Der Priester, welchen die jungen Mädchen, hoch oben auf dem nördlichen Thurme, zum Platze unten herabgeneigt und aufmerksam dem Tanze der Zigeunerin zuschauend bemerkt hatten, war in der That der Archidiaconus Claude Frollo.

Unsere Leser haben die geheimnisvolle Zelle nicht vergessen, die sich der Archidiaconus in diesem Thurme vorbehalten hatte. (Aller Wahrscheinlichkeit nach, um es beiläufig zu erwähnen, ist es dieselbe, deren Inneres man noch heute durch eine kleine, viereckige Oeffnung erkennen kann, die sich in Mannshöhe auf der Ostseite über der Plattform öffnet, von wo sich die Thürme in die Luft erheben: gegenwärtig eine nackte, leere und verfallene Höhle, deren schlecht getünchte Mauern zur Stunde hier und da mit einigen häßlichen, gelben Zeichnungen geschmückt sind, welche Kirchenfaçaden vorstellen. Ich vermuthe, daß dieses Loch gemeinschaftlich von Fledermäusen und Spinnen bewohnt, und daß infolge dessen hier gegen die Fliegen ein zwiefacher Vernichtungskrieg geführt wird.)

Alle Tage, eine Stunde vor Sonnenuntergang, stieg der Archidiaconus die Thurmtreppe empor und schloß sich in dieser Zelle, wo er manchmal ganze Nächte verbrachte, ein. An jenem Tage, in dem Augenblicke, wo er vor der niedrigen Thür des Schlupfwinkels angekommen war und den kunstvollen, kleinen Schlüssel, den er immer in einer an seiner Seite hängenden Tasche bei sich trug, ins Schloß steckte, war ein Tamburin– und Castagnettengeräusch zu seinem Ohre gedrungen. Dieses Geräusch kam von dem Platze des Domhofes. Die Zelle hatte, wie wir schon bemerkt haben, nur eine Oeffnung, die aufs Dach der Kirche hinausging. Claude Frollo hatte schnell den Schlüssel wieder herausgezogen und gleich darauf befand er sich auf der Höhe des Thurm es in der finstern und beobachtenden Stellung, in welcher ihn die jungen Mädchen erblickt hatten.

Da stand er, ernst, bewegungslos in einen Blick und einen Gedanken versunken. Ganz Paris lag zu seinen Füßen mit den tausend Spitzdächern seiner Gebäude und dem Gesichtskreise sanft aufsteigender Hügel ringsumher, mit seinem unter Brücken sich hinschlängelnden Flusse, seiner in den Straßen wogenden Bevölkerung, seinen Rauchwolken, der hügelartigen Kette von Dächern, welche mit immer dichter werdenden Ringen Notre-Dame einschließt. Aber in dieser weiten Stadt sah der Archidiaconus nur auf einen Punkt da unten: auf den Domhofsplatz; in dieser wogenden Menge sah er nur eine Gestalt: die der Zigeunerin. Es wäre schwer gewesen, zu sagen, welcher Art dieser Blick war, und woher die Glut kam, die aus ihm hervorloderte. Es war ein starrer Blick, und doch voll Unruhe und Aufruhr; und bei der völligen Unbeweglichkeit seines ganzen Körpers, der nur zeitweilig von einem mechanischen Schauder, wie ein Baum im Winde, geschüttelt wurde; bei der Steifheit seiner Arme, die mehr Stein zu sein schienen, als das Geländer, worauf sie sich stützten; beim Anblick des versteinerten Lächelns, welches sein Gesicht verzerrte, hätte man glauben sollen, es wäre an Claude Frollo nichts weiter lebendig, als die Augen.

Die Zigeunerin tanzte; sie ließ das Tamburin auf der Spitze ihres Fingers kreisen und warf es in die Lust, während sie behende, leicht, fröhlich und ohne das Gewicht des furchtbaren Blickes zu fühlen, der von oben auf ihr Haupt fiel, provençalische Sarabanden 1 tanzte.

Die Menge wogte um sie her; von Zeit zu Zeit ließ ein Mann, der mit einer gelb–rothen Jacke herausgeputzt war, den Kreis ordnen; dann trat er zurück, setzte sich wenige Schritte von der Tänzerin auf einen Stuhl und nahm den Kopf der Ziege auf seine Knien. Dieser Mensch schien der Begleiter der Zigeunerin zu sein. Claude Frollo vermochte von der Höhe, wo er sich befand, seine Züge nicht zu erkennen. Von dem Augenblicke an, wo der Archidiaconus diesen Unbekannten bemerkt hatte, schien sich seine Aufmerksamkeit zwischen ihm und der Tänzerin zu theilen, und sein Blick wurde immer düsterer. Plötzlich wandte er sich weg, ein Zittern durchlief seinen Körper. »Wer ist dieser Mann?« murmelte er zwischen den Zähnen, »ich hatte sie doch stets allein gesehen!«

Dann verschwand er wieder unter der gewundenen Wölbung der Wendeltreppe und stieg hinab. Als er vor der halbgeöffneten Thür der Glockenstube vorbeiging, sah er etwas, das ihn stutzig machte: er bemerkte Quasimodo, der in eine Oeffnung der schiefergedeckten Schutzdächer, welche ungeheuern Jalousien gleichen, gebückt war, und daß er auf den Platz hinabschaute. Er war in eine so tiefe Betrachtung versunken, daß er auf das Vorübergehen seines Adoptivvaters nicht Acht hatte. Sein wildes Auge hatte einen eigentümlichen Ausdruck: es war ein entzückter und sanfter Blick.

»Das ist doch seltsam!« murmelte Claude. »Ist es die Zigeunerin, nach der er so hinsieht?« Er stieg weiter hinab. Nach Verlauf weniger Minuten trat der sorgenvolle Archidiaconus durch die Pforte unten am Thurme auf den Platz hinaus.

»Was ist denn aus der Zigeunerin geworden?« sagte er, indem er sich unter die Gruppe der Zuschauer mischte, welche das Tamburin herbeigelockt hatte.

»Ich weiß nicht,« antwortete einer seiner Nachbarn, »sie ist eben erst verschwunden. Ich glaube, sie ist in das Haus gegenüber gegangen, wohin man sie gerufen hat, um einen Fandango 2 zu tanzen.«

Anstatt der Zigeunerin sah der Archidiaconus auf dem nämlichen Teppiche, dessen Arabesken eben erst unter der phantastischen Bewegung ihres Tanzes ineinander schwammen, nur noch den rothen und gelben Mann, der, einige Heller für sich zu gewinnen, mit eingestemmten Armen, zurückgebogenem Kopfe, rothem Gesichte und vorgestrecktem Halse, einen Stuhl zwischen den Zähnen, im Kreise herumging. Auf diesem Stuhle hatte er eine Katze festgebunden, welche ihm eine Nachbarin geliehen hatte, und die ganz erbärmlich maute.

»Bei der heiligen Jungfrau!« rief der Archidiaconus in dem Augenblicke, wo der Gaukler, dicke Schweißtropfen vergießend, mit seiner Stuhl– und Katzenpyramide an ihm vorüberging, »was macht Meister Peter Gringoire da?«

Die scharfe Stimme des Archidiaconus verursachte dem armen Teufel einen solchen Schrecken, daß er mit seinem Kunstwerke das Gleichgewicht verlor, und daß Stuhl und Katze durcheinander und unter gewaltigem Lärme der Umstehenden, aus deren Köpfe fielen.

Wahrscheinlich hätte Meister Peter Gringoire (er war es nämlich) eine fatale Rechnung mit der Nachbarin der Katze und allen geschundenen und zerkratzten Gesichtern ringsumher auszugleichen gehabt, wenn er sich nicht schleunigst die Verwirrung zu nutze gemacht hätte, um in die Kirche zu flüchten, wohin ihm zu folgen Claude Frollo ein Zeichen gegeben hatte.

Die Kathedrale war schon finster und öde; die Seitenschiffe lagen in Dunkelheit gehüllt da; die Lampen in den Kapellen begannen wie Sterne zu leuchten, so nächtig wurden die Wölbungen. Nur die große Rosette der Vorderseite, deren tausendfaches Farbenspiel von einem horizontalen Sonnenstrahl durchleuchtet war, glänzte wie ein Diamantenstern in der Dunkelheit, und warf ihr schimmerndes Abbild auf die Gegenseite des Schiffes zurück. Als sie einige Schritte gethan hatten, lehnte sich Pom Claude an einen Pfeiler und sah Gringoire starr an. Doch fürchtete Gringoire diesen Blick nicht; er schämte sich aber, von einem würdigen und gelehrten Manne in diesem Possenreißercostüme überrascht worden zu sein. Der Blick des Priesters hatte nichts Spöttisches und Ironisches; er war ernst, ruhig und durchdringend.

Der Archidiaconus brach das Schweigen zuerst.

»Tretet näher, Meister Peter. Ihr sollt mir über viele Dinge Aufklärung geben. Zuerst sagt mir, wie kommt es, daß man Euch seit nahezu zwei Monaten nicht gesehen hat und jetzt in diesem schönen Costüme, wahrhaftig! halb gelb, halb roth wie einen Apfel von Caudebee auf den Gassen wiederfindet?«

»Gestrenger Herr,« sagte Gringoire mit kläglicher Stimme, »es ist in der That ein wunderbarer Aufputz, und Ihr seht mich darum beschämter, als eine Katze, der ein Flaschenkürbiß auf den Kopf gebunden wurde. Es ist recht übel von mir gethan, ich fühle es, die Herren Scharwächter in die Lage zu bringen, den Rücken eines pythagoreischen Philosophen, der sich unter dieser Jacke verbirgt, mit Stockprügeln regaliren zu müssen. Aber was wollt Ihr, mein verehrungswürdiger Meister? Die Schuld daran liegt an meinem alten Wamms, das mich feige zu Winters Anfang, unter dem Vorwande im Stich gelassen hat, daß es in Lumpen zerfiele und notwendigerweise im Korbe des Lumpensammlers ein Ruheplätzchen finden müsse. Was anfangen? Die Civilisation ist noch nicht auf dem Punkte angekommen, um ganz nackt herumspazieren zu können, wie der alte Diogenes wollte. Nehmt dazu, daß ein sehr kalter Wind wehte, und daß man wahrlich nicht versuchen kann, im Monat Januar diesen neuen Schritt auf dem Wege zur Humanität erfolgreich unternehmen zu lassen. Dieses Kleid bot sich mir dar, ich habe zugegriffen und meinen alten schwarzen Kittel aufgegeben, der für einen Hermesjünger, wie ich bin, viel zu wenig hermetisch verschlossen war. Darum seht Ihr mich im Komödiantengewande, wie den heiligen Genest. Freilich ist’s eine Abschweifung; aber Apollo hat ja beim Admet die Schafe gehütet.«

»Ihr treibt da ein schönes Handwerk!« entgegnete der Archidiaconus.

»Ich gebe zu, mein theurer Meister, daß es besser ist, zu philosophiren und Verse zu machen, das Feuer im Ofen anzublasen oder es vom Himmel zu empfangen, als Katzen auf dem Straßenpflaster herumzutragen. Deshalb war ich, als Ihr mich angeredet habt, auch so dumm, wie ein Esel vor einem Bratenwender. Aber bedenkt, gestrenger Herr, man muß alle Tage zu leben haben, und die schönsten Alexandriner sind zwischen den Zähnen nicht so viel Werth, als ein Stück Käse von Brie. Nun habe ich auf die Frau Prinzessin Margarethe von Flandern das berühmte Hochzeitsgedicht gemacht, das Ihr kennt; aber die Stadt bezahlt’s mir nicht, unter dem Vorwande, es sei nicht viel Werth: als ob man für vier Thaler eine Sophokleische Tragödie liefern könnte! Ich war also nahe daran, Hungers zu sterben. Glücklicherweise fand ich mich ziemlich kräftig hinsichtlich meines Gebisses; ich sagte zu diesem Gebiß: »Mache Kraftstücke und Kunststücke im Balanciren; nähre dich selbst. Ale te ipsam.« 3 Ein Haufe Bettler, die meine Freunde geworden sind, haben mir zwanzigerlei herkulische Kunststücke gelehrt, und jetzt gebe ich alle Abende meinen Zähnen das Brot, das sie am Tage im Schweiße des Angesichts verdient Haben. Bei alledem, concedo: räume ich ein, daß das ein elender Gebrauch meiner geistigen Eigenschaften, und der Mensch nicht geschaffen ist, sein Leben mit Tamburinschlagen und mit Stühleanbeißen hinzubringen. Aber, verehrungswürdiger Meister, es ist nicht genug, daß man sein Leben hinbringt, man muß es auch verdienen.«

Dom Claude hörte schweigend zu. Plötzlich nahm sein tiefliegendes Auge einen solch scharfen und durchdringenden Ausdruck an, daß sich Gringoire gewissermaßen bis in die Tiefe der Seele von diesem Blicke erforscht fühlte.

»Sehr gut, Meister Peter; aber wie kommt es denn, daß Ihr Euch jetzt in der Gesellschaft dieser ägyptischen Tänzerin befindet?«

»Meiner Treu!« sagte Gringoire, »deshalb, weil sie mein Weib ist, und ich ihr Mann bin.«

Das düstre Auge des Priesters erglühte.

»Könntest du das gethan haben, Elender?« schrie er und packte wüthend Gringoire’s Arm; »könntest du so von Gott verlassen gewesen sein, deine Hand an dieses Mädchen zu legen?«

»So wahr ich Theil am Paradiese habe, ehrwürdiger Herr,« antwortete Gringoire an allen Gliedern zitternd, »ich schwöre Euch zu, daß ich sie niemals berührt habe, wenn das der Punkt ist, der Euch beunruhigt.«

»Aber was sprichst du denn von Mann und von Frau?« sagte der Priester.

Gringoire beeilte sich, ihm das in aller Kürze zu erzählen, was der Leser bereits weiß: sein Abenteuer im Wunderhofe und seine Verheirathung vermittelst des zerbrochenen Kruges. Uebrigens schien es, daß diese Heirath noch keine Folgen gehabt hatte, und daß ihn die Zigeunerin jeden Abend um seine Hochzeitsnacht brachte, wie am ersten Tage. »Das ist bitter,« sagte er schließlich, »aber es hängt damit zusammen, daß ich das Unglück gehabt habe, eine Jungfer zu heirathen.«

»Was wollt Ihr damit sagen?« fragte der Archidiaconus, welcher sich bei dieser Erzählung allmählich beruhigt hatte.

»Das ist ziemlich schwer auseinander zu setzen,« entgegnete der Dichter. »Es ist ein Aberglaube dabei. Meine Frau ist, wie mir ein alter Spitzbube gesagt hat, den man bei uns den Herzog von Aegypten nennt, ein Findelkind, oder was dasselbe ist, ein uneheliches Kind. Sie trägt am Halse ein Amuletts welches – sagt man – sie eines Tages ihre Eltern wiederfinden lassen wird, das aber seine Kraft einbüßt, wenn sie ihre Tugend verlöre. Daher kommt es, daß wir beide sehr tugendhaft bleiben.«

»Also,« entgegnete Claude, dessen Stirn sich immer mehr entwölkte, »Ihr glaubt, Meister Peter, daß diesem Geschöpfe noch kein Mann zu nahe gekommen ist?«

»Meint Ihr, Dom Claude, daß ein Mann etwas gegen den Aberglauben vermag? Sie hat den im Kopfe. Ich glaube, daß diese Nonnensprödigkeit, die sich unter den so schnell vertraulichen Zigeunermädchen fest behauptet, gewiß eine Seltenheit ist. Aber sie hat dreierlei, um sich zu schirmen: einmal den Herzog von Aegypten, der sie in seinen Schutz genommen hat und vielleicht darauf rechnet, sie an irgend einen feisten Abt zu verschachern; dann ihre ganze Bande, die sie, wie wir die heilige Jungfrau, ganz besonders verehrt, und endlich einen gewissen niedlichen Dolch, den das entschlossene Weib, allen Befehlen des Profosses zum Trotz, immer bei sich trägt, und den man ihr in die Hände treibt, wenn man sie um den Leib fassen will. Sie ist eine muthige Wespe, der Tausend!«

Der Archidiaconus quälte Gringoire mit Fragen.

Die Esmeralda war, nach Gringoire’s Urtheile, ein harmloses, reizendes und bis auf den ihr eigentümlichen Mund hübsches Geschöpf; ein naives und fröhliches Mädchen, das mit allem unbekannt und von allem enthusiasmirt war; das selbst nicht einmal im Traume, den Unterschied der Frau im Verhältnis zum Manne kannte; einem Traumbilde ähnlich; vernarrt hauptsächlich in Tanz, geräuschvolles Leben und vornehmes Wesen; ein bienenartiges Weib mit unsichtbaren Flügeln an den Füßen, das im Strudel dahinlebte. Sie verdankte dieses Naturell dem unruhigen Leben, welches sie immer geführt hatte. Gringoire hatte in Erfahrung gebracht, daß sie als kleines Kind Spanien und Catalonien, sogar Sizilien durchwandert war; er glaubte auch, daß sie mit der Zigeunerkarawane, zu der sie gehörte, in das Königreich Algier weggeführt worden war: eine Landschaft, die in Achaja liegt, welches Achaja einerseits an Klein-Albanien und an Griechenland, anderseits an das sicilianische Meer grenzt, wo die Straße nach Konstantinopel führt. Die Zigeuner, erzählte Gringoire, wären Vasallen des Königs von Algier, in seiner Eigenschaft als Herr der weißen Mauern. Sicher wäre die Esmeralda sehr jung über Ungarn nach Frankreich gekommen. Aus allen diesen Ländern hätte das junge Mädchen Bruchstücke seltsamer Sprachen, Gesänge und merkwürdige Gedanken mitgebracht, die aus ihrer Sprache etwas ebenso Buntscheckiges machten, wie ihr Costüm halb parisisch, halb afrikanisch wäre. Uebrigens liebten sie die Leute der Stadtviertel, welche sie besuche, wegen ihrer Fröhlichkeit, ihrer Anmuth und lebendigen Weise ebenso, wie wegen ihrer Tänze und Gesänge. In der ganzen Stadt glaubte sie sich nur von zwei Personen gehaßt, von denen sie auch oft mit Schrecken spräche: von der Nonne im Rolandsthurme, einer häßlichen Klosterschwester, welche einen gewissen Groll auf die Zigeunerinnen hätte und die arme Tänzerin jedesmal verfluche, wenn sie vor ihrem Fenster vorüberginge; dann von einem Priester, der sie niemals träfe, ohne ihr Blicke und Worte zuzusenden, die ihr Furcht verursachten. Dieser letzte Umstand verwirrte den Archidiaconus sehr, ohne daß Gringoire diese Bestürzung recht bemerkte, dermaßen hatten zwei Monate genügt, den sorglosen Dichter alle die Einzelnheiten jenes Abends vergessen zu lassen, an dem er das Zusammentreffen mit der Zigeunerin gehabt hatte, und der Archidiaconus bei dem allen zugegen gewesen war. – Uebrigens fürchtete die kleine Tänzerin nichts; sie wahrsagte nicht, was sie vor jenen Hexenprocessen schützte, die so häufig gegen die Zigeunerinnen angestellt wurden. Und überdies vertrat Gringoire Bruderstelle, wenn es als Ehemann nicht ging. Ueberhaupt ertrug der Philosoph diese Art platonischer Ehe sehr geduldig. Er hatte doch immer ein Nachtlager und sein Brot. Jeden Morgen verließ er die Gaunerbande, meistens mit der Zigeunerin; er war ihr behilflich, wenn sie an den Straßenecken ihre Heller und Weißpfennige einerntete; jeden Abend kehrte er mit ihr unter dasselbe Dach zurück, ließ sie sich in ihr Kämmerchen einriegeln und verfiel in den Schlaf des Gerechten: alles in allem genommen eine sehr angenehme Existenz, und für Sinnen und Träume wie geschaffen. Und dann war, in seiner Seele und Gewissen, der Philosoph nicht ganz sicher, ob er rasend in die Zigeunerin verliebt sei. Er liebte ihre Ziege fast ebenso sehr. Das sei ein allerliebstes, sanftes, kluges, geistvolles Thier, eine gelehrte Ziege. – Nichts war im Mittelalter gewöhnlicher, als diese dressirten Thiere, die man gewaltig anstaunte, und die oft ihre Lehrmeister auf den Scheiterhaufen führten. Jedoch wären die Hexereien der Ziege mit den vergoldeten Füßen sehr unschuldige Schelmereien. Gringoire erklärte sie dem Archidiaconus, den diese einzelnen Umstände sehr zu interessiren schienen. Es genüge in den meisten Fällen, der Ziege das Tamburin in der oder jener Weise‘ hinzuhalten, um das gewünschte Kunststück bei ihr zu erreichen. Sie wäre dazu von der Zigeunerin abgerichtet worden, die zu diesen Pfiffen ein so seltenes Talent besäße, daß zwei Monate genügt hätten, um der Ziege beizubringen, aus beweglichen Buchstaben das Wort »Phöbus« zusammenzusetzen.

»Phöbus!« sagte der Priester; »warum Phöbus?«

»Ich weiß nicht,« antwortete Gringoire. »Vielleicht ist es ein Wort, welches sie mit irgend einer geheimen und übernatürlichen Kraft für begabt hält. Sie wiederholt es oft mit leiser Stimme, wenn sie sich allein glaubt.«

»Seid Ihr dessen gewiß,« entgegnete Claude mit seinem forschenden Blicke, »daß es nur ein Wort, daß es kein Name ist?«

»Wessen Name?« sagte der Dichter.

»Was weiß ich?« sagte der Priester.

»Ich denke mir das so, ehrwürdiger Herr. Diese Zigeuner sind ein wenig abergläubisch und beten die Sonne an; daher jenes ›Phöbus‹.«

»Das scheint mir nicht so einleuchtend, als Euch, Meister Peter.«

»Uebrigens thut das nichts. Möge sie ihr Phöbus nach Belieben murmeln. Sicher ist, daß Djali mich beinahe ebenso lieb hat, als sie.«

»Wer ist diese Djali?«

»Es ist die Ziege.«

Der Archidiaconus legte seine Hand ans Kinn und schien einen Augenblick nachzudenken. Plötzlich wandte er sich heftig an Gringoire.

»Und du schwörst mir zu, daß du sie nicht berührt hast?«

»Wen?« fragte Gringoire; »die Ziege?«

»Nein, dieses Weib.«

»Mein Weib? Niemals, ich schwöre es.«

»Und du bist oft allein mit ihr?«

»Alle Abende, eine volle Stunde.«

Dom Claude runzelte die Augenbrauen.

»O! Ach! Solus cum sola non cogitabuntur orare Pater noster4

»Bei meiner Seele, ich könnte das » Pater« und das » Ave Maria« und das » Credo in Deum patrem omniptentem« 5 hersagen, ohne daß sie mir mehr Aufmerksamkeit erweisen würde, als eine Henne einer Kirche.«

»Schwöre mir bei dem Leibe deiner Mutter,« wiederholte der Archidiaconus mit Ungestüm, »daß du dieses Geschöpf nicht mit der Spitze des Fingers berührt hast.«

»Ich könnte ebenso gut bei dem Haupte meines Vaters schwören, denn beides steht in mehr als einem Verhältnis zu einander. Aber, ehrwürdiger Herr, erlaubt mir meinerseits eine Frage.«

»Redet, Herr.«

»Was geht das Euch an?«

Das bleiche Gesicht des Archidiaconus wurde roth, wie die Wange eines jungen Mädchens. Er verharrte einen Augenblick ohne Antwort; dann sprach er mit sichtlicher Verlegenheit:

»Höret, Meister Peter Gringoire. Ihr seid noch nicht in Verdammnis gerathen, so viel ich weiß. Ich interessire mich für Euch und will Euch wohl. Doch die geringste Berührung mit diesem Dämon von Zigeunerin würde Euch zum Vasallen des Satans machen. Ihr wißt, daß es immer der Körper ist, der die Seele ins Verderben stürzt. Wehe Euch, wenn Ihr diesem Weibe zu nahe tretet. Nun wißt Ihr alles.«

»Ich habe es einmal versucht,« sprach Gringoire und kratzte sich hinter dem Ohre; »es war am ersten Tage, aber ich habe mich gestochen.«

»Ihr habt die Frechheit gehabt, Meister Peter?« Und die Stirn des Priesters umwölkte sich.

»Ein andermal,« führ der Dichter schmunzelnd fort, »habe ich, ehe ich mich niederlegte, durch ihr Schlüsselloch gesehen, und habe wohl das holdeste Weib im Hemde erblickt, das jemals den Gurt eines Bettes unter ihrem nackten Fuße hat knacken lassen.«

»Geh zum Teufel!« schrie der Priester mit fürchterlichem Blicke und verschwand, während er den erstaunten Gringoire an den Schultern vorwärts stieß, mit weiten Schritten unter den nächtlichen Säulenhallen der Kathedrale.

  1. Sarabande: ein altspanischer Volkstanz mit Gesangs– und Castagnettenbegleitung. Anm. d. Uebers.
  2. Name eines altspanischen Nationaltanzes mit nach und nach schneller werdendem Tempo. Anm. d. Uebers.
  3. Lateinisch: Nähre dich selbst. Anm. d. Uebers.
  4. Lateinisch: Wenn Mann und Weib allein sind, werden sie nicht daran denken, das Vaterunser zu beten. Anm. d. Uebers.
  5. Lateinisch: Ich glaube an Gott, den allmächtigen Vater. Anm. d. Uebers.