Die Tochter des Regiments

»Ein Herr, der von ’ner Tscherkessen-Quadrille keine Ahnung hat, soll einen dazu auch nicht auffordern und alle Leute durcheinanderhetzen.« Das waren Miß McKennas Worte, und die Miene des Feldwebels, der mein Visavis war, besagte das gleiche. Ich hatte Angst vor Miß McKenna. Sie war sechs Fuß groß, nichts als gelbe Sommersprossen und rote Haare, und trug eine unauffällige Toilette – weiße Atlasschuhe, rosa Musselinkleid, apfelgrüne Wollschärpe und schwarze Seidenhandschuhe – außerdem noch gelbe Rosen im Haar. Daher floh ich vor Miß McKenna und suchte meinen Freund, den Gemeinen Mulvaney, auf, der sich in der Kantine bei den Erfrischungen zu schaffen machte.

»Also haben Sie mit der kleinen Jhansi McKenna getanzt – die wo den Unteroffizier Slane heiraten soll? Na, Herr, wenn Sie sich das nächste Mal mit Ihren Grafen und Gräfinnen unterhalten, dann erzählen Sie ihnen nur, daß Sie mit der kleinen Jhansi getanzt haben. Das is was, worauf Sie stolz sein können.«

Aber ich war gar nicht stolz. Im Gegenteil, ich fühlte mich ganz klein. Denn aus des (Gemeinen Mulvaneys Augen leuchtete eine Geschichte; außerdem wußte ich, daß ein allzu ausgedehnter Aufenthalt vor dem Bar-Tisch Mulvaney reif für abermaliges Strafexerzieren machen würde. Nun ist es aber ungemein peinlich, einem geschätzten Freunde zu begegnen, während er in voller Marschrüstung vor der Wachtstube nachexerziert, besonders, wenn man sich zufällig in Begleitung von dessen Regimentskommandeur befindet.

»Kommen Sie nach dem Exerzierplatz, Mulvaney draußen ist’s kühler – und erzählen Sie mir von Miß Mac Kenna. Wer und was ist sie und warum nennt man sie »Jhansi«?

»Wollen Sie damit vielleicht sagen, daß Sie noch nie von der alten Mutter Pauken ihrer Tochter gehört haben? Un‘ Sie glauben, Bescheid zu wissen! Ich komme gleich nach, sowie ich meine Pfeife angezündet habe.«

Wir gingen hinaus unter den Sternenhimmel. Mulvaney setzte sich auf eine der Lafetten und begann in der üblichen Weise: Pfeife in den Mund geklemmt, die großen Hände verschlungen zwischen den Knien und die Mütze tief in den Nacken geschoben:

»Dazumalen, als die jetzige Frau Mulvaney noch Fräulein Shad hieß, waren Sie, Herr, noch ein gut Teil jünger als heute, und mit der Armee stand’s in mancher Hinsicht auch ganz anders. Heutzutage haben die Jungen keine Lust mehr zum Heiraten, und das is auch der Grund, warum es in der Armee jetzt so viel weniger echte, brave, ehrliche, fluchende, tüchtige Weiber gibt – ’n bißchen elephantenfüssig vielleicht, aber mit dem Herz auf dem richtigen Fleck. Aber damals als ich noch Unteroffizier war – – Ich hab‘ die Tressen später wieder verloren – macht nichts – aber ich war mal Unteroffizier. Dazumalen also lebte und starb ein Kerl noch mit seinem Regiment; und wie’s ganz natürlich war, heiratete er, wenn er Mann wurde. Als ich nun Unteroffizier war – Herrgott noch mal, was im Regiment inzwischen alles geboren und gestorben is – war der alte McKenna Fahnenträger; auch ein verheirateter Mann. Un‘ seine Frau – seine erste Frau – denn er hat dreimal geheiratet, der McKenna – war Bridget McKenna, aus Portarlington wie ich. Ich weiß nich mehr, was ihr Mädchenname war; aber wir von der zweiten Kompagnie nannten sie nur ›Mutter Pauken‹ von wegen ihrer Figur, die vollkommen kreisrund war. Wie die große Trommel! Die Frau nun – der Herrgott schenk‘ ihr die ewige Seligkeit und laß es ihr im Himmel gutgehn! – bekam egal weg Kinder; un‘ McKenna schwor, als das fünfte oder sechste angekommen war und sich brüllend zur Stammrolle meldete, er würde se von nun an numerieren. Aber Mutter Pauken bat ihn, se doch lieber nach den Garnisonen, in denen sie zur Welt kämen, zu taufen. Es gab also Colaba McKenna un‘ Muttra McKenna, ja ’ne ganze Provinz anderer McKennas, un‘ die kleine Jhansi, die wo da drüben tanzt. Wenn die Kinder nich grade geboren wurden, dann starben sie; un‘ sterben unsere Kinder heute wie die Schafe, so starben se damals wie die Fliegen. Meinen eigenen kleinen Shad hab ich auch verloren – aber, tut nichts zur Sache. S‘ is schon lange her, un‘ die Alte hat nie wieder eins gehabt.

Zur Sache. Einen verdammt heißen Sommer kam da so’n Befehl von irgend ’nem hirnverbrannten Idioten, von dem ich den Namen vergessen habe, daß das ganze Regiment in’s Innere vorrücken sollte. Vielleicht wollten se auch bloß wissen, wie die Truppenverschiebungen auf der neuen Eisenbahn funktionierten … Na, sie erfuhren es! Bei Gott, sie erfuhren es, und zwar gründlich, eh se damit fertig waren. Mutter Pauken hatte gerade eben Muttra McKenna begraben; von den ganzen jungen McKennas war in dem ungesunden Sommer nur die kleine Jhansi übrig geblieben, die damals gerade vier Jahre alt war.

In vierzehn Monaten fünf Kinder verloren. Es is ’n bißchen hart, was?

Also wir fuhren in der glühenden Hitze los nach unserer neuen Station – der Teufel fresse den Mann, der den Befehl dazu gab! Ob ich den Transport je vergessen werde? Zwei kurze Züge hatten se uns zugewiesen – un‘ wir waren achthundertundsiebzig Mann stark. Im zweiten Zuge waren die erste, zweite, dritte un‘ vierte Kompanie mitsamt zwölf Frauen – keine Offiziersdamen – un‘ dreizehn Kindern untergebracht. Sechshundert Meilen sollten wir fahren – un‘ Eisenbahnen waren damals noch was Neues. Nachdem wir so ’ne Nacht im Bauche des Zuges gehockt hatten – die Mannschaft sämtlich in Hemdärmeln und rasend vor Durst und saufend, was ihnen unter die Finger kam, un‘ faules Obst runterstopfend, wo se ’s nur erwischen konnten, denn aufhalten konnten wir se nich – damals war ich noch Unteroffizier – brach bei Morgengrauen die Cholera aus.

Beten Sie zum Himmel, daß Sie niemals die Cholera auf ’nem Truppentransport erleben! S’iss wie das Strafgericht Gottes, das am hellichten Tage über einen reinbricht. Wir machten in ’nem provisorischen Lager halt – s‘ hätt‘ das von Ludianny sein können, nur war ’s nich ganz so gemütlich. Der Kommandierende schickte ’n Telegramm dreihundert Meilen landeinwärts mit der Bitte um Hilfe. Wahrhaftig, wir hatten se nötig, denn jede einzelne Seele von den Hilfstruppen nahm Reißaus, sobald der Zug nur stoppte. Bis das Telegramm geschrieben war, war auf der ganzen Station kein Nigger mehr zu finden, ausgenommen den Telegraphenbeamten – un‘ der auch nur, weil er bei seinem dreckigen schwarzen Genick in seinem Stuhle festgehalten wurde. Un‘ dann fing der Tag an mit dem Radau in den Waggons, un‘ mit dem Gepolter der Leute, die mit Waffen und allem Drum und Dran der Länge nach auf den Bahnsteig schlugen, als se vor dem Abmarsch ins Lager zum Appell gerufen wurden. Na, meine Sache is es nich, zu beschreiben, wie so ’ne Choleraepidemie aussieht. Der Doktor hätt ’s Ihnen vielleicht sagen können, wenn er nich auch vom Waggon runter, wo wir die Toten aufluden, auf den Perron gestürzt wäre. Er starb dann mit den anderen. Einige von den Jungens waren noch in der ersten Nacht gestorben un‘ weitere zwanzig waren schwer krank, als wir se rausholten. Un‘ die Frauen standen alle in ’ne Ecke gedrängt un‘ schrien nur so vor Furcht.

Da sagt der Kommandierende – ich hab seinen Namen vergessen –: ›Bringt die Weiber dort rüber nach der Baumgruppe. Schafft sie aus dem Lager raus. Das ist hier kein Platz für sie.‹

Währenddem sitzt Mutter Pauken auf ihrer Matratze und versucht die kleine Jhansi zu beruhigen. ›Marsch, weg mit Ihnen nach den Bäumen da‹ sagt der Offizier. ›Gehen Sie den Leuten aus dem Wege!‹

»Der Satan soll mich holen, wenn ich das tu!« sagt die alte Pauken, un‘ die kleine Jhansi, die neben ihrer Mutter auf der Matratze hockt‘, quakt gleichfalls los: ›Der Satan soll mich holen!‹ Dann wandte sich Mutter Pauken an die Weiber und fährt se an: ›Wollt ihr die Jungens hier krepieren lassen, während ihr Picknicks feiert, ihr Dreckschlampen? Gutes Wasser is, was se brauchen. Los, packt zu!‹

Un‘ damit krempelt se sich die Ärmel auf und marschiert auf einen Brunnen los – die kleine Jhansi mit ’nem Schöpfgefäß un‘ ’ner Strippe immer hinterdrein – un‘ hinter ihr die anderen Weiber, folgsam wie die Lämmer, mit Pferdeeimern und Kochpötten. Als alles Geschirr voll war, marschiert die alte Pauken wieder an der Spitze ihres Weiberregiments ins Lager zurück – ’s war das reinste Schlachtfeld, nur ganz ohne den Ruhm und die Ehre.

›McKenna, mein Jung‘!‹ sagt sie mit ’ner Stimme, die wie so ’n Trompetenstoß klang, ›sag‘ den Jungens, daß se Ruhe halten sollen. Die alte Pauken kommt un‘ sorgt für se – mit ’ner Runde Freibier für alle.‹

Dann schrieen wir Hurrah, un‘ das Hurrah in den Linien war lauter als das Geschrei der armen Teufel, die die Krankheit im Leibe hatten – aber nich so sehr viel lauter.

Sie müssen nämlich wissen, das Regiment war damals noch grün, un‘ wir kannten uns in der Krankheit überhaupt nich aus, un‘ so waren wir zu nichts zu gebrauchen. Die Leute gingen nur immer wie die blöden Schafe im Kreise herum un‘ warteten, bis der nächste umfallen würde, un‘ flüsterten so ganz für sich: ›Was is denn nur los? Im Namen Gottes, was is denn bloß los?‹ Es war furchtbar. Aber derweil marschierte die alte Pauken in einem fort hin un‘ her, her un‘ hin, mit der kleinen Jhansi an ihrem Rockzipfel – wenigstens alles, was von dem Kind noch zu sehen war, denn se hatte sich den Helm von ’nem Toten über den Kopf gestülpt, un‘ der Kinnriemen hing ihr bis auf den kleinen Bauch herab – hin un‘ her mit dem Wasser un‘ mit dem, was an Schnaps vorhanden war.

Von Zeit zu Zeit sagte die alte Pauken, un‘ die Tränen kullerten nur so über ihr dickes, rotes Gesicht: ›Meine Jungens, meine armen, lieben, guten, toten Jungens!‹ Meistens aber versuchte se den Leuten Mut einzureden un‘ se bei der Stange zu halten, un‘ die kleine Jhansi erzählte ihnen in einem fort, morgen früh würde ihnen schon besser sein. Das war so ’n Trick, den se von der alten Pauken aufgeschnappt hatte, als Muttra am Fieber ausbrannte. Morgen früh! Der Morgen, der siebenundzwanzig tüchtigen Leuten aufging, war der ewige Morgen vor den Toren Sankt Peters; un‘ weitere zwanzig Mann lagen da sterbenskrank in der bitteren, brennenden Sonne. Aber, wie gesagt, die Weiber arbeiteten wie die Engel un‘ die Männer wie die Teufel, bis endlich von da oben her zwei Ärzte kamen un‘ wir gerettet waren.

Aber kurz vorher – die alte Pauken lag auf den Knien neben einem Jungen aus meiner Gruppe – im Schlafsaal in der Kaserne war er mein rechter Nebenmann – un‘ hielt ihm das Gotteswort vor, das noch keinen im Stich gelassen hat – un‘ da sagt se plötzlich: ›Haltet mich, Jungens! Ich fühl‘ mich verdammt schlecht!‹ ’s war die Sonne, nich die Cholera, die ’s ihr angetan hatte. Mutter Pauken hatte vergessen, daß se nichts als ihren alten schwarzen Kapotthut aufhatte, un‘ se starb, während ›McKenna, mein Jung‹ se in den Armen hielt, un‘ die Jungens heulten wie die Kinder, als se sie begruben.

Noch in derselben Nacht sprang ’n mächtiger Wind auf, un‘ er blies un‘ blies unsere Zelte einfach um. Aber er blies auch die Cholera weg – keinen einzigen neuen Fall hatten wir die ganze Zeit – zehn Tage, – die wir in Quarantäne lagen. Un‘ Sie mögen’s nun glauben oder nich, aber die Spur, die die Seuche durch das Lager gezogen hatte, glich aufs Haar der Spur eines Mannes, der viermal hintereinander in ’ner doppelten Schleife durch die Zeltgassen gegangen is. Sie sagen, der Ewige Jude führe die Cholera mit sich. Un‘ ich glaube, se haben recht.

»Un‘ das,« bemerkte Mulvaney unlogisch, »is der Grund, warum die kleine Jhansi McKenna is wie se is. Als McKenna starb, wurde se von der Frau des Unterquartiermeisters erzogen, aber gehören tut se der zweiten Kompanie; un‘ die Geschichte, die ich Ihnen eben erzählt habe – mitsamt der richtigen Wertschätzung Jhansi McKennas – die hab ich jedem Rekruten der Kompanie eingebläut. Straf mich, wenn ich Unteroffizier Slane nich so lange verdroschen habe, bis er um se anhielt!«

»Nein, wirklich?«

»Mensch, wahrhaftig! Se is nich gerade eine Schönheit, aber se is der alten Mutter Pauken ihre Tochter, un‘ es is meine Pflicht, für sie zu sorgen. Kurz eh der Slane seine ein Shilling achtzig den Tag kriegte, sag ich zu ihm: ›Slane,‹ sag‘ ich, ›von morgen ab is es Meuterei, wenn ich dich versohle, aber bei der Seele der alten Pauken, die jetzt in der Verklärung weilt, wenn du mir nich dein Wort gibst, daß du auf der Stelle um die Jhansi McKenna anhältst, dann schäl‘ ich dir mit dem Messinghaken das Fleisch von den Knochen, ’s ja ’ne Schande für die zweite Kompanie, daß se so lange ledig geblieben is;« sag ich. »Soll ich mich etwa mit so ’nem grünen Dreijährigen erst noch lange rumstreiten, wenn ich mir was in den Kopf gesetzt habe? Fällt mir ja gar nicht ein! Slane is auch gegangen un‘ hat se gefragt. Er is ’n guter Junge, der Slane. Der kommt eines schönen Tags noch in die Intendantur un‘ wird mal in seinem eigenen Einspänner spazierenfahren – dank seiner Ersparnisse. So hab‘ ich der alten Pauken ihre Tochter versorgt! Un‘ jetzt gehen Sie mal hin un‘ tanzen Sie mit ihr.«

Ich gehorchte.

Ich empfand tiefen Respekt vor Miß Jhansi McKenna; und später ging ich auf ihre Hochzeit.

Vielleicht werde ich eines Tages auch davon noch erzählen.