vorwärts, getrieben von der unwiderstehlichen Fluth seiner Verfolger und von seiner eigenen Angst, wie auch von einem Schwindel ergriffen, der ihm die ganze Scene als ein furchtbares Traumgesicht erscheinen ließ.

Endlich erreichte er das äußerste Ende der Straße, die an einen ungeheuern freien Platz grenzte, auf welchem, da und dort, in dem düstern Nebel der Nacht, viele tausend zerstreute Lichter und Feuer ihren flackernden Schein von sich warfen. Peter Gringoire hoffte durch die Schnelligkeit seiner Beine den drei Mißgeburten zu entgehen, die ihn wie sein Schatten verfolgten.

»Onde vas, hombre!« schrie ihm der Lahme zu, indem er seine Krücken wegwarf und ihm mit den besten zwei Beinen nachlief, die je das Pflaster von Paris betreten hatten.

Die Mißgeburt ohne Beine stand jetzt aufrecht auf ihren Füßen und hing dem Dichter ihre schwere Krücke um den Hals, während ihn der Blinde mit weit geöffneten, flammenden Augen betrachtete.

»Wo bin ich denn?« rief der arme Poet schreckensvoll aus.

»Im Hofe der Wunder,« antwortete ein viertes Gespenst, das sich zu ihnen gesellt hatte.

»Bei meiner armen Seele, die Blinden sehen, und die Lahmen gehen, aber wo ist der Heiland, der diese Wunder wirkt?«

Hierüber lachten die magischen Gestalten aus vollem Halse.

Der arme Poet blickte verwundert umher. Er befand sich wirklich in jenem furchtbaren Hofe der Wunder, in den noch niemals ein ehrbarer Mann um diese Stunde gekommen war, in dessen magischem Zirkel die Polizeibeamten, welche sich dahin wagten, spurlos verschwanden, in dieser Stadt der Räuber und Diebe, aus der jeden Morgen ein Strom von Lastern, Bettelei und Landstreicherei sich über die Straßen von Paris ergoß und jeden Abend zu seiner Quelle zurückkehrte; in diesem ungeheuren Bienenstock, in den jede Nacht alle Raubbienen des Staates mit ihrer Beute zurückkehrten, wo der ausgetretene Mönch und der liederliche Student, die Taugenichtse aller Nationen und aller Religionen, Spanier, Italiener, Deutsche, Juden und Christen, Muhamedaner und Götzendiener, bei Tag Bettler und Beutelschneider, sich zur Nachtzeit in Straßenräuber verwandelten; in diesem unermeßlichen Ankleidezimmer, wo sich damals sämmtliche Schauspieler jener ewigen Komödie aus- und anzogen, welche Raub und Mord, Diebstahl und Betrug, kurz jede Art von Laster, unausgesetzt auf dem Pflaster von Paris ausüben.

Es war ein ungeheuer weiter Platz, unregelmäßig und schlecht gepflastert, wie alle Plätze des damaligen Paris. Einzelne Feuer, um welche es von seltsamen Gruppen wimmelte, brannten da und dort. Geräusch, Geschrei, Gelächter, Stimmen von Männern, Weibern und Kindern, Gehen und Kommen, Sitzen und Stehen, Alles floß vor den Augen und Ohren bunt durcheinander. In dem flackernden, röthlichen Feuer, das einen ungewissen Schein in die Schatten der Nacht warf, sah man unbestimmte, seltsame Gestalten hin und her wandeln. Die Grenzen der Geschlechter und Gattungen schienen sich in diesem seltsamen Pandämonium zu verwischen. Man konnte einen Hund sehen, der fast ein Menschengesicht hatte, und einen Menschen, der beinahe einem Hunde glich.

Männer, Weiber, Thiere, Alter, Geschlecht, Gesundheit und Krankheit, Alles schien unter diesem Volke gemeinsames Erbtheil, Alles floß in bunter Mischung durcheinander.

Das schwache und schwankende Licht, das die Feuer von sich warfen, zeigte dem verblüfften Dichter, rings um den unermeßlichen Platz, ein häßliches Gemisch alter, halb verfallener Häuser. Das Ganze erschien ihm wie eine neue Welt, unbekannt, unerhört, mißgestaltet, phantastisch, kriechend und wimmelnd.

Der unglückselige Poet, den die drei Gauner fest hielten, den hundert andere bizarre Gesichter, gleich Masken, anstarrten, um den hundert Stimmen heulten und bellten, suchte vergebens seinen Geist zu sammeln. Der Faden seines Gedächtnisses war wie abgeschnitten; er zweifelte an der Wirklichkeit, zweifelte an seinem eigenen Dasein und sagte bei sich: wenn ich bin, ist dieses? wenn dieses ist, bin ich?

Jetzt erhob sich unter der ihn umgehenden Menge der allgemeine Ruf: »Führt ihn vor den König! führt ihn vor den König!«

Heilige Jungfrau! murmelte der Dichter, der König dieses Reichs muß ein Bock sein.

»Zum König! zum König!« wiederholten hundert Stimmen. Man riß ihn fort.

Während er über den furchtbaren Platz hinschritt, kehrte sein Bewußtsein zurück. Die Wirklichkeit, auf die er mit jedem Schritte stieß, zerstörte den furchtbaren Traum, den seine kranke Einbildungskraft geschaffen hatte. Er nahm endlich wahr, daß er noch lebe, daß er nicht an den Ufern des Styx, sondern im Straßenkoth wandle, daß nicht Dämonen, sondern Räuber und Diebe ihn geleiten, daß es nicht auf seine arme Seele, sondern auf sein Leben abgesehen sei, denn ihm fehlte das Einzige, was einen Banditen mit einem ehrlichen Manne versöhnen kann: ein voller Beutel.

Man brachte ihn in ein altes, wurmstichiges, durchlöchertes Haus. In einem großen Zimmer oder Saale standen in bunter Unordnung einige morsche Tafeln, unreinlich, von verschüttetem Wein und Bier triefend, um welche her viele bacchische Gesichter saßen, die vom Feuer der Trunkenheit glänzten. Rund umher schallendes Gelächter und unzüchtiger Gesang, Anstoßen der Kannen und Gläser, Streit und Zank. Dazwischen saßen Hunde umher und Kinder spielten auf dem Boden. In dem Kamin brannte ein großes Feuer und daneben stand ein umgestürztes Faß. Auf dem Faße sah ein Bettler. Dieser Bettler war der König, und dieses Faß sein Thron.

Man brachte den Gefangenen vor den Thron des furchtbaren Hauptes dieses gefürchteten Staats. Peter Gringoire wagte weder zu athmen, noch die Augen zum Throne des Königs der Gauner zu erheben.

Der König richtete von der Höhe seiner Tonne herab folgende Worte an den armen Patienten: »Was ist das für ein Schuft?«

Dem zitternden Dieter schien diese Stimme bekannt, er schlug schüchtern die Augen auf: es war Clopin Trouillefou, der auf dem Throne saß.

Clopin Trouillefou, mit den Zeichen seiner königlichen Würde bekleidet, hatte weder einen Lumpen mehr noch weniger am Leibe, als diesen Morgen, wo er im Saale des Justizpalastes als Bettler figurirte. Seine offene Wunde am Arme war bereits verschwunden. Er führte eine Peitsche in der Hand und trug auf dem Kopfe eine runde, oben geschlossene Mütze, die man eben so gut für einen Kinderbausch, als für eine Königskrone halten konnte, so sehr glichen beide einander. Peter Gringoire faßte, ohne zu wissen warum, einige Hoffnung, als er in dem König der Diebe den vermaledeiten Bettler im großen Saale des Justizpalastes wieder erkannte,

»Meister, gnädigster Herr, Sire, Euer Majestät … ich weiß in der That nicht, welchen Titel ich Euch beizulegen habe,« stotterte der verlegene Poet.

»Gnädigster Herr, Euer Majestät, oder Kamerad, nenne mich, wie Du willst; aber spute Dich,« erwiederte der Bettelkönig barsch. »Was hast Du zu Deiner Vertheidigung zu sagen?«

»Zu Deiner Vertheidigung! das gefällt mir nicht,« murmelte Peter Gringoire zwischen den Zähnen und fuhr stammelnd fort: »ich bin der Nämliche, der diesen Morgen…«

»Bei den Klauen des Teufels!« unterbrach ihn der König der Diebe, »Deinen Namen will ich wissen, Du Schuft, und weiter nichts. Hör‘ einmal! Du stehst vor drei mächtigen Herrschern: vor mir, Clopin Trouillefou, souveränem König des Königreichs Kauderwelsch; vor Matthias Hungadi Spicali, Herzog von Aegyptenland, und Wilhelm Rousseau, Kaiser von Galiläa. Du bist in das Königreich Kauderwelsch eingedrungen, ohne ein Unterthan des Reiches zu sein; Du hast die geheiligten Vorrechte unserer Stadt verletzt. Dafür verdienst Du Strafe, es wäre denn, daß Du in dem Reiche der sogenannten ehrlichen Leute ein Dieb, Bettler oder Landstreicher wärest. Bist Du etwas dieser Art? Rechtfertige Dich und nenne Deine Eigenschaften.«

»Ich bitte tausendmal um Verzeihung,« erwiederte der geängstigte Dichter, »aber ich habe nicht die Ehre, das eine oder andere der benannten drei Gewerbe zu treiben. Ich bin vielmehr der Verfasser…«

»Gut,« unterbrach ihn der Bettelkönig trocken, »so wirst Du also gehängt werden. Das ist ganz einfach, Ihr ehrbaren Herren Bürger! wie Ihr die Unsrigen bei Euch behandelt, so behandeln wir die Eurigen bei uns. Das Gesetz, das Ihr gegen die Landstreicher anwendet, wenden die Landstreicher gegen Euch an. Ist es ungerecht, so sind wir nicht Schuld daran, Es ist erquicklich, von Zeit zu Zeit ein ehrbares Bürgergesicht auf der Galgenleiter Fratzen schneiden zu sehen. Das gibt der Sache selbst einen ehrenvollen Anstrich. Mache Dich gefaßt zur letzten Reise, guter Freund, und vertheile Dein Geld und Deine Kleider nach Gefallen unter die ehrlichen Leute des Königreichs Kauderwelsch. Bedarfst Du vor Deinem seligen Hintritt noch einiger geistlichen Mummerei, so findest Du dort unten einen steinernen Herrgott, den wir zu diesem Gebrauche zu St. Peter am Schlachthause gestohlen haben. Du hast vier Minuten Zeit, ihm Deine arme Seele an den Kopf zu werfen.«

Das war ein sehr tröstlicher Zuspruch, der dem Kaiser von Galiläa wohl gefiel; denn er rief über die Tafel herüber: »Beim heiligen Peter und seinem Fischerring! unser König Clopin Trouillefou predigt wie der heilige Vater selbst.«

Als sich die Dinge so drohend gestalteten, kehrten Bewußtsein und Festigkeit in die Seele des armen Dichters zurück: »Meine Herren Kaiser und Könige,« sprach er kaltblütig, »Ihr denkt vermuthlich nicht daran, daß ich der nämliche Peter Gringoire bin, dessen moralisches Stück man diesen Morgen im großen Saale des Justizpalastes aufgeführt hat.«

»Beim Teufel, ja, Du bist es, Meister!« rief der Bettelkönig aus. »Ich war dabei, so wahr mich Gott geschaffen hat! aber, lieber Freund, weil Du uns diesen Morgen Langeweile gemacht hast, sollen wir Dich diesen Abend nicht hängen lassen? Dazu ist kein Grund vorhanden.«

Ich werde Mühe haben dem Strick zu entrinnen, dachte der Poet bei sich. Gleichwohl wollte er noch einen letzten Versuch machen, sich diesem schmählichen Tode zu entziehen.

»Ich sehe nicht ein,« sagte er, »warum man die Poeten nicht unter die Landstreicher rechnet. Aesop war ein Vagabund, Homer ein Bettler und Merkur ein Dieb.«

»Willst Du uns dumm machen mit Deinem Gesalbader?« unterbrach ihn der König der Gauner. »Mache nicht so viele Umstände, sondern laß Dich hängen!«

»Verzeiht, gnädigster Herr König der Landstreicher,« erwiederte Peter Gringoire, »es ist hier von keiner Kleinigkeit die Rede; Ihr werdet mich doch nicht verurtheilen, ohne mich zuvor gehört zu haben.«

Der gerechte König des Königreichs Kauderwelsch ließ sich diese Einwendung zu Herzen gehen. Se. Majestät beriefen den Herzog von Aegypten, den Kaiser von Galiläa und den gesammten Staatsrath ihres Reiches vor sich. Diese hochansehnliche Versammlung bildete einen Halbkreis um das Faß, von welchem herab Clopin Trouillefou das Königreich der Beutelschneider regierte. In der Mitte dieses furchtbaren Kreises stand der arme Peter Gringoire als Delinquent. Clopin Trouillefou, der Doge dieses Senats, der König dieses Oberhauses, der Pabst dieses Conclave, thronte auf seinem Fasse in furchtbarer Majestät.

»Hör‘ einmal,« sagte er zu dem Dichter, »ich sehe nicht ein, warum man Dich nicht hängen sollte. Es scheint Dir zwar unangenehm zu sein, und ich will es gerne glauben, denn ihr ehrlichen Bürger seid nicht daran gewöhnt, ihr macht Euch eine viel zu schauerliche Vorstellung von der Sache. Im Uebrigen wollen wir Dir nicht übel, und es gibt ein Mittel, Deinen Hals aus der Schlinge zu ziehen. Willst Du ein Bürger des Königreichs Kauderwelsch werden?«

Peter Gringoire ergriff unbedenklich diesen letzten Rettungsbalken und erwiederte hastig: »Ob ich will? Mit Freuden will ich!«

»Du willigst also ein, in die Reihen der Leute von der Blendlaterne zu treten?«

»Von der Blendlaterne, jawohl,« wiederholte Peter Gringoire mechanisch.

»Du erkennst Dich als Mitglied der Freibürgergesellschaft an?«

»Der Freibürgergesellschaft,« wiederholte der Dichter.

»Unterthan des Königreichs Kauderwelsch?«

»Unterthan des Königreichs Kauderwelsch.«

»Landstreicher?«

»Landstreicher.«

»Mit Leib und Seele?«

»Mit Leib und Seele.«

»Sehr brav,« fuhr der Bettelkönig fort, »aber ich muß Dir bemerken, daß Du darum nicht minder gehängt werden wirst.«

»Teufel auch!« rief der Poet erschrocken und fuhr drei Schritte zurück.

»Nur,« sprach Clopin Trouillesou weiter, »wirst Du später gehängt werden, mit mehr Feierlichkeit, auf Kosten der guten Stadt Paris, an einen schönen steinernen Galgen, und durch die ehrlichen Leute. Das ist allerdings ein Trost.«

»Ganz gewiß,« sagte Peter Gringoire.

»Du erlangst noch andere Vortheile. Als Freibürger hast Du kein Pflastergeld, keine Armentaxe, kein Laternengeld zu bezahlen, womit die ehrlichen Leute der Stadt Paris belegt sind.«

»Amen!« sprach der Poet. »Ich bin Landstreicher, Freibürger, Unterthan des Königreichs Kauderwelsch, Blendlaterne, Alles, was Eure Majestät aus mir machen will, und ich war es im Voraus schon, gnädigster Herr König, Euch zu dienen, denn ich bin Philosoph, et omnia in philosophia, omnes in philosopho continentur, wie Ihr selbst wißt.«

Der Bettelkönig runzelte die Stirne und erwiederte zornig: »Für wen hältst Du mich, Freund, daß Du mir da in Deiner ungarischen Judensprache vorleierst? Ich kann nicht hebräisch, und wer ein Bandit ist, ist noch lange kein Jude. Ich stehle sogar nicht mehr, ich stehe höher, ich morde.«

»Verzeihung, gnädigster Herr König,« versetzte demüthig der Poet, »es ist nicht hebräisch, sondern lateinisch.«

»Halt’s Maul,« erwiederte zornig der Bettelkönig »ich sage Dir noch einmal, daß ich kein Jude bin, und wenn Du nicht schweigst, so lasse ich Dich hängen.«

Peter Gringoire schwieg weislich, worauf der König ruhig fortfuhr: »Du willst also ein Unterthan unseres Reiches werden, Du Spitzbube?«

»Allerdings,« antwortete der Poet.

»Der Wille allein thut es nicht,« sprach der König, »der schafft keine Zwiebel weiter in die Suppe und taugt zu nichts, als in’s Paradies zu kommen; das Paradies und das Königreich Kauderwelsch sind aber zwei verschiedene Dinge. Im Paradies ist gut faullenzen, aber im Königreich Kauderwelsch muß man zu Etwas tauglich sein, und deßhalb mußt Du vor allen Dingen dem Gliedermann die Taschen leeren.«

»Alles will ich leeren, was Euch beliebt, Herr König,« entgegnete der Poet.

Auf ein Zeichen des Königs wurde ein tragbarer hölzerner Galgen herbeigebracht.

»Sie werden doch nicht gar des Teufels sein?« sprach Peter Gringoire mit innerlicher Angst.

Ein Glockengeläute, das er in diesem Augenblicke hörte, machte seiner Furcht ein Ende! es war der Gliedermann, den man am Strick des Galgens befestigte. Die tausend Glöckchen, mit denen er bedeckt war, hallten noch nach, so lange die Schwingung des Stricks dauerte, bis sie allmählig ganz schwiegen.

Hierauf deutete der Bettelkönig auf einen alten schwankenden Schemel, der unterhalb des Gliedermanns stand, und sprach zu Peter Gringoire: »Steig da hinauf, guter Freund.«

»Tod und Hölle!« rief der Dichter, »da muß ich den Hals brechen. Euer Schemel hinkt, wie ein Distichon von Martial; er hat einen Fuß Hexameter und einen Fuß Pentameter.«

»Steig hinauf!« wiederholte Clopin Trouillefou.

Jetzt faßte sich der Dichter ein Herz und gelangte, nicht ohne einige Schwankungen des Hauptes und der Arme, auf die Höhe des Schemels, wo er den Centralpunkt seines Gleichgewichts wieder fand.

»Jetzt,« fuhr der König fort, »drehe Deinen rechten Fuß um Dein linkes Bein und richte Dich auf der Spitze des linken Fußes in die Höhe.«

»Gnädigster Herr,« versetzte der Poet, »Ihr wollt also durchaus, daß ich den Hals breche?«

Clopin Trouillesou schüttelte den Kopf und sprach: »Höre, guter Freund, Du plauderst mir zu viel. Ich will Dir mit zwei Worten sagen, um was es sich hier handelt. Du richtest Dich, wie ich Dir schon gesagt, auf der linken Zehenspitze in die Höhe, um die Tasche des Gliedermanns mit ausgestreckter Hand erreichen zu können, Du ziehst den Beutel heraus, der darin steckt; und wenn dieses vollbracht ist, ohne daß der Ton einer Glocke hörbar wird, so hast Du wohlgethan und bist ein Unterthan unseres Königreichs Kauderwelsch. Dann bleibt uns nichts mehr übrig, als Dich acht Tage lang tüchtig durchzuprügeln.«

»Und wenn sich eine Glocke bewegt?« fragte unser Dichter.

»Dann wirst Du gehängt. Verstehst Du?«

»Ganz und gar nicht,« antwortete Peter Gringoire in der Angst seines Herzens.

»So höre noch einmal: Du ziehst dem Gliedermann die Börse aus der Tasche, und wenn dabei ein einziges Glöckchen sich hören läßt, so wirst Du gehängt. Verstehst Du das?«

»Wohl, ich verstehe es jetzt. Und hernach?«

»Nimmst Du die Börse, ohne daß man eine Glocke hört, so bist Du Unterthan unseres Reiches und wirst acht Tage hintereinander tüchtig durchgeprügelt. Verstehst Du es jetzt?«

»Nein, Herr König, das verstehe ich nicht. Welchen Vortheil habe ich denn? In dem einen Falle gehängt, in dem andern halbtodt geschlagen!«

»Und unser Unterthan, Unterthan des Königreichs Kauderwelsch, ist das nichts?« fragte mit ernster Stimme Clopin Trouillefou, der König der Diebe. »Wirst Du geschlagen, so geschieht es bloß zu Deinem eigenen Besten, damit Du Dich gegen Schläge abhärtest.«

»Schönen Dank!« erwiederte der Poet.

»Jetzt spute Dich,« sprach der König ungeduldig und stampfte mit dem Fuß auf seinen Thron, »frisch an’s Werk, und wenn eine einzige Glocke läutet, so hängt man Dich an den Platz des Gliedermanns.«

Der königliche Staatsrath und die Zuschauer bei diesem offenen Gericht klatschten den Worten des Königs Beifall und reihten sich unter wildem Gelächter um den Galgen. Es blieb nun unserem Patienten nichts Anderes übrig, als das große Werk zu vollbringen. Er betrachtete mit angsterfüllter Seele den Gliedermann, und die tausend Glöckchen, die an ihm hingen, mit ihren kleinen kupfernen Zungen, erschienen ihm wie lauter Nattern mit offenem Munde, jeden Augenblick bereit, zu pfeifen und zu beißen.

Oh! sprach er leise für sich, soll mein Leben an der geringsten Schwingung des kleinsten dieser Glöckchen hängen? Oh! fügte er mit gefalteten Händen hinzu, ihr Glocken läutet nicht, ihr Schlegel, rührt euch nicht!

Noch einmal machte er einen Versuch auf die Barmherzigkeit des Bettelkönigs.

»Und wenn,« fragte er, »ein plötzlicher Windstoß käme?«

»So wirst Du gehängt,« erwiederte Clopin Trouillefou ohne Zaudern.

Da nun alle Mittel, aus diesem Labyrinth zu gelangen, erschöpft waren, ergab sich unser Dichter in sein unabwendbares Schicksal, drehte den rechten Fuß um das linke Bein, richtete sich auf der linken Zehenspitze in die Höhe und streckte den Arm aus; in dem Augenblicke aber, wo er den Gliedermann berührte, schwankte sein Körper, der nur noch auf einem Fuße stand, auf dem Schemel, der nur drei Füße hatte; mechanisch wollte er sich an dem Gliedermann halten, verlor das Gleichgewicht und stürzte schwerfällig zu Boden, während der Ton von tausend Glocken in seinen Ohren wiederhallte.

»Verflucht!« rief er im Fallen, und blieb, das Gesicht der Erde zugekehrt, wie todt auf dem Boden liegen. In diesem schrecklichen Augenblicke gellte der Schall der Glocken todverkündend in seinen Ohren; er hörte das teuflische Gelächter der diebischen Rotte und vernahm des Bettelkönigs Stimme: »Hebt mir diesen Schuft auf und hängt ihn an den Galgen!«

Peter Gringoire erhob sich vom Boden, und als er aufblickte, sah er, daß man bereits den Gliedermann abgenommen hatte, um ihm Platz zu machen.

Man ließ ihn auf den Schemel steigen, der König in eigener Person legte ihm den Strick um den Hals, klopfte ihm freundlich auf die Schulter und sprach: »Gott befohlen, mein Herzenssohn! Du kannst jetzt dem Stricke nimmer entgehen, und wenn Du auch mit dem Magen des Pabstes verdautest.«

Das Wort Gnade! erstarb auf den Lippen unseres armen Dichters; er blickte trostlos um sich her, denn auf keinem dieser grinsenden Gesichter erblickte er einen Funken von Mitgefühl.

»Bellevigne de l’Etoile,« sprach der König zu einem Vagabunden von riesenhafter Gestalt, »steig auf den Querbalken.«

Schnell und gewandt stieg der Riese hinauf, und mit Entsetzen sah ihn Peter Gringoire über seinem Haupte schweben.

»Jetzt,« fuhr Clopin Trouillefou fort, »sobald ich in die Hände klatsche, wirfst Du, Andry le Rouge, den Schemel um, Du, François Chante-Prune, hängst Dich an die Füße des armen Sünders, und Du, Bellevigne de l’Etoile, steigst auf seine Schultern, und alle Drei zumal, hört Ihr’s?«

Dem armen Peter Gringoire lief es eiskalt über den Rücken hinab.

»Seid Ihr fertig?« fragte der Bettelkönig. Der letzte Augenblick des armen Dichters war nahe.

»Seid Ihr fertig?« wiederholte Clopin Trouillefou und schickte sich an, mit den Händen zu klatschen. Noch eine Sekunde, und es war um unsern Poeten geschehen.

Plötzlich hielt Clopin Trouillefou, wie von einem schnellen Gedanken ergriffen, inne,

»Halt!« sagte er, »fast hätte ich vergessen… Es ist unter uns gebräuchlich, daß wir keinen Mann hängen, ohne zuvor bei den Weibern Umfrage zu halten, ob ihn eine von ihnen will. Kamerad, das ist Dein letztes Rettungsmittel, ein Bettelmensch zum Weibe oder den Strick.«

Peter Gringoire schöpfte frischen Athem. Zum zweitenmal, seit einer halben Stunde, kehrte er in’s Leben zurück. Es war aber noch nicht allzusehr darauf zu bauen.

»Holla!« schrie Clopin Trouillefou mit lauter Stimme, »holla! Ihr Weiber und Weiblein, ist unter Euch irgend eine alte oder junge Hexe, die diesen Schlingel zum Manne will? Holla! Kommt und schaut! Ein Mann umsonst! Wer will ihn?«

Unser Peter Gringoire, in seinem kläglichen Zustande, bot nicht den reizendsten Anblick dar; auch schienen die Damen des Königreichs Kauderwelsch den Antrag ihres gnädigsten Souveräns wenig zu beachten.

»Nein! nein!« antworteten viele Stimmen, »knüpft ihn lieber auf, dann haben doch Alle einen Genuß davon!«

Ein Trio dieser Damen trat jedoch aus dem Haufen, den Brautwerber zu beschauen. Die Erste derselben, ein dickes Bettelmensch mit viereckigem Gesicht, musterte ihn und seinen abgeschabten Anzug. Sie warf das Maul auf und sprach: »Alte Wetterfahne! wo hast Du Deinen Mantel?«

»Ich habe ihn verloren,« erwiederte mit kläglicher Stimme der Poet.

»Deinen Hut?«

»Man hat mir ihn genommen.«

»Deine Börse?«

»Es ist kein Pfennig mehr darin.«

»So laß Dich hängen und bedanke Dich schön dafür!« sagte die Bettlerin und wendete ihm den Rücken.

Die Zweite, alt, runzlig, von Rauch und Schmutz geschwärzt und so häßlich, daß sie selbst in dem Hofe der Wunder Aufsehen machte, umschlich ihn wie eine Katze, betrachtete ihn von allen Seiten und entfernte sich dann mit den Worten: »den dürren Häring mag ich nicht!«

Die Dritte war ein junges Mädchen, ziemlich frisch und nicht allzuhäßlich.

»Rette mich!« rief ihr der arme Teufel mit gedämpfter Stimme zu.

Sie betrachtete ihn einen Augenblick mit anscheinendem Mitleid, schlug die Augen nieder, spielte an ihrer Schürze und war unschlüssig.

Peter Gringoire folgte allen diesen Bewegungen, die ihm für Leben und Tod entscheidend waren, mit gierigen Blicken.

»Nein!« sprach endlich das Mädchen, »nein! Guillaume Longue-Joue würde mich prügeln!« Mit diesen Worten trat sie in den Haufen zurück.

»Kamerad,« sprach Clopin Trouillefou, »Du hast Unglück!«

Hierauf erhob sich der Bettelkönig aufrecht auf seinem Throne und rief mit der Stimme eines Ausrufers: »Wer will ihn haben? Ist Niemand da? Wer will ihn haben? Zum ersten… zweiten… zum… zum… drittenmal!«

Bei diesen Worten machte er einen Knix gegen den Galgen und sagte: »Zum dritten- und letztenmal!«

Bellevigne de l’Etoile, Andry le Rouge und François Chante-Prune näherten sich dem Patienten.

In diesem Augenblicke erhob sich der allgemeine Ruf: »die Esmeralda! die Esmeralda!«

Peter Gringoire schauderte zusammen und wendete das Haupt nach der Seite, woher der Ruf kam. Die Menge öffnete sich, und man erblickte die reizende Gestalt des schönen Zigeunermädchens.

Die Esmeralda! seufzte der arme Poet, dem dieses magische Wort alle Erinnerungen des vergangenen Tages ins Gedächtniß zurückführte.

Dieses seltsame Geschöpf schien bis in den Hof der Wunder die Herrschaft ihres Liebreizes zu erstrecken. Männer und Weiber bildeten eine Reihe, durch welche sie leichten Schrittes hinschwebte, und ihre finsteren Gesichter erheiterten sich bei dem Anblick dieses lieblichen Geschöpfes.

Sie trat auf den armen Peter Gringoire zu, der mehr todt als lebendig war, betrachtete ihn einen Augenblick stillschweigend und sprach dann ernst zu Clopin Trouillefou: »Du willst diesen Menschen hängen lassen?«

»Ja, Schwester,« erwiederte der Bettelkönig, »es wäre denn, daß Du ihn zum Manne nähmest.«

»Ich nehme ihn,« sagte sie.

Als unser Dichter dies hörte, glaubte er steif und fest, daß es ihm seit diesem Morgen bloß geträumt habe, und daß er jetzt aus dem Schlaf erwache.

Man nahm ihm den Strick ab und ließ ihn vom Schemel steigen. Er war so erschöpft, daß er sich setzen mußte.

Der Herzog von Aegypten brachte, ohne ein Wort zu sagen, einen irdenen Krug. Das Zigeunermädchen bot ihn dem Dichter mit den Worten dar: »Wirf ihn zu Boden!«

Der Krug zerbrach in vier Stücke.

»Bruder,« sprach jetzt der Herzog von Aegypten, indem er beiden die Hände auf die Stirne legte, »sie ist Dein Weib; Schwester, er ist Dein Mann, auf vier Jahre.«