Cosette bewahrte auch im Kloster ihr Schweigen.

Sie hielt sich natürlich für die Tochter Johann Valjeans. Uebrigens da sie nichts wußte, konnte sie nichts sagen; in jedem Fall würde sie auch nichts gesagt haben. Cosette hatte so viel gelitten, daß sie Alles, selbst das Reden, fürchtete. Wie oft hatte ein Wort ihr einen wahren Hagel von Schlägen zugezogen. An das Kloster gewöhnte sie sich schnell. Sie bedauerte nur, daß sie ihre Puppe nicht haben konnte, aber sie wagte es nicht zu sagen. Einmal nur sagte sie zu Johann Valjean: »Vater, hätte ich es gewußt, so würde ich sie mitgenommen haben.«

Als Pensionärin des Klosters mußte Cosette die Kleidung der Schülerinnen des Hauses anlegen. Johann Valjean erlangte die Erlaubniß, daß man ihm das Kleid überließe, das sie ablegte. Es war dasselbe Trauerkleid, mit dem er sie bekleidet, als sie das Haus Thenardiers verließen. Johann Valjean schloß alle die kleinen Gegenstände Cosettens, auch die Strümpfe und Schuhe nebst vielem Kampher und Wohlgerüchen, die in den Klöstern in Masse zu haben sind, in einen kleinen Koffer ein, welcher auf einem Stuhl neben seinem Bett stand. Den Schlüssel dazu trug er stets bei sich. »Vater,« fragte ihn eines Tages Cosette, »Was ist denn das für eine Schachtel, die so gut riecht?«

Wenn die Nonnen etwas von dem Blicke Javerts gehabt hätten, würden sie endlich haben bemerken können, daß wenn etwas Geschäftliches außerhalb des Klosters zu besorgen war, immer der ältere Fauchelevent ging, der alte, gebrechliche, lahme, nie der andere; aber sei es weil die immer auf Gott gerichteten Augen nicht spioniren können, sei es, weil sie lieber unter einander Beobachtungen anstellen, kurz sie achteten nicht darauf.

Uebrigens that Johann Valjean wohl daran, sich ruhig zu verhalten und sich nicht zu rühren, denn Javert ließ die Gegend noch über einen ganzen Monat bewachen.

Das Kloster war für Johann Valjean gleichsam eine rings von Abgründen und Schlünden umgebene Insel. Die vier Mauern waren von nun an für ihn die Welt. Er sah darin von dem Himmel genug, um heiter, und Cosetten so oft, um glücklich zu sein.

Es begann für ihn ein stilles, angenehmes Leben.

Er arbeitete alle Tage im Garten und machte sich sehr nützlich. Da er früher Baumschäler gewesen, so fand er sich auch bald als Gärtner zurecht. Man erinnert sich, daß er allerlei Recepte und geheime Mittel für den Ackerbau kannte. Daraus zog er Nutzen. Beinahe alle Bäume im Garten waren Wildlinge. Er pfropfte viele Bäume und zog vortreffliches Obst.

Cosette hatte die Erlaubniß alle Tage eine Stunde bei ihm zu sein.

Da die Schwestern traurig waren, er aber freundlich, so verglich ihn das Kind mit den Nonnen und vergötterte ihn. Zur bestimmten Stunde flog sie nach der Gärtnerhütte. Wenn sie in das Hüttchen kam, erfüllte sie es mit dem Paradiese. Johann Valjean fühlte sein Glück wachsen mit dem Glücke, das er dem Kinde bereitete. Die Freude, die wir bereiten, hat den Reiz, daß sie, weit entfernt sich zu schwächen wie jeder Widerschein, mit stärkerem Strahle auf uns zurückfallt. In den Erholungsstunden sah ihr Johann Valjean von Weitem zu, wie sie spielte und lief, und ihr Lachen kannte er; denn jetzt »lachte« Cosette.

Sogar das Gesicht Cosetten’s hatte sich in einem gewissen Grade verändert. Das Düstere war daraus verschwunden. Das Lachen ist die Sonne; es vertreibt den Winter aus dem menschlichen Gesichte.

Wenn Cosette nach der Spielstunde in das Kloster zurückging, sah Johann Valjean nach den Fenstern ihrer Klasse; des Nachts stand er auf um nach den Fenstern ihres Schlafsaales zu sehen.

Gott hat seine Wege. Das Kloster trug, wie Cosette, dazu bei, in Johann Valjean das Werk des Bischofs aufrecht zu erhalten und zu vervollständigen. Eine Seite der Tugend grenzt sicherlich an den Stolz. Dieser ist eine vom Teufel gebaute Brücke. Johann Valjean war vielleicht, ohne daß er es wußte, dieser Seite und dieser Brücke nahe, als die Vorsehung ihn in das Kloster von Klein-Picpus warf. So lange er sich nur mit dem Bischofe verglichen, hatte er sich unwürdig gefunden und war demüthig gewesen; seit einiger Zeit aber fing er an sich mit den Menschen zu vergleichen und der Stolz regte sich in ihm. Wer weiß? Vielleicht wäre er dadurch ganz allmälig wieder dem Princip des Hasses verfallen.

Das Kloster hielt ihn auf diesem abschüssigen Wege auf.

Es war der zweite Gefängnißort, den er sah. In seiner Jugend, in dem Beginne seines Lebens und später, ganz neuerlich noch, hatte er einen anderen gesehen, einen furchtbaren, schrecklichen Ort, dessen Strenge ihm immer als das Unrecht der Justiz und das Verbrechen des Gesetzes erschienen war. Jetzt sah er nach dem Bagno das Kloster, und wenn er bedachte, daß er Mitglied des Bagno gewesen und jetzt Zuschauer im Kloster sei, verglich er diese beiden Gefängnißorte im Geiste mit einander.

Bisweilen stützte er sich auf den Spaten und versenkte sich langsam in die grundlosen Schlangenwindungen seiner träumerischen Gedanken.

Er erinnerte sich seiner ehemaligen Gefährten und der strengen Zucht ihrer Lebensweise.

Dann wieder betrachtete er die Wesen, welche er jetzt vor Augen hatte und welche einem nicht minder strengen, vielleicht einem noch härteren Leben unterworfen waren.

Die einen waren Männer, diese waren Frauen.

Was hatten die Männer gethan? Sie hatten gestohlen, geraubt, gemordet. Was hatten diese Frauen gethan? Sie hatten nichts verbrochen.

Auf der einen Seite alle Arten Verbrechen und Verletzungen der öffentlichen Moral, auf der anderen nur Eins: Unschuld, vollkommene Unschuld, die mit der Erde durch die Tugend, mit dem Himmel durch ihre Heiligkeit in Verbindung stand.

Auf der einen Seite Verbrechen, die Einer dem Andern leise anvertraut; auf der anderen laute Beichte geringer Uebertretungen. Und welche Verbrechen! Und was für Uebertretungen!

Zwei Orte der Sclaverei, aber in dem ersten eine mögliche Befreiung, eine gesetzliche Grenze und die Flucht. In dem zweiten die Ewigkeit der Sclaverei, und als Hoffnung, am fernsten Ende der Zukunft, jener Schein der Freiheit, welchen die Menschen Tod nennen.

Im ersten war man nur durch Ketten gefesselt, im zweiten durch seinen Glauben.

Was entstand aus dem ersten? Ein unermeßlicher Fluch, Zähneknirschen, Haß, verzweiflungsvolle Bosheit, ein Wuthschrei gegen die menschliche Gesellschaft, eine Verhöhnung der Gottheit.

Was entsteht aus dem zweiten? Segen und Liebe.

Johann Valjean begriff sehr wohl die eine Buße, die persönliche, die für sich selbst. Aber er begriff nicht die andere, die jener Geschöpfe ohne Vorwurf und Flecken, und mit Zittern fragte er sich: Weshalb büßen sie?

Eine Stimme antwortete in seinem Gewissen: die göttlichste Art des menschlichen Edelmuthes ist die Buße für Andere.

Er hatte den höchsten Gipfel der Selbstverläugnung und die höchste Höhe der möglichen Tugend vor Augen: die Unschuld, welche den Menschen ihre Vergehen verzeiht und dieselben für sie büßt; sanfte, schwache Wesen mit dem Elende derer, welche bestraft, und mit dem Lächeln jener, die belohnt werden.

Und er erinnerte sich daran, daß er zu klagen gewagt habe!

Oftmals stand er mitten in der Nacht auf, um den Dankgesang jener Schuldlosen, von Strenge niedergedrückten Geschöpfe anzuhören und fühlte es eiskalt in seinen Gliedern, wenn er daran dachte, daß diejenigen, welche mit Recht ihre Züchtigung erhalten, ihre Stimme zum Himmel nur erheben, um zu lästern und daß auch er, der Elende, Gott mit der Faust gedroht habe.

Leise flüsterte es in ihm: Mauern hast du überstiegen, Schlösser erbrochen, todesgefährliche Abenteuer gewagt, um aus dem ersten Orte der Buße zu entkommen, jetzt hast du dasselbe gethan, um in diesen Ort der Buße herein zu kommen.

Gitter, Riegel, Eisenstangen sah er wieder und zwar, um wen zu hüten? Engel.

Diese hohen Mauern, welche zur Bewachung von Tigern geeignet gewesen wären, sah er hier rings um eine Heerde unschuldiger Lämmer gezogen.

Es war ein Ort der Buße, nicht der Strafe, und dennoch war er viel düsterer, strenger, unbarmherziger als der andere. Ein kalter, rauher Wind, jener Wind, welcher seine Jugend erkältet hatte, stürmte durch das vergitterte Grab der Geier im Bagno, ein noch schärferer und schmerzlicherer Wind wehte in dem Käfig der Tauben im Kloster.

Warum?

Wenn er daran dachte, so verlor sich Alles, was in ihm war, in diesem Mysterium der Erhabenheit.

Bei solchen Betrachtungen schwand sein Stolz; er ging häufig in sich, fühlte sich gering und unbedeutend und weinte oft. Alles was seit sechs Monaten in sein Leben getreten war, führte ihn zu den heiligen Ermahnungen des Bischofs zurück; Cosette durch Liebe, das Kloster durch Demuth.

Bisweilen, Abends in der Dämmerung, in der Zeit wenn der Garten vereinsamt war, sah man ihn mitten in der Allee, welche an der Kapelle hinführte, vor dem Fenster, durch das er in der Nacht seiner Ankunft hineingesehen hatte, in knieender Stellung nach der Stelle zu, wo er wußte, daß die die reparatio verrichtende Schwester ausgestreckt dalag. So betete er knieend vor dieser Schwester. Vor Gott direct zu knieen, schien er nicht zu wagen.

Alles was ihn umgab, der friedliche Garten, die fröhlichen spielenden Kinder, die ernsten und einfachen Frauengestalten, das stille Kloster, alles dieses durchdrang ihn langsam, und allmälig erfüllte sich seine Seele mit Stille wie dieses Kloster, mit Frieden wie der Garten, mit Einfachheit wie die Nonnen, mit Freude wie die Kinder. Er dachte daran, wie ihn zwei Gotteshäuser nacheinander, in den gefährlichsten Augenblicken seines Lebens, aufgenommen hatten: das erste als alle Thüren sich vor ihm verschlossen und die menschliche Gesellschaft ihn zurückstieß, das zweite als die menschliche Gesellschaft sich wieder aufmachte ihn zu verfolgen und der Bagno sich von neuem hinter ihm öffnete. Er bedachte, wie er ohne das erste wieder in das Verbrechen, ohne das zweite in die Strafe zurückgefallen wäre.

Sein ganzes Herz zerfloß in Dankbarkeit. –

So vergingen mehrere Jahre.

Mittlerweile wuchs Cosette heran.

 

Ende des vierten Bandes.