Zu Paris

Cimourdain

I

Die Straßen von Paris, damals

Man lebte draußen; sogar der Tisch, an dem gegessen wurde, stand draußen vor der Hausthür; auf den Kirchenstufen saßen die Weiber und zupften Charpie zur Marseillaise; im Park-Monceaux und im Luxembourg-Garten wurde exerzirt; auf allen Plätzen waren kleine Gewehrfabriken in Thätigkeit, und die Waffen entstanden unter den Augen der Beifall klatschenden Menge; die allgemeine Meinung war: »Geduld; wir stehen eben mitten in einer Revolution.« Mit einem heroischen Lächeln ging man in’s Theater wie zu Athen während des peloponesischen Krieges; an den Straßenecken war angeschlagen: »Die Belagerung von Thionville. – Die gerettete Hausmutter. – Der Klub der Unverdrossenen. – Die Päpstin Johanna senior. – Die Philosophen in Uniform. – Ländliche Liebeskünste.« – Die Deutschen waren im Anmarsch; man erzählte, der König von Preußen habe sich schon vormerken lassen für die Opernvorstellungen. Schrecklich war Alles und doch Niemand in Schrecken. Das düstere Gesetz über die Verdächtigen, eine Versündigung Merlin’s aus Douai, ließ das Fallbeil über eines Jeden Kopf hervorblitzen, aber ein denunzirter Prokurator Namens Seran erwartete die Häscher im Schlafrock und in Pantoffeln und blies bei offenem Fenster auf der Flöte. Ueberflüssige Zeit schien’s nicht mehr zu geben; Alles hastete vorwärts. An jedem Hut die Kokarde. »Die rothe Kappe steht uns allerliebst,« meinten die Frauen. Die Läden, wo Alterthümer feilgeboten wurden, waren vollgepfropft mit Kronen, Bischofsmützen, Lilien und Sceptern von vergoldetem Holz, dem abfluthenden Hausrath der königlichen Paläste. Bei den Trödlern kaufte man die Chorröcke und Meßgewände auf »Pack dich damit!« Auf dem Porcherons-Platz und in der Schänke von Ramponneau tranken Leute, die sich in Stolen und Chorhemden gesteckt hatten und auf Eseln im Kirchenornat ritten, den Wein der Kneipe aus den goldenen Gefäßen der Kathedralen! In der Straße Saint-Jacques hielten barfüßige Pflasterer den Karren eines Hausirers an, der mit Schuhen handelte, und kauften mit ihrer zusammengelegten Baarschaft fünfzehn Paar Schuhe, die sie für die Soldaten in den Konvent schickten. Es wimmelte von Büsten eines Franklin, Rousseau, Brutus und Marat. Unter einer jener Büsten von Marat, in der Straße Cloche-Perce, hing unter Glas in schwarzem Rahmen eine Anklage gegen Malóuet mit Belegstücken und folgender Randglosse: »Diese Angaben verdanke ich der Geliebten von Sylvain Bailly, einer guten Patriotin, die mir wohl will. – Gezeichnet: Marat« Auf dem Platze des Palais-Royal war am Brunnen die ursprüngliche lateinische Inschrift hinter zwei großen Bildern verschwunden, die, mit Leimfarbe gemalt, das eine Cahier von Gerville vorstellte, wie er der Nationalversammlung das Erkennungszeichen der »Chiffonisten« von Arles anzeigt, das andere die Rückkehr Ludwig’s XVI. von Varennes mit zwei Grenadieren, welche, das Bajonett am Gewehr, jeder auf einem Ende eines Brettes saßen, das unter der Karosse mit Seilen befestigt war. Von den großen Läden waren die wenigsten offen. Auf Karren mit Lichtern, von denen der schmelzende Talg auf die Gegenstände niedertroff, wurden durch Weiber Kramwaaren und dergleichen von Haus zu Haus feilgeboten. Ex-Klosterfrauen mit blonden Perrücken hatten Kaufbuden unter freiem Himmel aufgeschlagen. Die Person, die drüben in einem Schuppen Strümpfe stopfte, war eine Gräfin und dort jene Näherin eine Marquise; Frau von Boufflers bewohnte einen Dachboden mit Aussicht auf ihr Palais. Eilende Zeitungsverkäufer riefen die »papiers-nouvelles« aus. Die, deren Kinn noch in einer Halsbinde steckte, hieß man »die Skrophulösen«. Bänkelsänger gab es in Unmassen. Unter Gröhlen verfolgte man Pitou, den royalistischen Komiker, der zugleich ein Tapferer war, denn er ließ sich zweiundzwanzig Mal einsperren und wurde vor das revolutionäre Schwurgericht geladen, weil er beim Wort »Bürgertugend« sich einen Schlag unter den Rücken versetzt hatte; als es ihm ernstlich an’s Leben ging, rief er: »Aber meine Herrschaften, schuldig ist doch im schlimmsten Fall nur das Gegentheil meines Kopfes!« ein Witz, über den die Richter selbst lachen mußten, so daß er mit heiler Haut davon kam. Dieser Pitou geißelte die Manie der griechischen und römischen Namen; in sein Lieblingskouplet war von einem Schuster die Rede, den er »Cujus« und dessen Weib er »Cujusdam« hieß. Allenthalben wurde die »Carmagnole« getanzt, wobei man nicht »Kavalier und Dame«, sondern »Bürger und Bürgerin« sagte. Man tanzte sie in den zerfallenen Klöstern mit Lampions auf dem Altar, zwei wagrecht herabhängenden gekreuzten Stöcken mit vier Lichtern am Gewölbe und Grabstätten unter den Füßen. – Es wurden »tyrannenblaue« Westen getragen und Vorstecknadeln »á la Freiheitsmütze« mit weißen, blauen und rothen Steinen. Die Richelieu-Straße hieß Gesetzstraße, die Vorstadt Saint-Antoine Ruhmvorstadt und auf dem Bastille-Platz stand eine Statue der Natur. Man zeigte sich gewisse bekannte Stadtfiguren, Chatelet, Didier, Nicolas und Garnier-Delaunay, die vor der Thür des Tischlermeisters Duplay Wache hielten; Voulland, der bei keiner Hinrichtung fehlte und dem Karren mit den Verurtheilten folgte, was er »in die rothe Mette gehen« hieß, und den revolutionären Geschworenen und Ex-Marquis Montflabert, der sich den Namen »Zehnter August« beigelegt hatte. Man sah dem Défilé der Kriegsschüler zu, die laut Verordnung des Konvents »die Zöglinge des Mars«, durch den Volksmund aber »die Pagen von Robespierre« titulirt wurden. Dann las man wieder die Proklamationen von Fréon, in denen er den Verdächtigen das Verbrechen des »Krämerthums« vorwarf. Die »Zierbengel«, die sich bei den Rathhäusern herumtrieben, verhöhnten die Ziviltrauungen und umdrängten die Brautleute mit dem Spottruf »Municipaliter!« Im Invalidendom trugen die Statuen der Heiligen und Könige die phrygische Mütze. Auf den Ecksteinen wurde gespielt, und zwar mit revolutionären Karten, bei denen die Könige den Genien, die Damen den Freiheiten, die Buben den Gleichheiten und die Asse den Gesetzen hatten weichen müssen. Man pflügte die öffentlichen Gärten um; vor den Tuilerien wurde geackert. Dabei machte sich, und namentlich bei den besiegten Parteien, ein gewisser hochfahrender Überdruß geltend; an Fouquier-Tionville wurde eines Tags geschrieben: »Seien Sie so freundlich, mich von der Existenz zu befreien. Anbei meine Adresse.« Und Champcenez provozirte mitten im Palais-Royal-Garten seine Verhaftung durch die herausgeschrieene Aeußerung: »Der Sultan sollte die türkische Republik proklamiren; nichts würde ich lieber sehen, als wie Nichtswürdiges sich durch die hohe Pforte empfiehlt.« Nirgends durften die Zeitungen fehlen. Während die Friseurgesellen öffentlich an ihren Frauenperrücken kräuselten, las ihnen der Meister mit lauter Stimme den »Moniteur« vor; in lärmenden Gruppen wurde unter lebhaftem Geberdenspiel über den Leitartikel im »Verstehen wir uns auch recht!« von Dubois-Crancé oder in der »Trompete des Père Bellerose« debattirt. Manche Barbiere waren gleichzeitig Wursthändler, so daß man in gewissen Auslagen neben einer goldhaarigen Kopfpuppe Würste und Schinken hängen sah. Fahrende Schenkwirthe priesen den Vorübergehenden ihren »Emigrantenwein« an; ein anderer Weinhändler verzapfte »Zweiundfünfzigsortenwein«; wieder Andere handelten mit Lyra-Pendülen und Sophas à la Düchesse. Ueber der Thür eines Friseurs stand zu lesen: »Hier wird die Geistlichkeit über den Löffel barbiert, dem Adel in die Haare gefahren und der dritte Stand nicht geschnitten.« In der Anjou, vormals der Dauphin-Straße, ließ man sich Nummer 172 bei Martin die Karten legen. Es mangelte an Brod, mangelte an Kohlen, mangelte an Seife. Heerdenweise wurden die Milchkühe aus der Provinz in die Stadt getrieben. In der Vallée kostete das Pfund Lammfleisch fünfzehn Francs. Laut Anschlag des Stadtraths wurde für jede Dekade per Kopf ein Pfund Fleisch verabreicht. Vor den Viktualienläden machte man Queue. Eine dieser regelmäßigen Menschenansammlungen hat sich sogar im Gedächtniß des Volkes erhalten; sie reichte von der Thür eines Spezereihändlers in der Straße Petit-Carreau bis mitten in die Straße Montorgueil. Queue machen hieß damals »die Schnur halten«, wegen des langen ausgespannten Seils, das Alle, der Reihe nach hintereinander stehend, in die Hand nahmen. Die Weiber ertrugen dies Elend mit sanftmüthiger Tapferkeit. Ganze Nächte hindurch warteten sie vor den Bäckerläden, bis die Reihe an sie kam. Die Revolution hatte mit ihren Nothbehelfen Glück; es gelang ihr die Verzweiflung vermittelst zweier Maßregeln abzuwehren, des Zwangskurses der Assignaten und der Einführung des Maximums; das Assignat mußte ihr als Hebel und das Maximum als Stützpunkt dienen, und durch dieses empirische Verfahren wurde Frankreich gerettet. Der Feind in Coblenz wie in London wucherte mit den Assignaten. Dirnen, welche mit Lavendelessenz, Strumpfbändern und Husarenzöpfen hausirten, betrieben die Agiotage.

Die Geldmakler der Vivienne-Straße trugen schmutzige Schuhe, fettes Haar und Bärenmützen mit Fuchsschweif, die »Mayolets« der Valois-Straße hingegen, die sich von den Dirnen dutzen ließen, Lackstiefel, langhaarige Hüte und zwischen den Lippen einen Zahnstocher. Auf beide Gattungen machte das Volk Jagd, wie auch auf die Diebe, die von den Royalisten den Spitznamen »aktive Bürger« bekommen hatten. Diebstähle gehörten übrigens zu den Seltenheiten, und eine trotzige Armuth, eine stoische Rechtlichkeit waren an der Tagesordnung. Mit ernst gesenktem Blick gingen die barfüßigen Hungerleider an den Auslagen der Juweliere des Palais-Egalité vorüber. Bei Gelegenheit einer Haussuchung, welche die Bezirksbehörde der Vorstadt Antoine bei Beaumarchais vornehmen ließ, pflückte ein Weib im Garten eine Blume; sie wurde vom Volk dafür geohrfeigt. Das Holz kostete das Klafter vierhundert Francs in klingender Münze; man sah auf der Straße Leute ihre Bettstatt kleinsägen; im Winter waren die Brunnen zugefroren, und die Tracht Wasser stieg auf zwanzig Sous; alle Ärmern wurden Wasserträger. Der Louisdor wurde mit dreitausend neunhundertundfünfzig Francs Papier bezahlt, die Fahrt in einem Fiaker mit sechshundert. Nach vollendeter Fahrt konnte man folgenden Dialog hören: – Kutscher, was bin ich Ihnen schuldig? – Sechshundert Francs. – Eine Gemüsehändlerin hatte eine Tageseinnahme von zwanzigtausend Francs. Bettelleute sagten zu Einem: »Aus Barmherzigkeit, helfen Sie mir! Es fehlen mir zweihundertdreißig Francs, um meine Schuhe zu bezahlen.«

An den Brücken standen kolossale Statuen, die von David geschnitzt und bemalt waren, und die Mercier höhnischerweise »hölzerne Hanswurste« nannte, Statuen, welche den niedergeworfenen Föderalismus und die zurückgeworfene Koalition darstellten. Dieses Volk, in seiner düsteren Freude, mit den Thronen ein Ende gemacht zu haben, blieb der Entmuthigung unzugänglich. Die Freiwilligen strömten herbei, um dem Feind die Brust zu bieten. Jede Straße stellte ein Bataillon. Die Fahnen der Bezirke wurden herumgetragen, jede mit einer Devise. Auf der Fahne des Bezirks Les Capucins war zu lesen: »Uns soll Keiner barbieren«, auf einer anderen: »Keinen Adel mehr außer im Herzen.« An allen Mauern Plakate, große und kleine, weiße und gelbe, grüne und rothe, gedruckte und geschriebene, mit der Aufschrift: »Es lebe die Republik!« Selbst die kleinen Kinder stammelten schon: »Ça ira«. Diese kleinen Kinder waren die unendliche Zukunft.

Später schlug die tragische Stadt in’s Cynische um. Die Straßen von Paris haben zwei gründlich verschiedene Physiognomien gehabt, vor und nach dem 9. Thermidor; auf das Paris von Saint-Just folgte das Paris von Tallien. Die Weltgeschichte lebt von Gegensätzen: gleich nach dem Sinai kam die Maskerade. Ein Anfall allgemeinen Wahnsinns gehört nicht zu den Unmöglichkeiten; das hatte sich vor achtzig Jahren schon herausgestellt. Nach Ludwig XVI. wie nach Robespierre empfindet man ein dringendes Bedürfniß des Aufathmens; daher die Regentschaft, die das Jahrhundert eröffnet, und das Direktorium, womit es abschließt: doppelte Saturnalien nach doppelter Gewaltherrschaft. Frankreich nimmt sowohl aus dem puritanischen Kloster Reißaus wie aus dem monarchischen, mit der Ausgelassenheit einer dem Kerker entsprungenen Nation. So wurde denn nach dem 9. Thermidor Paris lustig, hirnverbrannt lustig. Es strömte über von krankhafter Freude. Des Sterbens Raserei verwandelte sich in Raserei des Lebens, und die Größe erlosch. Nun erschien ein zweiter Trimalcio in der Person von Grimod de la Reynière; es erschien »der Almanach der Feinschmecker«. Man tafelte im ersten Stock des Palais-Royal unter schmetternden Fanfaren, mit einem Orchester von Weibern, welche in Trompeten bliesen und die Trommel rührten. »Der Rigaudinier« mit seinem Fidelbogen gelangte zur Herrschaft; es wurde bei Méot »orientalisch« soupirt zwischen dampfenden, duftenden Rauchpfännchen. Boze malte seine Töchter, reizende sechzehnjährige Köpfchen voller Unschuld, in »Guillotinentoilette«, das heißt in ausgeschnittenen rothen Hemden. Auf die wilden Tänze in den zerfallenen Kirchen folgten die Bälle bei Ruggieri, bei Luquet, bei Wenzel, bei Manduit, bei der Montausier; nach den strengen, Charpie zupfenden Bürgerinnen kamen die Sultaninnen, die Indianerinnen, die Nymphen, und nach den nackten, blutenden, schmutz- und staubbedeckten Füßen der Soldaten, die nackten, diamantengeschmückten Füßchen der Weiber; mit der Scham war auch die Rechtlichkeit abhanden gekommen; oben tauchten die Armeelieferanten und unten das kleine Raubgesindel auf; das Gewimmel von Spitzbuben überschwemmte Paris, und Jeder mußte seine Brieftasche hüten. Zum Zeitvertreib begab man sich jetzt vor den Justizpalast, um die ausgestellten Diebinnen zu betrachten; es mußten ihnen die Kleider festgebunden werden; am Ausgang der Theater boten einem die Straßenjungen einen Wagen mit dem Beisatz an: »Bürger und Bürgerin, es ist Raum darin für zwei;« man bot statt des »alten Cordelier« und des »Volksfreunds« den »Brief von Polichinell« feil und das »Gesuch der Laufburschen«. In der Bezirksversammlung Les Piques am Vendôme-Platz führte der Marquis von Sade den Vorsitz. Die Reaktion war possierlich und grausam zugleich; die »Dragoner der Freiheit« aus dem Jahre 92 waren als »Ritter vom Dolch« wieder auferstanden. Auf der Bühne herrschte die typische Figur von Joerisse, in der Gesellschaft die »Merveilleuses« und die noch abgeschmackteren »Inconcevables«; man sagte: »par ma parole victimée« und »par ma parole verte«; von Mirabeau war man zu dem Possenreißer Bobêche zurückgesunken.

Das ist das große Hin und Her und Auf und Ab von Paris, der riesenhafte Pendelschlag einer ganzen Kultur von dem einen Pol zum anderen, von Thermopylä nach Sodom und Gomorrha. Nach 93 bewegte sich die Revolution durch eine absonderliche Verfinsterung weiter; es war, als ob das Jahrhundert vergessen würde, zu vollenden, was es begonnen hatte; eine unbegreifliche Orgie lenkte es ab, und schob sich vor und verschleierte die zurückgedrängte, schreckenvoll großartige Vision und brach nach all dem Schauer in ein Hohngelächter aus. Die Tragödie verschwand im Satyrspiel und das Medusenhaupt sah am Horizont nur noch ganz verschwommen herüber durch den Dunst des Karnevals. Im Jahre 93 aber, zur Zeit, um die sich’s hier handelt, hatten die Straßen von Paris von dem wilderhabenen Charakter jener Periode noch nichts eingebüßt. Sie hatten ihre Redner, Barlet, der von seinem Karren herab zu der Menge sprach, ihre Helden, wie zum Beispiel den »Kapitän der beschlagenen Stöcke«, ihre Lieblinge, wie Goffroy, den Verfasser der Flugschrift »Rougiff«. Einige dieser Lieblinge übten auf das Volk einen schädlichen, andere wieder einen wohlthätigen Einfluß, keiner jedoch einen so verhängnißvollen wie in der Geradheit seines Herzens Einer unter ihnen: Cimourdain.

II.

Cimourdain.

Cimourdain war ein reines aber finsteres Gewissen; er war sich eines Einblicks in Ewiges bewußt. Früher hatte er dem geistlichen Stand angehört, eine Thatsache von vielbedeutender Tragweite. Bei Menschen ist, wie am Himmel, eine gewisse düstere Abklärung möglich, sowie sich nur die besondere Veranlassung dazu bietet. So war denn Cimourdain durch das Priesterthum verdüstert worden; das Priesterthum läßt sich nicht wieder ablegen. Aber eine Nacht, die sich in unser Gemüth senkt, kann Sterne mitbringen, und Cimourdain besaß der Tugenden und Herzenswahrheiten gar manche, die aus der Finsterniß seines Wesens leuchteten. Seine äußere Lebensgeschichte war überaus einfach: Erst war er Dorfkaplan und Erzieher in einem vornehmen Hause gewesen; dann hatte er eine kleine Erbschaft gemacht und in Folge dessen seine Freiheit wiedergewonnen. Hartnäckigkeit war der Grundzug seines Charakters. Er arbeitete mit seinen Gedanken, wie man mit einer Zange arbeitet, und hielt sich nur dann für berechtigt, von einem Begriff abzulassen, wenn er ihn erschöpft hatte; er war verbissen in seinem Reflektiren. Mit allen europäischen Sprachen und sogar noch mit einigen anderen bekannt, studirte er unablässig; es hatte ihm dies zwar die Erfüllung seines Keuschheitsgelübdes erleichtert, aber ein solches Zurückdrängen ist unter allen Umständen höchst gefährlich. War’s nun aus Stolz oder zufällig oder aus Seelenwürde gewesen, seine Berufspflichten hatte er nie verletzt, bis auf eine einzige; die Wissenschaft hatte seinen Glauben zerstört, seinen Dogmenglauben wenigstens. Als ihm das ganz in’s Bewußtsein getreten war, hatte er etwas empfunden wie eine Verstümmelung; da er nun doch einmal Priester sein mußte, hatte er seine Bemühungen dahin gerichtet, wieder einen Menschen aus sich zu machen, was ihm nur dem herben Sinne nach gelang. Da er weder Weib noch Kind haben durfte, machte er das Vaterland zu seinem Kind und die Menschheit zu seinem Weibe. Bei einer so ungeheuren Ausdehnung der Gefühlssphäre bleibt der Mittelpunkt eigentlich leer.

Cimourdain’s Vater, ein Bauer, hatte den Sohn Priester lassen werden, damit dieser aus dem Volk heraustrete, und nun war Cimourdain zum Volk zurückgekehrt, und mit schwärmerischer Leidenschaft, mit einer furchtbaren Zärtlichkeit für alles Leidende. Aus dem Priester war ein Philosoph und aus dem Philosoph ein Athlet geworden. Ludwig XVI. hatte noch den Thron nicht bestiegen, und schon neigte Cimourdain, wenn auch vorerst unklar, zur Republik aber zu welcher Republik? Zur Republik Plato’s vielleicht, vielleicht auch zu der eines Drako. Da ihm untersagt war, zu lieben, hatte er sich auf’s Hassen verlegt, und so haßte er nun die Unwahrheit, das Königthum, die Priesterherrschaft, sein eigenes Gewand, haßte die Gegenwart und rief mit lautem Schrei eine Zukunft herbei, die er vorempfand, die er herannahen sah mit seinem Ahnen als etwas Fürchterliches und Herrliches; er begriff, daß dem jammervollen menschlichen Elend nur ein Ziel gesetzt werden könne durch einen Rächer, der auch ein Wohlthäter sein müsse. Er vergötterte schon von ferne die Umwälzung.

Im Jahre 1789 trat sie in’s Dasein und fand ihn bereit. Er stürzte sich in diesen großen menschlichen Regenerationsprozeß mit Konsequenz, das heißt bei einem Mann von seinem Schlag so viel wie unerbittlich; die Logik kann durch nichts gerührt werden. Er durchlebte die großen Revolutionsjahre und jede Fiber in ihm war unter jedem Sturmhauch miterzittert; Anno 89 den Sturz der Bastille, das Ende der Völkermarter, Anno 90 den 4. August, das Ende des Feudalwesens, Anno 91 Varennes, das Ende des Königsthums, Anno 92 die Einsetzung der Republik. Er, der die Revolution hatte aufgehen sehen, war der Mann nicht, sich vor dieser Riesin zu fürchten; im Gegentheil, dieses allgemeine Wachsen hatte ihn belebt, und wiewohl er beinahe schon alt war, ein Fünfziger, – und ein Priester altert rascher als sonst ein Mensch, – so war er selber mitgewachsen. Von Jahr zu Jahr hatte er die Ereignisse steigen sehen und war mitgestiegen. Erst hatte er befürchtet, die Revolution möchte verunglücken; er verließ sie mit keinem Auge; sie hatte die Vernunft und das Recht auf ihrer Seite, und je mehr sie Furcht erweckte, desto mehr beruhigte er sich. Er wollte diese Minerva mit den Friedenssternen der Zukunft gekrönt, zugleich aber als Pallas mit dem Medusenschild bewehrt wissen; ihr göttliches Auge sollte im Nothfall den Dämonen dämonisch entgegenblitzen und Schreckniß durch Schreckniß zurückschrecken können.

Also fand ihn das Jahr 93. 93 ist der Kreuzzug Europa’s gegen Frankreich und Frankreichs gegen Paris, und die Revolution der Sieg Frankreichs über Europa und der Sieg von Paris über Frankreich; daher die Unermeßlichkeit dieser schaudervollsten Minute des Jahrhunderts. Was kann es Tragischeres geben als einen Welttheil, der auf ein Land, und ein Land, das auf eine Stadt losstürzt, so daß sich das Drama noch mit der wuchtigen Massenhaftigkeit des Epos abspielt? 93 ist ein gesteigertes Jahr, der Sturm in seiner vollsten Wuth und seiner größten Erhabenheit; Cimourdain war darin wohl um’s Herz; diese jagende, wild herrliche Atmosphäre behagte seinem Flügelschlag, denn der Mann verband, wie der Seeadler, eine tiefe innere Ruhe mit Verwegenheit nach außen; gewisse verschlossen ungestüme beschwingte Wesen suchen die Windsbraut, und es giebt thatsächlich Sturmseelen.

Cimourdain hatte ein abgesondertes, nur für die Elenden zusammengespartes Mitleid. Wo ihm diejenige Gattung von Schmerz entgegentrat, welche Andern Abscheu einflößt, da opferte er sich auf. Seine eigenthümliche Güte äußerte sich zunächst darin, daß ihm vor nichts ekelte. Seine Barmherzigkeit streifte an’s Scheußliche und war göttlich. Er konnte eiternde Wunden aufdecken, um sie zu küssen; die schönen Thaten, die auf unsere Sinne abschreckend wirken, fallen uns am schwersten, und für die hatte er eine Vorliebe. Im Hotel Dieu lag eines Tags ein Mann an einer Halsgeschwulst auf dem Tod, denn wenn das abscheuliche, verpestete, vielleicht auch ansteckende Geschwür nicht ausgesogen wurde, so mußte er daran ersticken; Cimourdain, der zugegen war, drückte den Mund an die Geschwulst und sog so lange, bis er den ganzen Inhalt des Geschwürs nach und nach ausgespuckt hatte und der Kranke gerettet war. Da er damals noch in geistlicher Tracht ging, sagte Jemand zu ihm: Wenn Sie dem König das gethan hätten, würde er Sie zum Bischof machen. Für den König thät ich es nicht, antwortete Cimourdain. Jene Handlung und jene Antwort hatten den Grund gelegt zu seiner Beliebtheit in den düstern Stadttheilen von Paris. Ueber Alles, was litt und weinte und drohte, übte er eine unumschränkte Herrschaft aus. Zur Zeit der heftigen, zu oft nur fehlgreifenden Erbitterung gegen die wuchernden Aufkäufer genügte ein Wort von Cimourdain, um eines Tages am Quai Saint-Nicolas ein Schiff mit einer Seifenladung vor Plünderung zu bewahren und ein andermal der tobenden Menge Halt zu gebieten, die an der Linie Saint-Lazare die Wagen anfiel. Er war es auch, welcher das Volk anführte, als am zweiten Tag nach dem 10. August die Statuen der Könige niedergeworfen wurden. Sie fielen nicht, ohne Unheil anzurichten. Auf dem Vendôme-Platz wurde ein Weib Namens Reine Vialet von Ludwig XIV. erdrückt, während sie an dem Seil zog, das ihm um den Hals geschlungen worden war. Jene Statue Ludwigs XIV. hatte hundert Jahre gestanden, genau vom 12. August 1692 bis 12. August 1792. Auf dem Concordienplatz wurde ein gewisser Guinguerlot, der die Fürstenbilderstürmer Kanaillen geschimpft hatte, auf dem Piedestal Ludwigs XV. todtgeschlagen. Die Statue hieb man in Trümmer, aus denen später Sousstücke geprägt wurden. Nur ein Arm entging der Zerstörung, der rechte, den Ludwig XV. mit der Geberde eines römischen Imperators ausstreckte, und auf Cimourdain’s Antrag wurde dieser Arm dem alten Latude, der siebenunddreißig Jahre in der Bastille begraben gewesen, vom Volk geschenkt und durch eine Deputation überbracht. Als dieser Mann noch auf Befehl jenes Königs, dessen Statue über ganz Paris ragte, mit einem eisernen Ring am Hals und einer Kette um den Leib in seinem Kerker lebendig dahinmoderte, wer hätte damals gedacht, der Kerker werde fallen, die Statue fallen, Latude aus der Gruft erstehen und die Monarchie statt seiner hinuntersteigen, der Gefangene Herr werden über die Hand, die seinen Haftbrief unterschrieben, und nur ein erzener Arm übrig bleiben von jenem König der Schmach.

Cimourdain war einer jener Menschen, die eine innere Stimme in sich hören und ihr lauschen; solche Menschen sind scheinbar zerstreut, gerade weil sie aufmerken. Cimourdain wußte Alles und nichts: Alles auf dem Gebiet der Gelehrsamkeit und nichts vom praktischen Leben. Daher seine nachsichtslose Starrheit. Er hatte ein Band vor den Augen wie die homerische Themis. In ihm lag die blinde Sicherheit des Pfeils, der nur sein Ziel kennt und hinstrebt. In Revolutionszeiten ist die gerade Linie das Schrecklichste. Cimourdain schritt voran wie ein Verhängniß. Er war der Meinung, daß bei jeder sozialen Wiedergeburt das feste Land erst vom äußersten Punkt ausgeht, ein Irrthum, in den alle diejenigen Geister verfallen, welche den Verstand durch die bloße Logik ersetzen. Er ging weiter als der Konvent; weiter als der Stadtrath: er ging mit dem Evêché.

Die Volksversammlung, welche diesen Namen führte, weil sie in einem Saal des alten bischöflichen Palais ihre Sitzungen hielt, war mehr eine Verwickelung als eine Versammlung von Menschen. Hier fanden sich, wie bei den Sitzungen des Stadtraths, als stumm bedeutsame Zuschauer Leute ein, bei denen, wie Garat sich ausdrückt, »so viel Terzerolen wie Rocktaschen vorhanden waren«. Das Evêché war ein ganz eigenthümliches Durcheinander mit kosmopolitisch-pariserischer Färbung; das letztere schließt das erste nicht aus, da in Paris das Herz der Völker schlägt; das Evêché war der große plebejische Gluthherd. Mit ihm verglichen, erschien der Konvent kühl und der Stadtrath lau. Er war eine jener revolutionären Erscheinungen, welche mit den vulkanischen Bildungen identisch sind. Im Evêché war Alles vertreten: die Unwissenheit, die Dummheit, die Redlichkeit, die Aufopferung, der Ingrimm und die Polizei; der Herzog von Braunschweig hielt Agenten dort; dort saßen Leute, die nach Sparta und Leute, die in’s Zuchthaus gehört hätten. Die Mehrzahl war hirnverbrannt und rechtschaffen. Der Gironde war durch den Mund von Isnard, dem zeitweiligen Präsidenten des Konvents, ein unmenschliches Wort entschlüpft: »Nehmt euch in Acht, ihr Pariser. Von eurer Stadt wird kein Stein auf dem anderen bleiben, und man wird eines Tages die Stelle suchen müssen, wo einst Paris gestanden.« – Dieses Wort hatte das Evêché in’s Leben gerufen. Viele Männer und, wie gesagt, Männer aller Nationen, hatten das Bedürfniß empfunden, sich um Paris zusammen zu schaaren, und Cimourdain war jener Gruppe beigetreten. Sie reagirte gegen die Reaktion, sie war die Ausgeburt eines allgemeinen Verlangens nach Gewaltthätigkeit, welches den Revolutionen ihre unheimliche und geheimnißvolle Seite giebt. Kraft dieser Kraft hatte das Evêché sofort ein spezielles Eingreifen für sich in Anspruch genommen. Bei jedem politischen Erdbeben war es der Stadtrath, welcher die Lärmkanone abfeuerte; das Evêché besorgte das Sturmgeläut.

Cimourdain glaubte in der unversöhnlichen Einfalt seines Herzens, daß dem Wahren nur das Redliche huldigen könne, und deshalb eignete er sich zur Beherrschung der extremen Parteien. Die Schufte fühlten mit Befriedigung die Ehrlichkeit aus ihm heraus, denn dem Verbrechen schmeichelt es, unter dem Vorsitz einer Tugend zu sündigen; bequem ist ihm das freilich nicht, aber es gefällt ihm sehr. Alle wurden sie durch Cimourdain in Respekt gehalten, Palloy, jener Architekt, welcher den Abbruch der Bastille für sich ausgebeutet, indem er die Steine auf eigene Rechnung verkaufte, und welcher am Kerker Ludwigs XVI., den er in Stand zu setzen beauftragt worden war, aus lauter Eifer eine Menge Gitter, Ketten und Halseisen angebracht hatte, und Gouchon, der zweideutige Volksredner der Vorstadt Saint-Antoine, von dem später Quittungen zum Vorschein kamen, und Fournier, der Amerikaner, der am 17. Juli, wie behauptet wurde, im Solde Lafayette’s, auf diesen ein Pistol abgeschossen hatte, und Henriot, der aus Bicêtre kam und Bedienter, Gaukler, Dieb und Spion gewesen war, bevor er als General seine Kanonen gegen den Konvent auffahren ließ, und La Reynie, der frühere Großvikar von Chartres, der sein Brevier mit dem »Père-Duchesne« umgetauscht hatte; die Schlimmsten der Schlimmsten brauchten sich nur unter dem Blick von Cimourdain’s furchtbar überzeugter Treuherzigkeit zu wissen, um bei besondern Gelegenheiten nicht zu straucheln. In ähnlicher Weise zitterte Eulogius Schneider vor Saint-Just. Die Majorität des Evêché, welche größtenteils aus armen und gewaltthätigen, dabei aber das Gute anstrebenden Leuten bestand, glaubte ohnehin an Cimourdain und war ihm ganz ergeben. Als Vikar oder als Adjutant, wie man es eben nennen will, stand ihm ein anderer republikanischer Geistlicher, Darzon, zur Seite, den das Volk schon um seiner hohen Gestalt willen gern sah und den »Sechs Fuß-Abbé« getauft hatte. Jener unerschrockene Straßenkämpfer, den man den »Piken-General« nannte, und jener kühne Truchon, auch »Grand-Nicolas« geheißen, der die Prinzessin von Lamballe an seinem Arm über die Leichen hinweggeführt hätte, um sie zu retten, was auch ohne den grausamen Witz des Barbiers Charlot gelungen wäre – sie Beide wären für Cimourdain durch das Feuer gegangen.

Wie der Stadtrath ein wachsames Auge auf den Konvent hatte, so hatte wiederum das Evêché ein wachsames Auge auf den Stadtrath, und Cimourdain, dessen geraden Sinn jedes versteckte Spiel anwiderte, hatte Pache, den Beurnonville nur den »schwarzen Mann« hieß, schon manchen Faden zwischen den Fingern zerrissen. Er verkehrte im Evêché mit Jedermann in unmittelbarster Weise; von Dobsont und von Momoro zu Rath gezogen, sprach er spanisch mit Gusman, italienisch mit Pio, mit Arthur englisch, mit Pereyra flämisch und mit dem fürstlichen Bastarden Proly aus Oesterreich deutsch. Alle diese Dissonanzen wußte er in Einklang zu bringen, was ihm denn eine dunkle Macht verlieh, vor welcher ein Hébert sich fürchtete. Er übte in jenen tragischen Zeiten und Gruppirungen die Gewalt des Unerschütterlichen aus. Diesen Reinen, der sich unfehlbar dünkte, hatte noch keiner weinen sehen. Seine unantastbar eisige Tugend machte ihn zu einem furchtverbreitenden Gerechten.

Für den Priester gab es in der Revolution keinen Mittelweg; er konnte nur aus den niedrigsten oder aus den erhabensten Motiven in diesem gigantischen, flammenden Abenteuer aufgehen; entweder mußte er die Nichtswürdigkeit oder die Seelengröße selber sein. Cimourdain war die Seelengröße, aber die Seelengröße in der Abgeschiedenheit, auf dem steilen, unwirthlich starrenden Gipfel, mitten unter Abgründen; den hohen Bergen ist solch düstere Jungfräulichkeit eigen.

Cimourdain’s Aussehen war ein ganz gewöhnliches; er kleidete sich ärmlich und ohne einen Gedanken daran zu verlieren. In jungen Jahren trug er die Tonsur und jetzt eine Glatze und spärliches graues Haar um eine breite Stirn, an der man bei näherer Betrachtung ein kleines Muttermal bemerkte. Seine Sprechweise war rauh, leidenschaftlich und feierlich, seine Stimme kurzathmig und im Ton schneidig; er hatte einen traurigen, verbitterten Mund, ein klares tiefes Auge und im Ausdruck des Gesichts etwas Entrüstetes.

Das war Cimourdain. Heute ist sein Name verschollen gleich dem so manches anderen furchtbaren Unbekannten der Weltgeschichte.

III.

Die Achillesferse.

War ein solcher Mann denn auch Mensch? War der Diener der Menschheitsidee einer Neigung fähig, und war er nicht zu viel Seele, um dabei noch ein Herz zu haben? Konnte dieses endlose Umfangen Alles und Aller sich einem Einzelnen zuwenden, und konnte Cimourdain persönlich lieben?

Gerade herausgesagt, ja.

In seiner Jugend, da er in einer fast fürstlichen Familie als Erzieher lebte, hatte er einen Schüler gehabt, den Sohn und Erben des Hauses, und den liebte er. Ein Kind lieb haben, ist ja so leicht, und was verzeiht man nicht Alles einem Kind? Man verzeiht ihm den Grafen, den Fürsten, den König. Vor dieser jungen Unschuld verschwinden die Verbrechen der Ahnen, und die Kluft zwischen den Ständen schließt sich vor der Hülflofigkeit eines Gefchöpfes, dem man seine Größe um seiner Kleinheit willen vergeben muß. Selbst der Sklave vergiebt ihm, daß er der Herr ist, und der alte Neger thut närrisch mit dem kleinen weißen Wurm. Cimourdain hatte zu seinem Schüler eine leidenschaftliche Zuneigung gefaßt. Die Kindheit hat den unaussprechlichen Reiz, daß sich die Liebe in den verschiedensten Formen an ihr durchempfinden läßt. Alles was sein zur Einsamkeit verdammtes Herz an Zärtlichkeit besaß, war auf dieses süße und unschuldvolle Kind wie auf eine Beute niedergeschossen. Er hing an ihm mit der Zärtlichkeit eines Vaters, eines Bruders, eines Freundes, eines Schöpfers, mit allen weichen Regungen seiner Seele zugleich; es war ihm ein Sohn, wenn auch nicht dem Blut nach, so doch im geistigen Sinn; es war sein Werk nicht, und doch, von ihm großgezogen, sein Meisterwerk. Aus diesem kleinen Vikomte hatte er einen Menschen, vielleicht einen großen Mann gemacht; wer weiß? Wir erträumen uns ja zuweilen eine Zukunft. Ohne Vorwissen der Familie – braucht man sich denn erst die Erlaubniß einzuholen, um ein gerades Denken und Wollen heranzubilden? – hatte er dem Zögling die Ergebnisse seines eigenen inneren Vorschreitens beigebracht, hatte ihm seine eigene gewaltige Tugend eingeimpft, seine Ueberzeugung,, sein tiefstes Bewußtsein, sein Ideal in’s Blut hinübergeleitet, hatte des Volkes Seele ausgegossen in dieses Aristokratenhirn. Der Geist ist auch eine Nahrung; dem leitenden Verstand entfließt etwas wie Muttermilch, und der Lehrer, der sein Denken hergiebt, hat etwas von der Amme, die dem Säugling die Brust reicht; wie zuweilen die Amme einem Kind mehr Mutter sein kann als die Mutter, so kann ihm auch ein Vater weniger Vater sein als der Lehrer, der es erzieht. So groß war die geistige Vaterschaft, die Cimourdain an seinen Zögling knüpfte, daß ihn der bloße Anblick des Kindes schon rührte.

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Er hing an ihm mit der Zärtlichkeit des Vaters.

Hier kam übrigens noch Eins in Betracht: Bei diesem Kinde die Stelle des Vaters anzunehmen, war ein Leichtes, denn es hatte keinen, auch keine Mutter mehr; es war verwaist und hatte Niemand auf der Welt als eine blinde Großmutter und einen fernwohnenden Großonkel. Die Großmutter starb, und das Familienoberhaupt, der Onkel, ein ehrgeiziger Offizier, der auch eine Hofcharge bekleidete, mied das alte einsame Stammschloß und lebte theils in Versailles, theils im Lager, so daß das Kind seinem Erzieher im vollsten Sinne des Wortes überlassen blieb. Und noch ein zweites trat hinzu: Cimourdain hatte es beinahe zur Welt kommen sehen; als es noch ganz klein war, hatte es eine lebensgefährliche Krankheit durchgemacht, und Cimourdain hatte ihm Tag und Nacht abgewartet; der Arzt behandelt den Kranken blos, retten muß ihn die Pflege, und Cimourdain hatte das Kind gerettet; also verdankte ihm der Knabe nicht allein seine Erziehung, seine Ausbildung, sein gründliches Wissen, er verdankte ihm auch noch Genesung und Gesundheit, außer der geistigen Reife überhaupt das Dasein. Die uns alles verdanken, die vergöttern wir, und so vergötterte denn Cimourdain das Kind.

Aber dennoch mußte die naturgemäße Trennung eines Tages stattfinden und Cimourdain nach vollendeter Aufgabe den zum Jüngling herangereiften Knaben verlassen. Und wie kühl, ruhig und ahnungslos grausam reißen die Familien den Lehrer vom Kinde, dem er sein Denken, und die Amme vom Kinde, dem sie ihr Blut gegeben hat! Als Cimourdain bezahlt und vor die Thüre gesetzt worden war, stieg er aus den höheren Regionen wieder in die heimischen zurück; die Scheidewand zwischen Groß und Klein war ja wieder vorgeschoben. Der junge Vikomte, der als geborener Offizier sofort ein Hauptmannspatent erhielt, war in irgend eine Garnison abgereist. Der unscheinbare Lehrer, schon damals im Stillen zerfallen mit der Dogmatik, war schnell wieder in jenen dunkeln Parterreraum der Kirche geschlüpft, den man niederen Klerus nennt, und hatte seinen Schüler aus den Augen verloren.

Nun war die Revolution ausgebrochen, aber die Erinnerung an jenes Wesen, aus dem er einen Menschen gemacht hatte, glomm weiter in seinem Herzen, von der Wucht der Ereignisse zwar gedeckt, allein keineswegs erstickt. Eine Statue zum Leben heranmeißeln, ist schön; eine Seele zur Erkenntniß heranbilden noch schöner. Cimourdain war der Pygmalion einer Seele. Der Geist kann sich Kinder zeugen.