In der Vendée.

Die Vendée.

I.

Die Wälder.

Es gab damals in der Bretagne sieben grauenvolle Wälder. Der Vendéerkrieg ist der Priesteraufruhr gewesen, und der Wald hat ihm Vorschub geleistet, Finsterniß im Bund mit Finsterniß.

Die sieben »schwarzen Wälder« der Bretagne waren: Der Wald von Fougères, der den Weg zwischen Dol und Avranches versperrt; der Wald von Princé mit einem Umfang von acht Meilen; der Wald von Paimpont, der, von Schluchten und Bächen durchfurcht, für einen Angriff von Baignon her fast unzugänglich war und den Rückzug auf den royalistischen Marktflecken von Concornet deckte; der Wald von Rennes, wo Puysaye Focard verlor und wo man aus der Ferne das Sturmgeläut der republikanischen Gemeinden hören konnte, deren es um die größeren Städte herum allenthalben eine beträchtliche Anzahl gab; der Wald von Machecoul, mit seinem Ungeheuer: Charette; der Wald von La Garnache, der den Familien La Trémoille, Gauvain und Rohan, und der Wald von Brocéliande, welcher dem Feenreich gehörte.

»Herr der sieben Wälder« war ein Adelstitel, der sich unter den Vikomtes von Fontenay vererbte, welche auch den bretonischen Fürstentitel führten, bretonisch im Gegensatz zu den französischen Fürsten. Solche bretonische Fürsten waren auch die Rohan. Der Fürst von Talmont wurde am 15. Nivôse des Jahres Zwei, in einem Bericht von Garnier Saintes an den Konvent, als »jener Capet der Räuber und souveräne Herr in Maine und Normandie« bezeichnet. Ueber die bretonischen Wälder von 1792 bis 1800 ließe sich eine Monographie abfassen, die sich der Geschichtschreibung der Vendéerkriege gewissermaßen als Legende anschließen würde. Wie die Geschichte, so hat auch die Legende ihre innere Wahrheit, und diese unterscheidet sich von der historischen blos der Form nach; von einer Fiktion ausgehend, gelangt sie schließlich bei der Wirklichkeit an. Geschichte und Sage verfolgen ein gemeinsames Ziel, die Schilderung der menschlichen Wesenheit in vergänglichen Typen. Es wird nur dann ein vollständiges Verständniß der Vendée erzielt, wenn die Legende die Geschichte, das Besondere das Allgemeine ergänzt. Und sagen wir es gleich heraus, die Vendée ist es auch werth. Die Vendée ist wunderbar. Jener Ignorantenkrieg, so stupid und doch so glänzend, scheußlich und herrlich, hat Frankreich mit Jammer und doch wieder mit einem Gefühl der Genugtuung erfüllt; die Vendée ist eine ruhmvolle Wunde. Zu gewissen Zeiten giebt die menschliche Gesellschaft Räthsel auf, Räthsel, die sich für den Wissenden in Klarheit, für den Unwissenden in Verdüsterung, Gewaltthätigkeit und Barbarei lösen. Der Philosoph zögert mit der Anklage. Er zieht die Verwirrung in Betracht, welche Probleme mit sich bringen, denn wie die vorüberziehenden Wolken, so werfen auch Probleme ihre Schatten unter sich.

Das Verständniß der Vendée hängt von der Beachtung des großen Gegensatzes ab zwischen der französischen Revolution einerseits und andererseits dem bretonischen Bauern. Neben jene unvergleichlichen Ereignisse, jene ungeheuere unmittelbare Bedrohung mit allen Wohlthaten zugleich, jenen Zornanfall der Kultur, jenen tobenden über’s Ziel schießenden Fortschritt, jene maßlos unbegreifliche Besserungswuth stelle man den sonderbar feierlichen Eingeborenen, den Mann mit dem blauen Auge und dem langen Haar, der von Milch und Kastanien lebt, dem sein Strohdach, sein Zaun und der Graben dahinter die Welt bedeuten, der jedes Nachbardorf am Klang seiner Glocke erkennt, der das Wasser lediglich zum Stillen des Durstes verwendet, der ein Lederwamms mit seidenen Arabesken trägt, die Stickerei auf der Rohheit, der, wie seine keltischen Vorfahren ihr Gesicht, nunmehr seine Kleider tätowirt, der in seinem Henker noch seinen Herrn hochhält, der eine ausgestorbene Sprache spricht, seine Gedanken also unter einen Grabhügel sperrt, der seine Ochsen antreibt, seine Sense wetzt, sein Feld ausjätet, seinen Buchweizenfladen knetet, der seinen Pflug zuerst und dann seine Großmutter verehrt, der an die heilige Jungfrau und an die weiße Dame glaubt, der in Andacht schauert vor dem Altar und auch wieder vor dem geheimnißvollen hohen Stein, welcher über der Haide ragt, der in der Ebene auf den Ackerbau, an der Küste auf den Fischfang und im Dickicht auf’s Wildern ausgeht, der seine Könige, seine Schloßherren, seine Priester, ja seine Läuse lieb hat und oft stundenlang stehen bleiben kann am weiten einsamen Strand in düsterem Belauschen des Meeres – man denke sich in den Gegensatz hinein und frage sich dann, ob dieser Blinde jenes Licht zu begrüßen fähig war.

II.

Die Menschen.

Der Landmann hat an zwei Dingen einen Halt, am Feld, das ihn ernährt, am Walde, der ihn birgt. Von den bretonischen Wäldern machen wir uns kaum noch einen Begriff. Es waren Städte. Nichts Verschlosseneres, Stummeres, Wilderes, als jene ineinandergewachsenen Verstrickungen von Dornhecken und Astwerk; die dichten Gebüsche schienen Lagerstätten regungslosen Schweigens; keine Einöde konnte einen vollständigeren Eindruck des Ausgestorbenen, Grabähnlichen hervorbringen. Wären jedoch plötzlich, mit einem Zauberschlag, die Bäume vom Erdboden verschwunden, so hätte man ein ganzes Menschengewimmel erblickt.

Enge runde Gruben, durch einen unter Zweigen versteckten steinernen Deckel verschlossen, welche sich trichterförmig nach unten zu erweiterten und, erst senkrecht, dann horizontal laufend, in dunkle Kammern mündeten, das hatte Cambyses in Egypten vorgefunden, und das fand Westermann in der Bretagne; die egyptischen Keller dehnten sich unter der Wüste, die bretonischen unter den Wäldern aus; in jenen lagen Todte, in diesen hausten Lebendige. Eine der entrücktesten Lichtungen im Gehölz von Misdon, welche ihrem ganzen Umfang nach unterhöhlt war und in deren Stollen und Zellen eine geheimnißvolle Einwohnerschaft ab- und zuging, hieß »die große Stadt«; eine andere, oberhalb nicht minder öde und unterhalb nicht minder bevölkerte hieß »der Königsplatz«. Dies unterirdische Treiben in der Bretagne ließ sich auf undenkliche Zeiten zurückführen; von jeher hatte dort der Mensch vor Menschen flüchten müssen; daher die Schlupfwinkel zwischen den Baumwurzeln. Dies Unterkriechen schrieb sich noch von den Druiden her, und einige dieser Krypten sind so alt wie die Dolmens. Die Gespenster der Sage und die Ungeheuer der Geschichte, Alles war über dieses finstere Land dahingefluthet: Teut, Cäsar, Hoël, Neomen, Gottfried von England, Alain mit dem eisernen Handschuh, Pierre Mauclerc, das französische Haus von Blois, das englische Haus der Montfort, die Könige und die Herzoge, die neun bretonischen Barone, die fahrenden Richter, die Grafen von Nantes in Fehde mit den Grafen von Rennes, die entlassenen Kriegsvölker und plündernden Vagabundenrotten, René II., Vikomte von Rohan, die königlichen Statthalter, der »gute Herzog von Chaulnes«, der unter den Fenstern der Frau von Sévigné die Bauern baumeln ließ, im fünfzehnten Jahrhundert die Feudalmetzeleien, im sechzehnten und siebzehnten die Religionskriege, im achtzehnten die dreißigtausend auf den Mann dressirten Bluthunde. Das ohne Unterlaß dermaßen zusammengestampfte Volk hatte zum Verschwinden seine Zuflucht genommen: so verkrochen sich denn der Reihe nach die Ureinwohner vor den Kelten, die Kelten vor den Römern, die Bretonen vor den Normannen, die Hugenotten vor den Katholiken, die Schmuggler vor den Zollwächtern, erst in die Wälder und dann unter die Wälder, wie die Thiere, denn so weit bringt die Tyrannei den Menschen. Seit zweitausend Jahren in allen möglichen Gestalten: Eroberung, Feudalwesen, Priesterfanatismus, Steuererpressung, hetzte sie diese jammervolle, athemlose Bretagne ab und gab das unerbittliche Treibjagen in der einen Form nur auf, um es in einer neuen fortzusetzen. Die Menschen gruben sich ein. Die zornverwandte Verzweiflungsangst dehnte sich schlagfertig in den Seelen, und die Höhlen dehnten sich schlagfertig unter den Wäldern, als die französische Revolution ausbrach. Die Bretagne hielt die aufgedrungene Freiheit für Unterdrückung und empörte sich. Aber so sind die Sklaven.

III.

Einvernehmen der Menschen und Wälder.

Die tragischen Wälder der Bretagne fielen in ihre gewohnte Rolle und spielten, wie in allen vorausgegangenen Aufständen, so auch im gegenwärtigen die Helfershelfer und Mitschuldigen. Der Boden unter jenen Wäldern war meistens sternkorallenförmig ausgehöhlt, also nach allen Richtungen von einem unsichtbaren Netz von Schatten, Zellen und Galerien durchzogen: in jeder dieser schwarzen Zellen lebten fünf bis sechs Männer; fast ohne Luft: darin bestand die Hauptschwierigkeit. Wie gewaltig der große Bauernaufstand organisirt war, läßt sich aus gewissen überraschenden Zahlen ersehen: Im Wald von Le Petre, Departement Ille-et-Vilaine, dem Asyl des Fürsten von Talmont, war kein Hauch zu vernehmen, keine menschliche Spur zu entdecken, und doch hatte Focard seine sechstausend Mann dort. Im Wald von Meulac, Departement Morbihan, wo sich keine Seele blicken ließ, lagen achttausend Mann, und jene zwei Wälder, Le Petre wie Meulac, gehören nicht einmal zu den größern. Wehe dem, der sie betrat! Jene trügerischen Gebüsche mit dem unterirdischen Labyrinth voll Kämpfern glichen ungeheuern dunkeln Schwämmen, die unter dem ersten Schritt der Gigantin Revolution den Bürgerkrieg in Strömen ausspritzten. Unsichtbar lauernde Bataillone, ja, ungeahnte Armeen wanden sich unter den Füßen den republikanischen Kolonnen hin und her, quollen plötzlich aus der Erde und quollen ebenso wieder hinein, stürmten massenhaft vor und zerstoben, allgegenwärtig, allverschwindend, erst Lawine, dann Staub, Ungeheuer, welche wie durch Zauber zusammenschrumpften, im Angriff Riesen und Zwerge auf der Flucht, Leoparden mit allen Eigenschaften des Maulwurfs.

Nicht genug, daß es Wälder gab; es gab auch noch Gehölze; wie die Städte durch Dörfer, so waren die Waldungen durch eine Anzahl allenthalben zerstreuter Forste unter einander verbunden. Die alten Schlösser, aus denen nun wieder Festungen, und die Dörfer, aus denen Feldlager geworden waren, die Pachtgüter, hinter deren Umzäunungen die Hinterlist ihre Fallen legte, und die Wirtschaftsgebäude mit ihren Schanzgräben und Baumpallisaden bildeten die einzelnen Maschen des Netzes, in das die republikanischen Armeen sich verrannten. Einer jener Komplexe von Forsten hieß le Bocage. Von Bedeutung waren darin das Gehölz von Misdon, in dem ein Teich verborgen lag, wo Jean Chouan hauste; ferner das Gehölz von Gennes mit dem Bandenführer Taillefer, das Gehölz von La Huisserie mit Gouge-le-Bruant; la Charnie mit Courtillé-le-Bâtard, den man den Apostel Paulus nannte, und der im Lager von La Vache-Noire kommandirte; Burgault mit jenem räthselhaften Monsieur Jacques, der im Gewölbe von Juvardeil ein unerklärtes Ende finden sollte; das Gehölz von Charreau, wo Pimousse und Petit-Prince, von der Garnison von Châteauneuf angegriffen, sich in die republikanischen Reihen stürzten und Grenadiere zwischen ihren Armen in die Gefangenschaft forttrugen; das Gehölz von La Heureuserie, wo die Abtheilung von Longue-Faye eine Niederlage erlitt; das Gehölz von l’Aulne, das einen Ausblick hatte auf die Straße zwischen Rennes und Laval; La Gravelle, das durch einen Fürsten von La Trémoille beim Kugelspiel gewonnen worden; im Departement Côtes-du-Nord, Lorges, wo nach Bernard von Villeneuve Charles von Boishardy befahl; Bagnard bei Fontenay, wo Lescure Chalbos den Kampf bot und Chalbos ihn eins gegen fünf annahm; La Durondais, einst ein Streitgegenstand zwischen den Söhnen Karls des Kahlen, Alain Le Redru und Héripoux; das Gehölz von Croqueloup am Rand jener Haide, wo Coquereau seine Gefangenen schor; La Croix-Bataille, wo Jambe-d’Argent und Morière ihre homerischen Beschimpfungen ausgetauscht; La Saudraie, wo wir ein Pariser Bataillon auf einer Rekognoszirung begleitet haben, und noch manches andere Gehölz.

In mehreren jener Wälder und Forste gab es außer den um die Höhle des Anführers gruppirten unterirdischen Dörfern noch ganze Weiler von niedrigen Hütten, die unter Bäumen versteckt und oft so zahlreich waren, daß der ganze Wald davon wimmelte. Zuweilen wurden sie durch ihren Rauch verrathen. Zwei jener Weiler im Gehölz von Misdon sind berühmt geblieben: Lorrière beim Teich und gegen Saint-Ouen-les-Toits zu der Hüttenkomplex La Rue de Bau.

Die Weiber lebten in den Hütten und in den Gruben die Männer, welche zum Kriegführen die Feengalerien und die alten keltischen Schächte verwertheten; die Nahrung wurde ihnen zugetragen, und wurde dies vergessen, so verhungerten diejenigen, welche ihre Gruben nicht zu öffnen verstanden; es waren dies, fast in allen Fällen, ungeschickte Leute, denn die bemoosten und belaubten Deckel waren nicht nur so künstlich geformt, daß man sie von außen zwischen dem Gras unmöglich unterscheiden konnte, sondern sie ließen sich auch ganz leicht von innen heben und zumachen. Die Höhlen wurden mit Sorgfalt gegraben; die abgetragene Erde warf man in den nächsten Weiher; Boden und Wände waren mit Farrenkraut und Moos austapezirt. Solch ein Loch hieß »loge« und war soweit bequem, wenn der Bewohner von Licht, Feuer, Brod und Luft absehen wollte.

Ohne Vorsicht unter die Lebenden zurückzusteigen, war mit Gefahr verbunden, denn man konnte zur Unzeit auferstehen und zwischen die Beine einer Armee gerathen. Schrecklich waren jene Gehölze mit ihren Doppelfallen unter und über der Erde: die Blauen wagten sich nicht recht hinein und die Weißen nicht recht hinaus.

IV.

Das Leben unter der Erde.

Man langweilte sich unter der Erde; zuweilen, des Nachts, stieg man auf alle Gefahr hin ins Freie, um auf der Haide zu tanzen; oder man schlug die Zeit mit Beten todt. »Den ganzen Tag über,« sagt Bourdoiseau, »ließ uns Jean Chouan rosenkränzeln.« Fast unmöglich war es, die Leute von Unter-Maine davon abzuhalten, zur Zeit des Garbenfestes auszubrechen und an der Feier theilzunehmen. Einzelne geriethen auf die absonderlichsten Einfälle; so zum Beispiel ging Denys, genannt Franche-Montagne, in Weiberkleidern nach Laval ins Theater und verkroch sich dann wieder in seinem Keller. Kam es zum Kampf, so vertauschten viele dieser Männer unmittelbar den Kerker mit dem Grab. Oft hoben sie den Grubendeckel in die Höhe und lauschten, ob man sich in der Ferne nicht schlage, und folgten dem Verlauf des Gefechts mit dem Gehör; das Feuer der Republikaner war regelmäßig, das der Royalisten ungleich; darnach wurden die Chancen berechnet; wenn das Peletonfeuer plötzlich schwieg, hatten die Royalisten den Kürzeren gezogen; wenn aber das ruckweise Schießen andauerte und sich in der Entfernung verlor, waren sie im Vortheil. Die Weißen verfolgten den Feind immer, die Blauen, die das ganze Land gegen sich hatten, nie. Die unterirdischen Streitkräfte waren ganz ausgezeichnet berichtet und standen unter einander in überraschend unmittelbarer, geheimnißvoller Verbindung. Alle Brücken hatten sie zerstört, alle Fuhrwerke unbrauchbar gemacht und fanden Mittel und Wege, einander jede Ordre und jede Warnung zukommen zu lassen.

Von Wald zu Wald, von Dorf zu Dorf, von Hof zu Hof, von Hütte zu Hütte, von Busch zu Busch lösten die Kundschafter einander systematisch ab. Tölpelhaft aussehende Bauern trugen in hohlen Stöcken Depeschen hin und her. Nostidoux, welcher der konstituirenden Versammlung angehört hatte, versorgte die Aufständischen mit unausgefüllten, für die ganze Bretagne giltigen republikanischen Pässen nach neuem Muster, die jener Verräther sich bündelweise zu verschaffen wußte. Hinter alle die Schliche zu kommen, war unmöglich. »Geheimnisse,« berichtet Puysaye, »die mehr als viermalhunderttausend Individuen bekannt waren, sind ohne jegliche Ausnahme gewahrt worden.« Das ganze Viereck, das südlich durch die Strecke von Les Sables bis Thouars, östlich durch die Strecke von Thouars nach Saumur und den Bach von Thoué, im Norden durch die Loire und im Westen durch das Meer begrenzt war, schien förmlich ein Nervensystem zu besitzen, das bei jeder Berührung eines einzelnen Punktes die Erschütterung der ganzen Fläche mittheilte. Im Handumdrehen gelangte eine Nachricht von Noirmoutier bis nach Luçon und vom Lager von La Loué ins Lager von La Croix-Morineau. Fast hätte man glauben können, die Vögel verrichteten Botendienste. »Es ist gerade, als ob sie Telegraphen auf ihren Kirchthürmen hätten,« meinte Hoche in einem Schreiben vom 7. Messidor Jahr Drei. Es war eine ähnliche Einrichtung wie die der schottischen Clans; jede Gemeinde hatte ihren Anführer. Mein Vater hat diese Kämpfe mitgemacht: ich weiß davon zu erzählen.

V.

Das Leben im Krieg

Viele waren blos mit Piken, aber auch Viele mit guten Jagdflinten bewaffnet. Die Wilderer von Bocage und die Schmuggler aus Loroux waren unübertreffliche Scharfschützen, lauter absonderliche, gräßliche, tollkühne Streiter. Die Nachricht von der Aushebung der dreimalhunderttausend Mann hatte in sechshundert Dörfern die Sturmglocken in Bewegung gesetzt. An allen Enden flackerte die Feuersbrunst in einem Athem auf; an einem und demselben Tag explodirten Poitou und Anjou. Bemerken wir übrigens, daß man im Jahr 92, am 8. Juli, also schon einen Monat vor dem Tuileriensturm, ein erstes Grollen auf der Halde von Kerbader vernommen hatte, und daß der heute kaum mehr genannte Alain Redeler der Vorgänger La Rochejacquelein’s und Jean Chouan’s gewesen war. Bei Todesstrafe zwangen die Royalisten alle wehrfähigen Männer zum Ausmarsch. Sie requirirten Pferde, Fuhrwerke, Lebensmittel. Gleich bei Anbeginn verfügte Sapinad über dreitausend, Chatelineau über zehntausend, Stofflet über zwanzigtausend Streiter und zog Charette in Noirmoutier ein. Der Vikomte von Scepeaux wiegelte Ober-Anjou auf, der Chevalier von Dieuzie die Gegend zwischen der Vilaine und der Loire, Tristan l’Hermite Unter-Maine, der Barbier Gaston die Stadt Guemenée und der Abbé Bernier alles Uebrige. Man setzte in das Tabernakel eines vereidigten Pfarrers, eines »schwörenden Pfarrers«, wie sie bei den Bauern hießen, eine große schwarze Katze, die dann während der Messe plötzlich heraussprang. – »Der Teufel war’s!« schrieen Alle, und der ganze Bezirk empörte sich. Die Beichtstühle sprühten Flammen. Um die Blauen anzupacken und über die Gräben zu setzen, führten die Landleute ihren fünfzehn Fuß langen Springstock bei sich, eine Waffe gleich geeignet für den Kampf wie für die Flucht. Mitten im Ringen, beim Angriff auf die republikanischen Karrés, wenn man auf dem Schlachtfeld auf ein Kreuz oder eine Kapelle stieß, fiel Alles auf die Knie und betete unter dem Kartätschenfeuer seinen Rosenkranz ab; dann sprangen die Ueberlebenden auf und stürzten sich auf den Feind, wahre Riesen – ja leider! Sie hatten die besondere Fertigkeit, im Laufen ihr Gewehr zu laden. Weißmachen ließen sie sich Alles; ihre Pfarrer zeigten ihnen andere Geistliche, denen sie eine rothe Schnur fest um den Hals gebunden hatten, und sagten ihnen, das seien auferstandene Opfer der Guillotine. Sie hatten auch ihre Anwandlungen von Ritterlichkeit und präsentirten vor Fesque, einem republikanischen Fähndrich, der sich lieber niedersäbeln ließ, als daß er die Fahne preisgab. Auch spotten konnten sie; sie nannten die verheiratheten republikanischen Priester, Leute, die ihr Priesterkäppchen weggeworfen, »Sanscalotten, aus denen Sanscülotten geworden.« Anfangs fürchteten sie sich vor der Artillerie, später warfen sie sich mit ihren Stöcken drüber her und eroberten sogar einzelne Kanonen, zuerst ein stattliches Bronzegeschütz, daß sie »den Missionsprediger« tauften, dann ein anderes, das noch aus den Religionskriegen stammte und unter einer Mutter Gottes das Wappen von Richelieu führte.

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Sie eroberten sogar einzelne Kanonen.

Als diese Kanone, die sie ihre »Marie-Jeanne« hießen, bei der Einnahme von Fontenay wieder verloren ging, ließen sechshundert Bauern kaltblütig für sie das Leben, und als Fontenay um der »Marie-Jeanne« willen abermals genommen war, wurde diese mit Blumen bekränzt unter die Lilienfahne zurückgeführt, und die Weiber, die des Weges kamen, mußten sie küssen. Aber zwei Geschütze, das war doch gar zu wenig; Chatelineau, der Stofflet ob dessen Marie-Jeanne neidisch war, rückte von Pin-en-Mange aus, und eroberte beim Sturm auf Jallais eine dritte Kanone; hierauf wurde von Forest auch Saint-Florent überfallen und die vierte weggenommen. Ein noch schöneres Stückchen lieferten zwei andere Bandenführer, Chouppes und Saint-Pol, welche aus Baumstämmen und Puppen eine falsche Batterie herstellten und unter weidlichem Lachen vermittelst dieser Artillerie die Blauen nach Mareuil zurücktrieben. Das war noch die großartige Zeit. Später, als La Marsonnière durch Chalbos in die Flucht geschlagen wurde, ließen die Bauern auf dem Feld der Schande zweiunddreißig englische Kanonen zurück. England besoldete damals die französischen Prinzen und versendete, wie Nantiat unterm 10. Mai 1794 schrieb, Gelder an Monseigneur, »weil Herrn Pitt bemerkt worden war, daß dies passend sein dürfte.« »Das Kriegsgeschrei der Rebellen«, sagte Mellinet in einem Bericht, lautet: »Vivat England!« Die Bauern verwendeten oft eine kostbare Zeit aufs Plündern. Zur Frömmigkeit gesellte sich die Raubgier. Auch Wilde haben ihre Laster, und bei diesen packt sie später die Kultur. Puysaye erzählt in seinem zweiten Band auf Seite 187: »Ich habe mehrmals den Marktflecken Plélan vor Plünderung bewahrt.« Und weiter unten, Seite 434, versagt er sich den Einzug in Montfort: »Ich machte einen Umweg, um die Plünderung der Jakobinerhäuser zu vermeiden.« Die Aufständischen stahlen in Cholet, raubten Challans aus und plünderten, nachdem ein Handstreich gegen Granville ihnen mißlungen, Ville-Dieu. Sie nannten diejenigen Landbewohner, die sich den Blauen angeschlossen hatten, »Jakobinerpack« und machten sie mit besonderer Vorliebe nieder. Wie Soldaten zog es sie zum Blutbad und wie Räuber zum Gemetzel hin. Sie fanden ein Wohlgefallen daran, die »Patschfüße«, wie sie die Städter hießen, zu füsiliren und hatten dafür einen eigenen Ausdruck: »Fastenfleischspeisen genießen.« In Fontenay streckte einer ihrer Geistlichen, der Pfarrer Barbotin, einen Greis mit einem Säbelhieb zu Boden. In Saint-Germain-sur-Ille erschoß einer ihrer Führer, ein Edelmann, den Gemeindeprokurator und nahm dessen Uhr zu sich. In Machecoul verfuhren sie mit den Republikanern wie beim Abholzen eines Berges; fünf Wochen hindurch wurden tagtäglich dreißig Mann hingerichtet; jede solche Abtheilung von dreißig Verurtheilten – »ein Rosenkranz«, wurde vor einer offenen Grube aufgestellt und hineinfüsilirt; oft lebten einige Opfer noch und wurden nichtsdestoweniger mit den andern begraben. Dergleichen hat sich in der Folge wiederholt. Joubert, dem Bezirkspräsidenten, sägte man die Fäuste ab; den gefangenen Blauen legte man eigens geschmiedete schneidige Handschellen an; man hieb sie auf dem Marktplatz nieder und blies das Hallali dazu. Charette, der nie anders unterschrieb, als »in Brüderlichkeit der Chevalier Charette« und der, wie Marat, ein umgebundenes Tuch über den Brauen trug, verbrannte die Bevölkerung von Pornic in ihren Häusern. Es war gerade zur Zeit der Unthaten von Carrier. Greuel wetteiferten mit Greueln. Der bretonische Insurgent sah dem neugriechischen äußerlich ziemlich ähnlich: kurze Jacke, umgehängte Flinte, hohe Gamaschen, weite Hosen, die an die Fustanelle erinnerten; so ein Bauernbursche hatte wirklich Manches mit dem Klephten gemein. Henri von La Rochejacquelein war im einundzwanzigsten Jahr mit einem Stock und einem paar Pistolen zu Feld gezogen. Jetzt war die Vendéer Armee hundertvierundfünfzig Divisionen stark. Man ließ sich bereits auf regelrechte Belagerungen ein; drei Tage hindurch hielt man Bressuire eingeschlossen. An einem Charfreitag beschossen zehntausend Bauern die Stadt Les Sables mit Brandkugeln, und es gelang ihnen, innerhalb vierundzwanzig Stunden, von Montigné bis Courbeveilles vierzehn republikanische Kantonnements zu zerstören. Auf der großen Mauer zu Thouars hörte man folgendes prächtiges Zwiegespräch zwischen La Rochejacquelein und einem Bauernburschen: – Karl! – Da bin ich. – Auf Deine Schultern laß mich steigen! – Hier. – Deine Flinte! – Hier. – Und La Rochejacquelein sprang von der Mauer in die Stadt und eroberte ohne Sturmleiter jene Thürme, die ein Duguesclin belagern mußte. Diesen Leuten war eine Patrone mehr werth als ein Louisd’or. Sie weinten, wenn sie ihren Kirchthurm aus den Augen verloren. Wenn sie die Flucht ergriffen, was ihnen ganz einfach vorkam, riefen die Führer ihnen zu: »Fort mit den Holzschuhen; nur die Flinten behalten!« Fehlte es an Munition, so beteten sie einen Rosenkranz und holten sich Pulver aus den Protzkästen der republikanischen Artillerie; später ließ sich d’Elbée durch die Engländer damit versorgen. Wenn der Feind anrückte und sie Verwundete bei sich hatten, versteckten sie sie im hohen Korn oder zwischen den größeren Farrensträuchern und suchten sie nach beendigtem Kampf dort wieder auf. Uniform hatten sie nicht. Ihre Kleider gingen in die Brüche und Edelleute wie Bauern hüllten sich in das Nächstbeste. Roger Mouliniers trug einen Turban und einen Dolman aus der Theatergarderobe von La Flèche, der Chevalier von Beauvilliers einen Richtertalar und über einer wollenen Haube einen Damenhut. Als allgemeines Abzeichen war die weiße Schärpe oder Feldbinde eingeführt; die Chargen unterschieden sich durch Schleifen. Stofflet führte eine rothe Schleife, La Rochejacquelein eine schwarze. Wimpsen, der übrigens halb und halb zur Gironde gehörte und die Normandie niemals verließ, trug die Armbinde der »Carabots« von Caen. In den Reihen der Insurgenten fochten auch Weiber: Frau von Lescure, die spätere Frau von La Rochejacquelein; Therese von Mollien, die Geliebte von La Ronarie, welche das Verzeichniß der Gemeindeanführer verbrannte; die schöne junge Frau von La Rochefoucauld, welche ihre Bauern mit dem Degen in der Hand beim großen Schloßthurm von Le Puy-Rousseau wieder sammelte, und jene Antoinette Adams, die unter dem Beinamen Ritter Adams eine solche Tapferkeit entwickelte, daß sie, als sie in die Hände der Blauen fiel, zwar erschossen wurde, aber aus Hochachtung aufrecht. Ein Hauch von Grausamkeit weht uns aus jenen epischen Zeiten entfesselter Leidenschaften entgegen. Frau von Lescure ritt geflissentlich über die am Boden liegenden Republikaner, über die Todten, wie sie behauptet, vielleicht wohl auch über Verwundete. Zum Verrath ließen sich Männer hin und wieder herbei, die Weiber jedoch nie; Fräulein Fleury vom Théâtre Français trat zwar von La Rouarie zu Marat über, aber aus Liebe. Die Befehlshaber waren oft ebenso unwissend, wie die Soldaten; Herr von Sapinaud hatte von einer Orthographie keine Ahnung. Die einzelnen Truppenführer haßten einander; die aus dem Marais riefen: »Nieder mit den Oberländern!« Die Kavallerie war schwach vertreten und schwer aufzutreiben. »Mancher«, schreibt Puysaye, »der mir frischweg seine beiden Söhne giebt, wird starr, wenn ich eins von seinen Pferden begehre.« Stöcke, Heugabeln, Sensen, alte und neue Flinten, Jagdmesser, Spieße eisen- und nägelbeschlagene Knüppel, jede Waffe war willkommen. Einige trugen zwei gekreuzte Menschenknochen vor der Brust. Beim Angriff stürzten sie plötzlich unter wildem Gebrüll von allen Seiten herbei, aus dem Gehölz, von den Hügeln, aus Büschen und Hohlwegen, formirten sich in einen Halbkreis, tödteten, zerstörten, vernichteten wie der Donnerschlag und stoben wieder auseinander. Beim Durchmarsch durch eine republikanisch gesinnte Ortschaft hieben sie den Freiheitsbaum um, verbrannten ihn und tanzten den Reigen um das Feuer. Ihr ganzes Treiben hüllte sich in nächtliches Dunkel und ging vom Grundsatz aus: nur immer überrumpeln. Oft marschierten sie fünfzehn Stunden in aller Stille, ohne sozusagen einen Grashalm zu zertreten; am Abend, nachdem durch die Führer in einem Kriegsrath beschlossen worden war, wo man beim nächsten Morgengrauen über die republikanischen Posten herfallen sollte, luden sie die Gewehre, murmelten ihr Gebet, zogen ihre Holzschuhe aus und huschten in gestreckten Kolonnen barfuß über das Moos und Haidekraut durch die Wälder hin, ohne ein Wort, ein Geräusch, einen Hauch, wie Wildkatzen, unterm Schleier der Nacht.

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»Barfuß, unterm Schleier der Nacht, huschten sie durch die Wälder.«

VI.

Der Erdgeist strömt in den Menschen über.

Der Aufstand in der Vendée muß allermindestens auf fünfmalhunderttausend Köpfe angeschlagen werden, Weiber und Kinder mit eingerechnet. Tussin von La Rouarie giebt sogar eine Kombattantenzahl von einer halben Million an. Dabei thaten die Föderalisten noch das Ihrige; die Gironde machte sich zur Mitschuldigen der Vendée. Das Departements Lozère entsendete dreißigtausend Mann in das Bocage. Acht andere Departements, die fünf bretonischen und drei von der Normandie, schlossen einen Sonderbund. Evreux verbrüderte sich mit Caen und ließ sich bei der Insurgentenregierung durch seinen Bürgermeister Chaumont und einen Notabeln Namens Gardembas vertreten. Buzot, Gorsas und Carbaroux zu Caen, Brissot zu Moulins, Chassan zu Lyon, Rabaut-Saint-Etienne zu Nismes, Meillan und Duchâtel in der Bretagne, Jeder schürte an dem großen Schmelzofen mit Hauch und Hand. Es hat zweierlei Vendéen gegeben, die große, die den Krieg im Wald, die kleine, die den Krieg im Busch führte; daher zwei verschiedene Nüancen: Charette und Jean Chouan. Die kleine Vendée war urwüchsig, die große, schlimmere, verrottet. Charette wurde Marquis, Generallieutenant der königlichen Streitkräfte und Großkreuzträger des Ludwigordens; Jean Chouan blieb Jean Chouan; er grenzte an den fahrenden Ritter, Charette hingegen an den Banditen. Was die Hochherzigen unter den Führern anbelangt, einen Bonchamps, Lescure, La Rochejacquelein, so waren sie eben in einem hochherzigen Irrthum befangen. Die große katholische Armee war eine sinnlose Gewaltanstrengung, welche die Nothwendigkeit ihrer Niederlage schon mit auf die Welt brachte; man denke sich nur einen Bauernsturm, der Paris umblasen will, eine Koalition von Dörfern, die das Pantheon belagert, eine Meute von Gebeten und Kirchenliedern, die den Marseiller Hymnus anbellt, ein Getrampel von Holzschuhen, das sich gegen eine Legion von Geistern voranwälzt. Diese Tollheit wurde bei Le Mans und Savenay Lügen gestraft. Die Loire überschreiten, war der Vendée unmöglich. Alles Andere war denkbar, nur dieser Riesenschritt nicht. Der Bürgerkrieg kann nicht erobern. Der Uebergang über den Rhein ist die natürliche Kraftäußerung eines Cäsar oder Napoleon; für La Rochejacquelein aber ist der Uebergang über die Loire der Untergang. Nur auf eigenem Grund und Boden kann die Vendée Vendée bleiben; dort ist sie mehr als unverwundbar, ist ungreifbar. Der Vendéer in der Heimath ist eben Alles, Schmuggler, Ackersmann, Soldat, Schäfer, Wilddieb, Freischütz, Ziegenhirt, Glöckner, Bauer, Spion, Mörder, Meßner, Schwarzwild. La Rochejacquelein ist nur ein Achilles, Jean Chouan jedoch ein Proteus. Die Vendée war eine Fehlgeburt. Andere Volksbewegungen, die schweizerische zum Beispiel, haben allerdings ihr Ziel erreicht, aber zwischen einem Bergbewohner, wie dem Schweizer, und einem Buschklepper, wie dem Vendéer, macht sich der Unterschied geltend, daß fast immer unter dem unabänderlichen Einfluß der Lebensweise jener sich für ein Ideal- und dieser für Vorurtheile schlägt. Der eine schwebt und der andere kriecht. Der eine kämpft für die Menschheit, der andere um seine Abschließung; der eine will frei werden, der andere vereinzelt bleiben; der eine wehrt sich für die Bürgergemeinde, der andere für das Kirchspiel. Gemeindefreiheit! Gemeindefreiheit! riefen die Helden von Murten. Hier der Verkehr mit dem Abgrund; dort der Verkehr mit dem Sumpf; hier Männer der schäumenden Gießbäche; dort Männer der stagnirenden Fieberpfützen; dem einen zu Häupten der blaue Himmel; dem andern zu Häupten ein Gestrüpp; ein Wandeln auf Gipfeln gegenüber einem Wandeln in Finsternissen. Es kann nicht gleichgültig sein, ob einer auf Bergen oder in Niederungen groß wird. Der Berg ist eine Hochveste, der Wald ein Hinterhalt; der Berg erzieht den Menschen zur Kühnheit, der Wald zur List. Schon das Alterthum verlegte die Götter auf den Olymp und die Satyre ins Dickicht. Der Satyr ist der Mann im wilden Zustand, halb Mensch, halb Thier. Freie Länder haben ihre Apenninen, ihre Alpen, ihre Pyrenäen, ihren Parnaß. Der Mont-Blanc war ein kolossaler Bundesgenosse Wilhelm Tell’s, und zwischen und über dem unermeßlichen Widerstreit der Licht- und Nachtgeister, von dem die indischen Dichtungen singen, ragt ein Himalaja. Griechenland, Spanien, Italien, die Schweiz, führen einen Berg, die kimmerischen Länder einen Baum im Wappen; der Wald verwildert. Die Beschaffenheit des Bodens giebt dem Menschen mancherlei Entschlüsse ein; sie wirkt mehr nach, als man glaubt. Im Angesicht gewisser unheimlicher Landschaften möchte man den Menschen entschuldigen und die Schöpfung verklagen; man fühlt eine dumpfe Schuld der Natur heraus; die Einöde ist manchmal ungesund für das Gewissen, namentlich für das seiner nur halbbewußte; das Gewissen kann ein Riese sein, und dann heißt es Sokrates oder Jesus; es kann ein Zwerg sein, und dann heißt es Atreus oder Judas, denn wie leicht kommt ein schwaches Gewissen ins Kriechen! Der Umgang mit den dämmernden Waldgründen, den stechenden Dornhecken, den überwachsenen Teichen wird ihm verhängnißvoll und bedrängt es mit tiefgeheimen, unholden Einflüsterungen. Die optischen Täuschungen, die unerklärlichen Luftspiegelungen, das unheimliche Verschwimmen von Zeit und Raum lassen im Menschen jenes halb mystische, halb thierische Grauen aufschauern, das in gewöhnlichen Zeiten den Aberglauben und in Zeiten der Umwälzung die Brutalität erzeugt. Die Truggesichte leuchten voran zum Greuel. Im Raubmörder steckt etwas vom Nachtwandler. Die wunderbare Natur birgt einen Doppelsinn, der die großen Geister ins Licht badet und die rohen Geister mit Blindheit schlägt. Wenn der unwissende Mensch in einer Einöde voller Visionen lebt, wird das Dunkel seiner Seele durch das Dunkel seiner Abgeschiedenheit ergänzt, und es thun sich Abgründe in ihm auf. Gewisse Felsen, gewisse Schluchten, gewisse Dickichte, gewisse wilde Risse im Laubwerk, durch die der Abend hereinscheint, treiben den Menschen zu rasenden Unthaten. Es ließe sich beinahe behaupten, daß es verruchte Landschaften giebt. Wie viel des Tragischen hat nicht der düstere Hügel zwischen Baignon und Plélan gesehen! Weite Gesichtskreise lenken die Seele zu allgemeinen, engere Gesichtskreise hingegen zu beschränkten Anschauungen hin, und so müssen zuweilen große Herzen zu kleinen Geistern zusammenschrumpfen; man denke nur an Jean Chouan. Allgemeine Anschauungen von beschränkten Anschauungen angefeindet, das eigentlich ist der Kampf des Fortschritts; zwei Worte, Heimath und Vaterland, fassen den ganzen Vendéerkrieg in sich, den Streit des Lokalen mit der Gesammtheit, der Bauern mit den Patrioten.

VII

Die Vendée hat der Bretagne ein Ende gemacht

Die Bretagne ist eine alte Widerspänstige. Jedes Mal, seit zweitausend Jahren, hatte sie, wenn sie sich auflehnte. Recht gehabt, nur das letzte Mal nicht. Und doch, ob gegen die Revolution gerichtet oder gegen die Monarchie, gegen die Kommissäre des Konvents oder gegen die hochadeligen Statthalter, gegen das Papiergeld oder gegen die Salzsteuer, und wer die Kämpfer auch sein mochten, ob Nikolas Rapin, François von La Noue, der Kapitän Pluviau und die Dame von La Garnache oder Stofflet, Coquereau und Lechandelier von Pierreville, unter Herrn von Rohan gegen und unter Herrn von La Rochejacquelein für den König – immer wieder führte die Bretagne denselben Krieg des Lokalgeistes gegen den Gemeinsinn. Jene alten Provinzen waren ein Teich, dessen stehenden Gewässern jede Bewegung widerstrebte; der Wind, der sie aufwühlte, reizte sie auf, anstatt sie zu beleben. An der Landspitze Finisterre – finis terrae (Ende der Welt) – hörte Frankreich, hörte der Kontinent auf und blieb der Vormarsch der Generationen stehen. Halt! rief dort der Ozean dem Land, und halt! die Barbarei der Kultur entgegen. Jedes Mal wenn vom Mittelpunkt, von Paris, ein Impuls ausgeht, ob im royalistischen Sinn oder im republikanischen, ob in der Richtung der Willkür oder in der Richtung der Freiheit, für die Bretagne bedeutet er eine Neuerung, und dagegen sträubt sie sich: Laßt mir meine Ruhe; was wollt ihr von mir? Und in Marais wird zur Heugabel, im Bocage zum Stutzen gegriffen. Jede Bestrebung, jede Verbesserung der Gesetzgebung oder des Unterrichtswesens, Encyclopädien, philosophische Systeme, Nationalgeist und Nationalruhm, an Le Houroux scheitert alles; die Sturmglocke von Bazouges bedroht die französische Revolution; die Haide von Le Faou steht auf gegen das wogende Forum von Paris und der Kirchthurm von Le Haut-des-Prés erklärt an den Thurm vom Louvre den Krieg. Entsetzliche Taubheit! Schauerliches Mißverständniß, dieser Aufruhr der Vendée! Ein Scharmützel in kolossalen Verhältnissen, ein Nörgeln von Titanen, eine ungeheuere Rebellion, die nichts als ihren glänzenden und schwarzen Namen zurückläßt in der Weltgeschichte, ein Selbstmord für Abwesende, eine Opferthat zu Gunsten der Selbstsucht, ein hartnäckiges Beschenken der Feigheit mit einer Tapferkeit ohne Grenzen, ohne Berechnung, ohne Strategie, ohne Taktik, ohne Plan, ohne Zweck, ohne Oberhaupt, ohne Verantwortung, ein Beispiel, bis zu welchem Grade der Ohnmacht es die Willenskraft bringen kann, etwas Wildes und etwas Ritterliches, ein brünstiger Wahnwitz, der das Licht in Finsternis eindämmen will, ein unermüdlich dummer und heldenkühner Widerstand der Unwissenheit gegen Wahrheit, Billigkeit, Recht, Vernunft und Befreiung, ein achtjähriges Entsetzen, die Verheerung von vierzehn Departements, verwüstete Felder, zerstampfte Saaten, brennende Dörfer, zerstörte Städte, ausgeplünderte Häuser, hingewürgte Weiber und Kinder, eine Brandfackel für jedes Strohdach, ein Schwert in jedem Herzen, der Schrecken aller Kultur und die Hoffnung des jüngeren Pitt: das war jener Krieg, jener unbewußte Versuch eines Muttermordes.

Im großen Ganzen aber ist die Vendée dem Fortschritt insofern zugut gekommen, daß sie die Nothwendigkeit endgiltig dargethan hat, die alte bretonische Finsterniß allenthalben zu zerreißen und jenes Gestrüpp durch alle verfügbaren Sonnenpfeile zu lichten. Die Katastrophen bringen in einer unheimlichen Art und Weise gewisse Dinge ins Reine.