»Oeffne dieses Fenster, meine Tochter! Diese Scheiben sind sehr trübe; ich möchte den Tag ein wenig sehen.«

»Sehen Sie den Tag, mein Vater? Die Nacht ist nahe.«

»Noch bescheint die Sonne die Hügel, welche den Golf umringen. Ich bedarf dieser reinen Luft, welche durch die Gitter meines Kerkers dringt. Der Himmel ist so hell und schön.«

»Am fernen Horizont zieht ein Gewitter auf, mein Vater!«

»Ein Gewitter, Ethel! Wo siehst Du es?«

»Eben weil der Himmel rein ist, mein Vater, mache ich mich auf ein Gewitter gefaßt.«

Der Greis warf einen Blick des Staunens auf die Jungfrau.

»Wenn ich das in meiner Jugend bedacht hätte,« sprach er, »so wäre ich nicht hier. Was Du hier sagst, ist richtig, aber es geht über Dein Alter. Ich begreife nicht, wie es kommt, daß Deine junge Vernunft meiner alten Erfahrung gleicht.«

Ethel schlug die Augen nieder, wie verwirrt durch diese einfach ernste Betrachtung. Ihre beiden Hände falteten sich in stummem Schmerz, und ein tiefer Seufzer hob ihre Brust.

»Meine Tochter,« sagte der alte Gefangene, »seit einigen Tagen bist Du bleich, als ob ein heißes Blut durch Deine Adern geströmt wäre. Wenn Du Morgens aufstehst, sind Deine Augen roth und angeschwollen, wie nach einer durchwachten und durchweinten Nacht. Seit mehreren Tagen sitze ich einsam und verlassen, und Deine Stimme entreißt mich nicht dem düstern Nachsinnen über mein vergangenes Leben, Du bist trauriger als ich, der alte Gefangene, und doch lastet nicht auf Deinen Schultern, wie auf den meinigen, das Gewicht eines leeren und nichtigen Lebens. Trübsinn mag die Jugend befallen, aber er nistet sich nicht ein in die Tiefen ihres Herzens. Die Wolken des Morgens haben sich am Abend verzogen. Du bist in dem Alter, wo man sich in Träumen eine von der Gegenwart unabhängige Zukunft schafft, welche es auch sei. Was ist Dir denn, mein Kind? Dank dieser eintönigen Gefangenschaft, bist Du vor unvorhergesehenen Unfällen gesichert! Welchen Fehler hast Du denn begangen? Mein Loos kann Dich nicht so beugen, bist Du an mein Unglück gewöhnt, Du weisst, daß es ohne Abhülfe ist. Wenn auch hoffnungslos, bin ich am Rande des Grabes; warum solltest Du verzweifeln in den Tagen Deines blühenden Alters?«

Die strenge und ernste Stimme des alten Gefangenen war allmählig weich geworden und hatte fast den Ton väterlicher Rührung angenommen. Ethel stand stumm vor ihm. Plötzlich wandte sie sich mit einer fast krampfhaften Bewegung ab, sank auf die Kniee und bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen, als wollte sie die Thränen und Seufzer ersticken, die unwiderstehlich ihrem gepreßten Herzen entströmten.

Der Vater schüttelte das greise Haupt, lächelte bitter und warf einen ernsten Blick auf seine Tochter: »Ethel,« sprach er, »warum weinst Du, während Du doch nicht unter den Menschen lebst?«

Kaum hatte er diese Worte gesprochen, so erhob sich das sanfte und edle Geschöpf von der Erde. Die kindliche Liebe gab ihr die Kraft, ihren Schmerz tief in ihr Inneres zu verschließen. Sie fuhr mit ihrer Leibbinde über die Augen und gebot ihren Thränen Stillstand.

»Verzeihen Sie mir, mein Vater,« sagte sie, »es war nur ein Anfall von Schwäche.«

Sie heftete einen aus Thränen lächelnden Blick auf den verehrten Greis, holte die Edda, setzte sich neben ihren schweigsamen Vater und öffnete das Buch auf Gerathewohl. Sie bezwang die Rührung ihrer Stimme und las; aber der Ton ihrer Stimme verflog nutzlos, denn weder sie noch ihr Vater achteten darauf.

»Genug, meine Tochter!« sagte der Greis und gab ein Zeichen mit der Hand.

Sie schloß das Buch.

»Ethel,« fragte der Vater, »denkst Du bisweilen an Ordener?«

Die Jungfrau bebte.

»An jenen Ordener,« fuhr der Vater fort, »der abgereist ist …« »Warum an ihn denken, mein Vater?« unterbrach ihn Ethel. »Ich denke, wie Sie, daß er nie wiederkehren wird.«

»Nie wiederkehren, meine Tochter! Das könnte ich nicht sagen. Im Gegentheil sagt mir irgend eine Ahnung, daß er wiederkommen wird.«

»So dachten Sie nicht, mein Vater, als Sie mit so vielem Mißtrauen von diesem jungen Manne sprachen.«

»Habe ich denn mit Mißtrauen von ihm gesprochen?«

»Ja, mein Vater, und ich trete Ihrer Meinung bei; ich glaube, daß er uns getäuscht hat.«

»Daß er uns getäuscht hat, meine Tochter! Wenn ich ihn so beurtheilte, so habe ich gehandelt, wie alle Menschen, die ohne Beweis verdammen. Ich habe von diesem Ordener lauter Zusicherungen seiner Ergebenheit erhalten.«

»Und wissen Sie denn, mein ehrwürdiger Vater, ob hinter diesen treuherzigen Worten nicht treulose Gesinnungen versteckt waren?«

»In der Regel drängen sich die Menschen nicht zu dem ohnmächtigen Unglück. Wenn dieser Ordener nicht Anhänglichkeit an mich gefühlt hätte, wäre er nicht so ohne Zweck in meinen Kerker gekommen.«

»Wissen Sie gewiß,« fuhr Ethel mit schwacher Stimme fort, »daß er keinen Zweck dabei hatte?«

»Und welchen denn?« fragte lebhaft der Greis.

Die Jungfrau schwieg.

Es kostete sie zu viel Mühe, den geliebten Ordener, den sie sonst gegen ihren Vater vertheidigt hatte, jetzt vor ihm anzuklagen.

»Ich bin nicht mehr der Graf von Greiffenfeld,« fuhr der alte Gefangene fort. »Ich bin nicht mehr der Großkanzler von Dänemark und Norwegen, nicht mehr der begünstigte Vertheiler der königlichen Gnadenspenden, der allmächtige Minister, sondern ein armseliger Staatsgefangener, ein Geächteter, ein politisch Verpesteter. Es beweist schon Muth, wenn man gegen diese Menschen, die ich mit Ehre und Reichthum überhäuft habe, meiner nur ohne Verwünschung erwähnt; es ist Entsagung, wenn man die Schwelle dieses Kerkers betritt, außer man wäre ein Kerkermeister oder Henker! Es ist Heldenmuth, wenn man sie als mein Freund betritt. Nein, ich will nicht undankbar sein, wie dieses ganze menschliche Geschlecht. Dieser junge Mann hat meine Dankbarkeit verdient, und wenn es für nichts Anderes wäre, als daß er mir ein wohlwollendes Gesicht gezeigt hat und mich eine tröstende Stimme vernehmen ließ.«

Diese Sprache, die einige Tage früher die Jungfrau entzückt hätte, zerschnitt jetzt ihr Herz. Der Greis fuhr mit feierlicher Stimme fort: »Höre, meine Tochter, ich will jetzt ein ernstes Wort zu Dir reden. Ich fühle, daß meine Kräfte schwinden, das Leben zieht sich allmählig aus diesem abgelebten Körper zurück, ich fühle, daß mein Ende naht.«

Ethel unterbrach ihn durch einen halberstickten Seufzer.

»Um Gotteswillen, mein Vater, reden Sie nicht so! Schonen Sie Ihre arme Tochter! Wollen Sie mich einsam zurücklassen auf der Welt? Was soll dann aus mir werden? Was bin ich ohne Ihren Schutz?«

»Der Schutz eines Geächteten!« sagte der Greis mit Kopfschütteln. »Doch eben daran denke ich ja. Die Sorge für Dein künftiges Glück, meine Tochter, drückt mich mehr, als das Andenken an mein vergangenes Unglück. Darum höre die Worte Deines Vaters. Dieser Ordener verdient Dein strenges Urtheil nicht, und ich glaubte bis jetzt, daß Du keine solche Abneigung gegen ihn hättest. Sein Aeußeres ist edel und offen, was zwar allerdings nichts für sein Inneres beweist; aber ich muß gestehen, daß er mir nicht ohne einige Tugenden scheint, obwohl das menschliche Herz den Keim aller Laster und Verbrechen in sich trägt. Keine Flamme ist ohne Rauch.

»Im Vorgefühl meines nahen Todes,« fuhr der Greis feierlich fort, »habe ich an Dich und ihn gedacht, und wenn er zurückkommt, wie ich hoffe, so gebe ich ihn Dir zum Beschützer und Gatten.«

Die Jungfrau erbleichte. In demselben Augenblicke, wo ihre Träume für immer in Rauch zerflogen waren, wollte ihr Vater sie verwirklichen. Der bittere Gedanke: »Ich konnte also glücklich sein!« gab ihrer Verzweiflung ihre ganze Kraft wieder. Sie blieb einen Augenblick sprachlos, damit die glühenden Thränen, die in ihrem Auge starrten, ihm nicht entfliehen möchten.

»Wie, mein Vater!« sagte sie endlich mit erloschener Stimme, »Sie wollten mich einem Unbekannten zum Weibe geben, dessen Namen, dessen Geburt, dessen Familie Sie nicht kennen?«

»Ich wollte Dich ihm nicht geben, ich gebe Dich ihm,« erwiederte der Vater in fast gebietendem Tone.

Ethel seufzte.

»Ich gebe Dich ihm, sage ich. Was liegt mir an seiner Geburt? Was geht mich seine Familie an? Er ist der einzige Rettungsanker, der Dir übrig bleibt. Ich glaube, daß er nicht denselben Widerwillen gegen Dich hegt, wie Du gegen ihn.«

Das arme Mädchen hob ihre Augen gen Himmel.

»Du hörst es, Ethel, ich kümmere mich nichts um seine Geburt. Er ist ohne Zweifel von gemeinem Stande, denn in den Palästen der Großen lehrt man diejenigen, die darin geboren werden, nicht, die Hütten der Unglücklichen und die Kerker der Gefangenen zu besuchen. Wozu diese stolzen Rückerinnerungen? Ethel Schuhmacher ist nicht mehr Prinzessin von Wollin und Gräfin von Tongsberg! Du bist tiefer gefallen, als Dein Vater stand, da er sich erhoben hat. Schätze Dich also glücklich, wenn dieser Mann Deine Hand annimmt, welches auch seine Familie sei. Ist er von niederem Stande, desto besser, dann wird Dein Leben wenigstens vor den Stürmen sicher sein, die Dein Vater überstanden hat. Du wirst ferne vom Neid und Haß der Menschen, unter irgend einem unbekannten Namen ein verborgenes Dasein verleben, das glücklicher enden wird, als die Laufbahn meiner Größe …«

Ethel war vor ihrem Vater auf die Kniee gesunken.

»O, mein Vater! … Gnade!«

Der Greis öffnete erstaunt seine Arme.

»Was willst Du damit sagen, mein Kind?«

»Um Gotteswillen, schildern Sie mir ein Glück nicht, das mir nicht beschieden ist!«

»Ethel, spiele nicht mit Deinem ganzen künftigen Lebensglück! Ich habe die Hand einer Prinzessin von königlichem Geblüt, einer Prinzessin von Holstein-Augustenburg ausgeschlagen, und mein Stolz ist grausam bestraft worden. Du willst einen ehrlichen Mann abweisen, weil er nicht von hoher Geburt ist. Zittere, Du möchtest eben so hart gezüchtigt werden!«

»Möchte doch dieser Ordener ein rechtlicher unbekannter Mann sein!« murmelte Ethel.

Der Greis erhob sich und ging mit heftigen Schritten durch das Zimmer.

»Mein Kind, es ist Dein armer alter Vater, der Dich bittet und Dir befiehlt. Versprich mir, diesen Fremdling zum Gatten anzunehmen, damit ich ruhig sterben kann.«

»Ich werde Ihnen immer gehorchen, mein Vater! Doch zählen Sie nicht aus seine Rückkehr …«

»Ich habe die Wahrscheinlichkeiten abgewogen, und nach dem Tone, womit dieser Ordener Deinen Namen aussprach, glaube ich …«

»Daß er mich liebt!« unterbrach ihn die Tochter mit Bitterkeit. »O, nein, glauben Sie das nicht!«

»Ich weiß nicht, ob er Dich liebt; aber ich weiß, daß er zurückkommen wird.« »Geben Sie diesen Gedanken auf, mein edler Vater! Und wenn Sie diesen Fremdling kennten, so würden Sie nicht mehr wünschen, daß er der Gatte Ihrer Tochter sei.«

»Er wird es sein, welches auch sein Name und sein Stand sei.«

»Wenn nun,« erwiederte die Jungfrau feierlich, »dieser Unbekannte, in welchem Sie einen Tröster, den künftigen Beschützer Ihrer Tochter erblicken, der Sohn eines Ihrer Todfeinde, des Vicekönigs von Norwegen, des Grafen Guldenlew wäre?«

Der Greis wich drei Schritte zurück: »Was sagst Du da? Großer Gott! Ordener! Dieser Ordener! … Das ist unmöglich! …«

Der unaussprechliche Ausdruck von Haß, der sich in allen Zügen des alten Mannes malte, erfüllte Ethels Herz mit Schauder, und sie bereute das unkluge Wort, das sie gesprochen hatte.

Der Schlag war gefallen. Der Greis blieb einige Augenblicke unbeweglich mit gekreuzten Armen; sein ganzer Körper zitterte, seine flammenden Augen schienen den kalten Stein des Fußbodens durchdringen zu wollen. Allmählig entfuhren seinen blauen Lippen einige mit schwacher Stimme von einem Träumenden ausgesprochenen Worte.

»Ordener! … Ja, so ist es, Ordener Guldenlew! … So ist es! … Ganz richtig! … Schuhmacher, alter Thor, öffne ihm doch deine Arme, dieser redliche junge Mensch kommt, um dir den Dolch ins Herz zu stoßen …«

Plötzlich stampfte er mit dem Fuß auf den Boden, und seine Stimme ward donnernd.

»Ha! So haben sie mir denn ihr ganzes schändliches Geschlecht auf den Hals geschickt, mich in meinem Falle zu verhöhnen! Ich mußte einen Ahlfeldt vor Augen sehen! Ich habe einem Guldenlew zugelächelt! … Die Unmenschen! Wer hätte von diesem Ordener geglaubt, daß er diesen Namen führe, daß er ein solches Herz habe! Wehe mir! Wehe ihm!«

Der Greis fiel erschöpft in seinen Lehnsessel. Seine Brust arbeitete gewaltig. Seine weinende Tochter saß zu seinen Füßen.

»Weine nicht, meine Tochter!« sagte der Greis mit düsterer Stimme. »Komm an mein Herz!«

Er drückte sie an seine Brust.

»Du hast heller gesehen, junges Mädchen,« fuhr er fort, »als Dein alter Vater. Die giftige Schlange mit den Taubenaugen hat Dich nicht getäuscht. Ich danke Dir für Deinen Haß gegen diesen schändlichen Ordener.«

»Mein Vater, beruhigen Sie…«

»Schwöre mir, stets die nämlichen Gesinnungen gegen Guldenlews Sohn zu hegen!«

»Gott verbietet den Schwur, mein Vater!«

»Schwöre es mir, meine Tochter! Schwöre mir, immer die nämlichen Gesinnungen gegen diesen Ordener Guldenlew zu hegen!«

Ethel konnte mit Wahrheit antworten: »Immer!«

»Wohl, meine Tochter! Ich vermache Dir meinen Haß gegen sie, denn Ehre und Gut haben sie mir geraubt, und ich kann Dir sonst nichts hinterlassen. Die Elenden! Und ich war es, dem sie Macht und Ehre verdanken! Im Namen des Himmels und der Hölle verfluche ich sie in ihrem Dasein und in ihrer fernsten Nachkommenschaft!«

Der Greis schwieg einige Augenblicke und fuhr dann fort: »Aber sage mir, mein Kind, wie hast Du entdeckt, daß dieser Verräther einen der verabscheuten Namen führte, die mit Gift und Galle in mein Herz geschrieben sind? Wie bist Du hinter dieses Geheimniß gekommen?«

Die Jungfrau nahm alle ihre Kraft zusammen, diese Frage zu beantworten, als plötzlich die Thüre sich öffnete. Ein schwarz gekleideter Mann, einen Stab von Ebenholz in der Hand und eine gebräunte Stahlkette um den Hals, erschien auf der Schwelle, umgeben von schwarz gekleideten Hellebardieren.

»Was willst Du von mir?« fragte der Gefangene mit unwilligem Staunen.

Ohne zu antworten und ohne ihn nur anzusehen, rollte der Mann ein langes Pergament aus, an welchem ein Siegel von grünem Wachs an einer seidenen Schnur hing, und las mit lauter Stimme:

»Im Namen Sr. Majestät, unseres allergnädigsten Königs und Herrn, König Christiern!

»Kund und zu wissen dem Staatsgefangenen Schuhmacher in der königlichen Festung Munckholm und dessen Tochter, daß sie dem Vorweiser dieses zu folgen haben.«

»Was willst Du von mir?« wiederholte der Gefangene.

Statt aller Antwort begann der schwarze Mann abermals das königliche Dekret abzulesen.

»Schon gut!« sagte der Greis.

Er stand auf und gab seiner erstaunten Tochter ein Zeichen, mit ihm diesem Unglücksboten zu folgen.