Vergeudet

Einen jungen Menschen, der in die Welt hinaus soll und auf eigenen Füßen stehen muß, nach dem von Eltern so beliebten Bevormundungssystem zu erziehen, zeugt nicht von Klugheit. Er muß schon eine Ausnahme unter Tausend sein, wenn er sich nicht durch eine Menge völlig unnötiger Widerwärtigkeiten durchschlagen soll; und unter Umständen wird er scheitern, aus dem einfachen Grund, weil er die wahren Verhältnisse von Wert und Unwert nicht kennengelernt hat.

Man lasse einen jungen Hund getrost die Seife im Badezimmer fressen oder einen frisch gewichsten Stiefel anknabbern, er wird vergnügt knurrend weiterknabbern, bis er schließlich merkt, daß ihm nach Hammeltalg und Wichse sehr schlecht wird. Und daraus wird er folgern, daß ihm weder Seife noch Stiefel gut bekommen. Und daß es eine Dummheit ist, einen großen Hund ins Ohr zu beißen, wird ihm schon sehr bald der erste beste ältere Hund aus der Nachbarschaft beibringen. Da er jung ist, wird er’s nicht vergessen und mit sechs Monaten schon wohlerzogen und verfeinerten Geschmackes ins Leben hinausgehen. Man stelle sich aber die schrecklichen Übelkeiten und die Prügel vor, die er hätte ausstehen müssen, wenn man ihn von Seife, Wichse und großen Hunden schützend ferngehalten hätte, bis er mit männlich scharfen Zähnen zur hohen Schule des Lebens herangereift wäre. Dann wende man diese Erkenntnis auf das Bevormundungssystem an und achte auf seine Ergebnisse. Es ist immer noch, um ein nicht gerade schönes Wort zu gebrauchen, das größere von zwei Übeln.

Es war einmal ein junger Mensch, der nach der Theorie des Bevormundungssystems auferzogen worden war. Und die Theorie war sein Tod. Er lebte vom Tage seiner Geburt an im Schoß der Familie, bis er, fast als Primus, auf die Kriegsschule nach Sandhurst kam. Er war in allem, was ein Privatlehrer gut zensiert, ausgezeichnet unterrichtet, und sein Zeugnis trug die gewichtige Bemerkung, daß er »seinen Eltern nie im Leben eine Stunde Kummer bereitet habe.« Was er in Sandhurst außer dem regelrechten Pensum lernte, ist nicht der Rede wert. Aber er sah um sich und fand Seife und Wichse sozusagen recht gut. Er aß davon und kam nicht gerade als Primus aus Sandhurst zurück. Es gab im Zwischenakte eine Szene mit den Seinigen, die viel von ihm erwartet hatten. Dann folgte ein Jahr »vom Gift des Lebens unberührt« in einem Regiment dritten Ranges, wo die jüngeren Offiziere Kinder waren und die älteren alte Weiber. Schließlich kam er nach Indien, wo er, abgeschnitten vom Beistand seiner Eltern, in schlimmen Zeiten nur auf sich selbst angewiesen war.

Nun ist Indien das Land vor allen Ländern, wo man nichts zu ernst nehmen darf – die Mittagsglut natürlich ausgenommen. Zuviel: Arbeit und allzuviel Energie bringen dort einen Menschen gerade so sicher um, wie zuviel Laster und Alkohol. Liebeleien haben nichts auf sich, weil ja jeder bald versetzt wird; weil entweder er oder sie die Garnison verläßt, um nicht wieder zurückzukehren. Tüchtige Arbeit hat nichts auf sich, weil jeder nach seinen schlechtesten Leistungen beurteilt wird, und weil sein Bestes gewöhnlich doch nur anderen zugute kömmt Untüchtige Arbeit hat nichts auf sich, weil andere nicht tüchtiger sind, und weil die Unfähigkeit sich in Indien länger hält als sonstwo. Vergnügungen haben nichts auf sich, weil man sie, kaum genossen, auch schon wiederholen muß, und weil die meisten Vergnügungen nur darin bestehen, sich anderer Leute Geld zu gewinnen. Auch Krankheit hat nichts auf sich, weil sie alltäglich ist, und weil ein anderer des Töten Amt und Würden einnimmt schon in den acht Stunden zwischen Tod und Begräbnis. Gar nichts hat etwas auf sich, nur Heimatsurlaub und Zuschüsse, und auch das nur der Seltenheit wegen. Es ist ein schwerfälliges, ein »kutcha« (rohes) Land, wo alle mit unvollkommenen Mitteln arbeiten, wo man am klügsten niemand und nichts ernst nimmt, und aus dem man am besten möglichst bald in eine Gegend flüchtet, wo Vergnügen wirklich Vergnügen ist, und wo es sich noch lohnt, einen guten Ruf zu haben.

Der junge Mensch nun – die Geschichte ist eigentlich so alt wie das Land – kam und nahm alles ernst. Er war hübsch und wurde verhätschelt. Und auch das Verhätscheln nahm er ernst. Frauen rieben ihn auf, die nicht wert waren, daß man ein Pony sattelte, um zu ihnen zu reiten. Sein neues, freies Leben in Indien gefiel ihm sehr. Und es erscheint unter dem Gesichtswinkel eines Leutnants – zuerst wirklich reizvoll: nichts als Ponys, Spielpartner, Tanzereien usw. Er kostete davon wie ein junger Hund von der Seife. Nur kam er leider erst zum Kosten, als seine Zähne schon männlich scharf waren. Er fühlte sich nicht sicher – ganz wie der junge Hund – und begriff nicht, warum man ihn nicht mit derselben Rücksicht behandelte wie im Hause seines Vaters. Das kränkte ihn.

Er entzweite sich mit anderen jungen Leuten, und da er äußerst empfindlich war, vergaß er es nicht und regte sich darüber auf. Er fand Gefallen am Whist, an Gymkhanas und ähnlichen Dingen, mit denen man sich nach dem Dienst zerstreut. Aber er nahm auch die ernst, genau so ernst, wie er einen »Kater« nahm. Und weil er ein Neuling war, verlor er beim Spielen sein Geld.

Und auch seine Verluste nahm er ernst. Er verwandte ebensoviel Energie und Interesse auf ein billiges Rennen von Ekkapony-Erstlingen mit Stutzmähnen wie auf ein Derby. Daran war einesteils seine Unerfahrenheit schuld – wie bei einem jungen Hund, der ärgerlich den Zipfel des Kaminteppichs anbellt; zum andern Teil kam es von dem Schwindel her, der ihn ergriff, als er aus seiner Ruhe in den unruhigen Glanz eines bewegteren Lebens hineintaumelte. Niemand warnte ihn vor Seife und Stiefelwichse, denn ein Durchschnittsmensch hält es für selbstverständlich, daß ein anderer Durchschnittsmensch sich davor in acht nimmt. Es war herzzerreißend mit anzusehen, wie der Junge sich die Stirn einrannte. Es war nicht viel anders, als wenn ein zu hart gerittenes Füllen, das dem Stallknecht durchgeht, in die Knie bricht und sich zerschlägt.

Die Zügellosigkeit bei Vergnügungen, die kein Ausbrechen lohnen, geschweige denn ein wildes Toben, dauerte sechs Monate: die ganze kühle Jahreszeit hindurch. Wir glaubten, daß die Hitze und die Erkenntnis, Geld und Gesundheit eingebüßt und seine Pferde lahm geritten zu haben, den ›Jungen‹ zur Vernunft und zum Stehen bringen würden. In neunundneunzig Fällen von hundert wäre das auch sicherlich geschehen. Man kann diesen Vorgang in jeder indischen Garnison gesetzmäßig verfolgen. Aber gerade dieser Fall war eine Ausnahme. Denn der ›Junge‹ war empfindsam und nahm alles ernst, was ich nun wohl schon zehnmal gesagt habe. Wir konnten natürlich nicht wissen, in welchem Lichte ihm seine Tollheiten erschienen. Außergewöhnlich oder gar erschütternd waren sie nicht. Er war finanziell fürs Leben vielleicht lahm gelegt und bedurfte daher einiger Fürsorge. Doch eine einzige heiße Saison würde die Erinnerung an seine Streiche absterben lassen, und irgendein Wucherer hätte ihm über seine Geldnöte hinweggeholfen. Aber er muß wohl eine ganz andere Auffassung der Dinge gehabt und sich für rettungslos verloren gehalten haben. Sein Oberst redete ihm am Schluß der kalten Jahreszeit ins Gewissen. Das machte ihn noch unglücklicher; und es war doch nur ein ganz gewöhnlicher »Rüffel«.

Was nun eintrat, ist ein merkwürdiges Beispiel für die Art und Weise, wie wir alle miteinander verkettet und füreinander verantwortlich sind. Das, was dem ›Jungen‹ den letzten Stoß gab, war die Bemerkung einer Frau, mit der er plauderte. Sie zu wiederholen ist zwecklos, denn es war eine von den kleinen, oft grausamen Bemerkungen, die man hinwirft, ohne sie bedacht zu haben. Aber ihm trieb sie das Blut zu Kopf. Er blieb drei Tage lang ganz für sich und kam dann um zwei Tage Urlaub ein. Er wollte angeblich in der Nähe eines etwa dreißig Meilen entfernten Unterkunftshauses für Kanal-Ingenieure jagen. Er bekam Urlaub und war abends bei der Offiziersmesse lauter und herausfordernder denn je. Er wolle Hochwild jagen, sagte er, und fuhr um halb elf in einer Ekka fort. In der Nähe des Unterkunftshauses gab es nur Rebhühner, und das ist doch kein Hochwild. Darum lachten alle.

Am nächsten Morgen kam ein Major von kurzem Urlaub zurück und hörte, daß der ›Junge‹ auf Hochwildjagd gegangen sei. Der Major hatte den ›Jungen‹ liebgewonnen und ihn öfter während der kalten Zeit im Zaum zu halten versucht. Er runzelte die Stirn, als er von dem Ausflug hörte und ging auf die Zimmer des ›Jungen‹, um sie zu durchstöbern.

Als er kurz darauf zurückkam, machte ich gerade dem Kasino meinen Besuch. Außer uns war niemand im Vorzimmer.

Er sagte: »Der ›Junge‹ ist auf der Jagd. Schießt man Hochwild mit einem Revolver und einem Schreibzeug?«

Ich sagte: »Unsinn, Major!« denn ich verstand, was er meinte.

Er sagte: »Unsinn oder nicht, ich fahr‘ nach dem Kanal – im Augenblick. Ich habe keine Ruhe.«

Dann sagte er nach einer Minute Überlegung: »Können Sie lügen?«

»Das wissen Sie am besten,« gab ich zur Antwort. »Es ist ja mein Beruf.«

»Also gut,« sagte der Major, »Sie müssen mit mir in einer Ekka zum Kanal kommen, gleich, im Augenblick, Schwarzwild schießen. Ziehen Sie sich Ihren Jagdanzug an, rasch, und fahren Sie mit Ihrer Büchse hier wieder vor.«

Der Major war ein energischer Mann; und ich wußte, daß er keinen Befehl umsonst gab. Darum gehorchte ich und fand bei meiner Rückkehr alles bereit für einen Jagdausflug; den Major in einer Ekka, Flintentaschen und Proviant aufgeladen.

Er entließ den Kutscher und fuhr selbst. Im Ort ging es noch im Schritt. Aber sobald wir die staubige Straße und die Ebene erreicht hatten, ließ er das Pony ausgreifen. Ein indisches Pferd kann zur Not alles leisten. Wir legten die dreißig Meilen in noch nicht drei Stunden zurück, aber das arme Tier war auch halbtot.

Einmal sagte ich: »Warum solch elende Eile, Major?«

Er antwortete ruhig: »Der ›Junge‹ ist schon seit einer, zwei, fünf, – vierzehn Stunden jetzt, allein! Ich sage Ihnen ja, ich habe keine Ruhe!«

Seine Unruhe kam auch über mich, und ich half das Pony anpeitschen.

Als wir das Unterkunftshaus erreichten, rief der Major nach dem Diener des ›Jungen‹, erhielt aber keine Antwort. Wir gingen ans Haus heran, riefen den ›Jungen‹ mit Namen und erhielten ebenfalls keine Antwort.

»Er wird noch jagen,« sagte ich, und im gleichen Augenblick sah ich in einem Fenster Licht von einer Windlaterne. Es war vier Uhr nachmittags. Wir blieben wie versteinert in der Veranda stehen und hielten den Atem an, um jeden Laut zu erhaschen. Da hörten wir vom Zimmer her das Brr – brr – brr – von tausend Fliegen. Der Major sagte nichts, aber er nahm seinen Helm ab, und wir schlichen ins Zimmer.

Der ›Junge‹ lag mitten im kahlen, weißgetünchten Zimmer tot auf dem Feldbett. Er hatte sich mit einem Revolverschuß den Schädel fast zerschmettert. Gewehrtasche und Bettzeug waren noch verschnürt. Auf dem Tisch lag seine Schreibmappe mit Photographien. Er war in den Tod gegangen, hatte sich verkrochen wie eine vergiftete Ratte!

Der Major sagte leise vor sich hin: »Armer Junge; armer, armer Teufel!« Dann wandte er sich vom Lager ab und sagte: »Ich brauche Ihre Hilfe in dieser Sache.«

Da ich wußte, daß der ›Junge‹ durch eigene Hand gestorben war, verstand ich, was er mit dieser Hilfe meinte. Ich ging also zum Tisch, nahm einen Stuhl, zündete mir eine Zigarre an und sah die Schreibmappe durch. Der Major blickte mir über die Schulter und sagte immer wieder leise: »Zu spät gekommen! – Wie eine Ratte im Loch! – Armer, armer Teufel!«

Der ›Junge‹ mußte wohl die halbe Nacht darüber verbracht haben, an die Seinigen, seinen Oberst und an ein Mädchen in der Heimat zu schreiben. Nachdem er damit zu Ende gewesen, mußte er sich erschossen haben. Denn er war schon lange tot, als wir kamen.

Ich las alles, was er geschrieben hatte und gab dann Blatt für Blatt dem Major.

Wir sahen aus seinem Bericht, wie schwer er alles genommen hatte. Er schrieb von »unerträglicher Schmach«, – von »unauslöschlicher Schande«, »sträflichem Leichtsinn«, »einem verpfuschten Leben« und so fort. Daneben standen viel private Dinge für Vater und Mutter, viel zu heilig alles, um abgedruckt zu werden. Der Brief an das Mädchen zu Hause war der traurigste. Mir stieg etwas in die Kehle, als ich ihn las. Der Major machte keinen Versuch, trockenen Auges zu bleiben. Ich achtete ihn darum. Er las und der Schmerz schüttelte ihn. Er weinte unbekümmert wie ein kleines Kind. Die Briefe waren so trostlos, so hoffnungslos und so ergreifend. Wir vergaßen die Torheiten des ›Jungen‹ und dachten nur an das, was so armselig auf dem Feldbett lag, und an das Geschreibsel in unserer Hand. Es war völlig undenkbar, die Briefe in die Heimat gehen zu lassen. Sie hätten seines Vaters Herz gebrochen und seine Mutter getötet, nachdem sie erst den Glauben an ihren Sohn getötet hätten.

Schließlich trocknete der Major ruhig seine Tränen und sagte: »Eine nette Überraschung für eine ahnungslose englische Familie. Was sollen wir tun?«

Ich wußte, warum mich der Major mitgenommen hatte und antwortete: »Der ›Junge‹ ist an der Cholera gestorben. Wir waren in der Zeit bei ihm. Wir dürfen uns nicht mit Halbheiten begnügen. Kommen Sie.«

Darauf folgte die traurigste Komödie, die ich je mitgespielt habe: das Erdichten eines ungeheuren Lügenbriefes, der doch strotzen mußte von Glaubwürdigkeiten, um des ›Jungen‹ Haus zu trösten. Ich begann den Brief zu entwerfen, und der Major gab mir, während er das Geschreibsel des ›Jungen‹ zusammenraffte und im Kamin verbrannte, hie und da einen Wink. Als wir anfingen, war es Abend, heiß und ruhig. Die Lampe brannte nur trübe. Allmählich gelang mir der Entwurf. Ich schrieb, daß der ›Junge‹ ein Muster aller Tugenden, der Liebling seines Regimentes gewesen wäre, daß er alle Aussicht auf eine glänzende Laufbahn gehabt hätte und noch mehr; daß wir ihm in seiner Krankheit beigestanden hätten, – für kleine Lügen, versteht sich, war kein Raum – und daß er leicht gestorben wäre. Wieder würgte mich etwas an der Kehle, als ich das niederschrieb und an die Ärmsten dachte, die es lesen würden. Und dann lachte ich auf über das Possenhafte, und ins Lachen mischten sich wieder Tränen, bis der Major erklärte, wir hätten jetzt Alkohol nötig.

Ich wage nicht, zu sagen, wieviel Whisky wir getrunken hatten, ehe der Brief fertig war. Wir spürten nichts davon. Wir nahmen des ›Jungen‹ Uhr, sein Medaillon und seine Ringe.

Zuguterletzt sagte der Major: »Wir müssen auch eine Locke schicken. Frauen legen Wert darauf.«

Wir hatten aber guten Grund, ihm keine Locke abzuschneiden. Der ›Junge‹ hatte schwarze Haare; der Major glücklicherweise ebenfalls. Ich schnitt dem Major mit dem Messer eine Locke von der Schläfe und legte sie unserer Sendung bei. Lachen und Schluchzen packte mich wieder, und ich mußte aufhören. Dem Major ging es kaum anders. Und doch wußten wir beide, daß die schlimmere Arbeit erst getan werden mußte.

Wir verschlossen die Sendung: Photographien, Medaillon, Petschafte, Ringe, Brief und Locke, alles mit dem Siegel des ›Jungen‹.

Darauf sagte der Major: »Um Gotteswillen lassen Sie uns hier fortgehen, aus dem Zimmer fort, wir müssen weiter denken.«

Wir gingen hinaus und schritten am Kanalufer auf und nieder und aßen und tranken, was wir mit uns hatten, bis der Mond aufging. Heute weiß ich genau, wie einem Mörder zumute ist. Wir zwangen uns schließlich dazu, in das Zimmer mit der Lampe und dem, was noch drinnen war, zurückzugehen, und die neue Arbeit begann. Ich schreibe darüber nicht. Es war zu grauenvoll. Wir verbrannten die Bettstatt und warfen die Asche in den Kanal. Wir hoben die Matten vom Boden und verbrannten auch sie. Ich ging ins Dorf, um Spaten zu holen – fremder Leute Hilfe wollte ich nicht –, während der Major – – das andere besorgte. Vier harte Stunden lang gruben wir das Grab. Bei der Arbeit stritten wir darüber, ob es richtig wäre, über dem Grabe die Begräbnisformeln, soweit wir uns ihrer erinnerten, zu sprechen. Wir einigten uns auf das Vaterunser und auf ein persönliches, formloses Gebet für den Seelenfrieden des ›Jungen‹. Dann schütteten wir das Grab zu und legten uns auf der Veranda – nicht im Hause – zur Ruhe. Wir waren sterbensmüde.

Beim Aufwachen sagte der Major stumpf: »Wir können vor morgen nicht zurück. Wir müssen ihm schon die nötige Zeit zum Sterben lassen. Vergessen Sie nicht, daß er erst heute morgen gestorben ist. Das klingt natürlicher.«

Der Major mußte also die ganze Nacht wach gelegen und gegrübelt haben. Ich erwiderte: »Weshalb haben wir eigentlich die Leiche nicht ins Quartier zurückgebracht?«

Der Major sann einen Augenblick nach: »Weil die Leute ausgerissen sind, als sie von der Cholera hörten. Weil die ›Ekka‹ fort war.«

Das war in der Tat wahr. Wir hatten das Ekkapony ganz vergessen, und es war allein wieder nach Hause gelaufen.

Also waren wir uns selbst überlassen, den ganzen langen schwülen Tag im Unterkunftshaus am Kanal. Wir prüften wieder und immer wieder unsere Geschichte vom Tode des ›Jungen‹, ob sich auch nicht etwa eine schwache Stelle darin befände.

Nachmittags erschien plötzlich ein Einheimischer. Wir sagten ihm, daß ein »Sahib« an der Cholera gestorben sei, und fort war er. Als die Dämmerung kam, sprach mir der Major von seinen alten Sorgen um den ›Jungen‹, und erzählte schreckliche Geschichten von Selbstmord und verhindertem Selbstmord, bis uns die Haare zu Berge standen. Er sagte, daß er, als er jung und das Land ihm fremd war, auch auf dem Wege zum Tal der Schatten gestanden hätte, ganz wie der ›Junge‹. Und darum könne er dem armen ›Jungen‹ die chaotischen Kämpfe nachfühlen. Er sagte auch, daß junges Volk in Augenblicken der Reue seine Sünden stets für schwerer und unverzeihlicher hält, als sie es in Wirklichkeit sind. Wir verplauderten den ganzen Abend und gingen immer wieder die Geschichte von des ›Jungen‹ Tod durch. – Als der Mond aufgegangen, und der ›Junge‹ – unserer Theorie nach – eben begraben sein konnte, gingen wir geraden Wegs über Land zur Garnison. Wir liefen von acht Uhr abends bis zum nächsten Morgen sechs Uhr. Obgleich wir todmüde waren, vergaßen wir doch nicht in des ›Jungen‹ Zimmer zu gehen, um seinen Revolver mit der fehlenden Munition an Ort und Stelle zu tun; und auch die Schreibmappe legten wir auf den Tisch. Wir suchten den Oberst auf und meldeten ihm den Todesfall. Mehr denn je fühlten wir uns als Mörder. Dann gingen wir zu Bett und schliefen, bis der Zeiger wieder auf der gleichen Stelle stand. Wir waren völlig erschöpft.

Unsere Geschichte wurde geglaubt, solange es nötig war. Denn nach vierzehn Tagen dachte niemand mehr an den ›Jungen‹. Einige fanden nur noch Zeit, zu bemerken, der Major habe unverantwortlich gehandelt, daß er dem Toten die Möglichkeit eines militärischen Begräbnisses genommen habe. Das Traurigste von allem war der Brief von des ›Jungen‹ Mutter an den Major und mich, mit großen Tintenflecken, die den Bogen bedeckten. Sie schrieb uns viel Liebes über unsere große Güte, und daß sie ihr Leben lang uns dankbar sein würde.

Und in Wahrheit hatte sie auch Grund uns dankbar zu sein, nur nicht ganz aus dem Grund, den sie meinte.