Der Leser hat vielleicht nicht vergessen, daß Quasimodo einen Augenblick zuvor, ehe er die nächtliche Bande der Bettler bemerkte, und als er von seinem Thurme herab Paris überblickte, hier nur ein einziges Licht schimmern sah, welches ein Fenster im höchsten Stockwerke eines hohen und düstern Gebäudes neben dem Thore Saint-Antoine erhellte. Dieses Gebäude war die Bastille. Dieser Lichtschimmer war die Kerze Ludwigs des Elften.

Der König Ludwig der Elfte war in der That seit zwei Tagen in Paris. Er war willens, am zweitnächsten Tage wieder nach seiner Feste Montilz-les-Tours zurückzureisen. Er nahm stets nur kurzen und seltenen Aufenthalt in seiner guten Stadt Paris, weil er hier nicht genug Fallgruben, Galgen und schottische Bogenschützen in seiner Nähe wußte.

An jenem Tage war er gekommen, um sein Nachtlager in der Bastille aufzuschlagen. Das große Zimmer von fünf Klaftern im Geviert, welches er im Louvre besaß, mit dem großen Kamine, der mit zwölf großen Thiergestalten und dreizehn großen Propheten bedeckt war, und sein mächtiges Bett von elf Fuß Breite und zwölf Fuß Länge gefielen ihm wenig. Er verlor sich in allen diesen großen Räumlichkeiten. Dieser gut bürgerliche König zog die Bastille mit einem Kämmerchen und einem Bettchen darin vor. Und dann war die Bastille weit fester als der Louvre.

Dieses »Kämmerchen«, welches sich der König in dem berüchtigten Staatsgefängnis vorbehalten hatte, war noch ziemlich groß und nahm das oberste Stockwerk eines Thürmchens ein, das auf einen großen Schloßthurm aufgesetzt war. Es war ein Gemach von runder Form, mit Matten aus weißem Stroh überkleidet, die Decke mit Balken verschalt, an denen Lilien aus vergoldetem Zinn sich erhoben, zwischen den Balken farbige Füllungen; die Wände waren mit reichem Holzwerke ausgetäfelt, das mit Rosetten von weißem Zinn übersäet und mit Hellgrün aus Goldgelb und feinem Indigo gemalt war.

Es befand sich nur ein Fenster in langer Spitzbogenform darin, das mit Eisendraht und Eisenstäben vergittert und übrigens von schönen gemalten Scheiben mit den Wappen des Königs und der Königin, deren Fassung auf zweiundzwanzig Sou zu stehen kam, verdunkelt war.

Es hatte gleichfalls nur einen Eingang: eine Thür im neuern Geschmack mit flachgewölbtem Bogen, innen mit einem Thürteppiche und außen mit einer jener irländischen, hölzernen Vorhallen, diesen zierlichen Holzbauen merkwürdig gearbeiteter Tischlerkunst geziert, welche man noch in zahlreichen alten Häusern vor hundert und fünfzig Jahren sah. »Obgleich sie die Räume verunzieren und versperren,« sagt Sauval voll Verzweiflung, »so wollen sich unsere Alten dennoch durchaus nicht von ihnen trennen und behalten sie jedermann zum Trotze bei.«

In diesem Zimmer fand man nichts von den Möbeln, welche sich in gewöhnlichen Wohnzimmern vorfinden: weder Bänke, noch Tragstühle, weder Polsterbänke, noch gewöhnliche Fußschemel in Kastengestalt, noch schöne Schemel, die von Füßen und Strebesäulchen getragen werden, das Stück zu vier Sou. Man sah hier nur einen sehr prächtigen Klappstuhl mit Armen: das Holz daran war mit Rosen auf rothem Grunde bemalt, der Sitz aus dunkelrothem Corduanleder, mit langen Seidenfransen geschmückt und mit zahlreichen goldenen Nägeln beschlagen. Die Vereinzelung dieses Stuhles zeigte an, daß nur eine einzige Person das Recht hätte, in diesem Zimmer sich zu setzen. Neben dem Stuhle und ganz dicht am Fenster befand sich ein Tisch, der mit einem Teppiche bedeckt war, in den Vogelgestalten eingewirkt waren. Auf diesem Tische stand ein tintenfleckiges Schreibzeug, einige Pergamente, Federn und ein in Silber getriebener Humpen; ein wenig weiter entfernt ein Kohlenbecken, ein Betpult aus dunkelrothem Sammete, gleichfalls mit goldenen Buckeln beschlagen. Endlich sah man im Hintergrunde ein einfaches Bett aus gelbem und rosenfarbigem Damast ohne Flitterstaat und Tressen, mit Franzenbesatz in wirrer Form. Es ist dies das berühmte Bett, in welchem Ludwig der Elfte die Stunden des Schlafes oder der Schlaflosigkeit verbrachte, und welches man noch vor zweihundert Jahren bei einem Staatsrathe in Augenschein nehmen konnte, wo es von der alten Frau Pilou, die im »Cyrus« 75 unter dem Namen »Aricidia« oder »die lebende Moral« gefeiert wird, gesehen worden ist.

So war das Zimmer beschaffen, welches man »die Einsamkeit, in der Herr Ludwig von Frankreich seine Horen betet«, benannte.

In dem Augenblicke, wo wir den Leser hier eingeführt haben, war es sehr dunkel in diesem Zimmer. Die Abendglocke war vor einer Stunde geläutet worden; es war Nacht, und man sah nur eine einzige flackernde Wachskerze auf dem Tische stehen, welche fünf, verschiedenartig im Zimmer gruppirte Personen beleuchtete.

Der Erste, auf welchen das Licht fiel, war ein prächtig in Beinkleider und Rock aus scharlachrothem, silbergestreiftem Stoff gekleideter Herr, der einen Mantel aus schwarzgemustertem Goldstoff mit geschnürten Buffärmeln um die Schultern trug. Dieser funkelnde Anzug, auf welchem das Licht spielte, schien an allen Falten von Flammen zu schillern. Der Mann, welcher ihn trug, hatte auf der Brust sein in hellen Farben gesticktes Wappen: einen Balken mit einem springenden Damhirsche am Ende. Der Wappenschild war rechts von einem Olivenzweige, links von einem Damhirschgeweih umkränzt. Derselbe Mann trug an seinem Gürtel einen reich gearbeiteten Dolch, dessen dunkelrothes Gefäß in Gestalt eines Helmstutzes getrieben und von einer Grafenkrone gekrönt war. Er hatte ein boshaftes Wesen, eine stolze Miene, und trug den Kopf hoch. Beim ersten Blicke ersah man auf seinem Gesichte den anmaßenden Dünkel, beim zweiten die Hinterlist.

Er stand unbedeckten Hauptes, ein langes Aktenstück in der Hand, hinter dem Armstuhle, auf welchem mit nachlässig zusammengesunkenem Körper, die Kniee eins über das andere geschlagen, mit dem Ellenbogen auf den Tisch gestützt, eine übel gekleidete Person saß. Man denke sich in der That auf dem sehr reichen Sitze von Corduanleder zwei eingebogene Knien, zwei magere Schenkel, welche ärmlich in eine schwarzwollene enganliegende Hose gekleidet waren, einen Rumpf, der in einen Ueberrock aus Barchent mit Pelzfütterung gehüllt war, an der man weniger Haare als Leder sah; endlich, um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, einen alten schmutzigen Hut aus dem schlechtesten schwarzen Stoffe, der ringsum mit einer Schnur kleiner bleierner Figuren besetzt war. Das war, nebst einem schmutzigen Käppchen, das kaum ein Haar hervorschauen ließ, alles, was man an der sitzenden Person erkennen konnte. Er hielt sein Haupt dermaßen auf die Brust geneigt, daß man nichts von seinem im Schatten versteckten Gesichte erblicken konnte, außer allein das Ende seiner Nase, auf die ein Lichtstrahl fiel, und die sehr lang sein mußte. Aus der Magerkeit seiner runzeligen Hand schloß man auf einen Greis. Es war Ludwig der Elfte.

In einiger Entfernung hinter ihnen unterhielten sich mit leiser Stimme zwei, nach flamländischem Schnitte gekleidete Männer, welche nicht so sehr im Schatten versteckt waren, daß jemand von denen, welche der Aufführung von Gringoires Schauspiel beigewohnt hatten, in ihnen nicht zwei der vornehmsten flamländischen Gesandten hätte wiederkennen sollen: nämlich Wilhelm Rym, den verschlagenen Pensionair der Stadt Gent, und Jacob Coppenole, den volksthümlichen Strumpfwirker. Man wird sich erinnern, daß diese beiden Männer bei der geheimen Politik Ludwigs des Elften mit im Spiel waren.

Endlich ganz im Hintergrunde des Zimmers, neben der Thüre, stand in der Dunkelheit, bewegungslos wie eine Bildsäule, ein kräftig gebauter Mann mit stämmigen Gliedmaßen im Soldatenharnisch und wappengeschmückten Mantel, dessen vierschrötiges, stirnloses Gesicht mit Augen darin, welche mit den Stirnknochen gleichstanden, mit dem ungeheuern Munde querdurch, und seinen Ohren, die sich unter zwei breiten Wetterdächern von glatten Haaren versteckten, zu gleicher Zeit einem Hunde und einem Tiger ähnelte. Alle waren unbedeckten Hauptes, mit Ausnahme des Königs.

Der Herr, welcher neben dem Könige stand, schien ihm aus einer Art langen Rechnungsberichte vorzulesen, welchen Seine Majestät aufmerksam anzuhören schien. Die beiden Flamländer flüsterten mit einander.

»Kreuz Gottes!« murmelte Coppenole, »ich habe das Stehen satt; giebt es denn keinen Stuhl hier?«

Rym antwortete mit einer verneinenden Geberde, die von einem diskreten Lächeln begleitet war.

»Kreuz Gottes!« begann Coppenole wieder, ganz unglücklich darüber, die Stimme so dämpfen zu müssen, »die Lust wandelt mich an, mich mit untergeschlagenen Beinen auf die Erde zu setzen, wie ich es als Strumpfwirker in meiner Werkstatt mache.«

»Hütet Euch ja, das zu thun! Meister Jacob.«

»Potz tausend! Meister Wilhelm! hier kann man also nur auf seinen Füßen bleiben!«

»Oder auf den Knien,« antwortete Rym.

In diesem Augenblicke erhob sich die Stimme des Königs. Sie schwiegen.

»Fünfzig Sous für die Kleider unserer Bedienten, und zwölf Livres für die Mäntel der Kanzelisten unserer Krone! Ja! verschwendet das Gold tonnenweise! Seid Ihr toll, Olivier?«

Während er so sprach, hatte der Greis das Haupt erhoben. Man sah an seinem Halse die goldenen Muscheln der Kette des Heiligen Michaelordens glänzen. Die Kerze beleuchtete voll sein fleischloses, grämliches Profil. Er riß das Papier aus den Händen des andern.

»Ihr richtet uns zu Grunde!« schrie er, während er seine tiefliegenden Augen über das Heft schweifen ließ. »Was soll das Alles? Wozu gebrauchen wir einen so verschwenderisch eingerichteten Hofstaat? Zwei Hauskapläne mit einem Gehalte von zehn Livres jeder den Monat, und einen Kapelldiener mit hundert Sous! Einen Kammerdiener mit neunzig Livres jährlich! Vier Küchenmeister mit einhundertzwanzig Livres jeder jährlich! Einen Bratenwender, einen Suppenkoch, einen Saucenbereiter, einen Oberkoch, einen Waffenmeister, zwei Schaffnergehilfen, jeder mit zehn Livres monatlich! Zwei Küchenjungen zu acht Livres! Einen Stallknecht und seine zwei Gehilfen zu vierundzwanzig Livres monatlich! Einen Ausläufer, einen Pastetenbäcker, einen Brotbäcker, zwei Fuhrleute, jeder sechzig Livres jährlich! Und den Hufschmied sechsundzwanzig Livres jährlich! Und den Aufseher unserer Schatzkammer zwölfhundert Livres jährlich! Und den Controleur fünfhundert! … Was weiß ich! Das ist Raserei! Die Gehalte unserer Diener setzen Frankreich der Plünderung aus! Alle Schätze des Louvres werden bei einem solchen Verschwendungsfeuer zusammenschmelzen! Wir werden unser Tafelgeschirr dazu verkaufen müssen! Und, im nächsten Jahre, wenn Gott und Unsere liebe Frau (hier lüftete er seinen Hut) uns Leben verleihen, werden wir unsere Arzneitränke aus einem Zinntopfe trinken müssen!«

Während er so sprach warf er einen Blick auf den silbernen Humpen, welcher auf dem Tische funkelte. Er hustete und fuhr dann fort:

»Meister Olivier, die Fürsten, welche über große Landesherrlichkeiten regieren, wie Könige und Kaiser, sollen die Verschwendung nicht in ihren Haushaltungen Wurzel fassen lassen; denn von da aus verbreitet sich das Feuer durch das Reich … Also, Meister Olivier, laß dir das gesagt sein. Unsere Ausgabe vermehrt sich von Jahr zu Jahr. Die Sache mißfällt uns. Wie, beim allmächtigen Gott! bis zum Jahre 79 hat sie die Summe von sechsunddreißigtausend Livres gar nicht überstiegen; im Jahre 80 hat sie dreiundvierzigtausendsechshundertundneunzehn Livres erreicht … ich habe die Zahl im Kopfe … im Jahre 81 sechsundsechzigtausendsechshundertundachtzig Livres; und in diesem Jahre, auf Ehre meines Leibes! wird sie achtzigtausend Livres erreichen! Verdoppelt in vier Jahren! Ungeheuerlich! …«

Er hielt athemlos inne, dann fuhr er zornig fort:

»Ich sehe nur Leute um mich, die sich an meiner Magerkeit mästen! Ihr saugt mir die Thaler aus allen Poren!«

Alle beobachteten Stillschweigen. Es war einer jener Zornausbrüche, die man vorübergehen läßt. Er fuhr fort:

»So verhält es sich auch mit jener lateinischen Bittschrift der Barone und Lehnsherren von Frankreich, in welcher sie verlangen, daß wir das, was sie die großen Kronwürden nennen, wieder herstellen mögen! Bürden in Wahrheit! Würden welche überbürden! Oh! ihr Herren! ihr behauptet, daß wir kein König wären, weil wir » dapifero nullo, buticulario nullo« 76 regieren! Wir werden es euch zeigen, beim alleinigen Gotte! ob wir kein König sind!«

Hier lächelte er im Gefühle seiner Macht; seine böse Laune besänftigte sich darüber, und er wandte sich an die Flamländer:

»Seht Ihr, Gevatter Wilhelm? Der Oberbrotmeister, der Oberkellermeister, der Oberkämmerer, der Oberseneschall wiegen nicht den geringsten Kammerdiener auf … Behaltet das, Gevatter Coppenole … sie dienen zu nichts.

Wenn sie sich so nutzlos in der Nähe des Königs aufhalten, so kommen sie mir vor, wie die vier Evangelisten, welche das Zifferblatt der großen Uhr des Palastes umgeben, und die Philipp Brille eben wieder aufgefrischt hat. Sie sind vergoldet, aber sie zeigen die Stunde nicht an, und der Zeiger kann sie entbehren.«

Er hielt einen Augenblick nachdenklich inne, dann fuhr er, sein altes Haupt schüttelnd, fort:

»Ho! ho! bei Unserer lieben Frau, ich bin nicht Philipp Brille, und ich will die großen Vasallen nicht wieder vergolden … Fahre fort, Olivier.«

Die Person, welche er mit diesem Namen benannte, nahm das Heft wieder aus seinen Händen und begann wieder mit lauter Stimme zu lesen.

»… An Adam Tenon, Beamten bei der Siegelbewahrung des Obergerichtes von Paris: für Silber, Form und Stechung besagter Siegel, welche neu hergestellt worden sind, deshalb weil die vorher benutzten wegen ihrer Alterthümlichkeit und Abnutzung nicht gehörig mehr dienen konnten – zwölf Livres Pariser Münze.«

»An Wilhelm Frère die Summe von vier Livres vier Sous Pariser Münze für seine Bemühungen und als Löhnung für die Fütterung und Unterhaltung der Tauben in den beiden Taubenschlägen des Parlamentsgerichtsgebäudes während der Monate Januar, Februar und März dieses Jahres; und wofür er sechs Sester Gerste gegeben hat.«

»An einen Franziskanermönch, für die Beichte eines Verbrechers, vier Sous Pariser Münze.«

Der König hörte schweigend zu. Von Zeit zu Zeit hustete er; dann setzte er den Becher an seine Lippen und trank einen Schluck, wobei er das Gesicht verzog.

»In diesem Jahre haben auf Befehl des Gerichtsamtes, an den Straßenecken von Paris, unter Trompetenschall, sechsundfünfzig öffentliche Verkündigungen stattgefunden. Rechnung noch zu berichtigen.«

»Für Aufgraben und Nachsuchen an gewissen Orten sowohl in Paris als anderswo nach Geld, welches, dem Gerücht zufolge, da vergraben sein sollte, wo aber nichts gefunden worden war, fünfundvierzig Livres Pariser Münze.«

»Einen Thaler vergraben, um einen Sou herauszuscharren!« sagte der König.

»Für die Instandsetzung von sechs Fensterfüllungen mit weißem Glas, im Gebäude des Parlamentsgerichtshofes, an der Stelle, wo der eiserne Käfig steht, dreizehn Sous. – Laut Befehl des Königs für Anfertigung und Lieferung des Fensters zu den wilden Thieren, von vier Wappenschilden mit dem Wappen des genannten Herrn, ganz herum mit Rosensimsen eingefaßt, sechs Livres. – Für zwei neue Aermel an das alte Wamms des Königs, zwanzig Sous. – Für eine Büchse Fett, um die Stiefeln des Königs zu schmieren, fünfzehn Heller. – Einen Stall erneuert, um die schwarzen Schweine des Königs unterzubringen, dreißig Livres Pariser Münze. – Mehrere Verschläge, Bretter, Fallthüren angefertigt, um die Löwen bei Saint-Paul einzusperren.«

»Das nenne ich mir Bestien, die sehr kostspielig sind,« sagte Ludwig der Elfte. »Thut nichts; es ist schickliche Prachtliebe eines Königs. Da ist ein großer, rothgelber Löwe, den ich wegen seiner artigen Manieren gern habe … Habt Ihr ihn gesehen, Meister Wilhelm? Fürsten müssen von diesen bewunderungswürdigen Thieren besitzen. Bei uns Königen müssen unsere Hunde Löwen, und unsere Katzen Tiger sein. Das Großartige paßt zu den Kronen. Zur Zeit des Heiden Jupiters, wenn das Volk den Kirchen hundert Ochsen und hundert Schafe darbrachte, gaben die Kaiser hundert Löwen und hundert Adler. Das war wild und sehr schön. Die Könige von Frankreich haben immer solches Gebrüll um ihren Thron gehabt. Nichtsdestoweniger wird man mir die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß ich noch weniger Geld darauf verschwendet habe, als sie, und daß ich eine geringer Begierde nach Löwen, Bären, Elephanten und Leoparden besitze … Nur weiter, Olivier. Das wollten wir unsern flamländischen Freunden zu wissen thun.«

Wilhelm Rym verneigte sich tief, während Coppenole mit seiner Miene ganz das Aussehen eines jener Bären hatte, von denen seine Majestät sprach. Der König achtete nicht darauf. Er hatte eben die Lippen aus dem Becher benetzt und spie den Schluck wieder aus, indem er sagte: »Pfui! der unangenehme Trank!« Derjenige, welcher las, fuhr fort:

»Für die Beköstigung eines Landstreichers, welcher seit einem halben Jahre in der Zelle des Schindangers hinter Schloß und Riegel sitzt, bis man weiß, was mit ihm geschehen soll, – sechs Livres vier Sous.«

»Was heißt das?« unterbrach ihn der König; »das ernähren, was man hängen soll! Beim allmächtigen Gott! ich will nicht einen Sou mehr für diese Beköstigung hergeben … Olivier, verständigt Euch über diesen Punkt mit Herrn von Estouteville, und noch heute Abend trefft mir die Zurüstung zur Vermählung des Biedermannes mit einem Galgen … Fahret fort.«

Olivier machte bei dem Posten des »Landstreichers« ein Zeichen mit dem Daumen und ging weiter.

»An Henriet Cousin, den Meister Vollstrecker der peinlichen Urtheile des Criminalgerichtes zu Paris, die Summe von sechzig Sou Pariser Münze, welche ihm vom gestrengen Herrn Oberrichter von Paris ausgesetzt und zugesprochen worden ist, auf Verordnung genannten Herrn Oberrichters für Ankauf eines großen, breiten Richtschwertes, das dazu dient, die Personen, welche nach Urtheil und Recht für ihre Vergehen verurtheilt sind, hinzurichten und zu enthaupten; ingleichen für Beschaffung eines Futterales und alles dessen, was dazu gehört; desgleichen für Instandsetzung und Herrichtung des alten Richtschwertes, welches bei der Urteilsvollstreckung des Herrn Ludwig von Luxemburg zerbrochen und schartig geworden war, wie mehr als sattsam ersehen werden kann …«

Der König unterbrach ihn. »Genug; ich bewillige die Summe von ganzem Herzen. Das sind Ausgaben, wo ich nicht darauf sehe. Dergleichen Geld hat mich niemals gereuet … Fahret fort.«

»Für Herstellung eines neuen, großen Käfigs …«

»Ah!« sagte der König, indem er mit seinen beiden Händen die Armlehnen seines Stuhles angriff, »ich wußte ja doch, daß ich in irgend einer Angelegenheit in diese Bastille gekommen war … Wartet, Meister Olivier. Ich will den Käfig selbst in Augenschein nehmen. Ihr könnt mir die Kosten vorlesen, während ich ihn untersuchen will … Meine Herren Flamländer, kommt und sehet das an; es ist merkwürdig.«

Er erhob sich jetzt, stützte sich auf den Arm seines Vorlesers, gab dem anscheinend Stummen, welcher vor der Thür stand, ein Zeichen voranzugehen, den beiden Flamländern ein solches, ihm zu folgen, und schritt aus dem Zimmer hinaus. Die Begleitung des Königs ergänzte sich an der Thür des Gemaches mit bewaffneten, in Eisen starrenden Männern und kleinen Pagen, welche Wachsfackeln trugen. Sie schritt eine Zeit lang im Innern des düstern Zwingthurmes dahin, der von Treppen und Corridoren bis in die Mauerndicke durchbrochen war. Der Hauptmann der Bastille ging an der Spitze und ließ die Thüren vor dem alten kranken und gebückt hinschreitenden Könige öffnen, der beim Gehen hustete.

Bei jeder Pforte mußten alle Köpfe sich neigen, mit Ausnahme desjenigen des vom Alter gebeugten Greises. »Hm!« murmelte er zwischen seinen Kinnladen, denn er hatte keine Zähne mehr, »wir sind schon völlig bereit für die Pforte des Grabes – nahe an der niedrigen Pforte, die man nur gebückt überschreitet.«

Endlich, nachdem man durch eine letzte Thür geschritten war, die so mit Schlössern verrammelt, daß man eine Viertelstunde gebrauchte, um sie zu öffnen, traten sie in einen hohen und weiten, gothisch gewölbten Saal ein, in dessen Mitte man beim Scheine der Fackeln einen großen massiven Würfel aus Mauerwerk, Eisen und Holz erkannte. Das Innere war hohl. Es war einer dieser berüchtigten Käfige für Staatsgefangene, welche man »die Töchterchen des Königs« nannte. In den Seitenwänden befanden sich zwei oder drei kleine Fenster, die so reich mit dicken Eisenbalken vergittert waren, daß man das Glas derselben nicht sah. Die Thür war eine große flache Steinplatte, wie auf Gräbern, – eine von den Pforten, die allein zum Eintritte dienen. Nur war hier der Todte ein lebendes Wesen. Der König fing an, langsam um das kleine Bauwerk herumzuschreiten, wobei er es sorgfältig untersuchte während daß Meister Olivier, der ihm folgte, ganz laut den Rechnungsbericht herlas:

»Für Herstellung eines neuen großen Käfigs aus Holz von dicken Balken, Blöcken und Schwellen, im Durchmesser von neun Fuß in der Länge zu acht in der Breite, und sieben Fuß in der Höhe zwischen beiden Böden, geglättet und ausgeschlagen mit dicken Eisenplatten, welcher Käfig in einem Gemache aufgestellt worden ist, welches in einem der Basteithürme von Saint-Antoine sich befindet und in welchen Käfig auf Befehl des Königs, unseres gnädigen Herrn, ein Gefangner geworfen ist und festgehalten wird, welcher vor diesem einen alten, baufälligen und morschen Käfig bewohnte. – Sind zu diesem neuen Käfige sechsundneunzig Schichtbalken und zweiundfünfzig aufrecht stehende Balken, zehn Schwellen von drei Klaftern Länge verbraucht worden; und sind neunzehn Zimmerleute zwanzig Tage lang beschäftigt gewesen, um all das genannte Holzwerk im Basteihofe zu behauen, auszuarbeiten und zuzuschneiden …«

»Ziemlich schönes eichenes Kernholz,« sagte der König, während er mit der Faust an das Gebälk klopfte.

»… In diesem Käfig,« fuhr der andere fort, »sind hineingegangen: zweihundertundzwanzig dicke Eisenplatten von neun und von acht Fuß, der Rest von durchschnittlicher Länge, mit den, zu genannten Platten dienenden Reifen, Krispen und Strebebändern; das ganze genannte Eisen im Gewichte von dreitausendsiebenhundertundfünfunddreißig Pfund; außerdem acht große Haspen von Eisen, die dazu dienen, den besagten Käfig festzumachen, nebst Krampen und Nägeln, zusammen zweihundertachtzehn Pfund Eisen schwer, nicht mitgerechnet das Eisen zu den Fenstergittern in dem Gemache, wo der Käfig aufgestellt worden ist, die Eisenstäbe an der Thür des Gemaches und andere Dinge …«

»Das ist ja sehr viel Eisen,« sagte der König, »um die Flüchtigkeit eines Geistes im Zaum zu halten!«

»… Das Ganze kommt auf dreihundertsiebzehn Livres fünf Sous und sieben Heller zu stehen.«

»Beim allmächtigen Gotte!« rief der König aus.

Bei diesem Schwure, der der Lieblingsschwur Ludwigs des Elften war, schien es, als ob jemand im Innern des Käfigs erwachte; man hörte Ketten, welche auf dessen Boden mit Gerassel hinschleiften, und es erhob sich eine schwache Stimme, welche aus dem Grabe herauszudringen schien: »Sire! Sire! Gnade!« Man konnte denjenigen nicht sehen, der so sprach.

»Dreihundertsiebzehn Livres fünf Sous sieben Heller!« wiederholte Ludwig der Elfte.

Die klägliche Stimme, welche aus dem Käfig erklungen war, hatte alle Umstehenden starr gemacht, selbst den Meister Olivier. Der König allein zeigte eine Miene, als ob er sie nicht gehört hätte. Auf seinen Befehl begann Olivier wieder seine Vorlesung, und Seine Majestät setzte kaltblütig die Besichtigung des Käfigs fort.

»… Außer diesem ist an einen Maurer, welcher die Löcher zum Einsetzen des Gitterwerkes der Fenster, und den Fußboden des Gemaches, wo der Käfig sich befindet, gemacht hat, weil der Fußboden diesen Käfig wegen seiner Schwere nicht hätte tragen können, siebenundzwanzig Livres vierzehn Sous Pariser Münze gezahlt worden …«

Die Stimme begann wieder zu ächzen. »Gnade! Sire! Ich schwöre Euch, es ist der Herr Cardinal von Angers, welcher die Verrätherei begangen hat, und nicht ich.«

»Der Maurer ist unverschämt!« sagte der König. »Fahre fort, Olivier.« Und Olivier fuhr fort:

»An einen Tischler für Fenster, Bettstellen, einen durchlöcherten Sessel und andere Dinge, zwanzig Livres zwei Sous Pariser Geld …«

Die Stimme fuhr gleichfalls fort:

»Ach! Sire! Wollt Ihr mich nicht erhören? Ich betheuere Euch, daß ich es nicht war, der die Sache dem Herzoge von Guyenne geschrieben hat, sondern der Herr Cardinal Balue!«

»Der Tischler ist theuer,« bemerkte der König …« »Ist das alles?«

»Nein, Sire … An einen Glaser für die Fenster des genannten Gemaches, sechsundvierzig Sous acht Heller Pariser Münze.«

»Habt Erbarmen, Sire! Ist es denn nicht genug, daß man alle meine Güter meinen Richtern, mein Tafelgeräth dem Herrn von Torcy, meine Bibliothek dem Meister Pierre Doriolle, meine Teppiche dem Gouverneur von Roussillon gegeben hat? Ich bin unschuldig. Es sind nun vierzehn Jahre, daß ich in einem eisernen Käfige zittere. Habt Erbarmen, Sire! Ihr werdet es im Himmel wiederfinden.«

»Meister Olivier,« sagte der König, »die ganze Summe?«

»– Dreihundertsiebenundsechzig Livres acht Sous drei Heller Pariser Münze.«

»Bei Unserer lieben Frau!« rief der König. »Das ist ein schändlicher Käfig!«

Er riß das Heft aus den Händen Meister Oliviers und begann selbst an seinen Fingern nachzurechnen, wobei er abwechselnd das Papier und den Käfig prüfte. Während dem hörte man den Gefangenen schluchzen. Das war entsetzlich in der Kerkernacht und die Gesichter sahen sich erblassend einander an.

»Vierzehn Jahre, Sire! Vierzehn Jahre sind es! seit dem Monat April 1469. Im Namen der heiligen Mutter Gottes, Sire, hört mich an! Ihr habt Euch diese ganze Zeit hindurch an der Wärme der Sonne erfreut. Ich Elender, soll ich denn niemals wieder das Tageslicht erblicken? Gnade, Sire! Seid barmherzig. Die Milde ist eine schöne Tugend des Königs, welche die Ausbrüche des Zornes aufhält. Glaubt Eure Majestät, daß es in der Stunde des Todes eine große Befriedigung für einen König ist, keine Beleidigung ungestraft gelassen zu haben? Uebrigens, Sire, habe ich Eure Majestät gar nicht verrathen; das hat der Herr von Angers gethan. Und ich trage am Fuße eine sehr schwere Kette und eine große eiserne Kugel daran, viel schwerer als es billig ist. Wohlan! Sire! habt Erbarmen mit mir!«

»Olivier,« sagte der König, wobei er den Kopf mißbilligend schüttelte, »ich bemerke, daß man mir das Mudfaß Gyps mit zwanzig Sous anrechnet, während es doch nur zwölfe kostet. Ihr werdet diese Rechnung berichtigen.«

Er kehrte dem Käfig den Rücken zu, und schickte sich an, das Gemach zu verlassen. Der unglückliche Gefangene vermuthete bei der Entfernung der Fackellichter und des Geräusches, daß der König davonginge.

»Sire! Sire!« schrie er voll Verzweiflung. Die Thür schloß sich wieder. Er sah nichts mehr und hörte nur noch die rauhe Stimme des Schließers, welcher ihm das Lied in die Ohren sang:

Meister Jean Balue
Bisthum und Macht
Schwanden Euch dahin!
Herr von Verdun
Habt’s auch nicht gedacht –
Schlagt’s Euch aus dein Sinn!

Der König stieg schweigend wieder nach seinem einsamen Zimmer hinauf, und seine Begleitung folgte ihm, entsetzt von dem letzten Wimmern des Gefangenen. Plötzlich wandte sich Seine Majestät zum Hauptmann der Bastille um.

»Wie ist mir denn,« sagte sie, »war nicht jemand in jenem Käfige?«

»Bei Gott, Sire!« antwortete der Hauptmann, über diese Frage aufs höchste erstaunt.

»Und wer denn?«

»Der Herr Bischof von Verdun.«

Der König wußte das besser, als irgend jemand. Aber es war das eine fixe Idee von ihm.

»Ah!« sagte er mit unbefangener Miene, als ob er zum ersten Male daran dächte, »Wilhelm von Harancourt, der Freund des Herrn Cardinals Balue. Ein munterer Kerl von Bischof!«

Nach Verlauf einiger Augenblicke hatte sich die Thür des Geheimzimmers wieder geöffnet, dann wieder hinter den fünf Personen geschlossen, welche der Leser im Anfange dieses Kapitels dort gesehen hat, und welche hier ihre Plätze und Stellungen wieder eingenommen und ihre Unterhaltungen mit leiser Stimme wieder begonnen hatten.

Während der Abwesenheit des Königs hatte man auf seinem Tische einige Depeschen niedergelegt, deren Siegel er selbst erbrach. Dann fing er an, sie geschwind eine nach der andern durchzulesen, gab dem »Meister Olivier«, welcher bei ihm das Amt eines Ministers zu bekleiden schien, ein Zeichen, eine Feder zu nehmen, und begann, ohne ihm den Inhalt der Depeschen mitzutheilen, ihm mit leiser Stimme die Antworten darauf zu dictiren, die dieser, in ziemlich unbequemer Stellung vor dem Tische kniend, niederschrieb.

Wilhelm Rym spielte den Beobachter.

Der König sprach so leise, daß die Flamländer von seinem Dictate nichts vernahmen, als hier und da einige abgerissene und kaum verständliche Fetzen, z. B.:

»… Die ergiebigen Plätze durch den Handel, die unergiebigen durch Fabriken zu heben … – den Herren aus England unsere vier Bombarden: London, Brabant, Bourg-en-Bresse, Saint-Omer zeigen … Die Artillerie ist die Ursache, daß der Krieg jetzt besonnener geführt wird … – An Herrn von Bressuire, unsern Freund … – Die Heere werden nicht ohne Steuern unterhalten … u. s. w.«

Einmal erhob er seine Stimme:

»Beim allmächtigen Gotte! Der Herr König von Sicilien siegelt seine Briefe mit gelbem Wachse, wie ein König von Frankreich. Wir thun vielleicht Unrecht daran, es ihm zu gestatten. Mein schöner Cousin von Burgund verlieh kein Wappen auf rothem Felde. Die Macht der Häuser wird durch die Unverletzlichkeit der Vorrechte festgestellt. Schreibt das auf, Gevatter Olivier.«

Ein zweites Mal sagte er:

»Oh! oh! eine dicke Botschaft! Was fordert unser Bruder, der Kaiser, von uns?«

Und während er das Sendschreiben mit den Augen durchlief, unterbrach er seine Lecture mit Ausrufungen: »Wahrlich! die Deutschen sind so stark und mächtig, daß es kaum zu glauben ist … Aber wir wollen das alte Sprichwort nicht vergessen: die schönste Grafschaft ist Flandern; das schönste Herzogthum ist Mailand; das schönste Königreich ist Frankreich … Nicht wahr, meine Herrn Flamländer?«

Dieses Mal verneigte sich Coppenole mit Wilhelm Rym. Der Patriotismus des Strumpfwirkers war geschmeichelt. Eine letzte Depesche verursachte Ludwig dem Elften ein Runzeln der Augenbrauen.

»Was ist das?« rief er aus. »Klagen und Beschwerdeschriften über unsere Besatzungstruppen in der Picardie! Olivier, schreibt eilends an den Herrn Marschall von Roualt … daß die Mannszucht nachläßt … daß die abcommandirte Reiterei, die Adligen vom Bann, die Freischützen, die Schweizer den Landleuten zahllose Uebel verursachen … daß der Kriegsmann, nicht zufrieden mit den Vortheilen, die er im Hause der Bauern findet, sie mit schweren Stock- und Hellebardenschlägen zwingt, in der Stadt Wein, Fisch, Spezereiwaaren und andere überflüssige Dinge zu holen … daß der Herr König das in Erfahrung gebracht hat … daß wir unser Volk vor Benachtheiligungen, Räubereien und Plünderungen bewahrt wissen wollen … daß dies unser Wille ist, bei Unserer lieben Frau! … daß es uns außerdem nicht gefällt, daß irgend ein Musikant, Barbier oder Kriegsknecht wie ein Fürst in Sammet, Seidenstoff und mit goldenen Ringen an den Fingern einherstolzirt … daß diese Eitelkeiten Gott verhaßt sind … daß wir, der wir ein Edelmann sind, uns mit einem Tuchwammse, die Pariser Elle zu sechzehn Sous, begnügen … daß auch sie, die Herren Troßbuben, sich recht wohl soweit demüthigen können … Entbietet und verfügt das … An Herrn von Roualt, unsern Freund … Punktum.«

Er dictirte diesen Brief mit lauter Stimme, mit einem festen Tone, und ruckweise. Im Augenblicke, wo er zu Ende war, öffnete sich die Thür und ließ eine neue Person herein, die sich ganz athemlos und mit dem Rufe ins Zimmer stürzte:

»Sire! Sire! es findet ein Volksaufstand in Paris statt!«

Das ernste Gesicht Ludwigs des Elften zog sich zusammen; aber das, was sichtbar in seiner Erregung war, flog wie ein Blitz vorüber. Er mäßigte sich und sagte mit ruhigem Ernste:

»Gevatter Jacob, Ihr tretet sehr ungestüm herein.«

»Sire! Sire! es ist ein Aufruhr!« wiederholte der Gevatter Jacob ganz außer sich.

Der König, welcher sich erhoben hatte, ergriff ihn heftig am Arme und sagte ihm so, daß es nur von ihm allein gehört wurde, mit gesteigertem Zorne und einem Seitenblicke auf die Flamländer: »Schweig! oder sprich leise.«

Der Neuangekommene begriff und fing an, ihm ganz leise einen sehr erregten Bericht abzustatten, den der König mit Ruhe anhörte, während dem Wilhelm Rym seinem Genossen Coppenole auf das Gesicht und Gewand des Neuangekommenen, seine pelzverbrämte Kapuze ( caputia fourrata), seinen kurzen Beamtenmantel ( epitogia curta), sein schwarzes Sammetgewand aufmerksam machte, welches einen Präsidenten des Rechnungshofes ankündete. Kaum hatte diese Person dem Könige einige Auseinandersetzungen gegeben, als Ludwig der Elfte in ein Gelächter ausbrach und rief:

»In Wahrheit! sprecht nur ganz laut, Gevatter Coictier! Was braucht Ihr so leise zu reden? Unsere liebe Frau weiß, daß wir keine Heimlichkeiten vor unsern guten Freunden aus Flandern haben.«

»Aber, Sire …«

»Sprecht ganz laut!«

Der Gevatter Coictier blieb stumm vor Ueberraschung.

»Also,« wiederholte der König … »sprecht, Herr … in unserer guten Stadt Paris findet eine Bürgerbewegung statt?«

»Ja, Sire.«

»Und welche, sagt Ihr, gegen den Herrn Vogt des Justizpalastes gerichtet ist?«

»Es hat den Anschein,« sagte »der Gevatter«, der noch stotterte und über den plötzlichen und unerklärlichen Wechsel, der in den Gedanken des Königs eben vorgegangen war, ganz verdutzt war.

Ludwig der Elfte nahm wieder das Wort:

»Wo ist die Nachtwache dem Haufen begegnet?«

»Auf dem Wege von dem großen Bettlerquartiere bis zur Wechslerbrücke. Ich selbst bin ihnen begegnet, wie ich hierher ging, um den Befehlen Euerer Majestät zu gehorchen. Ich habe einige von ihnen schreien gehört: Nieder mit dem Vogte des Palastes!«

»Und was für Beschwerden haben sie gegen den Vogt?«

»Oh!« sagte der Gevatter Jacob, »weil er ihr Lehnsherr ist.«

»Wahrhaftig!«

»Ja! Sire. Es sind Lumpen vom Wunderhofe. Sehet, sie beklagen sich schon lange über den Vogt, dessen Lehnsleute sie sind. Sie wollen ihn weder als Gerichtspfleger noch als Wegeherrn anerkennen.«

»Jawohl!« versetzte der König mit einem Lächeln der Genugthuung, welches er sich vergebens bemühte zu verbergen.

»In allen ihren Bittschriften beim Parlament,« fuhr der Gevatter Jacob fort, »behaupten sie nur zwei Herren zu haben: Euere Majestät und ihren Gott, welches, glaube ich, der Teufel ist.«

»Ei! ei!« sagte der König.

Er rieb sich die Hände und lachte, mit jenem innerlichen Lachen, welches aus dem Gesichte wiederstrahlt; er konnte seine Freude nicht verhehlen, obgleich er einige Augenblicke versuchte, eine gleichgültige Miene anzunehmen. Niemand wurde daraus klug, selbst Meister Olivier nicht. Er verharrte einen Augenblick in Schweigen, mit einer nachdenklichen, aber zufriedenen Miene.

»Sind sie in großer Zahl?« fragte er plötzlich.

»Ja, gewiß, Sire,« antwortete der Gevatter Jacob.

»Wieviele?«

»Wenigstens sechstausend.«

Der König konnte sich nicht enthalten, zu sagen: »Gut!« Er fuhr fort:

»Sind sie bewaffnet?«

»Mit Sensen, Piken, Hakenbüchsen, Karsten, mit aller Art gewaltigen Waffen.«

Der König schien keineswegs von dieser Herzählung beunruhigt zu sein. Der Gevatter Jacob glaubte hinzufügen zu müssen:

»Wenn Euere Majestät dem Vogte nicht schleunig Hilfe schickt, ist er verloren.«

»Wir werden welche schicken,« sagte der König mit einer erzwungen ernsten Miene. »Es ist gut. Sicherlich werden wir welche schicken. Der Herr Vogt ist unser Freund. Sechstausend! Das sind verwegene Schelme. Die Dreistigkeit ist verwunderlich, und wir sind darüber sehr heftig erzürnt. Aber wir haben wenig Leute um uns in dieser Nacht … Es wird morgen früh noch Zeit sein.«

Der Gevatter Jacob rief:

»Sofort, Sire! Das Amtshaus wird zwanzig Mal in der Zeit geplündert, das Herrenhaus erstürmt, der Vogt gehangen sein. Um Gottes willen, Sire! schickt vor morgen früh Hilfe.«

Der König sah ihm ins Gesicht.

»Ich habe Euch gesagt morgen früh.«

Es war einer von jenen Blicken, auf welche es keine Widerrede giebt.

Nach einer Pause erhob Ludwig der Elfte von neuem die Stimme:

»Mein Gevatter Jacob, Ihr müßt das wissen. Welches war …« Er begann noch einmal: »Welches ist der Lehnsgerichtssprengel des Vogtes?«

»Sire, der Vogt des Palastes hat die Rue de la Calandre bis zur Rue de l’Herberie, den Sankt-Michaelsplatz und die Gegenden der Stadt, welche gemeinhin »An den Mauern« genannt werden, dicht neben der Kirche Notre-Dame-des-Champs (hier lüftete Ludwig der Elfte den Rand seines Hutes), welche Hôtels zur Zahl Dreizehn gehören; ferner den Wunderhof, dann das Siechenhaus, das Weichbild genannt, dann die ganze Dammstraße, welche bei diesem Siechenhause beginnt und an der Pforte Saint-Jacques endigt. Ueber diese verschiednen Oertlichkeiten hat er die Straßenpolizei, hohe, mittlere und niedrige Gerechtigkeitspflege, ist unumschränkter Herr.«

»Potztausend!« sagte der König, indem er sich mit der rechten Hand hinter dem linken Ohre kratzte, »das macht ein gutes Ende von meiner Stadt aus! Oh! der Herr Vogt war König über alles das!«

Dieses Mal verbesserte er sich nicht. Er fuhr in Nachdenken versunken, und als ob er mit sich selbst spräche, fort: »Recht schön, Herr Vogt, Ihr hattet da ein artiges Stück von unserem Paris zwischen den Zähnen.«

Plötzlich brach er los: »Beim allmächtigen Gott! wer in aller Welt sind diese Leute, die sich anmaßen, Wegeherren, Gerichtsherren, Lehnsherren und Herren in unserem Reiche zu sein? Die ihr Zollhaus an jeder Feldecke besitzen; ihr Gericht und ihren Henker an jeder Straßenecke unter meinem Volke haben? so daß, wie der Grieche an so viele Götter glaubte, als er Quellen hatte, und der Perser an so viele, als er Sterne sah, – daß, sage ich, der Franzose sich so viele Könige herzählt, als er, bei Gott! Galgen sieht! Das ist ein übel Ding, und die Verwirrung dabei mißfällt mir. Ich möchte wohl wissen, ob es der Gefallen Gottes ist, daß es in Paris einen andern Wegeherren, als den König, ein anderes Gericht, als das Parlament, einen andern Herrscher, als uns in diesem Reiche giebt! Beim Glauben an meine Seele! Es wird doch der Tag kommen müssen, wo es in Frankreich nur einen König, nur einen Herren, nur einen Richter, nur einen Scharfrichter geben wird, wie es im Paradiese nur einen Gott giebt!«

Er lüftete noch einmal seine Mütze und fuhr, immer noch in Gedanken versunken, mit der Miene und dem Tone eines Jägers fort, der seine Meute hetzt und losläßt: »Gut! mein Volk! Tapfer! zerreiße diese falschen Herren! Thu deine Arbeit! Frisch! munter! Plündere sie, hänge sie, raube sie aus! … Ah! Ihr wollt Könige sein, ihr gnädigen Herren! Drauf! mein Volk! Drauf!«

Hier unterbrach er sich plötzlich, biß sich in die Lippen, als ob er seinen halb entwischten Gedanken wieder fangen wollte, heftete sein durchdringendes Auge abwechselnd auf jede der fünf Personen, welche ihn umgaben, und faßte plötzlich seinen Hut mit beiden Händen, und während er ihn von vorn anblickte, sagte er zu ihm: »Oh! ich würde dich verbrennen, wenn du wüßtest, was sich in meinem Kopfe befindet.«

Dann, während er von neuem den aufmerksamen und unruhigen Blick des Fuchses, der schleichend in seinen Bau zurückkehrt, um sich schweifen ließ, sagte er:

»Es thut nichts! wir wollen dem Herrn Vogt zu Hilfe kommen. Zum Unglück haben wir nur wenige Truppen hier in diesem Augenblicke gegen so viel Volk. Man muß bis morgen warten. Man wird die Ordnung wieder in der Stadt herstellen und frisch jeden hängen, der ergriffen werden wird.«

»Da fällt mir ein, Sire!« sagte der Gevatter Coictier, »ich habe das in der ersten Verwirrung vergessen, – die Wache hat zwei Nachzügler von der Bande ergriffen. Wenn Euere Majestät diese Menschen sehen will, sie sind da.«

»Ob ich sie sehen will!« rief der König. »Wie! beim allmächtigen Gott! Du vergißt so etwas! … Lauf schnell, du, Olivier! hole sie!«

Meister Olivier ging hinaus und kehrte einen Augenblick nachher mit den zwei Gefangenen, welche von Bogenschützen der Leibwache umringt waren, zurück. Der Erste hatte ein dickes, dummes Gesicht, auf welchem Trunkenheit und Staunen sichtbar waren. Er war in Lumpen gehüllt und ging mit gekrümmten Knien und schleppenden Füßen einher. Der Zweite war eine bleiche und lächelnde Erscheinung, welche der Leser bereits kennt.

Der König betrachtete sie einen Augenblick, ohne ein Wort zu sagen; dann wandte er sich plötzlich an den Ersten:

»Wie heißt du?«

»Gieffroy Pincebourde.«

»Dein Gewerbe?«

»Bettler.«

»Was wolltest du bei diesem verdammlichen Aufstande beginnen?«

Der Vagabund betrachtete den König, wobei er mit stumpfsinniger Miene seine Arme hin- und herschlenkerte. Er war einer von jenen übel gebildeten Köpfen, bei denen der Verstand ohngefähr ebenso gut dran ist, wie das Licht unter einem Lichtlöscher.

»Ich weiß nicht,« sagte er. »Man ging, ich ging mit.«

»Wolltet ihr nicht schmählicher Weise Euern Herrn, den Vogt des Palastes angreifen und ausplündern?«

»Ich weiß, daß man bei jemandem etwas nehmen wollte. Das ist alles.«

Ein Soldat zeigte dem Könige eine Hippe, welche man bei dem Bettler gefunden hatte.

»Erkennst du diese Waffe wieder?« fragte der König.

»Ja, es ist meine Hippe; ich bin Winzer.«

»Und erkennst du diesen Menschen als deinen Gefährten an?« fragte Ludwig der Elfte weiter, während er auf den andern Gefangenen hinwies.

»Nein, ich kenne ihn nicht.«

»Es ist genug,« sagte der König. Darauf gab er der stummen Person, die bewegungslos an der Thür stand und auf welche wir den Leser schon aufmerksam gemacht haben, ein Zeichen mit dem Finger. »Gevatter Tristan, das ist ein Mann für Euch.«

Tristan l’Hermite verneigte sich. Er gab mit leiser Stimme zwei Bogenschützen einen Befehl, welche den armen Landstreicher hinausführten.

Während dem hatte sich der König dem zweiten Gefangenen genähert, welcher vor Angst große Tropfen schwitzte.

»Dein Name?«

»Sire, Peter Gringoire.«

»Dein Gewerbe?«

»Philosoph, Sire!«

»Wie unterstehst du dich, Schurke, unsern Freund, den Herrn Vogt des Palastes anzugreifen, und was hast du über diesen Volksaufstand mitzutheilen?«

»Sire, ich war nicht dabei.«

»Wohlan! liederlicher Schurke, bist du nicht von der Nachtwache in dieser schlechten Gesellschaft ertappt worden?«

»Nein, Sire; es ist ein Mißverständnis. Es ist ein unglücklicher Zufall. Ich mache Trauerspiele. Sire, ich bitte Euere Majestät flehentlich, mich anzuhören. Ich bin Dichter. Es ist die schwermüthige Gewohnheit von Leuten meines Berufes, Nachts durch die Straßen zu wandern. Ich ging heute Abend da durch. Es ist bloßer Zufall. Man hat mich ungerechter Weise festgenommen; ich bin unschuldig an diesem Bürgeraufruhre. Euere Majestät sieht, daß mich der Gauner nicht als seines Gleichen erkannt hat. Ich beschwöre Euere Majestät …«

»Schweige!« sagte der König zwischen zwei Schlucken seines Arzneitrankes. »Du zersprengst uns den Kopf.«

Tristan l’Hermite trat vor, und mit dem Finger auf Gringoire zeigend, sagte er:

»Sire, kann man diesen da auch hängen?«

Es war das erste Wort, welches er vorbrachte.

»Bah!« antwortete der König nachlässig, »ich sehe dabei keine Nachtheile.«

»Ich für meine Person sehe viele dabei!« sagte Gringoire.

Unser Philosoph war in diesem Augenblicke grüner, als eine Olive. Er sah an der kalten und gleichgültigen Miene des Königs, daß Rettung nur noch in etwas sehr Rührendem zu finden war, und er stürzte sich zu den Füßen Ludwigs des Elften, indem er mit verzweifeltem Geberdenspiele ausrief:

»Sire! Euere Majestät wird geruhen, mich anzuhören. Sire! brechet nicht in ein Unwetter über etwas so Weniges, als ich bin, los. Der mächtige Blitzstrahl Gottes schlägt in keine Salatstaude. Sire! Ihr seid ein erhabener, überaus mächtiger Monarch: habt Mitleid mit einem armen, ehrlichen Manne, welcher unfähiger sein würde, einen Aufstand anzuschüren, als ein Eiszapfen vermag, einen Funken von sich zu geben! Allergnädigster, mächtigster Herr, die Milde ist eine Löwen- und eine Königstugend. Ach! die Härte erbittert nur die Gemüther; die heftigen Stöße des Nordwindes können den Wanderer nicht veranlassen, seinen Mantel im Stiche zu lassen; die Sonne, welche nach und nach ihre Strahlen herabsendet, erhitzt ihn dermaßen, daß sie ihn zwingt, sich bis aufs Hemde zu entkleiden. Sire! Ihr seid die Sonne. Ich betheuere es, Euch, mein unumschränkter Herr und König, ich bin kein verwilderter Bettler- und Räubergenosse. Der Aufruhr und die Räubereien gehören nicht zum Zubehöre Apollos. Ich werde mich am wenigsten in diese Schwärme stürzen, die in Aufruhrlärm losbrechen. Ich bin ein treuer Diener Euerer Majestät. Dieselbe Eifersucht, welche der Ehemann für die Ehre seines Weibes besitzt, das Gefühl, welches der Sohn für die Liebe des Vaters hegt, ein guter Diener muß sie für den Ruhm seines Königs besitzen; er muß für den Eifer um sein Haus, für die Ausbreitung seines Dienstes sich aufopfern. Jede andere Leidenschaft, welche ihn hinreißen würde, könnte nur Wahnwitz sein. Das, Sire, sind meine Staatsgrundsätze. Demnach haltet mich nicht für einen Meuterer und Plünderer wegen meines, an den Aermeln abgenutzten Kleides. Wenn Ihr, Sire, mir Gnade erweiset, will ich es durch Gebete bei Nacht und Tag für Euch zu Gott auch an den Knien abnutzen. Leider bin ich nicht übermäßig reich, es ist wahr. Ich bin sogar ein wenig arm; aber deshalb nicht lasterhaft. Meine Schuld ist das nicht. Jedermann weiß, daß die großen Reichthümer nicht von den schönen Wissenschaften herrühren, und daß die, welche sich auf gute Bücher am besten verstehen, nicht immer ein tüchtiges Ofenfeuer im Winter haben. Der Advocatenstand allein nimmt alles Korn für sich und läßt den übrigen gelehrten Gewerben das Stroh übrig. Es giebt vierzig sehr treffliche Sprichwörter über den durchlöcherten Mantel der Philosophen. Ach, Sire! die Milde ist das einzige Licht, welches das Innere einer großen Seele erleuchten kann. Die Milde trägt allen andern Tugenden die Fackel voran. Ohne sie sind sie Blinde, welche Gott im Finstern tappend suchen. Die Barmherzigkeit, welche dasselbe wie die Milde ist, erzeugt die Liebe der Unterthanen, welche für die Person, des Fürsten die mächtigste Wache bildet. Was macht das für Euch aus, für Euere Majestät, deren Antlitz hoch erhaben ist, ob ein armer Mensch mehr auf der Erde ist, ein armer unschuldiger Philosoph, welcher mit leerem Geldbeutel, der an seinem hohlen Bauche klappert, in der Finsternis des Unglückes im Schlamme herumknetet. Uebrigens, Sire, bin ich ein Gelehrter. Die großen Könige setzen sich eine Perle in ihre Krone, wenn sie die Wissenschaften beschützen. Herkules verschmähte nicht den Titel des Musagetes. 77 Mathias Corvinus begünstigte den Johann von Monroyal, die Zierde der Mathematiker. Aber das ist eine schlimme Art die Wissenschaften zu beschützen, wenn man die Gelehrten hängt. Welcher Schandfleck für Alexander, wenn er hätte den Aristoteles hängen lassen! Ein solcher Zug würde kein kleines Fleckchen auf dem Antlitze seines Ruhmes sein, um es zu verschönern, sondern vielmehr ein böses Geschwür, um es zu entstellen. Sire! ich habe ein sehr zweckmäßiges Hochzeitsgedicht auf das Fräulein von Flandern und den erhabensten Herrn Dauphin gemacht. Das ist doch nicht die Sache eines Rädelsführers des Aufruhres. Euere Majestät sieht, daß ich kein verkommenes Genie bin, daß ich vortreffliche Studien gemacht habe, und daß ich viel natürliche Beredsamkeit besitze. Uebet Gnade an mir, Sire. Wenn Ihr das thut, werdet Ihr Unserer lieben Frau eine brave Handlung erweisen, und ich schwöre Euch, daß ich über die Vorstellung, gehangen zu werden, sehr in Schrecken gerathen bin!«

Bei diesen Worten küßte der untröstliche Gringoire die Pantoffeln des Königs, und Wilhelm Rym sagte ganz leise zu Coppenole: »Er thut wohl daran, auf der Erde zu kriechen. Den Königen geht es wie dem Jupiter von Creta; sie haben nur an den Füßen Ohren.« Aber ohne sich mit Jupiter von Creta zu befassen, antwortete der Strumpfwirker mit einem plumpen Lächeln, das Auge auf Gringoire gerichtet: »Oh, wie hübsch das ist! Ich glaube den Kanzler Hugonet zu hören, wie er mich um Gnade bat.« Als Gringoire endlich, ganz außer Athem anhielt, erhob er zitternd sein Haupt nach dem Könige, der mit den Nägeln einen Schmutzfleck wegkratzte, den seine Beinkleider am Knie hatten; dann fing Seine Majestät an, aus dem Becher Arzneitrank zu trinken. Uebrigens sprach sie kein Wort, und dieses Schweigen marterte Gringoire. Der König sah ihn endlich an: »Das ist ein schrecklicher Schreihals!« sagte er. Dann wandte er sich nach Tristan l’Hermite hin. »Bah! laßt ihn laufen!«

Gringoire fiel, vor Freude ganz erschrocken auf den Hintern.

»In Freiheit!« brummte Tristan. »Euere Majestät wünscht nicht, daß man ihn ein wenig im Käfige einsperre?«

»Gevatter,« versetzte Ludwig der Elfte, »glaubst du, daß wir etwa für solche Vögel Käfige bauen lassen, welche dreihundertsiebenundsechzig Livres acht Sou und drei Heller kosten? Laßt mir den liederlichen Schuft sofort los (Ludwig der Elfte liebte dieses Wort, welches mit »beim allmächtigen Gotte« den Hintergrund seiner Fröhlichkeit bildete) und werft ihn mit ein paar Rippenstößen hinaus.«

»Ach!« rief Gringoire, »was ist das für ein großer König!«

Und aus Furcht vor einem Gegenbefehle stürzte er nach der Thüre hin, welche Tristan ihm mit ziemlich schlechtem Danke wieder öffnete. Die Soldaten gingen mit ihm hinaus, während sie ihn mit mächtigen Faustschlägen vor sich her trieben, was Gringoire als wahrer stoischer Philosoph ertrug.

Die gute Laune des Königs blickte überall hervor, seitdem ihm der Aufruhr gegen den Vogt mitgetheilt worden war. Diese ungewohnte Milde war kein geringes Anzeichen dafür. Tristan l’Hermite sah in seiner Ecke wie ein verdrießlicher Bullenbeißer aus, der etwas gesehen, aber nichts erschnappt hat.

Der König indessen trommelte lustig auf den Armlehnen seines Stuhles den Marsch von Pont-Audemer. Er war ein Fürst von versteckter Gemüthsart, der aber viel besser verstand, seine Sorgen als seine Freuden zu verbergen. Diese äußerlichen Freudenbezeigungen bei jeder guten Nachricht gingen bisweilen sehr weit: so gelobte er bei dem Tode Karls des Kühnen dem heiligen Martin zu Tours silberne Geländer; bei seiner Thronbesteigung vergaß er sogar das Leichenbegängnis seines Vaters anzuordnen.

»Ei! Sire!« rief plötzlich Jacob Coictier, »was ist aus dem heftigen Krankheitsanfall geworden, wegen dessen mich Euere Majestät hatte entbieten lassen?«

»Oh!« sagte der König, »ich leide wahrlich sehr, mein Gevatter, ich habe Ohrensausen und in der Brust glühende Rachen, welche mich zerfleischen.«

Coictier ergriff die Hand des Königs und begann ihm mit geeigneter Miene den Puls zu fühlen.

»Sehet einmal an, Coppenole,« sagte Rym mit leiser Stimme. »Da sitzt er zwischen Coictier und Tristan. Das ist sein ganzer Hofstaat. Ein Arzt für ihn, und ein Henker für die andern.«

Coictier nahm, während er den Puls des Königs befühlte, eine immer unruhigere Miene an. Ludwig der Elfte betrachtete ihn mit einer gewissen Aengstlichkeit. Coictier wurde zusehends düsterer. Der brave Mann hatte kein anderes Pachtgut, als den schlechten Gesundheitszustand des Königs. Er beutete ihn nach besten Kräften aus.

»Oh! oh!« murmelte er, »das ist bedenklich, in der That.«

»Nicht wahr?« sagte der König voll Unruhe.

»Pulsus creber, anhelans, crepitans, irregularis,« 78 fuhr der Arzt fort.

»Beim allmächtigen Gotte!«

»Ehe drei Tage um sind, kann dieser Zustand seinen Mann hinwegraffen.«

»Bei Unserer lieben Frau!« rief der König. »Und das Heilmittel, Gevatter?«

»Ich denke darüber nach, Sire.«

Er ließ Ludwig dem Elften die Zunge zeigen, schüttele bedenklich mit dem Kopfe, schnitt eine Grimasse, und mitten unter diesen Zierereien sagte er plötzlich:

»Wahrlich, Sire, ich muß Euch erzählen, daß eine Einnehmerstelle bei den Steuerkassen erledigt ist, und daß ich einen Neffen habe.«

»Ich gebe meine Einnehmerstelle deinem Neffen, Gevatter Jacob,« sagte der König, »aber ziehe mir dies Feuer aus der Brust.«

»Da Euere Majestät so gnädig gesinnt ist,« fuhr der Arzt fort, »wird sie mir die Bitte nicht abschlagen, mich ein wenig beim Bau meines Hauses in der Rue-Saint-André-des-Arcs zu unterstützen.«

»So, so!« sagte der König.

»Ich bin mit meinem Gelde zu Ende,« fuhr der Doctor fort, »und es würde wahrhaftig Schade sein, wenn das Haus kein Dach bekäme; nicht wegen des Hauses, welches einfach und ganz bürgerlich ist, sondern wegen der Malereien Johann Fourbaults, welche das Getäfel verschönern. Da sieht man eine Diana in der Luft schweben, welche fliegt, aber so vortrefflich, so zart, so geschmackvoll, von so edler Haltung, das Haupt so herrlich geschmückt und von einer Mondsichel gekrönt, das Fleisch so zart, daß sie diejenigen in Versuchung führt, welche sie zu begierig betrachten. Es befindet sich auch noch eine Ceres dort. Es ist ebenfalls eine sehr schöne Gottheit. Sie sitzt auf Getreidegarben, und ihr Haupt ist mit einer reizenden Aehrenguirlande geschmückt, in welche Bocksbart und andere Blumen geflochten sind. Man kann nichts Verliebteres sehen, als ihre Augen, nichts Runderes als ihre Beine, nichts Edleres als ihre Miene, nichts schöner im Faltenwurfe, als ihr Untergewand. Es ist eine der unschuldigsten und vollendetsten Schönheiten, welche der Pinsel hervorgebracht hat.«

»Quälgeist!« murmelte Ludwig der Elfte, »wohinaus willst du damit?«

»Ich gebrauche ein Dach über diese Malereien, Sire, und obgleich dieses Dach nur ein unbedeutender Gegenstand ist, so habe ich doch kein Geld mehr.«

»Wieviel kostet es, dein Dach?«

»Aber … ein Dach aus vergoldetem Kupfer mit mythologischen Figuren, zweitausend Livres höchstens.«

»Ach! der Mörder!« rief der König. »Er reißt mir keinen Zahn aus, der für ihn nicht ein Diamant wäre.«

»Bekomme ich mein Dach?« sagte Coictier.

»Ja! und scher dich zum Teufel, aber mach mich gesund.«

Jacob Coictier verneigte sich tief und sagte:

»Sire! nur ein zurücktreibendes Mittel wird Euch retten. Wir wollen Euch das große Verbandmittel auf die Nieren auflegen, das aus Wachssalbe, armenischem Thon, Eiweiß, Oel und Essig besteht. Ihr werdet mit Euerem Arzneitranke fortfahren, und wir bürgen für Euere Majestät.«

Ein brennendes Licht zieht nicht blos eine einzige Mücke an. Meister Olivier, der den König so freigiebig sah und den Augenblick für günstig hielt, trat auch heran:

»Sire …«

»Was soll’s, noch?« sagte Ludwig der Elfte.

»Sire, Euere Majestät weiß, daß Meister Simon Radin gestorben ist?«

»Nun weiter?«

»Daß er königlicher Rath beim Gerichtshofe des Schatzamtes war.«

»Nun?«

»Sire, seine Stelle ist unbesetzt.«

Während er so sprach, hatte das hochmüthige Gesicht Meister Oliviers den hochfahrenden Ausdruck mit einem demüthigen vertauscht. Das ist der einzige Wechsel, welcher im Gesicht eines Hofschranzen vorzugehen pflegt. Der König sah ihm fest ins Gesicht und sagte mit trockenem Tone:

»Ich verstehe.«

Er fuhr fort:

»Meister Olivier, der Marschall von Boucicaut pflegte zu sagen: »Schenkung steht nur beim Könige, und fischen kann man nur im Meere.« Ich sehe, daß Ihr der Meinung des Herrn von Boucicaut seid. Jetzt hört folgendes, wir haben ein gutes Gedächtnis. Im Jahre 68 haben wir Euch zu unserem Kammerdiener gemacht; im Jahre 69 zum Castelan der Brücke von Saint-Cloud mit hundert Livres Gehalt in Toursscher Münze (Ihr wolltet sie in Pariser Gelde). Im November 73 haben wir Euch durch eine, zu Gergeaule ausgefertigte Urkunde zum Vogte des Gehölzes von Vincennes, an Stelle des Stallmeisters Gilbert Acle, eingesetzt; im Jahre 75 zum Forstmeister des Waldes zu Rouvray-lez-Saint-Cloud, an die Stelle Jacob Le-Maire’s; im Jahre 78 haben wir allergnädigst, durch offene Urkunde, die mit grünem Wachse an doppelten Siegelhaltern gesiegelt ist, für Euch und Euere Frau eine Rente von zehn Livres Pariser Münze auf den Standplatz für die Kaufleute gelegt, welcher an der Schule Saint-Germain belegen ist; im Jahre 79 haben wir Euch zum Forstmeister des Waldes von Senart, an Stelle jenes armen Johann Daiz, gemacht; dann zum Hauptmann des Schlosses Loches; dann zum Oberbefehlshaber von Saint-Quentin; dann zum Hauptmann der Brücke von Maulan, nach welcher Ihr Euch Graf nennen laßt. Von den fünf Sous Strafe, welche jeder Barbier bezahlt, der an einem Festtage barbiert, kommen drei Sous auf Euch, und wir erhalten den Rest. Wir haben auch geruht, Euern Namen Le-Mauvais, 79 der Euerer Miene zu sehr entsprach, abzuändern. Im Jahre 74 haben wir Euch, zur großen Unzufriedenheit unseres Adels, mit einem tausendfarbigen Wappen beliehen, das Euch eine wahre Pfauenbrust giebt. Beim allmächtigen Gotte! seid Ihr nicht übersatt. Ist der Fischzug nicht schön und wunderbar genug? Und fürchtet Ihr nicht, daß ein Lachs mehr Euern Kahn zum Sinken bringt? Der Stolz wird Euch zu Grunde richten, Gevatter. Der Stolz ist immer von Untergang und Schmach verfolgt. Erwäget das und schweigt.«

Diese mit Strenge gesprochenen Worte ließen die Unverschämtheit wiederum in Meister Oliviers Gesichtsausdrucke erscheinen.

»Gut,« murmelte er fast ganz laut, »man sieht wohl, daß der König heute krank ist; er giebt dem Arzte alles.«

Ludwig der Elfte, der weit entfernt war, sich über dieses herausfordernde Betragen zu erzürnen, fuhr mit einer gewissen Sanftmuth fort:

»Halt, ich vergaß noch, daß ich Euch zum Gesandten bei der Prinzessin Marie in Gent gemacht habe … Ja, meine Herren,« fügte der König hinzu, indem er sich an die Flamländer wandte, »dieser ist Gesandter gewesen … Dabei, Gevatter,« fuhr er, sich an Meister Olivier wendend, fort, »wollen wir uns nicht erzürnen; wir sind alte Freunde. Doch es ist schon sehr spät. Wir haben unsere Arbeit beendet. Barbiert mich.«

Unsere Leser haben ohne Zweifel schon längst in »Meister Olivier« jenen schrecklichen Figaro erkannt, welchen die Vorsehung, diese große Dramenschöpferin, so kunstgerecht in die lange und blutige Komödie Ludwigs des Elften verflochten hat. Wir wollen es hier nicht unternehmen, diese sonderbare Erscheinung darzustellen. Dieser Barbier des Königs hatte drei Namen. Am Hofe nannte man ihn höflicher Weise Olivier Le-Daim; 80 im Volke Olivier den Teufel. Er hieß mit seinem wahren Namen Olivier Le-Mauvais.

Olivier Le-Mauvais also stand regungslos da, schmollte mit dem Könige, und sah Jacob Coictier von der Seite an.

»Ja, ja! der Arzt!« sagte er zwischen den Zähnen.

»Nun! ja, der Arzt!« entgegnete Ludwig der Elfte mit seltsamer Gutmüthigkeit; »der Arzt hat mehr Einfluß als du. Das ist ganz einfach: er hat Gewalt über uns an unserem ganzen Körper, und du hältst uns nur am Kinne fest. Geh, mein armer Barbier, das wird sich wiederfinden. Was würdest du denn sagen, und was würde aus deinem Dienste werden, wenn ich ein König wäre, wie König Chilperich, dessen gewöhnliche Gebärde es war, seinen Bart mit einer Hand zu halten? … Wohlan, Gevatter, versieh dein Amt, rasiere mich. Hole, was du dazu nöthig hast.«

Olivier, welcher sah, daß der König den Entschluß zu spotten gefaßt hatte, und daß es nicht einmal ein Mittel gab, ihn aufzubringen, ging murrend hinaus, um seine Befehle zu vollziehen.

Der König erhob sich, trat ans Fenster, und indem er es plötzlich mit ungewöhnlicher Erregung öffnete, rief er die Hände zusammenschlagend aus:

»Ach! ja! sehet da einen Glutschein am Himmel. Es ist der Vogt, welcher brennt. Es kann nicht anders sein. Oh! mein gutes Volk! Nun weiß ich doch, daß du mir endlich hilfst, die Lehnsherrlichkeiten niederzuwerfen!«

Dann wandte er sich an die Flamländer:

»Meine Herren, tretet her und seht das. Ist das nicht ein Brand, der den Himmel röthet?«

Die beiden Genter traten heran.

»Ein gewaltiger Brand,« sagte Wilhelm Rym.

»Ho!« fügte Coppenole hinzu, dessen Augen plötzlich aufleuchteten, »das erinnert mich an den Brand des Hauses des Herrn von Hymbercourt. Da unten muß ein mächtiger Aufruhr stattfinden.«

»Ihr glaubt Meister Coppenole?« Und das Angesicht Ludwigs des Elften nahm einen fast ebenso fröhlichen Ausdruck an, als dasjenige des Strumpfwirkers. »Nicht wahr, es wird schwer halten, dem Widerstand zu leisten?«

»Kreuz Gottes! Sire! Euere Majestät wird darüber sehr viele Compagnien Kriegsvolk aufs Spiel setzen können.«

»Ach! ich! das ist etwas Anderes.« fuhr der König fort. »Wenn ich wollte …« Der Strumpfwirker erwiederte dreist:

»Wenn dieser Aufruhr das ist, was ich vermuthe, so dürftet Ihr vergeblich wollen, Sire.«

»Gevatter,« sagte Ludwig der Elfte, »mit zwei Compagnien meiner Leibtruppe und einer Feldschlangensalve hat man leichten Handel mit einem Pöbelhaufen von Bauern.«

Der Strumpfwirker schien, ungeachtet aller Winke, die ihm Wilhelm Rym gab, verwegen genug, dem Könige die Spitze zu bieten.

»Sire, die Schweizer waren auch Bauern. Der Herr Herzog von Burgund war ein stolzer Edelmann, und er verspottete diese Kanaille. In der Schlacht bei Granson, Sire, schrie er: »Kanoniere, Feuer auf dieses Bauernpack!« Und er schwur beim heiligen Georg. Aber der Stadtschultheiß Scharnachtal stürzte sich mit seiner Keule und seinem Volke auf diesen schönen Herzog, und bei dem Zusammenstoße mit den Bauern in Ochsenhäuten zersplitterte das glänzende Heer der Burgunder wie Glas vor einem Steinwurfe. Da befanden sich sehr viele Ritter unter den von den Schuften Erschlagenen; und man fand den Herrn von Château-Guyon, den stolzesten Edelmann Burgunds, unter seinem großen Grauschimmel todt in einem kleinen Morastloche.«

»Freund,« versetzte der König, »Ihr sprecht von einer Schlacht. Es handelt sich hier um eine Empörung. Und ich will damit zu Ende kommen, wenn es mir belieben wird, die Augenbrauen zu runzeln.«

Der andere versetzte gleichgültig:

»Das ist möglich, Sire. In diesem Falle ist die Stunde des Volkes noch nicht gekommen.«

Wilhelm Rym glaubte vermitteln zu müssen.

»Meister Coppenole, Ihr sprecht zu einem mächtigen Könige.«

»Ich weiß es,« antwortete der Strumpfwirker würdevoll.

»Laßt ihn reden, Herr Rym, mein Freund,« sagte der König; »ich liebe diese freimüthige Sprache. Mein Vater Karl der Siebente sagte oft, die Wahrheit wäre krank. Ich für meine Person glaubte sogar, sie wäre todt und hätte gar keinen Bekenner mehr gefunden. Meister Coppenole belehrt mich eines Besseren.«

Dann legte er vertraulich seine Hand auf die Schulter Coppenoles und fuhr fort:

»Ihr sagtet also, Meister Jacob …«

»Ich sagte, Sire, daß Ihr vielleicht Recht habt, daß die Stunde des Volkes in Euerem Reiche noch nicht gekommen sei.«

Ludwig der Elfte sah ihn mit seinem durchdringenden Blicke an.

»Und wann wird diese Stunde kommen, Meister?«

»Ihr werdet sie schlagen hören.«

»Auf welcher Uhr, wenn es Euch gefällig ist?«

Coppenole veranlagte in seiner ruhigen und bäuerischen Haltung den König, ans Fenster zu treten.

»Höret mich an, Sire! Hier seht Ihr einen Zwingthurm, eine Sturmglocke, Kanonen, Bürger, Soldaten. Wenn die Sturmglocke einst heulen wird, wenn die Kanonen brüllen werden, wenn der Zwingthurm mit lautem Krachen zusammenstürzen wird, wenn Bürger und Soldaten schreien und sich unter einander morden werden, dann wird die Stunde schlagen.«

Ludwig des Elften Gesicht wurde düster und nachdenklich. Er blieb einen Augenblick in Schweigen versunken; dann schlug er sanft, wie man die Hüfte eines Schlachtrosses klopft, mit der Hand an die dicke Mauer des Thurmes.

»Oh! nein!« sagte er. »Nicht wahr, du wirst nicht so leicht zusammenstürzen, meine gute Bastille?«

Dann wandte er sich mit heftiger Wendung an den kühnen Flamländer:

»Habt Ihr jemals einen Aufruhr erlebt, Meister Jacob?«

»Ich habe einen angestiftet,« sagte der Strumpfwirker.

»Wie fingt Ihr das an,« sagte der König, »um eine Empörung zu erregen?«

»Ah!« antwortete Coppenole, »das ist nicht sehr schwierig. Es giebt hundert Wege. Nothwendig ist zunächst, daß Unzufriedenheit in der Stadt herrscht. Der Fall ist nicht selten. Und dann der Charakter der Einwohner. Diejenigen Gents sind zur Empörung geneigt. Die lieben stets den Sohn des Fürsten, niemals diesen selbst. Nun gut! Eines Morgens, will ich annehmen, tritt man in mein Gewölbe; man sagt mir: »Vater Coppenole, da ist dies, da ist das, das Fräulein von Flandern will ihre Minister in Sicherheit bringen, der Oberamtmann verdoppelt den Zoll auf Sämerei, oder etwas Anderes.« Was man will. Ich, ich lasse meine Arbeit liegen, ich trete aus meinem Strumpfwirkerladen heraus, ich gehe in die Straße, und ich rufe: »Auf zum Sturme!« Immer liegt wohl ein eingeschlagenes Faß da. Ich steige hinauf, und ich spreche ganz laut die ersten besten Worte, was ich auf dem Herzen habe; und wenn man zum Volke gehört, Sire, hat man immer etwas auf dem Herzen. Nun rottet man sich zusammen, man schreit, man läutet die Sturmglocke, man bewaffnet die Bürger mit den den Soldaten abgenommenen Waffen, die Leute vom Markte vereinigen sich damit, und man geht darauf los. Und das wird immer so sein, so lange es Herren in den Lehnsherrschaften, Bürger in den Städten und Bauern auf dem Lande geben wird.«

»Und gegen wen empört Ihr Euch so?« fragte der König. »Gegen Eure Vögte? Gegen Euere Lehnsherren?«

»Manchmal, je nachdem. Auch gegen den Herzog mitunter.«

Ludwig der Elfte setzte sich wieder nieder, und sagte lächelnd:

»Ah! hier haben sie es nur mit den Vögten zu thun.«

In diesem Augenblicke trat Olivier Le-Daim wieder ein. Er war von zwei Pagen begleitet, welche des Königs Gewänder trugen; was aber Ludwig den Elften überraschte, war der Umstand, daß er außerdem vom Oberrichter von Paris und vom Befehlshaber der Nachtwache begleitet war, welche beide bestürzt zu sein schienen. Der rachsüchtige Barbier hatte gleichfalls eine bestürzte, aber dabei auch zufriedene Miene. Er nahm das Wort zuerst.

»Sire, ich bitte Euere Majestät um Verzeihung für die unglücksschwere Nachricht, welche ich Ihr bringe.«

Der König, der sich schnell umdrehte, zerfetzte mit den Beinen seines Stuhles die Strohmatte des Fußbodens.

»Was hast du zu sagen?«

»Sire,« versetzte Olivier Le-Daim mit der boshaften Miene eines Menschen, der sich freut, einen niederschmetternden Eindruck hervorbringen zu können, »nicht gegen den Vogt des Palastes ist dieser Volksaufruhr gerichtet.«

»Und gegen wen denn?«

»Gegen Euch, Sire.«

Der alte König hob sich kerzengerade wie ein junger Mann in die Höhe.

»Erkläre dich, Olivier! erkläre dich! Und halte ja deinen Kopf fest, Gevatter; denn ich schwöre dir beim Kreuze von Saint-Lo, daß, wenn du uns in dieser Stunde belügst, das Schwert, das den Hals des Herrn von Luxemburg durchschnitten hat, nicht so schartig ist, daß es nicht auch noch den deinigen durchschneidet!«

Der Schwur war furchtbar; Ludwig der Elfte hatte nur zweimal in seinem Leben beim Kreuze von Saint-Lo geschworen. Olivier öffnete den Mund, um zu antworten:

»Sire …«

»Wirf dich auf die Kniee!« unterbrach ihn der König heftig. »Tristan wachet über diesen Menschen!«

Olivier warf sich auf die Kniee und sagte kalt:

»Sire, eine Hexe ist von Eurem Parlamentsgerichtshofe zum Tode verurtheilt worden. Sie hat sich nach Notre-Dame geflüchtet. Das Volk will sich ihrer dort wieder mit offener Gewalt bemächtigen. Der Herr Oberrichter und der Herr Ritter von der Nachtwache, welche vom Aufruhre herkommen, sind hier, um mich Lügen zu strafen, wenn das nicht die Wahrheit ist. Notre-Dame ist’s, welche das Volk belagert.«

»Wie!« sagte der König mit leiser Stimme, ganz blaß und vor Zorn heftig zitternd. »Notre-Dame! Sie belagern Unsere liebe Frau, meine gnädige Gebieterin, in ihrer Kathedrale! … Steh auf, Olivier. Du hast Recht. Ich gebe dir die Stelle Simon Radins. Du hast Recht … Ich bin es, den man angreift. Die Hexe steht unter dem Schutze der Kirche, die Kirche unter meinem Schutze. Und ich für meine Person glaubte, daß es sich um den Vogt handelte! Gegen mich geht es!«

Nun begann er, von der Wuth verjüngt, große Schritte zu machen. Er lachte nicht mehr, er war furchtbar, ging hin und her; der Fuchs hatte sich in eine Hyäne verwandelt. Er schien erstickt, so daß er nicht sprechen konnte; seine Lippen zitterten, und seine fleischlosen Fäuste ballten sich. Plötzlich richtete er das Haupt in die Höhe, sein hohler Blick erschien voll Feuer, und seine Stimme erklang wie eine Trompete. »Leg Hand an, Tristan! leg Hand an diese Schurken! Geh, Tristan mein Freund! morde! morde!«

Als dieser Ausbruch vorüber war, setzte er sich wieder nieder und sagte mit kalter und vergrößerter Wuth:

»Hierher, Tristan! … Bei uns in dieser Bastille liegen fünfzig Lanzen des Vicomte von Gif, die dreihundert Pferde ausmachen: Ihr werdet sie mitnehmen. Auch liegt hier von unserer Leibwache die Compagnie Bogenschützen des Herrn von Châteaupers: Ihr werdet sie mitnehmen. Ihr seid Profoß der Reiterofficiere, Ihr habt die Leute Eueres Profoßamtes: Ihr werdet sie mitnehmen. Im Palast Saint-Pol werdet Ihr vierzig Bogenschützen von der neuen Wache des Herrn Dauphin finden: nehmt sie mit. Und mit allem dem eilt Ihr schnell nach Notre-Dame … Ah! Ihr Herrn Einwohner von Paris, Ihr werft Euch also quer auf die Krone von Frankreich, auf die Heiligkeit von Notre-Dame und den Frieden dieses Staates! … Vertilge! Tristan, vertilge! Und daß keiner von ihnen davonkomme, außer für Montfaucon.« 81

Tristan verneigte sich.

»Es ist gut, Sire.«

Er fügte nach einer Pause hinzu:

»Und was soll ich mit der Hexe anfangen?«

Diese Frage brachte den König zum Nachdenken.

»Ach!« sagte er, »die Hexe! … Herr von Estouteville, was wollte eigentlich das Volk mit ihr anfangen?«

»Sire,« antwortete der Oberrichter von Paris, »ich denke mir, daß, weil das Volk sie doch aus ihrer Freistatt in Notre-Dame herausreißen will, diese Straflosigkeit es verletzt und sie drum hängen will.«

Der König schien reiflich zu überlegen; dann wandte er sich an Tristan l’Hermite:

»Nun gut! lieber Gevatter, vertilge das Volk und hänge die Hexe.«

»Das heißt,« sagte Rym ganz leise zu Coppenole, »das Volk bestrafen für sein Wollen, und das, was es will, selbst thun.«

»Genug, Sire,« antwortete Tristan. »Wenn die Hexe sich noch in Notre-Dame befindet, soll man sie hier, ungeachtet des Asylrechtes, festnehmen?«

»Beim allmächtigen Gotte, das Asylrecht!« sagte der König, während er sich hinter dem Ohre kratzte. »Dennoch muß das Weibsbild gehangen werden.«

Wie von einem plötzlichen Gedanken ergriffen warf sich der König jetzt von seinem Stuhle auf die Kniee nieder, nahm seinen Hut ab, legte ihn auf den Sitz und betrachtete andächtig eines der bleiernen Amulete, welche den Hut umkränzten: »Ach!« sprach er mit gefalteten Händen, »Unsere liebe Frau von Paris, meine gnädige Beschützerin, vergebt mir. Ich will es nur dies Mal thun. Ich muß diese Verbrecherin strafen. Ich versichere Euch, theuere Jungfrau, meine süße Gebieterin, daß es eine Hexe ist, die Eures freundlichen Schutzes nicht würdig ist. Ihr wisset, Liebe Frau, daß sehr viele sehr fromme Fürsten dies Vorrecht der Kirchen übertreten haben zur Ehre Gottes und aus Notwendigkeit für den Staat. Der heilige Hugo, der Bischof von England, hat dem Könige Eduard erlaubt, sich eines Zauberers in seiner Kirche zu bemächtigen. Der heilige Ludwig von Frankreich, mein Gebieter, hat zu demselben Zwecke die Schwelle der Kirche des Heiligen Paul überschritten, und Herr Alphons, der Sohn des Königs von Jerusalem, sogar diejenige des Heiligen Grabes. Vergebt mir also dieses Mal, Unsere liebe Frau von Paris. Ich will es nicht wieder thun, und ich will Euch eine schöne silberne Bildsäule schenken, gleich wie diejenige, welche ich im vergangenen Jahre Unserer lieben Frau von Ecouys gegeben habe. Amen.«

Er machte ein Zeichen des Kreuzes, erhob sich wieder, setzte den Hut auf und sagte zu Tristan:

»Säumet nicht, lieber Gevatter. Nehmt den Herrn von Châteaupers mit Euch. Laßt die Sturmglocke läuten. Ihr werdet das Volk zerschmettern, werdet die Hexe hängen. Abgemacht. Und ich wünsche, daß die Hetzjagd der Hinrichtung von Euch angestellt werde. Ihr werdet mir Bericht davon abstatten … Wohlan, Olivier, ich will diese Nacht nicht zu Bett gehen. Barbiere mich.«

Tristan l’Hermite verneigte sich und ging hinaus. Darauf verabschiedete der König mit einer Handbewegung Rym und Coppenole:

»Behüte euch Gott, meine Herren Flamländer, liebe Freunde. Pfleget ein wenig der Ruhe. Die Nacht rückt vor, und wir sind dem Morgen näher, als dem Abende.«

Alle Beide zogen sich zurück, und als sie unter der Begleitung des Hauptmanns der Bastille ihre Gemächer gewonnen hatten, sagte Coppenole zu Wilhelm Rym:

»Hm! ich habe genug an diesem hustenden Könige! Ich habe Karl von Burgund betrunken gesehen; er war nicht so boshaft als der kranke Ludwig der Elfte.«

»Meister Jacob,« antwortete Rym, »das kommt davon, weil der Wein die Könige nicht so blutgierig macht, wie der Arzneitrank.«

  1. » Le grand Cyrus« Roman der Frau von Scudery. Anm. d Uebers.
  2. Lateinisch: Ohne Truchseß und ohne Mundschenken. Anm. d. Uebers.
  3. Griechisch: Anführer der Musen. Anm. d. Uebers.
  4. Lateinisch: Pulsschlag häufig, stark springend und unregelmäßig. Anm. d. Uebers.
  5. Le mauvais = der Bösewicht. Anm. d. Uebers.
  6. Olivier Damhirsch. Anm. d. Uebers.
  7. Im Mittelalter Name eines berüchtigten Galgens in der Nähe von Paris. Anm. d. Uebers.