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I.

Plus quam civilia bella8

Der Sommer des Jahres 1792 war sehr regnerisch gewesen; der Sommer des Jahres 93 war sehr heiß. Dank dem Bürgerkrieg gab es sozusagen keine Wege mehr in der Bretagne, aber gereist wurde doch; der schöne Sommer ließ es zu; kein besseres Reisen als auf trockenem Boden.

Am Abend eines klaren Julitages, etwa eine Stunde nach Sonnenuntergang, hielt ein Mann, der von Avranches hergeritten kam, am Eingang von Pontorson vor dem kleinen Wirthshaus von La Croix-Branchard, auf dessen Schild vor einigen Jahren noch zu lesen war: »Bon cidre à dépoteyer« (Hier wird guter Apfelwein verzapft). Es war ein heißer Tag gewesen, aber jetzt erhob sich der Wind. Der Reiter war in einen weiten Mantel gehüllt, der das Kreuz seines Pferdes bedeckte, und trug einen breitkrämpigen Hut mit der dreifarbigen Kokarde, was eine gewisse Kühnheit verrieth, denn in jenem Lande der Hecken und Büchsenschüsse war eine Kokarde eine Zielscheibe. Unterhalb des festgebundenen Kragens ging der Mantel auseinander, um den Armen des Reisenden freien Spielraum zu geben, und ließ eine dreifarbige Schärpe und darüber zwei Pistolenkolben durchblicken; unterhalb des Saums hing eine Säbelscheide herab. Als das Pferd stillstand, ging das Hausthor auf und der Wirth erschien mit einer Laterne auf der Schwelle. Es war gerade die Dämmerstunde: auf der Straße noch Tag und im Zimmer schon Nacht.

– Bürger, sagte der Wirth, nachdem er sich die Kokarde angesehen, steigen Sie hier ab? – Nein. – Wohin wollen Sie denn? – Nach Dol. – Dann rathe ich Ihnen, nach Avranches zurückzureiten oder hier in Pontorson zu bleiben. – Warum? – Weil man sich schlagt in Dol. – So! sagte der Fremde, und setzte dann hinzu: geben Sie dem Pferde Hafer.

Der Wirth trug die Krippe herbei, schüttete einen Sack voll Hafer hinein und zäumte den Gaul ab, der sich schnaubend über sein Futter hermachte. Das Gespräch spann sich weiter fort:

– Bürger, haben Sie da ein requirirtes Pferd? – Nein. – Es gehört Ihnen? – Ja. Ich habe es gekauft und bezahlt. – Woher kommen Sie, Bürger? – Von Paris. – Doch nicht geraden Weges? – Nein. – Kann mir’s denken; die Straßen sind versperrt. Aber die Post, die fährt noch. – Bis Alençon; dort bin ich ausgestiegen. – Ach! Eine Post wird es in Frankreich bald nicht mehr geben. Wo soll man die Pferde hernehmen? Für einen Gaul von dreihundert Franks werden heutigen Tages sechshundert gezahlt und das Futter ist sündentheuer. Ich bin Postmeister gewesen und muß mich jetzt auf den Ausschank verlegen. Von den dreizehnhundertunddreizehn Postmeistern, die es gegeben hat, sind wir bereits unser zweihundert, die nicht mehr mitthun. Sind Sie nach dem neuen Tarif gereist, Bürger? – Nach dem vom ersten Mai, ja. – Erster Platz zwanzig Sous, zweiter zwölf und dritter fünf Sous. In Alençon also haben Sie das Pferd da gekauft? – Ja. – Und sind heute den ganzen Tag über geritten? – Seit Sonnenaufgang. – Und gestern auch? – Auch vorgestern. – Weiß jetzt; Sie kommen über Domfront und Mortaint. – Und Avranches. – Hören Sie auf mich, Bürger, und rasten Sie aus. Sie werden doch wohl müde sein? Der Gaul hat auch genug. – Pferde dürfen müde werden, der Mensch nicht.

Der Wirth schaute abermals zu dem ernsten, ruhigen, strengen, von grauem Haar umrahmten Gesicht des Fremden forschend empor; dann, nachdem er einen Blick auf die unabsehbar öde Landstraße geworfen, fragte er wieder:

– Und reisen so mutterseelenallein? – Nicht doch. – Wieso? – Ich habe meinen Säbel und meine Pistolen bei mir.

Nun holte der Wirth einen Eimer, gab dem Pferd zu trinken und sagte zu sich selber, indem er, während das Thier seinen Durst löschte, den Fremden unausgesetzt betrachtete: Gleichviel, wie ein Geistlicher sieht er doch aus.

– Sie sagen, daß man sich zu Dol schlägt? fragte der Reisende. – Ja; gerade jetzt soll’s losgehen. – Wer schlägt sich denn dort? – Zwei vom Adel. – Sie meinen? … – Ich meine, daß ein Adeliger, der zur Republik hält, sich gegen einen Adeligen schlägt, der zum König hält. – Den giebt’s ja nicht mehr. – Den Kleinen meine ich. Und das Sonderbare bei der Geschichte ist, daß die zwei Adeligen noch obendrein nahe Verwandte sind.

Da der Fremde aufmerksam zuhörte, erzählte der Wirth weiter: Der eine ist jung, der andere alt, Großneffe und Großonkel; der Alte ist Royalist und der Junge Patriot; der Onkel kommandirt die Weißen und der Neffe die Blauen. Die geben einander keinen Pardon; das steht fest. Sie bekämpfen einander bis auf den Tod. – Bis auf den Tod? – Jawohl, Bürger. Da schauen Sie nur einmal her, was die sich für Artigkeiten an den Kopf werfen. Das hier ist ein Zettel, den der Alte, Gott weiß wie, überall anzubringen versteht; an jeden Hof und jeden Baum, ja sogar an mein eigenes Hausthor ist er angeschlagen worden.

Der Wirth leuchtete mit seiner Laterne auf ein Plakat, das an einem der Thürflügel klebte, und so groß gedruckt war, daß es der Reisende vom Pferde herab lesen konnte.

»Der Marquis von Lantenac giebt sich die Ehre, seinem Großneffen, dem Herrn Vikomte Gauvain, zur Kenntniß zu bringen, daß, wenn dem Herrn Marquis das Glück zu Theil werden sollte, sich seiner Person zu bemächtigen, er so frei sein wird, den Herrn Vikomte nach aller Form Rechtens über die Klinge springen zu lassen.«

– Und hier, fuhr der Wirth fort, ist die Antwort. Er wendete sich seitwärts und leuchtete mit der Laterne auf ein anderes Plakat, das in gleicher Höhe wie das erste am andern Thürflügel klebte. Der Fremde las die bündigen Worte:

»Gauvain thut Lantenac zu wissen, daß er, falls er ihn fängt, ihn standrechtlich erschießen lassen wird.«

– Gestern, bemerkte der Wirth, ist der eine Zettel hier angeschlagen worden und heute früh der zweite. Die Antwort hat nicht auf sich warten lassen.

Der Reisende sprach halblaut und wie zu sich selber ein paar Worte, die der Wirth hörte, ohne sie sonderlich zu verstehen: Ja, das ist noch mehr als der Bürgerkrieg; es ist der Krieg in der Familie. So muß es sein, und so ist es auch recht. Eine große Verjüngung ist nicht billiger zu haben. Und der Fremde, dessen Blick noch immer am zweiten Plakat haftete, erhob die Hand zum Hut und machte ihm die Honneurs.

– Wissen Sie, Bürger, fuhr der Wirth fort, die Dinge liegen so: In den größeren Städten und Marktflecken sind wir für die Revolution; auf dem Land sind sie dagegen; mit anderen Worten, die Städte sind französisch und in den Dörfern ist man bretonisch. Es ist eben ein Krieg zwischen Bürgers- und Bauersleuten. Sie schimpfen uns Patschfüße und wir schimpfen sie Dickschädel, und hinter ihnen stecken die Adeligen und die Geistlichkeit.

– Nicht Alle, unterbrach der Fremde.

– Freilich nicht; sehen wir doch selber, wie ein Vikomte einem Marquis zusetzt, sagte der Wirth und dachte bei sich: Und entweder bin ich blind, oder ich habe es mit einem Priester zu thun.

– Wer von beiden behält die Oberhand? fragte der Reisende.

– Bis jetzt der Vikomte. Aber es kostet Hitze. Der Alte hat Haare auf den Zähnen. Sind aus einem alten Geschlecht aus der hiesigen Gegend, die Leute; die Familie zerfällt in zwei Linien, in die Hauptlinie mit dem Marquis von Lantenac als Oberhaupt und in die Seitenlinie mit dem Vikomte Gauvain. Jetzt raufen die beiden Linien mit einander. Ja, bei den Bäumen kommt so was nicht vor, aber bei den Stammbäumen schon. Dieser Marquis von Lantenac ist in der Bretagne allmächtig; den Bauern gilt er für einen Fürsten. Am Tage, wo er gelandet ist, hat er im Handumdrehen achttausend Mann um sich gehabt und innerhalb einer Woche waren dreihundert Gemeinden in Aufruhr; und wenn er von der Küste nur so viel hätte besetzen können, hatten wir die Engländer am Hals. Glücklicherweise war aber jener Gauvain bei der Hand, sein Großneffe – schnurrige Geschichte das. Er ist der Kommandant der Republikaner und hat seinem Herrn Onkel heimgeleuchtet. Und dann hat auch das Glück gewollt, daß dieser Lantenac, der gleich bei seiner Ankunft eine Menge Gefangener umgebracht hat, zwei Weiber miterschießen ließ, wovon die eine drei Kinder hatte, die von einem Pariser Bataillon angenommen worden waren. Daraufhin wurde das Bataillon teufelswild; Bonnet-Rouge heißt es. Sind ihrer zwar nicht mehr viel, aber das Donnerwetter haben sie in ihren Bajonetten, diese Pariser. Man hat sie der Kolonne von Gauvain zugetheilt. Nichts hält vor ihnen Stand. Sie wollen die Weiber rächen und die Kinder wieder haben. Was der Alte angefangen hat mit den Kleinen, darüber ist man im Unklaren. Das macht die Pariser Grenadiere ganz rabiat. Ja, wären die Kinder nicht, so würde Manches in diesem Kriege unterbleiben. Der Vikomte ist ein guter, wackerer junger Mann; aber der Alte ist ein scheußlicher Marquis. Die Bauern heißen das den Kampf des heiligen Michael mit Belzebub. Sie wissen vielleicht, daß der Erzengel Michael ein Landespatron ist; er hat einen eigenen Berg mitten im Meer, in der Bucht. Es wird von ihm erzählt, er habe den Teufel niedergestochen und hier in der Nähe unter einem anderen Berg begraben, unter dem Tombelaine.

– Ja, murmelte der Fremde, Tumba Beleni, das Grab des Belenus oder Belus, Baal, Belial, Belzebub.

– Sie wissen davon, wie ich höre. Und der Wirth setzte wieder im Geist hinzu: Wahrhaftig, er redet lateinisch; jetzt ist kein Zweifel mehr. Dann fuhr er fort: Nun denn, Bürger, in den Augen der Bürger ist es jener Kampf, der aufs Neue losgeht. Der heilige Michael ist selbstverständlich kein Anderer, als der royalistische General und der republikanische muß für Belzebub herhalten; wenn aber hier einer der Satan ist, so ist es Lantenac, und der Engel ist Gauvain. Bürger, wollen Sie nicht eine Stärkung zu sich nehmen?

– Ich habe meine Feldflasche und ein Stück Brod bei mir. Aber Sie sagen mir nicht, was in Dol vor sich geht?

– Folgendes: Gauvain kommandirte also die Küstenkolonne. Lantenac hatte die Absicht, weit und breit alles auf die Beine zu bringen, die untere Bretagne mit der untern Normandie zu verbinden, Herrn Pitt die Thür aufzuschließen und dann mit zwanzigtausend Engländern und zweimalhunderttausend Bauern der großen Vendéer Armee auf die Strümpfe zu helfen. Nun hat Gauvain einen Strich durch die Rechnung gemacht. Er hält die Küste besetzt und treibt Lantenac ins Innere, die Engländer auf die hohe See zurück. Lantenac stand hier auch und hat weichen müssen; Gauvain hat ihm Pont-au-Beau wieder abgenommen, hat ihn aus Avranches verjagt, aus Villedieu verjagt und hat ihm den Weg nach Granville versperrt; er zielt jetzt darauf hin, ihn in den Wald von Fougères zurückzuwerfen und dort zu umzingeln. Gestern war noch alles im besten Gang; Gauvain war hier, mit seiner Kolonne. Da, plötzlich, wird er alarmirt. Der Alte, ein Fuchs, hat einen Vorstoß gegen Dol gemacht. Fällt die Stadt in seine Gewalt und pflanzt er auf dem Mont-Dol eine Batterie auf, denn Geschütz hat er ja, so beherrscht er einen Theil der Küste, wo dann die Engländer landen können, und alles ist hin. Und deshalb, weil keine Minute zu verlieren war und weil er ein heller Kopf ist, hat Gauvain blos bei sich selber Rath geholt, und ohne eine Ordre zu verlangen noch abzuwarten, zum Aufbruch blasen lassen, seine Artilleriepferde vorgespannt, seine Infanterie zusammengetrommelt, seinen Säbel gezogen, und so fällt nun, während Lantenac über Dol hinfällt, Gauvain über Lantenac her. Dort werden sie ihre zwei bretonischen Schädel gegeneinanderrennen; sie müssen bereits an Ort und Stelle sein.

– Wieviel Zeit braucht man bis Dol?

– Eine Kolonne mit Train mindestens drei Stunden; aber sie sind jedenfalls schon dort.

Der Fremde horchte auf und sagte: In der That, mich dünkt, ich höre die Kanonade.

Der Wirth lauschte gleichfalls: Jawohl, Bürger, auch Gewehrfeuer. Es wird zum Tanz aufgespielt. Sie sollten hier übernachten. Dort drüben läßt sich nichts Gescheutes einkaufen.

– Ich darf keine Zeit verlieren und muß weiter.

– Sie haben Unrecht. Zwar weiß ich nicht, was Sie für Geschäfte haben, aber Sie setzen alles aufs Spiel, und wenn es sich nicht um Ihr Liebstes handelt in dieser Welt …

– Darum handelt sichs freilich, unterbrach der Fremde.

– Etwa um einen Sohn …

– Ja, etwas dergleichen, sagte der Fremde.

Der Wirth schaute ihn an und sprach mit sich selber: Aber wie ein Priester sieht er doch aus. Dann besann er sich noch einen Augenblick: Ei was, das hat auch Kinder, so ein Priester.

– Zäumen Sie mein Pferd, sagte der Reiter. Was bin ich Ihnen schuldig?

Er zahlte. Der Wirth stellte Krippe und Eimer an die Mauer und trat dann wieder vor den Fremden hin: Wenn Sie durchaus fort wollen, nehmen Sie wenigstens einen guten Rath mit. Daß Sie nach Saint-Malo reisen, liegt auf der Hand. Nun denn, reiten Sie nicht durch Dol. Es giebt außer dem Weg über Dol noch einen Weg längs dem Meer, der kaum weiter ist als der andere: er geht über Saint-Georges de Brehaigne, Cherrueix und Hirel-le-Vivier, nördlich von Dol und südlich von Cancale. Am Ende dieser Straße, Bürger, zweigen sich die beiden Wege ab, der über Dol nach links, der über Saint-Georges de Brehaigne nach rechts. Merken Sie wohl auf: wenn Sie durch Dol reiten, gerathen Sie mitten ins Blutbad hinein; darum nicht links einbiegen, sondern rechts.

– Danke, sagte der Fremde und trieb sein Pferd an; bald war er, dem nachschauenden Rathgeber nicht mehr sichtbar, in der mittlerweile hereingebrochenen Nacht verschwunden. Am Straßenende, wo sich die Wege abzweigten, hörte er den Wirth von Weitem rufen: Rechts abschwenken, rechts!

Er schwenkte nach links.

II.

Dol

Dol, wie in den alten Urkunden geschrieben steht, eine spanische Stadt Frankreichs in der Bretagne, ist keine Stadt, nur eine Straße, eine lange, alte, gothische Straße, sehr breit, mit zwei unregelmäßigen Reihen von säulengetragenen vorspringenden oder zurücktretenden Häusern. Die übrige Stadt ist weiter nichts als ein Netz von Gäßchen, die mit der großen durchlaufenden Straße in Verbindung stehen und hineinmünden wie Bäche in einen Fluß. Ohne Thor noch Mauern, vom Mont-Dol überragt, konnte die offene Stadt keine Belagerung aushalten, wohl aber die Straße, denn die vorspringenden Häuser, die vor fünfzig Jahren noch zu sehen waren, und die zwei auf Säulen ruhenden Galerien zu beiden Seiten boten sehr günstige, widerstandsfähige Vertheidigungslinien. Jedes Haus war eine Festung, die gestürmt werden mußte, zumal die alte Markthalle, die ungefähr in der Mitte der Straße stand.

Der Wirth von La Croix-Branchard hatte Recht gehabt: im Augenblick, wo er sprach, wälzte sich durch Dol ein wüthendes Handgemenge, ein plötzlich über die Stadt hereingebrochener Zweikampf zwischen den Morgens angekommenen Weißen und den Abends eingetroffenen Blauen. Die Kräfte waren ungleich, denn die Weißen zählten sechstausend, die Blauen blos fünfzehnhundert Mann; gleich war jedoch die Erbitterung der Gegner. Merkwürdigerweise waren es die Fünfzehnhundert, welche die Sechstausend angegriffen hatten.

Auf der einen Seite ein Gewühl, auf der anderen eine Phalanx. Hier sechstausend Bauern mit Herzen Jesu auf den Lederjacken, weißen Bändern an den runden Hüten, christlichen Denksprüchen auf den Armbinden, Rosenkränzen am Gürtel, mit mehr Heugabeln als Säbeln und mit Stutzen ohne Bajonett, mit Kanonen, die sie selber an Seilen mit sich zogen, mit schlechter Montur, schlechter Disziplin, schlechten Waffen, aber voller Tollwuth. Dort fünfzehnhundert Soldaten mit Trikolorekokarden an den dreieckigen Hüten, in langen Röcken mit hohen Aufschlägen am gekreuzten Wehrgehänge, den kurzen Säbel mit Messinggriff und am Gewehr das lange Bajonett führend, eingeschult, in Reih und Glied, lenksam und unbändig, Leute, die zu gehorchen wissen, wie sie auch befehlen könnten, Freiwillige wie die Gegner, aber Freiwillige für das Vaterland, im Uebrigen zerfetzt und ohne Schuhe. Auf Seite der Monarchie mittelalterlich ritterliche Bauern, auf Seite der Revolution barfuß kämpfende Helden; beide Schaaren beseelt von ihrem Führer, die Royalisten von einem Greis, die Republikaner von einem Jüngling. Hie Lantenac, hie Gauvain.

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Die Revolution hat neben ihren gigantischen auch ihre idealen männlich jugendlichen Gestalten, neben Danton, Saint-Just und Robespierre einen Hoche und Marceau. Eine solche Gestalt war auch Gauvain. Er war dreißig Jahre alt, hatte die Figur eines Herkules, den schwärmerisch feierlichen Blick eines Propheten und konnte lachen wie ein Kind. Er rauchte nicht, trank nicht, fluchte nicht, führte mitten im Krieg ein Toilettenkästchen mit sich, pflegte sorgfältig seine Nägel, seine Zähne und sein prachtvolles braunes Haar und schüttelte, wenn er Halt kommandirt hatte, seinen bestaubten, von Kugeln durchlöcherten Hauptmannsrock selber aus. Trotzdem er sich immer tollkühn ins Handgemenge stürzte, war er nie verwundet worden. Seine sehr sanfte Stimme brach, wenn es Noth that, in ein ungestüm gebieterisches Schmettern aus. Wo es auf bloßer Erde zu übernachten galt, unter Sturmwind, Regen oder Schneegestöber, ging immer er mit dem guten Beispiel voran und legte sich in den Mantel gewickelt nieder, mit einem Stein als Kissen für sein anmuthiges Haupt. Er war eine unschuldvolle Heldenseele. Ihn verklärte der gezogene Degen. Er hatte jenes Weibliche an sich, das furchtbar wird in der Schlacht. Dabei war er ein Denker und Philosoph, ein junger Weiser; einen Alkibiades sah, wer ihn anschaute, und wer ihm lauschte, hörte einen Sokrates aus ihm sprechen.

In jener unermeßlichen Schöpfung aus dem Stegreif, die man die französische Revolution nennt, war dieser junge Mann sofort ein Kriegsmann geworden. Seine Kolonne, sein eigenes Werk, war, wie die römische Legion, eine vollständige Armee im Kleinen mit Fußvolk und Reiterei, Scharfschützen, Pionieren, Sappeurs und Pontoniers, und wie die römische Legion ihre Wurfmaschinen, so hatte die Kolonne ihre Artillerie, drei wohl bespannte Feldgeschütze, die ihr einen Halt gaben, ohne die Beweglichkeit zu beeinträchtigen.

Lantenac seinerseits war auch ein Kriegsmann und hatte neben der Bedachtsamkeit seiner Jahre zugleich noch die größere Kühnheit vor Gauvain voraus. Ein wirklicher alter Degen ist kühler als der junge, weil er den Morgen längst hinter sich hat, und kecker, weil er dem Ende näher steht. Er hat ja so gut wie nichts mehr zu verlieren. Daher die gleichzeitig tollkühne und durchdachte Kriegführung Lantenac’s. Und dennoch, in diesem hartnäckigen Ringkampf des Jünglings und des Greises blieb fast immer im Großen und Ganzen Gauvain im Vortheil, allerdings wohl nur, weil er Glück hatte; der Erfolg, selbst der Erfolg im Furchtbaren, gehört eben der Jugend: die Siegesgöttin ist zum Theil noch Weib.

Lantenac war auf Gauvain rein wüthend, erstens weil Gauvain ihn schlug, und zweitens weil Gauvain mit ihm verwandt war. Was hatte er sich auch unterstanden, unter die Jakobiner zu gehen, dieser Gauvain! Der Schlingel! Der einzige Erbe des Marquis, denn Kinder hatte dieser nicht; sein leiblicher Großneffe, fast ein Enkel! »O, sagte der Pseudo-Großvater, wenn er mir in den Wurf kommt, schieß ich ihn nieder wie einen Hund!«

Die Republik hatte übrigens allen Grund, über diesen Marquis von Lantenac in Aufregung zu gerathen. Kaum gelandet, verbreitete er schon das Entsetzen. Wie ein Lauffeuer hatte sein Name in der ganzen Vendée und Bretagne die Runde gemacht, und sofort war er der Mittelpunkt des Aufruhrs geworden. In einem solchen Aufruhr aber, wo Jeder dem Anderen neidisch ist und Jeder seinen eigenen Busch oder Hohlweg beherrscht, schaart der hinzugekommene Höhere die vereinzelten gleichberechtigten Befehlshaber um seine Person. So hatten sich fast alle Bandenführer an Lantenac angeschlossen und gehorchten ihm nah und fern. Nur Einer hatte ihn verlassen, der Erste, der zu ihm gestoßen, jener Gavard. Weshalb? Weil er ein Mann des blinden Vertrauens war; Gavard hatte alle Geheimnisse und Absichten jener früheren Kriegführung getheilt, die Lantenac nun beseitigte und durch ein anderes System ersetzte. Das Zutrauen des Untergebenen vererbt sich nicht auf jeden neuen Vorgesetzten, und da Lantenac sich der Taktik von La Rouarie nicht anbequemen konnte, hatte sich Gavard mit Bonchamp vereinigt.

Lantenac war ein Soldat aus der Schule Friedrichs II. und strebte eine Verschmelzung des großen und des kleinen Krieges an. Er wollte weder von einer »ungegliederten Masse« im Stil der großen königlich katholischen Armee etwas wissen, die blos für das Zermalmen taugte, noch von einer Verzettelung durch Wälder und Gebüsch, womit der Feind wohl beunruhigt, nicht aber niedergeworfen werden konnte. Der Guerillakrieg bringt es zu keinem oder zu einem elenden Abschluß; man beginnt mit dem Angriff aus eine Republik und endigt mit der Plünderung eines Eilwagens. Lantenac wollte den Kampf weder auf das offene Feld beschränken wie La Rochejacquelein, noch auf den Busch wie Jean Chouan, also weder Vendée noch Chouannerie; er wollte den vollständigen Krieg, wollte das bäuerische Element strategisch verwerthen, aber im Zusammenhang mit dem soldatischen, auf Grundlage taktisch ausgebildeter Regimenter. Die Vortrefflichkeit der plötzlich zusammengeläuteten und ebenso plötzlich wieder zerstiebenen Dorfarmeen für Angriff, Hinterhalt und Ueberfall sah er vollkommen ein, aber sie waren ihm zu flüssig; sie zerrannen ihm zwischen den Händen wie Wasser; er wollte den in alle Richtungen auseinander fluthenden Kampf um einen festen Kern zusammenziehen, wollte den wilden Banden in den Wäldern eine geschulte reguläre Truppe als Angelpunkt zu Grunde legen, und darauf gestützt, mit ihnen manöveriren, ein furchtbar fruchtbarer Gedanke, dessen Ausführung die Vendée unüberwindlich gemacht hätte. Wo aber jenes Element, wo die Soldaten, die Regimenter, wo eine schlagfertige Armee hernehmen? Aus England. Daher Lantenac’s fixe Idee: die Landung der Engländer. So kapitulirt das Gewissen der Parteien; die weiße Kokarde deckt den rothen Rock. Lantenac hatte nur noch das eine Trachten, sich irgend eines Küstenstrichs zu bemächtigen, um ihn Pitt zu überantworten. Deshalb hatte er sich auf das zur Zeit wehrlose Dol geworfen, um dadurch in den Besitz des Mont-Dol und durch den Mont-Dol in den Besitz des Strandes zu gelangen. Die Stellung war vortrefflich gewählt. Eine Batterie auf dem Mont-Dol konnte nach der einen Seite Le Fresnois, nach der andern Saint-Brelade bestreichen, konnte das Geschwader von Cancale in Schach halten und den Landungstruppen die ganze Uferstrecke zwischen Le Raz-sur-Couesnon und Saint-Meloir-des-Ondes zur Verfügung stellen. Um diesen entscheidenden Schlag zu führen, hatte Lantenac etwas über sechstausend Mann an sich gezogen, die Auslese der unter seinem Befehl stehenden Banden, und zur Errichtung einer starken Batterie auf dem Mont-Dol zehn sechszehnpfündige Feldschlangen, eine achtpfündige Schiffskanone und einen Vierpfünder mitgenommen, seine sämmtliche Artillerie, denn er ging von dem Grundsatz aus, daß zehn Geschütze mit tausend Schüssen mehr ausrichten als fünf mit fünfzehnhundert. Der Erfolg schien gesichert. Den sechstausend Mann stand, gegen Avranches zu, blos Gauvain mit seinen fünfzehnhundert gegenüber und gegen Dinan zu Léchelle, der allerdings fünfundzwanzigtausend Mann stark, dafür aber auch zwanzig Stunden weit abseits war. So hatte denn Lantenac, was Léchelle betraf, von der großen Zahl in Folge der großen Entfernung und, was Gauvain anbelangte, von der geringen Entfernung in Folge der geringen Zahl nichts zu besorgen. Dazu kam noch, daß Léchelle unfähig war, was er später mit Selbstmord büßte, nachdem er mit seinen fünfundzwanzigtausend Mann auf der Haide von La Croix-Bataille eine Niederlage erlitten. Lantenac fühlte sich demnach vollständig sicher. Rasch und rücksichtslos war er in Dol einmarschirt, und da seine unerbittliche Härte bereits sprichwörtlich war, war nicht der geringste Versuch eines Widerstandes gemacht worden. Die entsetzten Einwohner schlossen sich in ihre Häuser ein. In bäuerischer Unordnung, fast wie bei einem Jahrmarkt, ließen sich die Vendéer in der Stadt nieder; ohne Fouriere, ohne Quartieranweisung, bivouakirten sie, wo es ihnen just gefiel, kochten ihre Menage unter freiem Himmel, verliefen sich in die Kirchen, legten die Flinten ab und griffen zum Rosenkranz. Lantenac nahm mit einigen Artillerieoffizieren sofort die Rekognoszirung des Mont-Dol vor und übergab das Kommando an Gouge-le-Bruant, den er zu seinem Stellvertreter ernannt hatte.

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Gauvain schrie, den Degen schwingend

Dieser Gouge-le-Bruant hat in der Geschichte eine dunkle Spur hinter sich zurückgelassen; er hatte zwei Beinamen: »Brisebleu«, wegen seines Wüthens gegen die Blauen, und »der Imânus«, wegen des unaussprechlichen Grausens, das von ihm ausging. Imânus, vom Lateinischen »immanis« abgeleitet, bezeichnet im Dialekt der unteren Normandie, das übermenschlich Häßliche, dämonisch Entsetzliche, den Teufel, den Unhold, den Kinderfresser. Schon in einer alten Handschrift lesen wir: »d’mes daeux iers j’vis l’imânus« (mit meinen beiden Augen sah ich den Bösen). Die alten Leute vom Bocage wissen heutigen Tages nicht mehr, wer Gouge-le-Bruant war, und was Brisebleu bedeuten soll, aber sie entsinnen sich ganz dunkel des Imânus. Der Imânus hat sich in den Lokalaberglauben eingeflochten. Von ihm wird noch in Trémorel und Plumeaugat erzählt, zwei Dörfer, wo Gouge-le-Bruant schauerliche Spuren hinterließ. Die Andern in der Vendée waren die Wilden; Gouge-le-Bruant war der Barbarische. Er war tätowirt wie ein Indianerhäuptling, nur mit Kinderfibelkreuzen und Lilien; aus seinem Gesicht brach das scheußliche, fast übernatürliche Schimmern einer Seele, der keine andere menschliche Seele ähnlich sah. Im Kampf war er teuflisch tapfer und teuflisch grausam nachher. Er hatte ein Herz voll verschlungener Irrgänge, das jeder Aufopferung fähig war und zu jedem Greuel hinneigte. Konnte er nachdenken? Ja, doch wie die Schlangen kriechen, in Windungen. Beim Heldenthum fing er an, um mit dem Mord aufzuhören. Unmöglich war es, zu errathen, wie er zu seinen Entschlüssen kam, die oft vor lauter Ungeheuerlichkeit etwas Großartiges an sich trugen. Ihm war alles gräßlich Ueberraschende zuzutrauen. Seine Entsetzlichkeit war episch wie die der Cyklopen. Daher der ungestalte Beiname Imânus. Der Marquis von Lantenac baute auf seine Grausamkeit, und mit vollem Recht; darin war der Imânus Meister, weit mehr als in den Künsten des Krieges, weshalb denn auch der Marquis vielleicht nicht wohl daran that, ihn zu seinem Stellvertreter zu erwählen. Gleichviel, er ließ ihn als solchen mit dem Auftrag zurück, für Alles Sorge zu tragen. Gouge-le-Bruant mit seinem mehr streitbaren als militärischen Wesen eignete sich weit eher zur Niedermetzelung eines Clans als zur Bewachung einer Stadt. Nichtsdestoweniger stellte er Posten auf.

Als Lantenac nach gepflogener Untersuchung des Terrains Abends nach Dol zurückritt, hörte er plötzlich Kanonenschüsse und sah aus der Hauptstraße einen röthlichen Rauch emporsteigen; das bedeutete Ueberfall, Einbruch, Sturm: In der Stadt schlug man sich. Obgleich den Marquis fast nichts in Erstaunen zu setzen vermochte, jetzt war er verblüfft. Dieser Zwischenfall kam ihm ganz unerwartet. Wer konnte das sein? Gauvain offenbar nicht; in einer Minderzahl von eins gegen vier greift man nicht an. War es etwa Léchelle? Aber was hätte das für ein Eilmarsch sein müssen! Von beiden Vermuthungen war also die eine unwahrscheinlich, die andere unmöglich. Lantenac spornte sein Pferd an; bald darauf stieß er auf fliehende Stadtleute, die er anhielt; sie waren ganz außer sich vor Schrecken und riefen nur immer: Die Blauen! die Blauen!

Als der Marquis endlich eintraf, stand es um die Seinen schlimm. Zugetragen hatte sich Folgendes:

III.

Kleine Heere, große Schlachten.

Nach dem Einmarsch in Dol hatten sich, wie gesagt, die Bauern nach Gutdünken in der Stadt herumgetrieben als Leute, die, wie ihr eigenes Schlagwort lautete, »aus Freundschaft gehorchen«, ein Gehorchen, welches zwar Helden, aber nimmermehr Soldaten heranbilden kann. Artillerie und Gepäck hatten sie unter den Bögen der alten Markthalle untergebracht und lagerten nun ausruhend, essend und trinkend, oder »rosenkränzelnd«, in buntem Durcheinander auf der Hauptstraße, mehr als Hindernisse des Verkehrs denn als Hüter des Platzes. Bei sinkender Nacht schoben die Meisten den Schnappsack unter den Kopf und schliefen ein, Der und Jener an der Seite seines Weibes, denn oft geschah es, daß Bäuerinnen mitausrückten und dann, besonders die in gesegneten Umständen waren, Kundschafterdienste versahen. Es war eine milde Julinacht, und am tiefen schwarzblauen Himmel funkelten die Sternbilder. Während diese Menge, die man eher für eine rastende Karawane als für ein Bivouak gehalten hätte, friedlich schlummerte, fiel den Wenigen, welche die Augen noch nicht geschlossen, plötzlich auf, daß an der einen Straßenmündung, vom Zwielicht beschienen, drei Kanonen gegen sie gerichtet waren – Gauvains Kanonen; er hatte die Wachtposten überrumpelt, war in die Stadt eingedrungen und hielt den Eingang der Straße besetzt. Ein Bauer richtete sich aus, schrie Werda? und feuerte seine Flinte ab. Ein Kanonenschuß war die Antwort. Gleich darauf schlug ein Platzregen von Gewehrkugeln ein. Alles fuhr aus dem Schlaf empor, ein schreckenvolles Erwachen für Leute, die eben noch unter dem Sternenschimmer einschlummerten.

Der erste Augenblick war schauderhaft, denn es giebt nichts Entsetzlicheres als das Hin- und Herwimmeln einer Masse, auf welche Blitzstrahlen hereinhageln. Man warf sich auf die Waffen, schrie, rannte, stürzte getroffen nieder. Die angefallenen Bauernburschen schossen in fassungsloser Verwirrung auf die eigenen Leute. Aufgeschreckte Gestalten huschten aus den Häusern und huschten wieder herein oder liefen wie wahnsinnig im Getümmel umher. Die zu einander gehörten, riefen einander an. Mitten in dem furchtbaren Gefecht heulten Weiber und Kinder. Die Finsterniß war allenthalben von pfeifenden Kugeln durchstrichen; aus jedem dunkelen Winkel Flintenschüsse; das Ganze ein riesiger in Rauch verschwimmender Wirrwarr zwischen durcheinanderstehenden Karren und Munitionswagen. Die Pferde schlugen aus; aufbrüllende Verwundete wurden auf dem Boden zerstampft; neben der Verzweiflungswuth starres Entsetzen, Soldaten, die ihre Führer, und Führer, die ihre Soldaten suchten; stellenweise auch düstere Gleichgiltigkeit, an einer Mauer ein Weib, daß ihren Säugling stillte, während ihr Mann, der blutend, mit zerschmettertem Bein neben ihr lehnte, kaltblütig den Stutzen lud und auf gut Glück hin den Tod in die Finsterniß hinaussendete. Zwischen den Rädern der Fuhrwerke lagen Bauern der Länge nach ausgestreckt und feuerten durch die Speichen. Zuweilen gellte ein tausendstimmiger Aufschrei durch die Nacht; dann behielt der Donner der Kanonen wieder die Oberhand. Es war grauenvoll. Wie Bäume unter einem Bergsturz fielen die Leichen auf die Leichen. Aus seinem Hinterhalt schmetterte Gauvain mit Sicherheit und beinahe ohne einen Mann zu verlieren Alles nieder.

Nach einiger Zeit jedoch kam eine gewisse Ordnung in das Gedränge der unverzagten Bauern; sie zogen sich unter den großen dunkelen Säulenwald der Markthalle wie hinter ein Vorwerk zurück und faßten dort festen Fuß; was nur irgend welche Aehnlichkeit mit einem Walde hatte, flößte ihnen Selbstvertrauen ein. Der Imânus suchte nach besten Kräften den Marquis zu ersetzen. Seine Geschütze ließ er zwar, zu Gauvains größtem Erstaunen, unbenutzt, denn nur die mit Lantenac ausgerittenen Artillerieoffiziere wußten damit umzugehen; die Bauernburschen waren zur Bedienung der Feldschlangen und des Achtpfünders nicht einexerzirt, entsendeten aber dafür einen Hagel von Kugeln auf die Kanoniere der Blauen und erwiderten die Kartätschensalven mit Gewehrfeuer. Die besser Gedeckten waren jetzt sie; denn sie hatten alle, in der Markthalle befindlichen Karren, Fuhrwerke, Proviantsäcke und Fässer im Nu zu einer hohen Barrikade mit Schießscharten aufgestapelt, aus denen sie ein mörderisches Feuer unterhielten, im Nu, denn bevor eine Viertelstunde verstrichen war, erhob sich vor dem Gebäude eine unübersteigbare Mauer.

Gauvain gerieth dadurch in eine kritische Lage. Diese plötzlich in eine Zitadelle umgewandelte Markthalle, in welcher die Bauern eine feste, konzentrirte Stellung einnahmen, kam ihm unerwartet. Den Feind zu überfallen war ihm zwar gelungen, nicht aber, ihn in die Flucht zu schlagen. Er war abgesessen und spähte aufgerichtet, den Degen in der Faust, mit verschränkten Armen beim Schein einer Fackel, die seine Batterie beleuchtete, in die Dunkelheit hinaus. Sein hoher Wuchs und der Fackelschein machten ihn zur Zielscheibe der Barrikade, doch daran dachte er nicht und ließ, in Sinnen versunken, den Kugelregen um sich her einschlagen. Zum Glück konnte er den Flinten allen mit seinen Geschützen Trotz bieten; die Kanonen behalten immer das letzte Wort und auf Seite der Artillerie bleibt der Sieg; mit seiner wohlbedienten Batterie war er noch immer im Vortheil.

Da, plötzlich sprühte aus der finsteren Markthalle ein Blitz, und donnernd schmetterte eine Kanonenkugel über Gauvain in ein Haus. Die Barrikade setzte der Artillerie Artillerie entgegen. Was hatte das zu bedeuten? Offenbar hatte sich drüben etwas ereignet und das Gefecht trat in ein neues Stadium.

Eine zweite Kugel folgte der ersten auf dem Fuß und schlug dicht neben Gauvain in die Mauer ein; eine dritte riß ihm den Hut vom Kopf. Die Kugeln waren von schwerem Kaliber, sechszehnpfündig.

– Auf Sie ist es abgesehen, Kommandant, riefen die Kanoniere und löschten die Fackel. Nachdenklich bückte sich Gauvain nach seinem Hut.

In der That hatte es Jemand auf ihn abgesehen, und zwar Lantenac.

Der Marquis hatte die Barrikade von der entgegengesetzten Seite her erreicht, und der Imânus war auf ihn zugestürzt: Gnädiger Herr, man hat uns überfallen!

– Wer?

– Ich weiß nicht.

– Steht der Weg nach Dinan offen?

– Ich glaube.

– So muß der Rückzug angetreten werden.

– Geschieht schon; es sind bereits Viele entwischt.

– Es handelt sich nicht um das Entwischen; es handelt sich darum, sich zurückzuziehen. Warum ist die Artillerie nicht zugezogen worden?

– Man hat den Kopf verloren, und dann waren die Offiziere nicht bei der Hand.

– Ich will dafür sorgen.

– Gnädiger Herr, ich habe möglichst viel Gepäck, die Weiber und alles Ueberflüssige nach Fougères abgehen lassen. Was soll aus den drei kleinen Gefangenen werden?

– Ach so, aus den Kindern?

– Ja.

– Wir behalten sie als Geisel. Sorge dafür, daß sie nach La Tourgue gebracht werden.

Hierauf trat der Marquis hinter die Barrikade. Das Eintreffen des Führers änderte die ganze Sachlage. Beim Bau der Barrikade war auf die Artillerie keine Rücksicht genommen worden; es war blos für zwei Geschütze Raum vorhanden; der Marquis ließ zwei größere Oeffnungen durchbrechen und zwei Sechszehnpfünder dahinter aufpflanzen. Als er sich über die eine der Feldschlangen beugte um die feindliche Batterie durch die Schießscharte zu beobachten, erblickte er Gauvain. – Er ist es! rief er und griff nach Wischer und Setzkolben, lud das Geschütz, richtete das Visier und zielte. Zu dreien Malen feuerte auf Gauvain und fehlte. Mit dem dritten Schuß riß er ihm den Hut vom Kopf. – Gestümpert! murmelte er vor sich hin. Ein paar Zoll tiefer und ich traf den Kopf.

Da erlosch plötzlich die Fackel, und er hatte nur noch Finsterniß vor sich. – Sei es drum, sagte er und rief seinen Artilleristen zu: Mit Kartätschen!

Gauvain war seinerseits nicht ruhiger. Seine Lage verschlimmerte sich. Der Kampf nahm einen anderen Charakter an. Jetzt setzte die Barrikade ihm mit Kanonen zu. Wer konnte wissen, ob sie nicht von der Defensive zur Offensive übergehen würde? Er hatte es, die Todten und Flüchtigen auch abgerechnet, mit mindestens fünftausend Mann zu thun und verfügte selber über nur mehr zwölfhundert kampffähige Leute. Was sollte aus den Republikanern werden, wenn der Feind sich von ihrer geringen Zahl überzeugte. Die Rollen würden unfehlbar vertauscht und die bisherigen Angreifer die Angegriffenen werden. Ein Ausfall aus der Barrikade konnte die Vernichtung herbeiführen. Was thun? Die Barrikade in der Front anzupacken, daran war nicht zu denken; ein Gewaltstreich wäre eine Chimäre gewesen; zwölfhundert Mann können fünftausend aus einer solchen Stellung unmöglich verjagen. Mit Ueberstürzung ließ sich nichts ausrichten, und jedes Abwarten war vom Uebel. Ein Ende mußte gemacht werden, aber wie?

Gauvain, der ja aus der Gegend gebürtig war, kannte die Stadt; er wußte, daß die alte Markthalle, in der sich die Vendéer verschanzt hatten, mit der Rückseite an ein Labyrinth von engen, winkeligen Gäßchen stieß, und wendete sich nun an seinen Unterkommandanten, den tapferen Hauptmann Guéchamp, der sich später dadurch so rühmlich auszeichnete, daß er Jean Chouan’s Heimath, den Wald von Concise, säuberte und durch die Verteidigung des Dammweges am Teich La Chaîne die Wegnahme von Bourgneuf vereitelte. – Guéchamp, sagte er, ich übertrage Ihnen das Kommando. Setzen Sie das Feuer nach besten Kräften fort; schießen Sie Bresche in die Barrikade und halten Sie mir die Leute in Atem.

– Verstanden, erwiderte Guéchamp.

– Formiren Sie alle verfügbaren Kräfte in eine Angriffskolonne, und warten Sie mit geladenen Gewehren das Zeichen zum Stürmen ab.

Und er flüsterte Guéchamp ein paar Worte ins Ohr. – Abgemacht, sagte dieser. – Sind alle Tambours noch auf den Beinen? fragte Gauvain. – Ja wohl. – Es sind ihrer neun. Ich lasse Ihnen zwei davon zurück; die andern sieben gehen mit mir.

Die sieben Tambours stellten sich schweigend vor Gauvain in Reih und Glied.

– Heran das Bataillon Bonnet-Rouge! rief Gauvain.

Es trat ein Sergeant an mit elf Mann.

– Ich meine das ganze Bataillon, sagte Gauvain.

– Hier, antwortete der Sergeant.

– Euer zwölf!

– Nur noch unser zwölf.

– Schön, sagte Gauvain.

Der Sergeant war jener wackere soldatischderbe Radoub, der im Namen des Bataillons die drei Kinder aus dem Wald von La Saudraie angenommen hatte. Man wird sich wohl noch erinnern, daß blos die eine Hälfte des Bataillons in Herbe-en-Pail niedergemetzelt worden; Radoub war so glücklich gewesen, der andern Hälfte anzugehören.

– Sergeant, sagte Gauvain, indem er mit dem Finger auf einen in der Nähe stehenden Fouragenwagen deutete, lassen Sie Ihre Leute Strohwische binden und um die Gewehrläufe legen, damit es beim Aneinanderstoßen kein Geräusch giebt.

Einige Minuten darauf war der Befehl in der Dunkelheit still vollzogen worden. – Ist geschehen, meldete der Sergeant.

– Soldaten, zieht die Schuhe aus, befahl Gauvain weiter.

– Haben keine, bemerkte der Sergeant.

Die Tambours mitgerechnet, waren es neunzehn Mann, und Gauvain war der zwanzigste. – In einer einzigen Reihe, rief er, mir nach! Hinter mir die Tambours, dann das Bataillon; Sie führen es, Sergeant.

Er stellte sich an die Spitze der neunzehn Mann, und während auf beiden Seiten die Kanonade fortgesetzt wurde, bogen sie, wie Schatten dahingleitend, in die öden Gäßchen ein. So schlichen sie eine Zeitlang längs den Häusern hin. Die Stadt schien ausgestorben zu sein; die Einwohner hatten sich in den Kellern versteckt; jede Thür war verrammelt, jeder Fensterladen geschlossen, von einem Licht keine Spur. Wüthend dröhnte es von der Hauptstraße her in diese Stille herüber; der Artilleriekampf dauerte fort und die beiden Batterien spien mit Erbitterung ihre Kartätschen auf einander. Nachdem man sich zwanzig Minuten hindurch im Zickzack vorwärts bewegt hatte, erreichte Gauvain, der sich in der Finsterniß vortrefflich zurechtfand, ein Gäßchen, welches wieder in die Hauptstraße mündete, aber auf der andern Seite der Markthalle. Die Stellung war somit umgangen. Diese Seite – die Unvorsichtigkeit der Barrikadenkämpfer bleibt ewig dieselbe – war nicht verschanzt, sondern stand offen und gewährte freien Eintritt in das säulengetragene Gewölbe, wo ein paar reisefertige Gepäckwagen hielten. Die zwanzig Mann hatten die fünftausend Vendéer vor sich, aber jetzt mit dem Rücken statt mit der Front. Nachdem Gauvain dem Sergeanten ein paar Worte zugeflüstert, wurden die Strohwische von den Gewehren entfernt; die zwölf Grenadiere nahmen im Winkel des Gäßchens Stellung und die sieben Tambours warteten mit den Trommelstöcken in den Fäusten auf das Signal.

Die Artilleriesalven erfolgten immer noch in regelmäßigen Zwischenräumen. Einen solchen benutzte Gauvain und schrie, den Degen schwingend, mit einer Stimme, die wie ein Trompetentusch durch die momentane Stille schmetterte: Zweihundert Mann rechts vor! Zweihundert Mann links! Alles andere in der Front!

Sofort fielen die zwölf Gewehrschüsse, die sieben Tambours trommelten zur Attacke und Gauvain brach in den gewaltigen Kampfruf der Blauen aus: Bajonett vor! Drauf los!

Die Wirkung war eine unerhörte; die ganze Bauernmasse fühlte sich im Rücken angegriffen und glaubte sich von einer zweiten Armee überrumpelt. Zu gleicher Zeit setzte sich vom obern Ende der Straße her auf das verabredete Signal hin die Kolonne von Guéchamp, ebenfalls unter Trommelwirbel, in Bewegung und stürmte im Laufschritt gegen die Barrikade vor. Die Bauern sahen sich einem doppelten Feuer ausgesetzt. Der panische Schrecken vergrößert Alles; für ihn wird der Pistolenschuß zum Kanonendonner, das Bellen eines Hundes zum Gebrüll des Löwen, jeder Lärm zum gespenstigen Schreckniß. Fügen wir noch hinzu, daß der Bauer ins Fürchten geräth wie ein Strohdach ins Brennen und daß gerade wie die Flamme im Strohdach in eine Feuersbrunst, die Furcht des Bauern in unaufhaltsame Flucht ausartet. Es entstand ein ganz unbeschreibliches Drängen und Jagen. In einigen Minuten war die Halle leer; die entsetzten Burschen rannten auseinander, unbekümmert um ihre Offiziere, unbekümmert um den Imânus, der vergebens ihrer zwei oder drei niederschoß, und unter Angst- und Verzweiflungsgeschrei verlief sich die royalistische Armee durch die Gäßchen der Stadt wie durch die Löcher eines Siebs und zerstob im freien Feld mit der Schnelligkeit einer sturmgepeitschten Wolke. Die Einen flohen in der Richtung von Chateauneuf, Andere gegen Plerguer, Andere wieder gegen Antrain zu.

Der Marquis von Lantenac mußte diese tolle Flucht mitansehen. Mit eigener Hand vernagelte er die Geschütze und zog sich dann, von Allen der Letzte, langsam und kaltblütig mit den Worten zurück: Auf die Bauern ist entschieden kein Verlaß. Ohne die Engländer geht es nicht.

IV.

Zum zweiten Mal.

Es war ein vollständiger Sieg. Gauvain wendete sich zu den Grenadieren des Bataillons Bonnet-Rouge um und sagte: Ihr zwölf wiegt ein Tausend auf. So ein Wort aus dem Mund des Chefs war das Ehrenkreuz jener Zeiten. Guéchamp jagte, auf Gauvains Befehl, den Fliehenden nach und brachte viele Gefangene ein. Dann wurde die Stadt bei Fackelschein durchsucht. Alle, die nicht mehr entkommen konnten, ergaben sich. Die Hauptstraße, die man mit Pechkränzen beleuchtete, war mit Todten und Verwundeten übersät. Hin und wieder setzten sich noch, denn jeder Kampf hat sein gewaltsames Nachspiel, verzweifelte Gruppen zur Wehr, streckten jedoch, sowie sie umringt waren, die Waffen.

Im rasenden Gewirr des Ausreißens war Gauvain ein tollkühner Mensch aufgefallen, eine stämmige, flinke Faunengestalt, welche die Flucht der Anderen gedeckt hatte, ohne dann selber zu fliehen. Meisterhaft hatte dieser Bauer seine Flinte gehandhabt und so lange mit Schüssen und Kolbenschlägen um sich geworfen, bis sie zerbrochen war; nun stand er da mit einem Pistol in der einen Faust und einem Säbel in der anderen. Keiner wagte sich an ihn heran. Da sah ihn Gauvain plötzlich taumeln und sich gegen den Pfeiler eines Hauses lehnen. Der Mann war verwundet, hielt aber noch immer sein Pistol und seinen Säbel fest. Gauvain nahm den Degen unter den Arm und trat auf ihn zu. – Ergieb dich, sagte er.

Der Bauer stierte ihn an. Das Blut troff ihm unter den Kleidern aus der Wunde und rann zu seinen Füßen in eine Lache zusammen.

– Du bist mein Gefangener, wiederholte Gauvain.

Der Mann blieb stumm.

– Dein Name?

– Ich heiße Danse-à-l’Ombre, antwortete der Bauer.

– Du bist ein Tapferer, sagte Gauvain und streckte ihm die Hand entgegen.

– Vivat der König! rief der Mann, und mit dem letzten Aufwand seiner Kräfte beide Arme zugleich erhebend, führte er einen Säbelhieb nach Gauvains Kopf und schoß ihm nach dem Herzen.

Es war dies mit der Behendigkeit des Tigers vor sich gegangen; noch behender war aber ein Anderer gewesen, ein Reiter, der eben angekommen, unbeachtet in nächster Nähe hielt und der, im Augenblick, wo er den Vendéer Säbel und Pistol erheben sah, zwischen diesen und Gauvain vorgestürzt war. Ohne den Reiter war Gauvain verloren. So aber fing das Pferd den Schuß, der Mann den Hieb auf, und beide sanken zu Boden. Das Alles war so rasch geschehen, wie man einen Schrei ausstößt. Auch der Insurgent war jetzt am Pfeiler zusammengebrochen.

Der Reiter, dem der Hieb mitten im Gesicht saß, lag bewußtlos am Boden. Sein Pferd war todt.

– Wer ist der Mann, fragte Gauvain, indem er vor ihn hintrat. Er betrachtete ihn. Das Gesicht des Verwundeten war von Blut derart übergossen, daß es wie unter einer rothen Maske verschwand. Erkennen ließ sich nur soviel, daß das Haar grau war.

– Der Mann hat mir das Leben gerettet, hob Gauvain wieder an; weiß Keiner, wer er ist?

– Dieser Mann, Kommandant, sagte ein Soldat, ist eben erst in die Stadt hereingeritten, von Pontorson her; ich habe ihn kommen sehen.

Der Regimentsarzt war mit seinem Verbandzeug herbeigeeilt, untersuchte den noch immer Bewußtlosen und erklärte: Nur eine Schramme, hat nichts zu bedeuten, wird einfach wieder zusammengenäht. In acht Tagen geheilt; aber ein schöner Schmiß.

Der Verwundete trug einen Mantel, eine dreifarbige Schärpe, Pistolen und einen Säbel. Er wurde auf eine Tragbahre gelegt und halb entkleidet. Der Arzt, dem man einen Eimer Wasser gebracht hatte, wusch ihm das Blut vom Gesicht, dessen Züge allmälig sichtbar wurden.

– Hat er Papiere bei sich? fragte Gauvain, der den Fremden mit gespanntester Aufmerksamkeit betrachtete

Der Arzt betastete den Rock des Mannes und zog aus der Brusttasche ein Portefeuille hervor, das er Gauvain überreichte. Mittlerweile brachte die Berührung mit dem kalten Wasser den Verwundeten nach und nach zur Besinnung, und seine Augenlider geriethen in ein leises Zucken. Beim Durchsuchen der Brieftasche fand Gauvain ein zusammengelegtes Blatt Papier, das er entfaltete: »Wohlfahrtsausschuß. Der Bürger Cimourdain ….« Als er die Worte gelesen, that er einen Schrei: – Cimourdain! Bei diesem Schrei schlug der Verwundete die Augen auf. Gauvain war außer sich: – Sie sind es, Cimourdain! Zum zweiten Male verdanke ich Ihnen mein Leben.

Cimourdain sah ihn an und ein unbeschreibliches Freudenblitzen verklärte sein blutendes Gesicht. Gauvain fiel auf die Knie nieder und rief:

– Mein Lehrer!

– Dein Vater, sprach Cimourdain.

V.

Der Tropfen kalten Wassers.

Lange Jahre waren es her, daß sie einander nicht mehr gesehen, aber ihre Herzen hatten einander nie verloren und sie fanden sich wieder zusammen, als hätten sie sich erst am Abend zuvor getrennt. Im Rathhaus von Dol hatte man in aller Eile ein Lazareth eingerichtet und Cimourdam wurde auf einem Bett in ein Zimmerchen gebracht, das an den großen allgemeinen Krankensaal stieß. Der Arzt, der die Schramme zugenäht hatte, setzte den Herzensergüssen der Beiden ein Ziel, indem er es für nothwendig erklärte, Cimourdain ausschlafen zu lassen. Uebrigens mußte auch Gauvain tausenderlei Dingen nachgehen, welche die Vorsicht dem Sieger zur Pflicht macht. Cimourdain blieb allein, aber er schlummerte nicht; ihn schüttelte ein zwiefaches Fieber, das Wundfieber und das Fieber der Freude. Er schlummerte nicht, und doch konnte er sich kaum einreden, daß er ja wache. War’s denn auch möglich, daß sein Traum zur Wirklichkeit geworden? Cimourdain gehörte zu den Leuten, die sich keinen Treffer zutrauen und nun hatte er ihn doch gezogen. Gauvain, das Kind, das er hatte verlassen müssen, fand er jetzt wieder, fand ihn herangereift zum Mann, groß dastehend, gefürchtet und tapfer; siegreich hatte er ihn wiedergefunden, und siegreich in der Sache des Volkes. Gauvain war die Stütze der Revolution in der Vendée und er, Cimourdain, hatte der Republik diesen Strebepfeiler errichtet. Der Triumphator war sein Schüler und was er aus diesem jugendlichen Antlitz strahlen sah, dem vielleicht dereinst die Ehren des Pantheon zutheil werden sollten, war ja sein, Cimourdains, Gedanke; sein Jünger, der Sohn seines Geistes, bereits ein Held, konnte demnächst eine Ruhmessäule der Republik werden. Es war Cimourdain, als grüße ihn, zum Genius verklärt, seine eigene Seele; hatte er doch mit eigenen Augen gesehen, wie Gauvain Krieg führte. Ihm war zu Muthe wie dem alten Chiron, als er Achilleus kämpfen sah; – eine geheimnißvolle Uebereinstimmung zwischen dem Priester und dem Kentauren, denn auch der Priester ist nur zur Hälfte Mensch. Alle Wechselfälle dieses Abenteuers wirkten mit dem fiebernden Brennen seiner Wunde zusammen, um Cimourdain in eine gewisse mystische Verzückung zu versetzen. Ein junges Geschick ging in Sonnenherrlichkeit auf und er, der Glückselige, durfte es lenken; nur noch ein einziger Erfolg wie der heutige, und ein bloßes Wort von Cimourdain bewog die Republik, eine ihrer Armeen Gauvain anzuvertrauen. Nichts blendet mehr als das Staunen darüber, daß Alles gelungen ist. In jener Zeit trug sich Jeder mit seinem militärischen Traum; Jeder wollte einen General emporbringen, Danton Westermann, Marat Rossignol, Hébert Ronsin; nur Robespierre wollte keinen aufkommen lassen. Warum also nicht auch Gauvain? dachte Cimourdain, in Zukunftspläne vertieft; vor ihm eröffnete sich ein unermeßliches Feld; er baute Hypothese auf Hypothese; alle Hindernisse schwanden. Wer einmal auf diese Leiter den Fuß gesetzt hat, der hält nicht mehr inne, der steigt ins Unendliche und versteigt sich nach und nach vom Menschen bis hinauf zum Stern. Ein großer General bricht blos seinen Heeren, ein großer Kriegsheld bricht zugleich auch seinen Ideen Bahn. Cimourdain träumte sich Gauvain als Kriegshelden; schon sah er ihn, denn Träume haben Siebenmeilenflügel, auf dem Ozean die Engländer verjagen, am Rhein die Könige des Ostens züchtigen, auf den Pyrenäen die Spanier zurückwerfen, von den Alpen herab Rom zur Freiheit wachrufen. Die zwei Menschen, die in Cimourdain wohnten, der zärtliche wie der düstere, waren beide zufrieden, denn das Ideal, die Unerbittlichkeit, blieb ja gewahrt: Gauvain verbreitete nicht allein Strahlen; er verbreitete auch Schrecken. Cimourdain faßte zunächst immer das ins Auge, was vor dem Aufbau niedergerissen werden mußte, und glaubte nicht, daß die Stunde der hinschmelzenden Rührung schon gekommen sei. Er dachte sich Gauvain, wie das damalige Schlagwort hieß, »auf der Höhe der Situation«, den Dämon der Nacht zertretend, im Panzer des Lichts, mit einem Leuchten der Herrlichkeit auf der Stirn, die idealen Schwingen der Gerechtigkeit und der voranstrebenden Vernunft ausbreitend und ein feuriges Schwert schwingend – Engel, aber Engel des Gerichts.

Mitten in dieser Träumerei, die an die Extase grenzte, hörte er durch die zugelehnte Thür im nebenanliegenden großen Lazarethsaal sprechen und erkannte die Stimme Gauvain’s; sie hatte ihm, der langen Trennung zum Trotz, fortwährend im Herzen fortgeklungen und in der Stimme des Mannes läßt sich etwas wiederfinden von der Stimme des Kindes. Er lauschte. Man hörte auch Schritte.

– Kommandant, sagte ein Soldat, das hier ist der Mann, der auf Sie geschossen hat; während Alles um den Reiter beschäftigt war, verkroch er sich in einen Keller. Dort haben wir ihn entdeckt, und hier ist er. Und nun vernahm Cimourdain folgendes Zwiegespräch zwischen Gauvain und dem Bauern:

– Du bist verwundet.

– Bin aber noch kräftig genug, um füsilirt zu werden.

– Bringt den Mann in ein Bett; er soll verbunden und geheilt werden.

– Sterben will ich.

– Du wirst leben: im Namen des Königs hast Du mich umbringen wollen; im Namen der Republik sei begnadigt.

Ueber Cimourdain’s Stirn fuhr ein Schatten. Ihm war, als sei er plötzlich aus dem Schlaf aufgeschreckt worden und mit einer gewissen düstern Niedergeschlagenheit murmelte er vor sich hin:

– Kein Zweifel; er hat ein mürbes Gemüth.

VI.

In geheilter Brust ein blutend Herz.

Eine Schramme heilt rasch wieder zu; weit schwerer als Cimourdain war sonst Jemand verwundet worden, nämlich das angeschossene Weib, das Tellmarch der Bettler bei der großen Blutlache von Herbe-en-Pail aufgelesen hatte. Michelle Fléchard war damals noch schlimmer dran, als Tellmarch zuerst geglaubt: außer dem Schuß über der Brust saß noch ein Schuß im Schulterblatt; während ihr die eine Kugel das Schlüsselbein gebrochen hatte, war ihr eine zweite von hinten in die Achsel gefahren. Da die Lunge jedoch unversehrt geblieben, konnte die Genesung zu Stande kommen. Tellmarch war, wie die Bauern sagen, »ein Philosoph«, das heißt zum Drittel Arzt, zum Drittel Chirurg und zum Drittel Zauberer. Er behandelte die Kranke in seiner Höhle, auf dem Lager von Seegras, mit jenen geheimnißvollen Kräutersäften, aus denen die Leute auf dem Land ihre sogenannten Hausmittel bereiten, und unter seiner Pflege blieb sie am Leben. Das Schlüsselbein wuchs wieder zusammen; die Löcher über der Brust und in der Schulter heilten zu und nach einigen Wochen war die Verwundete auf dem Wege vollständiger Besserung, so daß sie eines Morgens, auf Tellmarch gestützt, die Höhle verlassen und sich unter den Bäumen in die Sonne hinsetzen konnte. Tellmarch war über ihre näheren Verhältnisse so ziemlich im Unklaren; Brustwunden erheischen anhaltendes Schweigen und während des halben Deliriums, das der Wiederherstellung vorangegangen war, hatte die Frau nur wenige Worte gesprochen, denn sowie sie reden wollte, wehrte Tellmarch es ihr; aber sie hing einer hartnäckigen Träumerei nach und ihr Blick verrieth ein inneres Hin- und Herwälzen von herzbeklemmenden Gedanken.

Jetzt fühlte sie sich bei Kraft und konnte beinahe ohne Stütze gehen. Eine gelungene Kur gewährt dem Arzt eine väterliche Befriedigung: stillglücklich betrachtete Tellmarch seine Patientin; der gute alte Mann lächelte sie an: – Nun, nun, jetzt wären wir ja wieder munter und Alles ist vernarbt.

– Bis auf das Herz, antwortete das Weib und setzte dann hinzu: Ihr wißt also gar nicht, wo sie sind?

– Wer? fragte Tellmarch.

– Meine Kinder.

In diesem Wörtchen »also« lag eine ganze Welt von Gedanken; dieses Wörtchen sagte: »Weil Ihr mir nicht von ihnen sprecht, weil Ihr nun schon so manchen Tag um mich seid, ohne ihrer auch nur zu erwähnen, weil Ihr mir Schweigen gebietet, so oft ich den Mund aufthue, weil Ihr zu befürchten scheint, daß ich die Frage an Euch richte, so könnt Ihr mir eben keinen Aufschluß geben.«

Im Fieber, in der Aufwallung, im Delirium, hatte sie häufig nach ihren Kindern gerufen und wohl bemerkt, denn auch das Delirium hat sein Fassungsvermögen, daß der alte Mann ihr darauf keine Antwort gab. Und was hätte Tellmarch ihr auch mittheilen sollen? Es ist kein Leichtes, einer Mutter von ihren verschwundenen Kindern zu sprechen, und was wußte er denn eigentlich? Nichts, als daß ein Weib niedergeschossen worden war, daß er dieses Weib am Boden liegend gefunden, daß es, als er es zu sich nahm, sozusagen eine Leiche war, daß diese Leiche drei Kinder hatte und daß der Marquis von Lantenac, nachdem er die Mutter niederschießen ließ, die Kleinen mit fortgenommen. Mehr hatte er ja nicht erfahren. Was war aus den Kindern geworden? Waren sie überhaupt am Leben? Nur soviel hatte er ermitteln können, daß es zwei Knaben waren und ein kaum entwöhntes kleines Mädchen; sonst nichts. Er richtete betreffs der bejammernswerthen Kleinen an sich selber eine Menge Fragen, die er nicht beantworten konnte. Aus den Leuten, die er um Auskunft gebeten hatte, war nichts herauszubringen gewesen als ein Kopfschütteln. Herr von Lantenac war ein Mann, von dem Niemand gerne sprach. Und nicht nur sprach man nicht gern von Lantenac, sondern man sprach auch nicht gern mit Tellmarch. Die Bauern haben ihr absonderliches Mißtrauen. Sie fühlten sich von ihm abgestoßen; Tellmarch der Caimand war für sie eine unheimliche Erscheinung; warum starrte er immer in den Himmel hinauf? Was that er und was machte er sich für Gedanken, wenn er stundenlang so unbeweglich dastand? Dahinter mußte etwas stecken. In dieser Gegend voller Krieg, die sich in flammendem Aufruhr verzehrte, wo Jedermann nur einem Geschäft, der Zerstörung, einer Arbeit, dem Gemetzel, nachging, wo man in gegenseitigem Wettstreit Häuser in Brand steckte, Familien hinschlachtete, Wachtposten niederhieb und Dörfer plünderte, wo alles Sinnen und Trachten darauf hinauslief, sich in einen Hinterhalt zu legen, den Feind in eine Falle zu locken und sich beiderseits umzubringen, hatte er entschieden etwas Beunruhigendes an sich, jener in den Anblick der Natur versenkte, gewissermaßen im unendlichen Frieden der außermenschlichen Dinge untergegangene Einsiedler, der seine Gräser und Kräuter pflückte und sich lediglich mit Blumen, Waldvögelchen und Sternen abgab; er war offenbar nicht bei Verstand; er kroch ja mit keiner Flinte hinter den Hecken und schoß auf Niemand; deshalb betrachtete man ihn mit einem dumpfängstlichen Gefühl. »Der Mann ist verrückt«, sagten die, die an ihm vorbeigingen; Tellmarch war mehr als einsam: er war gemieden. Man redete ihn nicht an, antwortete ihm nur selten, und so war es ihm denn nicht möglich geworden, alle gewünschten Erkundigungen einzuziehen. Der Kampf hatte sich weitergewälzt; man hatte den Kriegsschauplatz gewechselt; der Marquis von Lantenac war hinter dem Horizont verschwunden und das Wüthen des Hasses mußte ein Mensch wie Tellmarch, wenn er es beachten sollte, auf seinem Nacken fühlen.

Bei der Aeußerung »meine Kinder« hatte Tellmarch zu lächeln aufgehört und die Mutter nachzugrübeln begonnen. Was ging in ihrer Seele vor? Sie war wie gefangen in einem Abgrund. Plötzlich schaute das Weib zu Tellmarch auf und rief abermals, fast im Ton des Zornes: – Meine Kinder!

Tellmarch senkte das Haupt wie Einer, der sich schuldig weiß; er dachte an jenen Marquis von Lantenac, welcher seiner gewiß nicht dachte, ja längst wohl vergessen hatte, daß ein Tellmarch existirte. Das sah er auch ein und sagte zu sich selber: Ein vornehmer Herr, der kennt Einen, so lange die Gefahr währt; nachher ist’s aus mit der Bekanntschaft. Aber, warum, fragte er sich, warum hast Du den vornehmen Herrn gerettet? Weil es ein Mensch ist, gab er sich zur Antwort und verweilte eine Zeitlang bei dem Gedanken; dann fragte er weiter: Ist das auch so gewiß? und schloß mit seinem bittern Ausspruch von damals: Hätte ich ahnen können! …

Das ganze Abenteuer mit dem Marquis drückte ihn nieder, denn aus seiner That blickte ihn etwas Räthselhaftes an, das wehmüthige Betrachtungen in ihm wachrief: eine gute Handlung konnte also auch eine böse Handlung sein; wer den Wolf rettet, tödtet die Lämmer; wer die Schwinge des Geiers heilt, wird verantwortlich für die Klauen.

Er warf sich wirklich eine Schuld vor und gab dem unbewußten Zorn der Mutter Recht. Daß er diese gerettet hatte, ließ ihn zwar die Rettung des Marquis wieder verschmerzen; aber die Kinder?

Auch die Frau brütete noch immer vor sich hin. Beider Gedanken hielten Schritt mit einander und mochten sich wohl, wenn auch ohne Worte, im Halbdunkel der Träumerei verschmelzen. Jetzt richtete die Mutter den umnachteten Blick wieder auf Tellmarch: – So kann es doch nicht ausgehen, sagte sie. – Still, flüsterte Tellmarch und legte den Finger auf den Mund. Sie jedoch fuhr fort: – Es war nicht recht von Euch, mich ins Leben zurückzurufen und ich verarg es Euch. Lieber wäre ich todt; dann könnte ich sie wenigstens sehen und wüßte, wo sie sind, und wenn auch sie mich nicht sehen würden, so wäre ich doch um sie; so etwas wie eine Todte, das darf gewiß über die Seinen wachen.

Tellmarch streckte die Hand aus und griff ihr nach dem Puls: – Beruhigt Euch; Ihr redet Euch ja ins Fieber.

– Wann werde ich fort können? fragte sie; fast mit barscher Stimme.

– Fort? – Ja, in die Welt hinaus.

– Nie, wenn Ihr nicht vernünftig seid; wollt Ihr aber brav sein, schon morgen.

– Was heißt Ihr brav sein? – Dem lieben Gott vertrauen. – Gott! was hat er mit meinen Kindern angefangen?

Sie war wie von Sinnen: – Ihr begreift doch, setzte sie hinzu, und ihre Stimme klang plötzlich sehr weich, daß ich so nicht weiterleben kann. Ihr habt keine Kinder gehabt, aber ich. Das ist doch ein Unterschied. Man kann sich keinen Begriff von einer Sache machen, wenn man nicht weiß, was es ist. Ihr habt nie Kinder gehabt, nicht wahr?

– Nein, antwortete Tellmarch.

– Und ich habe sonst nichts gehabt als Kinder. Was wäre ich denn ohne meine Kinder? Es soll mir Einer nur erklären, warum ich meine Kinder nicht bei mir habe. Eben weil ich’s nicht verstehe, merke ich, daß etwas vorgeht. Sie haben mir meinen Mann umgebracht, haben auf mich geschossen; aber ich versteh’s einmal nicht.

– Da packt Euch schon Euer Fieber wieder. Seid doch nur still. Sie sah ihn an und verstummte. Von diesem Augenblick sprach sie nicht mehr. Sie wurde gehorsamer, als es Tellmarch lieb war. Stundenlang konnte sie beim alten Baum kauern, und vor sich hinstarren, brütend und schweigend. Im Schweigen finden die einfachen Gemüther, wenn sie sich in einen Schmerz vertieft haben, eine Art Zuflucht. Sie schien es aufzugeben, ihre Lage zu begreifen. Ueber ein gewisses Maß hinaus ist dem Verzweifelnden die Verzweiflung nicht mehr faßbar. Tellmarch betrachtete sie voller Rührung. Beim Anblick dieses Jammers verfiel der alte Mann in die Denkweise eines Weibes: Ach ja, sagte er zu sich selber, mit den Lippen spricht sie nicht; sie spricht aber mit den Augen; ich sehe schon, was ihr fehlt; sie hat blos ein einziges Gefühl: Mutter gewesen zu sein und es nicht mehr zu sein, einen Säugling gestillt zu haben und ihn nicht mehr stillen zu können. Sie kann’s nicht verwinden. Sie denkt an das ganz Kleine, dem sie noch vor Kurzem die Brust reichte. Daran denkt und denkt sie immer und immer. Und es muß ja auch so überaus lieblich sein, zu fühlen, wie ein kleiner rother Mund Einem die Seele aus dem Leib trinkt und sich ein eigenes Leben saugt aus dem Leben der Mutter.

Auch er schwieg jetzt, denn dieser Zerknirschung gegenüber leuchtete ihm die Ohnmacht der menschlichen Sprache ein. Eine stumme fixe Idee ist etwas Schreckliches. Und wie wäre der fixen Idee einer Mutter beizukommen? Aus der Mutterempfindung giebt es keinen Ausweg; mit ihr läßt sich nicht rechten. In dieser vernunftlosen Verbortheit liegt gerade das Erhabene an einer Mutter. Die Mutterliebe ist das Göttliche im Thierischen. Eine Mutter ist nicht mehr das Weib; sie ist das Weibchen und die Kinder sind ihre Jungen. Daher ein Etwas, welches zugleich unter und über dem logischen Denken steht, ein sechster Sinn. In der Mutter webt das unendliche, geheimnißvolle Wollen der Schöpfung, eine Blindheit voll Erkenntnißahnen. Jetzt bemühte sich Tellmarch, die Unglückliche wieder zum Reden zu bringen, leider umsonst.

– Es ist ein Elend, sagte er eines Tags zu ihr, daß ich alt bin und nicht mehr gehen kann. Ich bin beim Ende meiner Kraft früher angelangt als beim Ende meines Wegs. Schon nach einer Viertelstunde versagen die Beine mir den Dienst und ich muß ausruhen. Sonst könnte ich Euch begleiten. Doch wer weiß? vielleicht ist es doch gut so; ich würde Euch eher Gefahr als Nutzen bringen. Hier duldet man mich, aber den Blauen bin ich als Bauer verdächtig und den Bauern als Hexenmeister.

Er wartete auf eine Antwort. Sie schaute nicht einmal auf. Eine fixe Idee führt zum Wahnsinn oder zum Heldenthum. Doch zu welchem Heldenthum kann ein armes Bauernweib sich versteigen? Zu keinem; es kann Mutter sein, weiter nichts. So versank sie denn, unter Tellmarchs Augen, täglich tiefer in ihre Träumerei. Er versuchte nun, sie zu beschäftigen, brachte ihr Faden, Nadel- und Fingerhut und, zur Freude des armen Bettlers, fing sie wirklich zu nähen an; sie war zwar stets noch verträumt, aber doch fleißig, immerhin ein Zeichen von Gesundheit. Ihre Kräfte nahmen sichtlich zu. Sie stickte ihre Wäsche, ihre Kleider, ihre Schuhe, doch ihr Auge blieb verglast. Mitten unter der Arbeit sang sie mit halber Stimme verworrene Liederweisen vor sich hin und murmelte Namen, wahrscheinlich Kindernamen, aber so undeutlich, daß Tellmarch sie nicht verstand. Zuweilen hielt sie inne, um die Vögel zu belauschen, als ob sie von ihnen etwas erfahren könnte. Auch nach dem Wetter schaute sie. Ihre Lippen bewegten sich und leise sprach sie mit sich selber. Sie nähte sich einen Sack und füllte ihn mit Kastanien. Eines Morgens machte sie sich auf, den Blick aufs Geradewohl vor sich hingerichtet in den tiefen Wald.

– Wo wollt Ihr hin, fragte Tellmarch?

– Sie suchen, erwiderte sie.

Tellmarch ließ sie ohne jegliche Vorstellung ziehen.

VII.

Die beiden Pole des Wahren.

Nach einigen Wochen, reich an allen Abwechselungen des Bürgerkriegs, wurde in der Gegend von Fougères nur noch von zwei Männern gesprochen, die, trotz ihrer gründlichen Charakterverschiedenheit, ein gemeinsames Ziel verfolgten, das heißt neben einander die große revolutionäre Schlacht ausfochten. Der Zweikampf in der Vendée dauerte fort; nur verlor die Vendée von ihrem Terrain. Im Departement Ille-et-Vilaine namentlich war es dem jungen Kommandanten, der in Dol zu so gerathener Zeit die Kühnheit der sechstausend Royalisten mit der Kühnheit der fünfzehnhundert Patrioten übertrumpft hatte, gelungen, den Aufstand wenn nicht zu ersticken, so doch bedeutend zu schwächen und einzudämmen. Auf diesen Handstreich waren seitdem noch ein paar ähnliche gefolgt und durch dies Kriegsglück wurde eine neue Situation geschaffen.

Die Lage hatte eine andere Gestalt angenommen, aber zu gleicher Zeit war eine eigenthümliche Verwickelung eingetreten. Daß in diesem Theil der Vendée die Republik die Oberhand hatte, darüber war kein Zweifel möglich, doch was für eine Republik? Mitten im aufkeimenden Triumph standen einander zwei Verkörperungen der Republik gegenüber, die Republik des Schreckens und die Republik der Milde; die eine wollte durch Einschüchterung, die andere durch Großmuth siegen. Welche sollte Recht behalten? Beide Systeme waren durch zwei Männer von besonderem Einfluß und Ansehen vertreten, durch einen Militärchef und einen Civilbevollmächtigten. Welchem von den Zweien gehörte die Zukunft? Der Eine, der Civilbevollmächtigte, stützte sich, um seine Anschauung durchzusetzen, auf manchen gebieterischen Rückhalt: auf die drohende Parole des Pariser Stadtraths, die er den Bataillonen von Santerre zu überbringen hatte: »Keine Gnade, keinen Pardon!« ferner auf die Verordnung des Konvents, die über Jeden Todesstrafe verhängte, »der einem gefangenen Rebellenführer die Freiheit schenken oder zur Flucht verhelfen würde«, ferner auf die ihm vom Wohlfahrtsausschuß übertragene unumschränkte Gewalt und endlich auf eine Bekräftigung seiner Vollmacht durch Robespierre, Danton und Marat. Der Andere, der Soldat, konnte sich nur auf die Kraft berufen auf das Mitleid. Er hatte nichts als seinen Arm, der die Feinde schlug, und sein Herz, das sich ihrer erbarmte. Als Sieger beanspruchte er das Recht, die Besiegten zu schonen. Daher eine Verborgene aber tiefgehende Spaltung zwischen diesen Männern, die von zwei verschiedenen Wolken herab im Kampf mit der Rebellion ihren besonderen Donnerkeil schleuderten, der Eine den Sieg, der Andere den Schrecken.

Im ganzen Bocage war nur von ihnen die Rede und allenthalben richtete man den Blick mit um so größerer Spannung auf sie, als die zwei so schroff einander Gegenüberstehenden, hiervon abgesehen, auf’s Innigste verbunden waren. Nie hatten sich zwei Seelen in edlerer und wärmerer Zuneigung zu einander hingezogen gefühlt; trug doch der Hartherzige eine Narbe auf der Stirn, die davon erzählte, daß er dem Weichmüthigen das Leben gerettet hatte. Aus dem Einen starrte der Tod; aus dem Andern strömte das Leben; aus dem Einen sprach der Grimm, aus dem Andern die Versöhnung, und – seltenes Räthsel! – sie liebten einander dennoch. Man denke sich einen barmherzigen Orest und einen unerbittlichen Pylades, oder denke sich Ahriman als den Bruder von Ormuzd. Bemerken wir übrigens noch, daß derjenige, den wir den Hartherzigen genannt haben, zugleich der aufopferndste Mensch der Welt war, daß er die Verwundeten verband, die Kranken pflegte, Tag und Nacht in Lazarethen und Spitälern wachte, daß ihn ein barfüßiges Bettelkind im Tiefsten rühren konnte, daß er nichts besaß, weil er den Armen Alles gab. Wo man sich schlug, war er dabei; an der Spitze der Kolonnen drang er ins dichteste Schlachtgewühl vor, bewaffnet, denn er trug ja einen Säbel und im Gürtel zwei Pistolen, und wehrlos, denn noch nie hatte man ihn den Säbel ziehen oder die Pistolen abfeuern sehen. Er trotzte jedem Hieb, ohne ihn zu erwidern. Er sei eben Priester gewesen, sagte man. Zwischen den Menschen Gauvain und Cimourdain waltete Freundschaft, aber ihre Anschauungsweisen stießen einander feindlich ab. Sie glichen den beiden Hälften einer entzwei geschnittenen Seele; es war, als habe Cimourdain seinen zarten Theil, den hellen Strahl, dem Schüler abgetreten und für sich behalten, was man den dunkeln Strahl nennen möchte. Darin lag eine schlummernde Dissonanz, ein dumpfer Widerstreit, der früher oder später einen Anprall herbeiführen mußte. So brach denn auch eines Morgens der offene Kampf aus. Cimourdain sagte zu Gauvain:

– Wie weit wären wir jetzt eigentlich?

– Das wissen Sie so gut wie ich, antwortete Gauvain. Ich habe Lantenac’s Banden zerstreut.

Mit den paar Mann, die er noch bei sich hat, kommt er aus dem Wald von Fougères nicht mehr heraus. In acht Tagen ist er umzingelt.

– Und in vierzehn Tagen?

– Gefangen.

– Und dann?

– Sie haben mein Plakat ja gelesen?

– Ja, also dann?

– Dann wird er erschossen.

– Immer wieder diese Milde. Guillotinirt muß er werden.

– Ich, sagte Gauvain, bin für den Soldatentod.

– Und ich, entgegnete Cimourdain, bin für die revolutionäre Hinrichtung.

Er schaute Gauvain scharf zwischen die Augen und fragte:

– Warum hast Du jene Klosterfrauen von Saint-Marc-le-Blanc auf freien Fuß setzen lassen?

– Ich führe nicht Krieg gegen Frauen, erwiderte Gauvain.

– Jene Frauen hassen das Volk und im Hassen wiegt ein Weib zehn Männer auf. Warum hast Du Dich geweigert, jenes ganze Rudel von fanatischen alten Priestern, das in Louvigné gefangen ward, vors revolutionäre Schwurgericht zu verweisen?

– Ich führe nicht Krieg gegen Greise.

– Ein alter Priester ist schlimmer als ein junger und um so gefährlicher die Rebellion, wenn man sie predigt mit weißem Haar, denn so eine runzelige Stirn imponirt den Menschen. Nur kein falsches Mitleid, Gauvain. Von den Königsmördern geht die Befreiung aus. Laß mir den Thurm le Temple nicht aus dem Auge.

– Den Thurm le Temple! Aufschließen würde ich ihn dem gefangenen Dauphin: ich führe nicht Krieg gegen Kinder.

– Wisse, Gauvain, sagte Cimourdain mit strafendem Blick, daß Krieg geführt werden soll auch gegen das Weib, wenn es Marie-Antoinette, auch gegen den Greis, wenn er Pius VI., auch gegen das Kind, wenn es Louis Capet heißt.

– Lieber Lehrer, ich bin kein politischer Kopf.

– Ein gefährlicher Kopf zu sein, davor hüte Dich. Beim Angriff auf den Wachtposten von Cossé, als der Rebell Jean Treton, in die Enge getrieben, mit dem gewissen Tod vor Augen, sich, den Säbel in der Faust, allein, auf Deine ganze Kolonne warf, warum hast Du gerufen: »Oeffnet die Reihen, laßt ihn durch?«

– Weil man nicht zu Fünfzehnhundert zusammensteht, um einen Einzelnen umzubringen.

– Und in la Cailleterie d’Astillé, als Deine Soldaten sich anschickten, den verwundet am Boden hinkriechenden Joseph Bézier niederzumachen, warum hast Du da gerufen: »Vorwärts Marsch! Laßt das meine Sache sein«, und hast Dein Pistol dann in die Luft abgefeuert?

– Weil man Keinen umbringt, der am Boden liegt.

– Und hast doch wieder Unrecht gehabt, denn zur Stunde führt Jeder von Beiden eine Bande an; aus Joseph Bézier ist Moustache geworden und aus Jean Treton Jambe-d’Argent. Durch die Rettung jener zwei Männer hast Du die Feinde der Republik um zwei vermehrt.

– Mein Streben aber war und ist, ihr Freunde zu werben, anstatt ihre Feinde zu verbittern.

– Warum hast Du nach dem Sieg von Landéau Deine dreihundert Gefangenen nicht erschießen lassen?

– Weil Bonchamp zuvor die gefangenen Republikaner geschont hatte und nicht gesagt werden sollte, die Republik sei minder hochherzig als ein Royalist.

– So würdest Du also auch Lantenac, wenn er in Deine Hände fiele, am Leben lassen?

– Nein.

– Warum denn nicht, da Du die dreihundert Bauern am Leben gelassen hast?

– Die Bauern sind blinde Werkzeuge; Lantenac hingegen weiß, was er thut.

– Aber mit Lantenac bist Du verwandt.

– Ich bin verwandt mit Frankreich.

– Lantenac ist ein Greis.

– Lantenac ist ein Fremder. Lantenac hat kein Alter. Lantenac ruft die Engländer herein. Lantenac ist die Invasion. Lantenac ist der Feind des Vaterlands und der Zweikampf zwischen ihm und mir kann nur mit seinem Tod enden oder mit dem meinen.

– Gauvain, diese Worte grabe in Dein Gedächtniß.

– Das sind sie schon.

Es entstand eine Pause; Beide schauten einander an.

– Blutroth wird sie in der Geschichte stehen, diese Jahreszahl 93, bemerkte Gauvain.

– Sei auf der Hut vor Dir selber, rief Cimourdain. Die furchtbaren Pflichten sind Wirklichkeiten. Klage nicht an, was nicht angeklagt werden kann. Seit wann trägt der Arzt die Schuld an der Erkrankung? Freilich ist es die Unerbittlichkeit, welche diesem Ungeheuern Jahr den Stempel aufdrückt. Und warum? Weil es das große Revolutionsjahr ist. Dies Jahr, in dem wir leben, ist die Verkörperung der Revolution. Die Revolution hat einen Feind, die alte Welt, und für den kennt sie kein Erbarmen, gerade wie der Wundarzt einen Feind hat, den Krebs, und für den auch kein Erbarmen kennt. Die Revolution schneidet das Königthum aus in der Person des Königs, den Adel in der Person des Adeligen, die Willkürherrschaft in der Person des Söldlings, den Aberglauben in der Person des Priesters, die Barbarei in der Person des Richters, mit einem Wort alle Tyrannei in der Person derer Aller, welche der Tyrann sind. Die Operation ist gräßlich; mit sicherer Hand führt die Revolution sie zu Ende, und was das gesunde Fleisch betrifft, das mit ausgeschnitten wird, frage nur einmal bei einem Boerhave an, wie er darüber denkt. Welches Geschwür läßt sich entfernen ohne Blutverlust? Welcher Stadtbrand läßt sich löschen, ohne daß man ihm ein paar Häuser erst aufopfert? Gerade diese schrecklichen Nothwendigkeiten sind die Grundbedingungen des Erfolgs. Ein Wundarzt hat immer eine gewisse Aehnlichkeit mit dem Fleischer, und wer da heilt, läuft immer Gefahr, für Einen gehalten zu werden, welcher hinrichtet. So giebt sich die Revolution opfermuthig zu dem Schicksalswerk her und verstümmelt, um zu retten. Und Ihr, Ihr ruft sie um Gnade an für die Fäulniß? verlangt Nachsicht von ihr für den Giftstoff? Aber sie hört nicht auf Euch. Sie hält die Vergangenheit unter dem Messer und wird ihr den Rest geben. Sie schneidet unserer Kultur eine klaffende Wunde, aus welcher die Gesundheit des ganzen Menschengeschlechts hervorblühen wird. Ihr leidet darunter? Freilich; doch auf wie lang? Nur bis die Operation überstanden sein wird, und dann sollt Ihr leben. Die Revolution amputirt der Welt ein paar Glieder, und den Blutabfluß nennen wir das Jahr 93.

– Der Chirurg bleibt kalt, sagte Gauvain, und die Männer von heute sind voller Leidenschaft.

– Die Revolution, entgegnete Cimourdain, braucht wilde Gehilfen. Sie weist jede Hand zurück, die ins Zittern geräth, und vertraut sich nur den Unerbittlichen an. Danton ist der Furchtbare; Robespierre ist der Unbeugsame; Saint-Just ist der Unabwetzbare; Marat ist der Unversöhnliche. Nimm Dich in Acht, Gauvain. Diese Namen sind Notwendigkeiten, sind ebensoviel Armeen und vor ihnen wird die europäische Koalition zurückbeben.

– Die Nachwelt vielleicht auch, sagte Gauvain und fuhr dann nach kurzem Schweigen fort: Sie irren sich übrigens, mein lieber Lehrer, wenn Sie glauben, daß ich Jemand anklage. Für mich läßt sich die Revolution nur von einem Standpunkt aus beurtheilen, von dem der Unverantwortlichkeit und ohne allen Schuldbegriff. Ludwig XVI. ist ein Lamm unter Löwen. Er will fliehen, sucht Rettung, möchte sich vertheidigen, würde beißen, wenn er nur könnte, aber Löwe kann nicht Jeder sein; es blos sein zu wollen, gilt für ein Verbrechen. Das zornentbrannte Lamm zeigt die Zähne. Seht den Verräther! sagen die Löwen und sie zerreißen es. Und dann, dann bekriegen sie einander selbst. – Ein Lamm ist ein Thier. – Und ein Löwe, was ist der?

Dieser Einwurf gab Cimourdain zu denken.

– Jene Löwen, sagte er, das Haupt wieder erhebend, jene Löwen sind ebensoviele Gewissen, ebensoviele Ideen, ebensoviele Prinzipien.

– Sie führen die Schreckenszeit herauf.

– Die vollbrachte Revolution wird die Rechtfertigung der Schreckenszeit sein. Sorgen Sie dafür, daß die Schreckenszeit nicht die Verleumdung der Revolution werden möge. Und Gauvain fuhr fort: Freiheit, Gleichheit, Verbrüderung, das sind doch Grundsätze des Friedens und Herzenseinklangs; warum also ihnen eine abschreckende Gestalt geben? Was wollen wir denn? Die Völker für die Weltrepublik gewinnen. Flößen wir ihnen also vor Allem keine Furcht ein. Wozu die Einschüchterung? Gerade so wenig wie die Vögel fühlen sich die Menschen zu einem vor ihnen aufgerichteten Schreckbild hingezogen. Man soll nicht um des Guten willen Böses thun. Man stürzt einen Thron nicht, um ein Schaffot stehen zu lassen. Den Königen Tod, aber für die Völker Leben! Reißen wir die Kronen herab, nicht die Köpfe! Die Revolution ist die Eintracht, nicht das Entsetzen, und zur Verbreitung milder Anschauungen taugen keine nachsichtlosen Männer. In der ganzen menschlichen Sprache ist das Wort Aussöhnung für mich das Schönste. Blut will ich nur da vergießen, wo ich mein eigenes in die Schanze schlage. Indem kann ich nichts Anderes und bin weiter nichts als ein Soldat. Wenn jedoch nicht verziehen werden darf, verlohnt sich’s kaum mehr, zu siegen. Seien wir darum nur während der Schlacht die Feinde unserer Feinde, dann aber ihre Brüder!

– Zum dritten Mal warne ich Dich, sagte Cimourdain. Du, Gauvain, bist mir mehr als ein Sohn; darum laß Dich warnen! Und in Gedanken versunken, fügte er noch hinzu: In unsern Zeiten ähnelt das Mitleid möglicherweise dem Verrath.

Der Meinungsaustausch dieser zwei Männer aber ähnelte einem Zwiegespräch zwischen dem Degen und der Axt.

VIII.

Dolorosa.

0207

Unterdessen suchte die Mutter ihre Kleinen.

Sie wanderte, wanderte. Wie sie lebte? Es läßt sich schwer sagen; sie selber wußte es kaum. Tage und Nächte lang war sie unterwegs; sie bettelte; sie stillte ihren Hunger mit dem Gras des Feldes, schlief auf der harten Erde oder im Gestrüpp, unter freiem Himmel, oft unter den Sternen, oft auch unter Regen und Sturm. Sie erkundigte sich von Dorf zu Dorf, von Hof zu Hof, auf den Thürschwellen, in Fetzen, hier aufgenommen, dort weitergejagt. Wenn sie in den Häusern nicht geduldet wurde, ging sie ins Gehölz. Die Gegend war ihr unbekannt; unbekannt war ihr überhaupt Alles außer Siscoignard und der Gemeinde von Azé. Planlos streifte sie umher, fand sich oft an der Stelle wieder, die sie kurz zuvor verlassen hatte, und legte den unnütz gemachten Weg zwei Mal zurück, bald auf Steinen, bald in den Geleisen der Karren, bald auf Waldpfaden. Ihre elenden Kleider fielen ihr auf der Irrfahrt vom Leib. Erst ging sie in ihren Schuhen, dann barfuß, zuletzt auf blutenden Sohlen. Sie lief mitten durch den Krieg, zwischen den Flintenschüssen einher, ohne zu hören, ohne zu sehen, ohne auszuweichen, immer nach ihren Kindern. Alles war in Aufruhr; es gab weder Gensdarmen mehr, noch Bürgermeister, noch Gemeindebehörden, sie war lediglich auf die zufällig Vorübergehenden angewiesen; die redete sie denn an: Habt Ihr irgendwo drei kleine Kinder gesehen? fragte sie. Die Vorübergehenden schauten. Zwei Knaben und ein Mädchen, fuhr sie fort; René Jean, Gros-Alain, Georgette? Ist Euch so was nicht vorgekommen? Der Aelteste, setzte sie hinzu, ist vier und ein halbes Jahr alt, die Kleine zwanzig Monate. Wißt Ihr vielleicht, wo sie sind? fragte sie weiter; weggenommen hat man sie mir.

0239

Die Kinder wachten auf.

Aber man schaute sie an, und dabei blieb es. Da sie merkte, daß man sie nicht verstand, erklärte sie: Die Kinder gehören eben mir; so verhält es sich.

Und wenn die Leute weitergingen, blickte sie ihnen schweigend nach und riß sich den Busen mit den Nägeln wund. Ein Tages jedoch hörte ihr ein Bauer zu und schien sich auf etwas zu besinnen. Ja, was wäre denn das? meinte der gute Mann. Drei Kinder, sagt Ihr?

– Drei Kinder.

– Zwei Knaben?

– Und ein Mädchen.

– Das also sucht Ihr?

– Ja.

– Ich habe von einem großen Herrn gehört, der drei Kinder mit fortgenommen und bei sich hatte.

– Wo ist der Herr? rief sie. Wo sind sie. – Geht einmal nach La Tourgue. – Und dort werde ich meine Kinder wiederfinden?

– Allem Anschein nach, ja.

– Wohin sagtet Ihr?

– Nach La Tourgue.

– Was ist das, La Tourgue?

– Eine Gegend halt.

– Ein Dorf oder ein Schloß oder ein Gehöft?

– Dortgewesen bin ich nie.

– Habe ich weit dorthin?

– Nahe ist’s nicht.

– Wozugegen?

– Gegen Fougères zu.

– Wie kann ich hinkommen?

– Ihr seid zu Vantortes, sagte der Bauer, müßt also Ernée links und Coxelles rechts liegen lassen und geradeaus dorthin, wo die Sonne untergeht, fuhr er fort und deutete mit dem Arm nach Westen; erst über Lorchamp und nachher über Leroux.

Während der Bauer noch hindeutete, hatte sie sich schon auf den Weg gemacht. – Aber paßt auf, rief er ihr nach; dort drüben schlägt man sich.

Sie gab keine Antwort und eilte, ohne auch nur umzuschauen, in der gegebenen Richtung voran.

IX.

1.

La Tourgue.

0223

Der Wanderer, der von Laignelet nach Parigne durch den Wald von Fougères ging, wurde, noch vor vierzig Jahren, am Saume des wilden Dickichts angelangt, durch eine düstere Begegnung überrascht. Beim Heraustreten aus dem Wald stand er plötzlich La Tourgue gegenüber, oder vielmehr der geborstenen, zerschossenen, durchlöcherten, verstümmelten Leiche von La Tourgue. Die Ruine verhält sich zum Gebäude wie das Gespenst zum Menschen. Man konnte nichts Unheimlicheres sehen als den hohen, runden, wie einen Verbrecher einsam am Waldrand lauernden Thurm La Tourgue. Diesen Thurm, der auf einem senkrechten Felsen emporragte, hätte man für einen Römerbau halten können, denn in ihren regelmäßigen, mächtigen Dimensionen legte Einem die gewaltige Steinmasse zugleich mit dem Begriff des Verfalls den Begriff der Dauerhaftigkeit nahe. Einigermaßen römisch war sogar der Thurm auch, denn er war romanisch; im neunten Jahrhundert entstanden, war er im zwölften Jahrhundert, nach dem dritten Kreuzzug, vollendet worden; für dies Alter zeugten die rechtwinkeligen Vorsprünge an den Kämpfern der Thür- und Fensteröffnungen. Wenn man näher trat, die Höhe erklomm und sich durch eine Bresche wagte, die man jetzt gewahrte, war man drinnen, und drinnen war Alles leer. Man denke sich in etwas wie eine kolossale, aufrechtstehende, steinerne Trompete hinein; von unten bis hinauf kein Hemmniß für den Blick, weder Decken noch Fußböden mehr, nur hin und wieder Gewölbe- und Kaminunterlagen, und in verschiedener Höhe Lücken für das Querholz, granitene Mauerkränze mit Balkenträgern und noch einige, die Lage der Stockwerke andeutende, von den dort hausenden Nachtvögeln verunreinigte Balken; sonst nichts als die riesige, am Boden fünfzehn und an der Spitze zwölf Fuß dicke Mauer mit Löchern, die einst Thüren gewesen und durch welche man die im Innern dieser Mauer aufsteigenden dunkeln Treppen halb errathen, halb wahrnehmen konnte. Der Wanderer, der am Abend bis hierher vordrang, hörte das Geschrei der Eulen, der Windfänger, der Ziegenmelker und Schildreiher, und sah Dornsträucher, Steine, Reptilien zu seinen Füßen, zu Häupten aber, durch eine schwarze Rundung, welche die Thurmspitze war und der Oeffnung eines ungeheuern Brunnens glich, die Sterne. In der Gegend war von Alters her das Gerücht verbreitet, daß in den oberen Stockwerken des Thurms geheime Thüren seien, große Steine, die, wie die Pforten an den jüdischen Königsgräbern, auf einem Zapfen ruhend, durch Drehen geöffnet wurden, und die, wieder zugemacht, in der Mauerfläche verschwanden, – eine architektonische Mode, welche, wie auch der Spitzbogen, in Folge der Kreuzzüge dem Orient entlehnt worden. Geschlossen, waren diese Thüren für den nicht Eingeweihten unmöglich zu finden, so täuschend sahen sie allen übrigen Steinen der Mauer ähnlich. Solche Pforten kommen heutigen Tages noch in den geheimnißvollen Ortschaften des Libanon vor, welche vom Erdbeben der zwölf Städte unter Tiberius verschont geblieben sind.

2.

0228

Die Bresche.

Die Bresche, durch die man in die Ruine trat, rührte von einer Mine her, welche den vollen Beifall eines mit Errard, Sadi und Pagan vertrauten Kenners verdient hätte. Die pfaffenmützenförmige Pulverkammer stand zum Objekt, das sie sprengen sollte, in richtigem Verhältniß und mußte mindestens ihre zwei Centner Pulver enthalten haben. Sie befand sich am Ende eines geschlängelten Ganges, der ja dem geraden immer vorzuziehen ist. Das Springen der Mine hatte im zerrissenen Gemäuer die Bahn der Pulverwurst blosgelegt, welche den erforderten Durchmesser eines Hühnereis aufwies, und dem Thurm eine tiefe Wunde beigebracht, durch welche die Belagerer jedenfalls eindringen konnten. Daß dieser Thurm zu allen möglichen Zeiten solche regelmäßige Belagerungen hatte aushalten müssen, zeigten die je nach ihrem Alter verschiedenartigen Verletzungen, mit denen er über und über bedeckt war; jedes Geschoß hinterläßt seine charakteristische Spur, und dem Thurm hatte auch Jegliches seine Siegel aufgedrückt, von den steinernen Kugeln des vierzehnten bis zu den eisernen des achtzehnten Jahrhunderts.

Gegenüber der Bresche, durch die man in den Raum trat, der früher das Parterre gewesen, öffnete sich in der Thurmmauer das Pförtchen, durch welches man zu einer in den Felsen gehauenen Krypte hinunterstieg, welche sich zwischen dem Fundament des Gebäudes bis unter das Erdgeschoß ausdehnte. Diese zu drei Vierteln bereits verschüttete Krypte hat der Alterthumsforscher von Bernau, Herr August Le Prevost, im Jahr 1855 säubern lassen.

3.

Das Burgverließ

0229

Das eigentliche Burgverließ des Schlosses La Tourgue.

Die Krypte war das Burgverließ, das unter dem Hauptthurm keines Schlosses fehlen durfte; sie war, wie viele unterirdischen Kerker aus derselben Zeit, zweistöckig. Den ersten Stock, in den man durch das Pförtchen gelangte, bildete ein ziemlich geräumiges Gewölbe, das an den ebenerdigen Saal grenzte. An den Seitenwänden dieser Kammer bemerkte man gegenüberliegend je eine senkrechte Furche; beide Furchen liefen längs der Decke mit tiefem Einschnitt geleiseförmig in einander. Geleise waren es auch, denn sie waren durch zwei Räder gegraben worden. Früher, zur Zeit der Feudalherrschaft, wurde in dieser Kammer die Viertheilung vollzogen, und zwar in einfacherer Weise als vermittelst der vier Pferde. Auf jeder Seite stand nämlich, die Speichen der Wand zukehrend, ein Rad, welches so stark und groß war, daß es sowohl Wand wie Decke berührte. An jedes Rad wurde ein Arm und ein Bein des armen Sünders befestigt; dann wurden die Räder in entgegengesetzter Richtung gedreht und der Mann in Folge dessen mitten entzweigerissen. Da dies nur mit bedeutendem Kraftaufwand geschehen konnte, hatten die Räder die Wände durchfurcht. Ein ähnliches Gewölbe findet man in Vianden heute noch.

Unter dieser Kammer lag eine zweite, das eigentliche Burgverließ. Es führte in dieselbe keine Thür, sondern ein Loch; der arme Sünder wurde, nachdem man ihn entkleidet hatte, an einem unter seinen Achselhöhlen festgebundenen Seil durch eine in der Mitte des steinernen Fußbodens der oberen Kammer angebrachte Oeffnung hinuntergelassen. Wenn er beharrlich weiterlebte, warf man ihm auf gleichem Weg seine Nahrung herab. Solch ein Loch ist jetzt noch in Bouillon zu sehen. Durch dies Loch zog ein Luftstrom aufwärts. Die tiefere Kammer, welche unter dem ebenerdigen Saale lag, war mehr ein Brunnen als eine Kammer; sie stand stellenweise voller Wasser und war von einem eisigen Windhauch durchweht. Dieser Windhauch, unter dem der untere Gefangene erstarrte, war eine Lebensbedingung für den Darüberwohnenden; er ermöglichte dem unter seinem Gewölbe im Finstern Herumtastenden das Atmen, denn nur durch dieses Zugloch wurde ihm Luft zugeführt. Wer übrigens in das Verließ hinab gelassen ward oder hinunterfiel, kam nie wieder heraus. Vor einem solchen Hinabfallen musste sich der Bewohner des ersten Kerkers wohl in Acht nehmen, denn es bedurfte nur eines Fehltritts, und der arme Sünder von oben musste unten zu Grunde gehen; dass ihm dies nicht widerfuhr, dafür hatte er eben zu sorgen. War ihm sein Leben lieb, so war das Loch für ihn eine Gefahr; war er hingegen des Lebens überdrüssig, so war es ihm ein Befreier. Das obere Stockwerk war das Gefängnis, das untere das Grab, eine Abstufung, die ein Abbild darbietet der damaligen Kulturzustände.

Von außen gewahrte man über der Bresche, durch die allein man vor vierzig Jahren in das Innere des Turms gelangte, eine Öffnung, welche breiter war als die anderen Schießscharten und an der ein zum Teil losgekittetes eingeschlagenes Gitterwerk aus Eisen herunter hing.

4.

Das Brückenschlösschen.

0231

Die Hinrichtung der Charlotte Corday

Der Tod Marat´s.

An der der Bresche entgegengesetzten Turmseite schloss sich, auf drei fast noch unversehrten Pfeilern ruhend, eine steinerne Brücke an, auf welcher ein Gebäude gestanden hatte, von dem nur noch die Trümmer vorhanden waren, das offenbar durch eine Feuersbrunst geschwärzte und angefressene Gebälk, eine Art Knochengerüst, durch welches die Sonne schien, und das sich neben dem Thurm erhob wie ein Skelett neben einem Phantom.

Nunmehr ist die Ruine ganz niedergerissen worden und keine Spur mehr davon übrig geblieben. Oft kann ein Bäuerlein in einem Tag abtragen, was manche Könige durch Jahrhunderte hindurch aufgebaut.

Der Name La Tourgue ist die volkstümliche Abkürzung von La Tour-Gauvain, ebenso wie »La Jupelle« eine Abkürzung von La Jupellière ist und der Name des Bandenführers »Pinson-le-Tort« das abgekürzte Pinson-le-Tortu.

La Tourgue, welches vor vierzig Jahren eine Ruine war und jetzt nur eine Erinnerung ist, war im Jahr 1793 noch eine Festung. Es war die alte Burg Derer von Gauvain, die Hochmacht am westlichen Eingang des Waldes von Fougères, der heutigen Tages ebenfalls kaum mehr ein Gehölz ist. Die Zitadelle war auf einen jener unzähligen großen Schieferblöcke gebaut, die zwischen Mayenne und Dinan auf den Haiden und im Dickicht zerstreut liegen, als hätten kämpfende Titanen damit herumgeworfen. Der Thurm war die ganze Festung; darunter der Fels, und unten am Felsen einer jener Bäche, die im Januar schäumend vorbeiströmen und im Juni versiegen. Diese überaus einfach angelegte Veste war im Mittelalter so gut wie unbezwingbar gewesen. Jetzt war ihre Widerstandsfähigkeit durch die Brücke beeinträchtigt. Diese Brücke war neueren Datums. So lange die von Gauvain Vikomte’s waren, hatte ihnen einer jener schwanken Stege genügt, die sich mit ein paar Beilhieben beseitigen lassen, als sie aber Marquis geworden und ihren Horst mit dem Hof vertauschten, bauten sie drei Pfeiler in das Bett des Baches und machten ihre Burg von der Ebene her zugänglich, wie sie selber zugänglich geworden waren für die Gunstbezeugungen des Königs. Die Marquis des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts gaben wenig mehr auf uneinnehmbare Schlösser; anstatt wie früher in die Fußtapfen ihrer Ahnen zu treten, kopierten sie jetzt Versailles.

Dem Thurm gegenüber, nach Westen zu, lag ein ziemlich hohes Plateau, das sich verlorenerweise an das Flachland anschloß; dieses Plateau stieß beinahe an den Felsen des Thurmes und war von ihm nur durch die tiefe Schlucht getrennt, in welcher der Bach dahinfloß, um in den Couesnon zu münden. Die Brücke, welche die Festung mit dem Plateau verband, ruhte, wie gesagt, auf Pfeilern, und auf diesen Pfeilern wurde, wie zu Chenouceaux, im Stile Mansards ein Gebäude aufgeführt, welches wohnlicher war als der Thurm; da sich jedoch die Sitten damals nur unmerklich gemildert hatten, hausten die Burgherren nach altem Brauch vorzugsweise noch in den kerkerähnlichen Räumen ihres Thurmes. Was das Schlößchen auf der Brücke betrifft, so enthielt es ein langes Hochparterre, das man den Saal der Garden nannte, und durch welches man aus- und einging, darüber eine Bibliothek und über dieser den Dachboden. Lange Fenster mit kleinen Rundscheiben von böhmischem Glas; zwischen den Fenstern Pilaster; steinerne Médallíons in den Mauern; drei Stockwerke; im unteren Partisanen und Musketen, im mittleren Bücher und im oberen Säcke voll Hafer: das Ganze war etwas romantisch und sehr vornehm.

Der Thurm nebenan war bedrohlich. Seiner ganzen unheimlichen Höhe nach beherrschte er den koketten Anbau, und von seiner Plattform aus konnte man die Brücke zerschmettern. Die beiden Wohnstätten, die steilragende und die niedlich schwebende, stießen eher wider als an einander; der Stil der einen widersprach dem Stil der anderen. Wenn es auch den Anschein hat, als müßten zwei Halbkreise identisch sein, so steht doch dem romanischen Rundbogen nichts schroffer gegenüber als eine klassische Bogenverzierung. Jener Thurm, der nur in den Wald paßte, war für diese Brücke, die nach Versailles gepaßt hätte, eine sonderbare Nachbarschaft. Man denke sich einmal Alain den Krummbart Arm in Arm mit Ludwig XIV. Die Zusammenstellung war abschreckend und es lag ein gewisses peinlich gewaltsames Etwas in der Aneinanderkoppelung so unverträglicher Vorzüge.

Vom militärischen Standpunkt aus war, wir wiederholen es, die Brücke dem Thurm äußerst gefährlich; durch sie verziert und entwaffnet, gewann er einen Schmuck und verlor dafür von seiner Stärke, denn durch die Brücke war er jetzt an das Plateau festgeschmiedet; von der Waldseite her noch immer unüberwindlich, war er nach der Ebene zu nunmehr verwundbar und wurde von dem Plateau, das früher er beherrschte, selber beherrscht. Wie leicht konnte sich von dort aus ein Feind der Brücke bemächtigen! Bibliothek und Dachboden kamen dem Belagerer als Bundesgenossen gegen den Vertheidiger zustatten. Eine Bibliothek hat mit einem Dachboden das gemein, daß sowohl Bücher wie Stroh Zündstoff sind. Dem Belagerer, dem die Feuersbrunst zugut kommt, gilt es gleich, ob ein Homer oder ein Bündel Stroh brennt, wenn überhaupt nur etwas brennt; dafür liefern französischerseits Heidelberg und deutscherseits Straßburg den Beweis. Demnach war der Anbau der Brücke ein strategischer Fehler; aber im siebzehnten Jahrhundert, unter Colbert und Louvois, ließen sich die Fürsten Gauvain, ebensowenig wie die Fürsten von Rohan oder von La Trémoille, träumen, daß sie jemals noch belagert werden dürften. Dennoch hatte der Architekt einige Vorsichtsmaßregeln getroffen. Erstens war für den Fall einer Feuersbrunst vorgesorgt worden: unter den drei Fenstern des Schlößchens bachabwärts hing querüber an Haken, welche vor einem halben Jahrhundert noch zu sehen waren, eine starke Rettungsleiter, deren Länge der Höhe des unteren und mittleren Stockwerks, also der Höhe von drei gewöhnlichen Stockwerken, entsprach. Zweitens war auch gesorgt für den Fall eines Angriffs: die Brücke war vom Thurm durch eine schwere, niedrige, gewölbte Thür von Eisen getrennt, deren großer Schlüssel sich in einem dem Schloßherrn allein bekannten Versteck befand und die, einmal zugesperrt, des Sturmbocks spotten, ja vielleicht wohl auch den Kanonen Trotz bieten konnte. Zu dieser Thür führte nur die Brücke und in den Thurm nur diese Thür. Einen anderen Eingang gab es nicht.

5. Nummer

Die eiserne Thür.

Die mittlere Etage des auf den ragenden Pfeilern ruhenden Brückenschlößchens entsprach dem zweiten Stock des Thurmes, und in dieser Höhe war, der größeren Sicherheit halber, die eiserne Thür angebracht worden. Gegen die Brücke zu führte sie in die Bibliothek und gegen den Thurm zu in einen großen gewölbten Saal mit einer Säule in der Mitte; dieser Saal bildete, wie wir bereits wissen, das zweite Stockwerk des Thurmes und war deshalb rund; seine Beleuchtung erhielt er durch lange Schießscharten, die auf die Ebene hinausgingen. Die rohe Mauer trug keinerlei Verzierung und zeigte, übrigens symmetrisch sauber aneinandergereiht, ihre nackten Steine. Zu dem Saal führte eine in der Mauer aufsteigende Wendeltreppe, was bei einer Mauer von fünfzehn Fuß Tiefe nichts Absonderliches war. Im Mittelalter eroberte man eine Stadt Straße für Straße, eine Straße Haus für Haus, ein Haus Zimmer für Zimmer. Bei einer Festung mußte ein Stockwerk nach dem anderen belagert werden, und in dieser Hinsicht war La Tourgue vortrefflich eingerichtet; es setzte einem im Innern weiter dringenden Feind große Schwierigkeiten und Hindernisse entgegen. Die Treppen, durch welche die verschiedenen Stockwerke mit einander in Verbindung standen, waren, abgesehen von ihren Windungen, auch noch sehr steil und die schrägen Thüren so niedrig, dass man sich bücken mußte, um durchzukommen; mit vorgebeugtem Kopf eintreten müssen, hieß aber so viel wie mit zerschmettertem Kopf hereinfallen, denn hinter jeder Thür lauerte der Belagerte dem Belagerer auf.

Unter diesem runden Saal mit dem Pfeiler lagen zwei ähnliche Räume, einer im ersten Stock und einer im Erdgeschoß; darüber noch volle drei Etagen, und über den sechs aufeinander stehenden Gemächern war der Thurm durch einen steinernen Deckel geschlossen, welcher die Plattform bildete und auf den man durch ein enges Schauthürmchen emporstieg.

Die fünfzehn Fuß dicke Mauer, durch die man die Öffnung hatte brechen müssen, in welche man die eiserne Thür angebracht, schloss diese in eine lange Wölbung ein, so dass sich, wenn sie zu war, vor und hinter ihr, sowohl nach dem Saal wie nach der Brücke zu je eine Vorhalle von sieben bis acht Schuh Tiefe befand; stand hingegen die Pforte offen, so bildeten die beiden Vorhallen ein einziges doppelt so langes Thorgewölbe.

Unter der Vorhalle an der Brückenseite öffnete sich im Innern der Mauer das niedrige Pförtchen einer fliegenden Treppe, die in den unter der Bibliothek gelegenen Durchgang hinabführte; daraus erwuchs dem Belagerer wieder eine Schwierigkeit. Das Schlößchen auf der Brücke kehrte da, wo diese in geringer Entfernung vom Plateau mit dem dritten Pfeiler abschloß, dem Feind eine senkrechte Mauer zu, die nur durch eine niedere Thür durchbrochen war; von dieser Thür aus wurde vermittelst einer Zugbrücke, die wegen der Höhe des Plateaus nur in schiefer Lage herabgelassen werden konnte, die Verbindung zwischen jenem Plateau und dem langen Durchgang, den man den Saal der Garden nannte, hergestellt. Hatte sich der Angreifende dieses Durchgangs bemächtigt, so mußte er, um zur eisernen Thür zu gelangen, sich erst auf der fliegenden Brücke zum zweiten Stockwerk Bahn brechen.

6.

Die Bibliothek

Die Bibliothek war ein schmales Viereck von gleicher Länge und Breite wie die Brücke und hatte keinen andern Ein- und Ausgang als die eiserne Pforte. Eine grünausgefütterte blinde Thür mit einem Gewicht fiel, wenn man ihr von innen einen Stoß gab, zu und verdeckte die Wölbung, welche in den Thurm führte. An der Wand des Bibliothekzimmers nahmen die ganze Höhe vom Fußboden bis zur Decke Glasschränke ein im geschmackvollen Möbelstil des siebzehnten Jahrhunderts. Sechs große Fenster, drei zu jeder Seite und zwei über jedem Pfeiler der Brücke, erhellten den Raum. Zwischen diesen Fenstern, durch die man vom Plateau aus hereinschauen konnte, standen auf Postamenten von geschnitztem Eichenholz sechs Marmorbüsten: Hermolaus von Byzanz, Athenäus, der Grammatiker aus Naukratis, Suidas, Casaubonus, Klodwig, König von Frankreich und sein Kanzler Anachalus, der, nebenbei bemerkt, gerade so wenig Kanzler wie Klodwig König von Frankreich gewesen. Die Glasschränke enthielten gleichgültige Bücher. Ein einziges nur brachte es zu einer gewissen Berühmtheit: es war dies ein alter Quartband mit Kupfern, auf dessen Titelblatt in großen Lettern »Bartholomäus« gedruckt war und darunter als zweiter Titel: »Das Evangelium Bartholomäi mit einer Vorrede des christlichen Philosophen Pantaeni, worinnen untersucht wird, ob dieses Evangelium für unecht erklärt werden soll und ob der heilige Bartholomäus und Nathanael nicht eine und dieselbe Person sind«. Dieses Buch, welches für ein Unikum galt, lag mitten im Zimmer auf einem Pult auf und wurde im vorigen Jahrhundert als Merkwürdigkeit besichtigt.

7.

Der Dachboden

Der Dachboden hatte, wie die Bibliothek, die länglich viereckigen Dimensionen der Brücke und lag unmittelbar unter dem rohen Sparrenwerk des Dachstuhls; es war eine große von sechs kleinen Fenstern erhellte Mansarde voller Heu und Stroh, ohne jede weitere Verzierung als an der Thür einen ins Holz geschnitzten heiligen Barnabas mit dem lateinischen Vers: »Barnabus sanctus falcem juvat ire per herbam«.

Ein hoher, dicker, sechsstöckiger, hin und wieder mit Schießscharten durchbrochener Thurm, in welchem und aus welchem einzig und allein eine eiserne Thür führte, die auf ein vermittelst einer Zugbrücke abgesperrtes Brückenschlößchen hinausging; hinter dem Thurm, zwischen ihm und dem Plateau, eine tiefe, enge, mit Gesträuch bewachsene Schlucht, im Winter ein Strom, im Frühling ein Bach, im Sommer eine steinige Grube: das also war La Tour-Gauvain, genannt La Tourgue.

X.

Die Geisel.

Die letzten Julitage waren bereits dahin; im August strich über Frankreich ein wildheroischer Sturmhauch einher; zwei blutige Schatten waren am Horizont vorbeigefahren, Marat mit einem Messer im Herzen und die enthauptete Charlotte Corday: immer furchtbarer wurden die Zeiten. Die Vendée, im großen Krieg überwunden, nahm wieder zu dem kleinen und, wie schon bemerkt, entsetzlichem ihre Zuflucht, zu einer ungeheuern durch die Wälder auseinandergewürfelten Schlacht. Die Niederlagen der großen sogenannten katholisch-königlichen Armee hatten bereits begonnen; laut Verordnung des Konvents marschirten die Regimenter von Mainz in die Vendée ein; Ancenis hatte den Ausständigen achttausend Mann gekostet; von Nantes zurückgeschlagen, aus ihrer Stellung von Montaigu vertrieben, verdrängt aus Thouars, aus Noirmoutier verjagt, zurückgeworfen aus Chollet, aus Mortagne und aus Saumur, räumten sie Parthenay, gaben Clisson auf, verließen Chatillon, verloren eine Fahne bei Saint-Hilaire, wurden bei Pornic besiegt, besiegt bei les Sables, bei Fontenay, bei Doué, bei Château-d’Eau, bei Ponts-de-Cé, erlitten bei Luçon eine Schlappe, bei La Chataigneraye einen Rückstoß, bei La Roche-sur-Yon eine Niederlage; einerseits aber bedrohten sie La Rochelle und anderseits wartete eine englische Flotte unter Admiral Craig nur auf ein Zeichen des Marquis von Lantenac, um einige britische Regimenter und die tüchtigsten Offiziere der französischen Marine an die Küste zu setzen. Diese Landung konnte der royalistischen Empörung wieder zum Sieg verhelfen. Pitt war übrigens ein politischer Missethäter. In der Staatskunst ist auch der Verrath vertreten, wie bei den Wandtrophäen der Dolch. Pitt erdolchte das Land des Gegners und verrieth sein eigenes, denn sein Vaterland entehren, heißt es verrathen. Unter und durch Pitt’s Regierung verlegte sich England auf die punische Arglist, spionirte, log und betrog; ihm war, vom Mord bis zur Münzfälschung, kein Mittel zu schlecht, und in seinem Haß stieg es bis zur Kleinlichkeit herab. Es ließ den Talg aufkaufen, der damals fünf Francs das Pfund kostete; einem Engländer wurde zu Lille ein Schreiben von Prigent, dem Agenten Pitt’s in der Vendée, abgenommen, worin wortwörtlich gesagt war: »Ich bitte Sie, den Geldpunkt nicht zu berücksichtigen. Dagegen hoffen wir, daß die Attentate auf Personen mit der nöthigen Klugheit ausgeführt werden mögen; hierfür empfehlen sich vor Allen die verkappten Priester und die Weiber. Schicken Sie sechzigtausend Livres nach Rouen und fünfzigtausend nach Caen«. Dieser Brief wurde am 1. August durch Barrère im Konvent vorgelesen. Auf diese Nichtswürdigkeiten antworteten die Unthaten von Parrein und später die Greuel von Carrier. Die Republikaner von Metz und die aus dem Süden verlangten, gegen die Rebellen ausmarschiren zu dürfen. Der Konvent verordnete die Errichtung von vierundzwanzig Pionierkompagnien, um im Bocage die Zäune und Einfassungen in Brand zu stecken. In dieser unerhörten Krisis erlosch der Krieg an einer Stelle, nur um an einer anderen zu entbrennen. Keine Gnade! Keine Gefangenen! lautete beider Parteien Losung und eine furchtbare Verfinsterung brach herein über das Land.

In diesem Monat August wurde la Torgue belagert. Eines Abends – gerade gingen in der friedlich sommerlichen Dämmerung die Sterne auf; im Wald regte sich kein Blättchen und kein Grashalm erschauerte in der Ebene –, da tönte von den Zinnen des Thurms durch das Schweigen der sinkenden Nacht ein Hornstoß, dem von unten her ein Trompetenstoß antwortete. Auf der Plattform des Thurms befand sich ein bewaffneter Wächter und unten, in der Dunkelheit, ein Feldlager. Man gewahrte um La Tour-Gauvain im Finstern ein undeutliches Gewimmel von schwarzen Gestalten, und dieses Gewimmel war ein Bivouak. Hier und da begannen unter den Bäumen des Waldes und zwischen dem Haidekraut des Plateaus einige Wachfeuer die Schatten der Nacht aufflackernd zu durchbrechen, als wolle die Erde ihre Sterne leuchten lassen wie der Himmel, die düstern Sterne des Kriegs. Das Lager, welches sich vom Plateau aus bis in die Ebene erstreckte und nach dem Walde zu sich im Dickicht verlor, ließ seiner Ausdehnung nach auf eine große Truppenmasse schließen und hielt die Festung so eng blokirt, daß es auf der Thurmseite bis an den Felsen und auf der Brückenseite bis an die Schlucht reichte.

Zum zweiten Male ertönte das Horn und zum zweiten Male die Trompete; Rede und Gegenrede; der Thurm fragte: Kann man Euch sprechen? und das Lager antwortete mit: Ja. Die Vendéer wurden damals vom Konvent nicht als kriegführende Partei angesehen, und da in Folge dessen gesetzlich verboten war, mit den »Banditen« durch Parlamentäre zu verhandeln, suchte man, so gut es sich eben thun ließ, einen Ersatz für den Verkehr, welchen das Völkerrecht im internationalen Kampf erlaubt, im Bürgerkrieg jedoch untersagt. So kam es denn noch gerade zu einem gewissen Einverständniß zwischen dem Horn des Bauern und der Trompete des Soldaten. Das erste Signal war nur eine vorläufige Einleitung gewesen; das zweite enthielt die bestimmte Anfrage: Wollt Ihr mich anhören? Schwieg der Trompeter, so hieß das Nein, blies er aber, so hieß es Ja, und die Feindseligkeiten wurden auf ein paar Minuten eingestellt.

Da das zweite Zeichen erwidert worden war, fing der Mann vom Thurm folgendermaßen zu sprechen an: – Ihr Männer da drunten, ich bin Goug-le-Bruant, genannt Brisebleu, weil ich schon der Euren Viele vertilgt habe, und auch der Imânus geheißen, weil ich noch mehr der Euren umbringen werde, als ich bis jetzt gethan; mir hat ein Säbelhieb beim Sturm auf Granville einen Finger vom Flintenlauf abgehackt, und zu Laval habt Ihr mir meinen Vater, meine Mutter und meine Schwester Jacqueline, die erst achtzehn Jahre alt war, guillotiniren lassen. Jetzt wißt Ihr, wer ich bin. Und nun rede ich zu Euch im Namen des Herrn Marquis Gauvain von Lantenac, der auch Vikomte von Fontenau, bretonischer Fürst und Herr der sieben Wälder ist, im Namen meines Gebieters. Erfahrt zuerst, daß der Herr Marquis, bevor er sich in diesen Thurm einschloß, in dem Ihr ihn belagert, sechs Anführer zu seinen Stellvertretern gewählt hat, um den Krieg fortzusetzen, Delière für die Gegend zwischen der Straße von Brest und der Straße von Ernée, Treton für die Gegend zwischen La Roë und Laval, Jacquet, auch Taillefer geheißen, für das Grenzland von Ober-Maine, Gaulier, genannt Grand-Pierre, für Château-Gontier, Lekomte für Craon, Herrn Dubois-Gun für Fougères und für die ganze Mayenne Herrn von Rochambeau, so daß mit der Einnahme dieser Festung für Euch noch nichts gewonnen ist und daß, selbst wenn der Herr Marquis sterben sollte, die Vendée, die für den allmächtigen Gott und Seine Majestät den König kämpft, am Leben bleiben wird. Wenn ich Euch dies Alles sage, so wißt, daß dies nur geschieht, um Euch zu warnen. Mein gnädiger Herr steht hier oben, an meiner Seite. Ich bin der Mund, durch den er zu Euch spricht; darum hört schweigend zu. Ihr Männer, die Ihr uns belagert! Von Wichtigkeit ist, daß Ihr vernehmt, was ich Euch jetzt sagen werde: Vergeßt nicht, daß der Krieg, den Ihr gegen uns führt, kein gerechter Krieg ist. Wir wohnen hier in unserer Heimath und kämpfen einen ehrlichen Kampf und leben einfachen und reinen Sinnes unter der Allmacht Gottes wie das Gras unter dem Thau. Die Republik aber hat uns angegriffen; sie ist herübergekommen zu uns und hat uns in unserem Frieden gestört, hat uns die Häuser und die Ernten niedergebrannt, unsere Meierhöfe zusammengeschossen und unsere Weiber und Kinder barfuß waldeinwärts gejagt, während die Grasmücke noch ihre Winterweisen sang. Ihr, die Ihr dort unten steht und mich hört, Ihr habt uns bis in den Busch gehetzt und haltet uns hier in diesem Thurm eingeschlossen; Diejenigen, welche zu uns gestoßen waren, habt Ihr getödtet oder zersprengt; ihr führt Kanonen mit Euch, habt Eure Kolonne durch die Besatzungen und Wachtposten von Mortain, von Barenton, von Teilleul, von Landivy, von Evran, Tinténiac und Vitré verstärkt, so daß Ihr uns selbst fünfhalbtaufend angreift und wir uns selbst neunzehn vertheidigen. Wir haben Proviant und Munition. Euch ist gelungen, eine Mine anzulegen und ein Stück von unserem Felsen, sowie ein Stück von unserer Mauer zu sprengen. Es ist dadurch eine Lücke in den untersten Theil des Thurms gebrochen worden, und durch diese Bresche könnt ihr eindringen, obwohl sie nicht unter freiem Himmel liegt und vom Thurm, der immer noch fest und aufrecht dasteht, überwölbt ist. Ihr bereitet Euch nunmehr zum Sturm vor und wir, zuerst der Herr Marquis, der Fürst ist in der Bretagne und weltlicher Prior der Abtei von Sainte-Marie de Lantenac, in der die Königin Johanna eine tägliche Messe gestiftet hat, ferner wir anderen, die wir den Thurm halten, insbesondere der Herr Abbé Turmeau, im Feld Grand-Francoeur genannt, mein Kamerad Guinoiseau der Oberste, des Lagers Camp-Vert, mein Freund Chante-en-Hiver, der Oberste des Lagers von l’Avoine, mein Kamerad La Musette, der Oberste des Lagers von les Fourmis, und ich, ein Bauer aus dem Flecken Daon, wo der Moriandre-Bach durchfließt, wir Alle haben Euch deshalb zuvor noch etwas zu sagen. Hört, Ihr Männer unten am Thurm! Wir haben hier drei Gefangene bei uns, drei Kinder, die von einem Eurer Bataillone angenommen worden und folglich Eure sind. Wir machen uns anheischig, diese Kinder Euch zurückzugeben, unter der einen Bedingung, daß Ihr uns freien Abzug gewährt. Wollt Ihr das nicht, so merkt wohl auf: Angreifen könnt Ihr uns nur auf zweierlei Arten, durch die Bresche vom Wald her oder vom Plateau her über die Brücke. Das Gebäude auf der Brücke hat drei Stockwerke; in das unterste habe ich, der Imânus, der zu Euch spricht, sechs Tonnen voll Theer und hundert Bündel trockenes Haidekraut bringen lassen; das oberste Stockwerk liegt voll Stroh und das mittlere voll von Büchern und Papieren. Die eiserne Thür, welche von der Brücke ins Schloß führt, ist zugesperrt, und der gnädige Herr hat den Schlüssel dazu in der Tasche; unter der Thür habe ich ein Loch durchgebrochen, und durch dieses Loch läuft eine geschwefelte Lunte, deren eines Ende in einem der Theerfässer steckt und deren anderes Ende sich im Innern des Thurmes befindet; ich brauche mich nur danach zu bücken, um es zu der von mir beliebten Stunde anzuzünden. Weigert Ihr uns den Abzug, so werden die drei Kinder in den mittleren Raum der Brücke gesetzt, zwischen das Stockwerk, in das die geschwefelte Lunte ausläuft und wo die Theerfässer liegen, und zwischen dasjenige, das voll Stroh liegt; hierauf wird die eiserne Thür hinter ihnen abgeschlossen. Stürmt Ihr von der Brücke her, so wird das Gebäude durch Euch, stürmt Ihr gegen die Bresche, so wird es durch uns den Flammen übergeben; stürmt Ihr auf beiden Seiten zugleich, so wird es auch zugleich durch Euch und durch uns in Brand gesteckt, und in jedem der drei Fälle gehen die Kinder zu Grunde. Jetzt sagt Ja oder Nein! Wenn Ihr Ja sagt, ziehen wir ab; sagt Ihr Nein, so sterben die Kinder. Jetzt wißt Ihr’s.

Der Mann oben auf dem Thurm schwieg, und von unten rief ihm eine Stimme zu: wir sagen Nein!

Die Stimme klang scharf und herb. Eine zweite, weniger strenge, wenngleich feste Stimme, fügte hinzu: wir lassen Euch vierundzwanzig Stunden Bedenkzeit, Euch auf Gnade oder Ungnade zu ergeben.

Nach einer Pause fuhr die Stimme fort: Wenn Ihr morgen, zu dieser Stunde, die Waffen nicht gestreckt habt, wird Sturm gelaufen.

– Und dann ohne Pardon, schloß die erste, die rauhe Stimme, und ihr ward eine Antwort. Von der Plattform des Thurmes sah man zwischen zwei Zinnen eine hohe Gestalt herunterschauen und konnte beim Sternenlicht die gewaltigen Gesichtszüge des Marquis von Lantenac erkennen, dessen Blick unten in der Dunkelheit Jemand zu suchen schien und der hinabrief:

– Bist Du’s beichtstuhlentlaufener Gesell?

– Ja, Rebell! rief die herbe Stimme zurück.

XI.

Schauderschaft wie der Mythus.

Die scharfe Stimme war Cimourdain’s Stimme und die jugendliche, weniger gebieterische die Stimme Gauvain’s. Also hatte der Marquis von Lantenac den vormaligen Abbé richtig erkannt.

In dieser unter dem Bürgerkrieg blutenden Gegend hatte, wie wir wissen, Cimourdain in wenigen Wochen eine Berühmtheit erlangt, eine entsetzliche Berühmtheit: neben Marat in Paris und Châlier in Lyon nannte man Cimourdain in der Vendée. Er wurde noch eigens gebrandmarkt für all die Hochachtung, die man ihm einst gezollt, für das Priesterkleid, das er nunmehr ausgezogen hatte; man verabscheute ihn. Unglücklich sind die Gestrengen, denn wer ihr Handeln sieht und sie verdammt, würde sie vielleicht freisprechen, wenn er ihnen ins Gewissen schauen könnte; gar leicht läuft ein unverstandener Lykurg Gefahr, für einen Tiber gehalten zu werden. Wie dem auch sei, zwei Männer brachten die Wagschalen des Hasses ins Gleichgewicht: der Marquis von Lantenac und der Abbé Cimourdain. Die Verwünschungen, womit Diesen die Royalisten, und die Flüche, womit Jenen die Republikaner verfolgten, wogen einander auf. Jeder von Beiden galt im gegnerischen Lager für das Ungeheuer, und daraus ergab sich sogar die erwähnenswerthe Thatsache, daß während in Granville Prieur-Marne auf Lantenacs Kopf einen Preis setzte, Charette in Noirmoutier einen Preis setzte auf den Kopf von Cimourdain. Beide, der Marquis wie der Priester, waren in der That auch bis zu einem gewissen Grad identisch mit einander. Die eiserne Janusmaske des Bürgerkriegs kehrt mit gleich tragischem Blick das eine ihrer Gesichter der Vergangenheit und ihr zweites der Gegenwart zu; das erste dieser Gesichter war Lantenac und das andere Cimourdain; nur starrte um Lantenacs verbitterten Mund nächtlicher Schatten, während auf Cimourdains verhärteter Stirn ein Morgenleuchten aufdämmerte.

Das eingeschlossene La Tourgue hatte vierundzwanzig Stunden Ruhe vor sich; so lang dauerte ja die durch Gauvain anberaumte Frist, die so ziemlich einem Waffenstillstand gleichkam. Von den numerischen Verhältnissen der Belagerer war der Imânus offenbar wohl unterrichtet, denn in Folge der Aufgebote Cimourdains cernirte Gauvain La Tourgue wirklich mit viertausendfünfhundert Mann Linientruppen und Nationalgarden und verfügte über zwölf Geschütze, von denen sechs in niedrig liegender Batterie am Waldsaum gegen den Thurm und auf dem Plateau sechs in Hochbatterie gegen die Brücke der Festung gerichtet waren. Auch hatte er die Mine spielen lassen können und dadurch unten am Thurm die Bresche zu Stand gebracht. Nach Verlauf der vierundzwanzigstündigen Frist sollte zwischen den viertausendfünfhundert Mann auf dem Plateau und im Wald und zwischen den neunzehn Mann im Thurm der Kampf sofort beginnen; was die Namen jener Neunzehn betrifft, so lassen sie sich durch die veröffentlichten Listen der in Bann und Acht Erklärten ermitteln, und wir selber werden vielleicht noch in den Fall kommen, Den und Jenen unter ihnen zu erwähnen. Als Kommandirenden von viertausendfünfhundert Mann, also schon einer kleinen Armee, hatte Cimourdain seinen Zögling zum Generaladjutanten avanciren lassen wollen, doch Gauvain hatte das Anerbieten mit der Bemerkung ausgeschlagen: »Warten wir erst einmal ab, bis Lantenac gefangen ist; ich habe noch kein Anrecht auf Auszeichnung«. Es war überhaupt republikanischer Brauch, mit einer bescheidenen Charge ein wichtiges Kommando zu vereinigen. So war später zum Beispiel Bonaparte gleichzeitig Artilleriemajor und Oberbefehlshaber der Armee von Italien.

Das eigenartige Schicksal, demzufolge La Tour Gauvain von einem Gauvain vertheidigt und von einem Gauvain belagert wurde, mischte dem Angriff eine gewisse Zurückhaltung bei, eine Zurückhaltung, die der Gegner keineswegs theilte, denn Herr von Lantenac war der Mann nicht, irgend welche Rücksicht walten zu lassen; auch hatte er ja die meisten Jahre in Versailles verlebt und konnte schon deshalb nichts Individuelles empfinden für das ihm so wenig vertraut gewordene La Tourgue. Er hatte sich lediglich aus Noth hingeflüchtet, und hätte unter Umständen nicht das geringste Bedenken getragen, das Schloß niederzureißen. Pietätvoller hingegen fühlte Gauvain. Der wunde Fleck an der Festung war entschieden die Brücke; doch die Bibliothek über der Brücke enthielt alle Familienurkunden. Wenn nun von dieser Seite gestürmt wurde, so war die Zerstörung der Bibliothek unvermeidlich, und das Familienarchiv verbrennen, das weckte in Gauvain eine Empfindung, als solle er sich an seinen Vätern vergreifen. La Tourgue war die Stammburg seines Geschlechts; bei diesem Thurm ging alles bretonische Besitzthum Derer von Gauvain zu Lehen, wie alles Besitzthum der französischen Krone bei dem Thurm des Louvre; hier knüpften alle Familienerinnerungen an; hier war Gauvain geboren worden, und nun versetzten ihn die verhängnisvollen Verwickelungen des Lebens in die Nothlage, als Mann die ehrwürdigen Mauern anzugreifen, die des Kindes Schutz gewesen. Sollte er die Pietätlosigkeit gegen das Vaterhaus soweit treiben, es in Asche zu legen, seine eigene Wiege vielleicht in Asche zu legen, die wohl noch in einem Winkel des Dachbodens über der Bibliothek stehen mochte? Gewisse Begriffe sind Schauer der Rührung, und Gauvain fühlte sich gerührt angesichts der alten Wohnstätte der Seinen; darum hatte er bis jetzt das Schlößchen geschont und sich darauf beschränkt, durch Aufstellung einer Batterie jeden Ausfall oder Fluchtversuch von der Brücke her unmöglich zu machen; darum hatte er die entgegengesetzte Seite für den Angriff ausersehen und am Fuß des Thurms die Mine graben lassen. Und Cimourdain hatte nicht dreingeredet; zwar warf er sich’s vor, denn seine Strenge runzelte die Stirn beim Anblick all des mittelalterlichen Gerümpels und er wollte mit Gebäuden nicht nachsichtsvoller verfahren als mit Menschen; Nachsicht mit einem Haus war ja schon ein Ansatz zur Milde; die Milde aber war Gauvains schwache Seite, und, wie wir wissen, lag Cimourdain auf der Lauer, um ihn von jedem Schritt aus dieser schiefen Ebene abzuhalten, die er zu betreten für verderblich hielt. Und doch mußte er mit einem gewissen Ingrimm sich selber eingestehen, daß auch er La Tourgue nicht ohne einen heimlichen Herzensschauer wiedergesehen hatte, daß ihn der Anblick jenes Studirzimmers weich machte, welches die ersten Bücher enthielt, die Gauvain mit ihm gelesen. Von seiner Pfarrei Parigné, dem nächstgelegenen Dorf, war er, Cimourdain, auf den Dachboden des Brückenschlößchens umgezogen; in der Bibliothek hatte der kleine Gauvain buchstabirend auf seinen Knien gesessen; zwischen diesen alten vier Wänden war sein vielgeliebter Schüler, der Sohn seiner Seele, unter seinem Vaterauge körperlich herangewachsen und geistig gediehen; und in diese Bibliothek in dieses Schlößchen, in diese Mauern, zwischen welchen er so oft Segen herabgefleht hatte auf das Kind, sollte er den Feuerbrand und die Vernichtung schleudern? Nein, er ließ Gnade walten, aber ihm schlug dabei sein Gewissen. So hatte er denn Gauvain die Belagerungsarbeiten vom Wald her beginnen lassen und ihm stillschweigend gestattet, von La Tourgue statt der gesitteten Seite, dem Schlößchen, die barbarische anzubrechen, den Thurm. Von einem Gauvain angegriffen und von einem Gauvain vertheidigt, wurde die alte Festung, mitten in der französischen Revolution, wieder in ihre gewohnten Feudalzustände zurückversetzt; weist doch die ganze Geschichte jener Zeiten kaum etwas Anderes auf als häusliche Fehden. Gestalten wie Eteokles und Polynikes gehören nicht blos der antiken, sondern auch der mittelalterlichen Welt an, und Hamlet führt in Helsingör einen ähnlichen Todesstoß wie Orestes in Argos.

XII.

Ein Rettungsgedanke.

Auf beiden Seiten wurde die Nacht unter Vorbereitungen durchwacht. Gleich nach der düstern Unterhandlung, die wir mit angehört, war Gauvains erste Sorge gewesen, seinen Unterkommandanten zu sich zu rufen. Guéchamp, den wir schon ein wenig näher betrachten müssen, war eine Natur zweiten Ranges, ehrenfest, unverzagt, von keiner besonderen Bedeutung, ausgezeichnet als Soldat und mittelmäßig als Führer, eine jener Intelligenzen, die gerade bis dahin reichen, wo es ihnen zur Pflicht wird, inne zu halten, ein schroffer, unzugänglicher Mann, der weder sein Gewissen durch niedrige Mittel noch seinen Gerechtigkeitssinn durch Mitleid bestechen ließ. Geist und Herz waren ihm zwischen der Disziplin und der Ordre eingedämmt wie Wagenpferde, die an beiden Augen ein Scheuleder tragen, und bewegten sich im freigebliebenen Raum schnurgerade, aber beschränkt vorwärts. Er war ein durchaus zuverlässiger Offizier, stramm im Ertheilen und pünktlich im Ausführen eines Befehls.

– Guéchamp, eine Leiter her! redete ihn Gauvain lebhaft an.

– Wir haben keine, Kommandant.

– Es muß eine geschaffen werden.

– Eine Sturmleiter?

– Nein, eine Rettungsleiter.

Guéchamp besann sich und erwiderte: Ich verstehe, aber zu dem Zweck müßte sie sehr lang sein.

– Mindestens drei Stock hoch.

0247

Als die Sonne aufging.

– Jawohl, Kommandant, so schätze es beiläufig auch ich.

– Eher noch länger, damit wir unserer Sache ganz gewiß sind.

– Allerdings.

– Wie kommt es denn, daß wir keine Leiter bei der Hand haben?

– Da Sie nicht für gut fanden, vom Plateau aus La Tourgue anzufassen, sondern es auf besagter Seite blos zu blokiren, um vom Wald her anzugreifen, hat man sich ausschließlich mit der Mine beschäftigt und von einer Ersteigung der Brücke abgesehen; deshalb sind keine Leitern gemacht worden.

– Lassen Sie auf der Stelle eine machen.

– Eine drei Stock hohe Leiter läßt sich nicht aus dem Aermel schütteln.

– So lassen Sie einige kürzere aneinander binden.

– Auch die müßten wir erst haben.

– Requiriren Sie welche.

– Verlorene Mühe. In der ganzen Gegend zerstören die Bauern jede Leiter, wie sie auch ihre Karren ruiniren und die Brücken abschneiden.

– Sie wollen die Republik lahm legen, allerdings.

– Weder ein Fuhrwerk sollen wir benutzen können, noch einen Fluß überschreiten, noch eine Mauer erklimmen.

– Und doch ist die Leiter durchaus nöthig.

– Kommandant, da fällt mir gerade der große Zimmerhof zu Iavené bei Fougères ein; dort ist vielleicht eine zu bekommen.

– Wir haben keine Minute zu verlieren.

– Wann müssen Sie die Leiter haben?

– Morgen, spätestens um diese Zeit.

– Ich lasse einen Reiter mit der Ordre hingaloppiren. Der Kavallerieposten, der in Javené liegt, wird die Eskorte abgeben, und morgen, vor Sonnenuntergang, kann die Leiter hier sein.

– Gut, das ist früh genug, sagte Gauvain. Also rasch!

Zehn Minuten darauf kam Guéchamp mit der Meldung zurück: Kommandant, der Bote ist schon unterwegs.

Gauvain stieg nun auf das Plateau und maß lange Zeit das Brückenschlößchen über der Schlucht mit den Augen. Der Giebel des Schlößchens hatte keine andere Oeffnung als den tiefliegenden durch die aufgerichtete Zugbrücke verschlossenen Eingang und stand der jähen Böschung der Schlucht gegenüber. Um vom Plateau aus unten an die Brückenpfeiler zu gelangen, mußte man, was nicht unmöglich war, längs dieser Böschung von Strauch zu Strauch niederklettern, war aber, wenn dies gelungen, allen Kugeln ausgesetzt, die aus den Fenstern der drei Stockwerke in die Schlucht herabhageln konnten. Gauvain hatte sich schließlich zur Genüge überzeugt, daß, wie die Dinge gegenwärtig standen, der eigentliche Angriff durch die Bresche des Thurmes erfolgen mußte. Er traf alle Vorkehrungen zur Vereitelung jedes Fluchtversuchs, vervollständigte die enge Zernirung von La Tourgue und zog die Maschen seiner Bataillone so dicht zusammen, daß ganz unmöglich etwas durchkonnte. Dann theilte er sich mit Cimourdain in die Belagerung der Veste; Cimourdaain bekam die Brückenseite; die Thurmseite behielt Gauvain für sich, und es wurde ausgemacht, daß, während Gauvain, von Guéchamp unterstützt, den Sturm gegen die Bresche leiten würde, Cimourdain und seine Batterie mit brennenden Lunten das Schlößchen und die Schlucht überwachen sollten.

XIII.

Thätigkeit des Marquis.

Wie draußen Alles für den Angriff, so wurde drinnen Alles für den Widerstand aufgeboten. Nicht ohne Grund heißt in gewissen Gegenden von Frankreich ein Thurm auch eine Daube, denn oft kann man einem Thurm mit einer Mine zusetzen wie der Daube mit dem Stecheisen und gleichsam ein Spundloch durch die Mauer bohren. Das zeigte sich zu La Tourgue, denn das Stecheisen von Gauvain, die Mine mit den zwei oder drei Centnern Pulver, hatte in die ungeheure Mauer durch und durch eine Lücke gebrochen, welche am Fuß des Thurms einen annähernd trichterförmigen Einschnitt bildete und als ungestaltete Wölbung in das Erdgeschoß der Festung mündete. Dieses Loch hatten von außen her die Belagerer überdies noch mit Artillerie erweitert und zurechtgeschmettert, um es für den Sturm zugänglicher zu machen.

Der ebenerdige Raum, auf den sich die Bresche öffnete, war ein großer runder Saal mit ganz rohen Wänden und einem Mittelpfeiler, auf dem der Schlußstein des Gewölbes ruhte. Dieser Saal, der allergrößte des Thurms, hatte einen Durchmesser von vollen vierzig Fuß. Jedes Stockwerk des Thurms bestand in einem ähnlichen Raum; nur waren jene Säle von geringerem Umfang und hatten kleine Verschlage an den Nischen ihrer Schießscharten. Solche Schießscharten fehlten im Erdgeschoß; überhaupt fehlte irgend welche Oeffnung sowohl am Boden wie an der Decke, und Licht und Luft gab es hier nicht mehr und nicht weniger als in einem Grab. Eine Thür, fast ganz von Eisen, führte in die beiden Burgverließe und eine zweite zur Treppe, auf der man in die oberen Stockwerke stieg. Alle Treppen waren in die Mauer hineingebaut. Diesen unteren Saal konnten die Belagerer durch ihre Bresche erstürmen; waren sie erst einmal so weit, dann hatten sie noch den Thurm zu erobern. An ein eigentliches Atmen war in diesem Raum früher nie zu denken gewesen, und binnen vierundzwanzig Stunden hätte Jeder darin ersticken müssen. Jetzt, da die Bresche Luft zuführte, war’s wenigstens zum Aushalten, und deshalb mauerten die Belagerten die Lücke, – was hätte es auch genützt? – nicht zu. Durch die Kanonen draußen wäre doch wieder Alles gleich zerstört worden.

Die Männer stießen einen eisernen Fackelhalter zwischen zwei Steine, stellten eine Fackel hinein, und man konnte sich umsehen.

Wie nun das Erdgeschoß halten? Da ein Vermauern der Bresche zwecklos erschien, entschied man sich für einen Abschnitt. Ein Abschnitt ist eine Verschanzung mit einspringendem Winkel, eine sparrenförmige Barrikade, von der aus die Angreifenden in ein Kreuzfeuer genommen werden, und welche, ohne äußerlich die Bresche zu schließen, sie nach innen zu versperrt. An Baumaterial war kein Mangel; bald war der Abschnitt errichtet und mit Schießscharten für die Gewehrläufe versehen. Der einspringende Winkel ging vom Mittelpfeiler aus, und die beiden Flügel stießen mit ihren Enden an die Mauer. An den passendsten Stellen wurden auch einige Flatterminen angelegt.

Lantenac leitete Alles als Urheber, Anordner, Führer und Gebieter, kurz als die Seele des Ganzen. Er gehörte jenem Geschlecht von Kriegshelden aus dem achtzehnten Jahrhundert an, die noch als Achtziger verlorene Städte zu retten vermochten, wie jener Graf von Alberg, der nahebei in seinem hundertsten Lebensjahr den König von Polen aus Riga vertrieb.

– Muth, Freunde, sagte der Marquis, zu Anfang unseres Jahrhunderts, Anno 1713, hat Karl XII. in seinem Haus zu Bender mit dreihundert Schweden zwanzigtausend Türken die Spitze geboten.

Die zwei unteren Stockwerke wurden ebenfalls befestigt, die Säle verschanzt, die Verschläge mit Zinnen und die Thüren mit eingehämmerten Balken versehen, die diese wie Strebepfeiler stützten. Nur die Wendeltreppe, welche die Stockwerke mit einander verband, mußte dem Verkehr offen bleiben, denn wenn man sie verrammelt hätte, um sie den Stürmenden unzugänglich zu machen, wären zugleich die Belagerten von einander abgeschlossen worden. So hat jede Verteidigung ihre schwache Seite.

Der Marquis, kräftig und unermüdlich wie ein Jüngling, ging rastlos mit dem Beispiel voran, half Balken heben und Steine tragen, überall Hand anlegend, befehlend, beispringend, kameradschaftlich lachend mit seinen milden Spießgesellen, aber dennoch der Herr und Gebieter, hochfahrend und herablassend, unbändig und elegant. Da gab es kein Widersprechen. »Wenn sich eine Hälfte der Mannschaft auflehnen wollte, sagte er, so würde ich sie durch die andere Hälfte erschießen lassen und den Platz mit den Ueberlebenden halten«. Wer eine solche Sprache führt, wird von seinen Leuten vergöttert.

XIV.

Thätigkeit des Imânus.

Während Lantenac um die Bresche und den Thurm beschäftigt war, beschäftigte sich der Imânus mit der Brücke. Schon bei Beginn der Belagerung war auf Befehl des Marquis die außen unter den Fenstern des zweiten Stocks querüberhängende Rettungsleiter entfernt und durch den Imânus in die Bibliothek geschafft worden. Durch sie mochte Gauvain wohl auf den Gedanken gekommen sein, eine Leiter für seine Zwecke zu verwenden. Jedes Einbrechen durch die Fenster des Saales der Garden oder des Hochparterres war durch ein in den Stein gelöthetes dreifaches Gitter von Eisenstäben unmöglich gemacht. Die Fenster der Bibliothek standen frei, lagen dafür aber auch sehr hoch. Der Imânus ließ sich von drei Männern begleiten, die wie er jeder That fähig und, auch zu Allem entschlossen waren: von Hoisnard, genannt Branche d’Or und den beiden Brüdern Pique-en-Bois. Er nahm eine Blendlaterne, öffnete die eiserne Thür und untersuchte bis ins Kleinste die drei Stockwerke des Brückenschlößchens. Hoisnard Branche d’Or war nicht minder erbittert als der Imânus, da ihm die Republikaner einen Bruder getödtet hatten. Der Imânus besichtigte den Dachboden, der von Stroh und Heu strotzte, stieg dann in den Saal der Garden hinab, in den er noch Pechkränze bringen ließ, die er neben den Theerfässern anhäufte, schichtete die Bündel von Haidekraut über den Tonnen auf, nachdem er zuvor geprüft, ob die geschwefelte Lunte, die von der Brücke in den Thurm lief, auch in gutem Stande sei, und goß unten an den Fässern und Bündeln eine Theerlache aus, in die er das Ende der Schwefellunte untertauchte. Dann ließ er in die Bibliothek, zwischen den Parterreraum voll Theer und den Dachboden voll Stroh, die drei Wiegen herübertragen, in denen René-Jean, Gros-Alain und Georgette ganz fest schliefen; man ging vorsichtig dabei zu Werke, denn man wollte die Kleinen nicht wecken. Es waren drei Wiegen, wie sie auf dem Lande gebräuchlich sind, ein sehr niedriges Korbgeflecht, das unmittelbar auf der Erde ruht, so daß das Kind ohne Beihilfe nach Belieben heraussteigen kann. Neben jede Wiege ließ der Imânus eine Schüssel voll Suppe mit einem hölzernen Löffel hinstellen. Die abgehakte Rettungsleiter lag, an die Wand gelehnt, auf dem Fußboden; an der anderen Wand, parallel mit der Leiter, standen in einer Flucht hintereinander die Wiegen. Um einen zweckdienlichen Luftzug zu gewinnen, öffnete der Imânus die sechs Fenster der Bibliothek auf die bläuliche, klare, laue Sommernacht hinaus und schickte die Brüder Pique-en-Bois in die zwei anderen Stockwerke, um dort ein Gleiches zu thun. An der Ostseite des Gebäudes war die Brücke über und über von altem, verdorrtem, braungelbem Epheu überrankt, der die Fenster der drei Stockwerke förmlich einrahmte. Kann auch nicht schaden, dachte der Imânus, prüfte noch Alles mit einem letzten Blick und kehrte dann mit seinen drei Gefährten in den Thurm zurück. Die schwere eiserne Thür sperrte er doppelt ab, untersuchte noch sorgfältig das ungeheure, furchtbare Schloß daran und betrachtete mit zufriedenem Kopfnicken die geschwefelte Lunte, die durch das von ihm durchgebrochene Loch ging und nunmehr das Einzige war, was Thurm und Brücke verband. Diese Lunte lief vom runden Saal aus unter der eisernen Thür durch, unter der Wölbung der Thurmmauer weiter und schlängelte sich über die fliegende Treppe und am Fußboden des Saals der Garden hin bis mitten in die Theerlache an den Reisigbündeln. Nach der Berechnung des Imânus mußte die Lunte, einmal im Innern des Thurms angezündet, ungefähr eine Viertelstunde lang glimmen, bis sie die Theerlache unter der Bibliothek in Brand steckte. Nachdem für Alles genügend gesorgt und das Kleinste untersucht worden, überreichte der Imânus den Schlüssel der eisernen Thür dem Marquis, und dieser steckte ihn zu sich.

Nun galt es, alle Bewegungen der Feinde zu beobachten. Der Imânus stieg auf die Plattform des Thurms hinauf und hielt, mit seinem Hirtenhorn an der Seite, oben im Schauthürmchen Wache. Auf dem Fenstersims des Thürmchens hatte er eine Pulverflasche stehen, daneben einen leinenen Sack mit Kugeln von einem Kaliber, und drehte, während er mit einem Auge nach dem Wald und mit dem anderen nach dem Plateau spähte, aus ein paar alten Zeitungen Patronen.

Als die Sonne wieder aufging, beschien sie am Waldsaum acht Bataillone, kampfbereit, den Säbel an der Seite, mit voller Patrontasche und aufgepflanztem Bajonett; auf dem Plateau eine Batterie mit vollen Protzkasten und angehäuften Kartätschen; in der Festung neunzehn Männer, welche Mauerbüchsen, Musketen, Pistolen und Jagdstutzen luden, und in den drei Wiegen drei schlummernde Kinder.

  1. Noch mehr als Bürgerkriege