Ein übelriechendes Intermezzo

III.

Es war eine altjüngferliche Tante Lattes, die ihm zwei Bücher geschickt hatte, mit der Widmung: »Dem lieben Artie zu seinem sechzehnten Geburtstag«; es war M’Turk, der ihre hypothekarische Beleihung verlangte, und es war Käfer, der aus Bideford zurückkam und sie auf die Fensterbank im Arbeitszimmer »Nummer fünf« warf, mit der Nachricht, daß Bastable nicht mehr als neun Pence auf die beiden vorschießen wollte. Denn »Eric« oder »Nach und Nach« wäre ebensolch erbärmlicher Schund wie »St. Winifreds«. – »Mit deiner Tante scheint mir auch nicht viel los zu sein. Und wir haben beinah‘ auch gar keine Patronen mehr – lieber Artie.« –

Darauf stürzte sich Latte kampflustig auf Käfer, aber M’Turk saß auf Lattes Haupt und nannte ihn »ein Kind, so engelsrein«, bis der Frieden erklärt war. Da sie mit einer lateinischen Arbeit betrübend im Rückstand waren, da es ein brennend heißer Juli-Nachmittag war, und da sie eigentlich bei einem Kricketmatch ihres Hauses hätten dabei sein müssen, fingen sie an, ihre Bekanntschaft mit den beiden Bänden in vertrauter und verrucht spottender Weise zu erneuern.

»Hier sind wir!« begann M’Turk. »Körperliche Züchtigungen brachten bei Eric die schlimmsten Wirkungen hervor. Er quälte sich nicht mit Gewissensbissen oder Reue – merk‘ dir das, Käfer – aber mit Beschämung und heftigem Zorn. Er starrte – O dieser ungezogene Eric! Wollen da aufschlagen, wo er anfängt zu trinken.«

»Wart‘ ’nen Weilchen. Hier ist ’n anderes Beispiel. »Die Prima«, sagt er, »ist das Palladium aller öffentlichen Schulen.« Aber der Quatsch« – Latte behandelte das Buch mit Goldschnittrand ziemlich unsanft – »kann Jungens nicht hindern, zu trinken und zu klemmen und Füchse in der Nacht aus ’nem Fenster zu lassen – und zu tun, was sie wollen. Gott, was haben wir versäumt, daß wir nich‘ nach St.&;nbsp;Winifreds gegangen sind!«

»Es tut mir leid, sehen zu müssen, daß Knaben aus meinem Hause so wenig Interesse am Spiel haben.«

Mister Prout konnte sich höchst geräuschlos bewegen, wenn es ihm beliebte, was durchaus kein Verdienst in eines Jungen Augen ist. Er hatte, ohne anzuklopfen, die Tür des Zimmers aufgestoßen – eine zweite Sünde – und schaute voll Verdacht auf die drei. »Tut mir in der Tat sehr leid, sehen zu müssen, wie ihr hier im Zimmer hockt.«

»Wir sind seit dem Essen immer draußen gewesen, Sir«, sagte M’Turk gelangweilt. – »Ein Spiel ist genau so wie das andere«, und in dieser Woche war es gerade ihr Sport gewesen, mit Salonpistolen nach Kaninchen zu schießen.

»Ich kann keinen Ball sehen, wenn er kommt, Sir«, erklärte Käfer. »Ich habe meine Brille beim Kricket zerbrochen, bis man mich gehen ließ. Ich macht‘ ’s nicht besser als ’n Fuchs, Sir.«

»Tücke scheint immer deine Art zu sein. Tücke und Unheil brüten. Warum könnt ihr denn gar kein Interesse für die Ehre eures Hauses haben?«

Sie hatten diese Phrase schon so oft gehört, bis es sie langweilte. Die »Ehre des Hauses« war Prouts schwache Seite, und sie wußten wohl, wie man ihm nach der Richtung hin etwas am Zeuge flicken konnte.

»Wenn Sie uns sagen, wir sollen hinuntergehen, Sir, werden wir natürlich gehen«, sagte Latte mit einer Höflichkeit, die zum Rasen bringen konnte. Aber Prout wußte schon Bescheid. Er hatte das Experiment einmal bei einem großen Match versucht, worauf dann die drei völlig isoliert eine halbe Stunde spielbereit dastanden, vor den Augen aller Besucher, denen gegenüber ein paar Sextaner, die zu diesem Zweck bestochen worden waren, sie als Opfer von Prouts Tyrannei bezeichneten. Und Prout war eine sensible Natur.

In den nie endenden kleinen Komplotts im Eßzimmer hatten King und Macrea, Kollegen und ebenfalls Hausmeister, ihn zu der Ueberzeugung gebracht, daß nur durch Spiele, und durch Spiele allein, Rettung möglich sei. Knaben, um die man sich nicht kümmerte, wären verlorene Knaben. Es müßte Disziplin unter ihnen geschaffen werden. Sich selbst überlassen, würde Prout einen sympathischen Hausmeister abgegeben haben, aber er war niemals sich selbst überlassen, und mit dem verteufelten Scharfblick der Jugend wußten die Jungen, wem sie seinen Eifer zu verdanken hatten. »Müssen wir hinuntergehen, Sir?« fragte M’Turk.

»Ich mag euch nicht befehlen, das zu tun, was ein ordentlicher Junge mit Freuden tun sollte. Es betrübt mich.« Und er schurrte hinaus, mit einem kleinen dunklen Eindruck, daß er gute Saat auf schlechtem Boden gesät habe.

»Na, was denkt er nu‘, was das für’n Zweck haben soll?« fragte Käfer.

»Oh, er ist verrückt gemacht. King redet im Eßzimmer darüber, daß er nichts aus uns machen kann, und Macrea quatscht von Disziplin, und das olle Huftier sitzt zwischen beiden und schwitzt dicke Tropfen. Ich hörte, wie Oke (der Aufwärter im Eßzimmer) neulich Richards (Prouts Hausdiener) im Keller davon erzählte, als ich ‚runter gegangen war, um ’nen bißchen Brot zu klemmen«, erzählte Latte.

»Was sagte Oke?« fragte M’Turk und warf »Eric« in eine Ecke.

»Oh, sagte er, sie machen mehr Spektakel, als wie ’n ganzes Nest voll Dohlen, und die Hälfte davon ist so, als wenn wir gar keine Ohren nicht am Kopf hätten und auf sie hören täten. Sie reden über den ollen Prout – was er getan hat und nich‘ getan hat bei seinen Jungens. Und wie ihre Jungens seine Jungens sind und seine Jungens verdammt schlecht. – Na so was ungefähr, wißt ihr, erzählte Oke, und Richards ging schrecklich wild weg. Er hat ’ne Wut gegen King, wegen irgend was. Möcht‘ wissen, weshalb.«

»Weshalb? King redet über Prout in der Klasse, macht Anspielungen und all‘ solche Sachen. Bloß die Hälfte Jungens sind solche Esel, daß sie nicht sehen können, was er meint. Und besinnt ihr euch noch, was er letzten Dienstag über das Haus mit den Kantonisten sagte? Damit meinte er uns. Er soll ganz gemeine Sachen sagen zu seinem eigenen Haus und macht sich über Prout seins lustig«, erzählte Käfer.

»Na, wir sind ja nicht hergekommen, um uns in ihre Zänkereien zu mischen«, sagte M’Turk ärgerlich. »Wer kommt baden nach dem Aufruf? King hält ihn auf dem Kricketplatz ab. Los!« Turkey, ergriff seinen Strohhut und führte an.

Sie erreichten den gegenüber dem Klippengrund in der Sonnenglut daliegenden Pavillon gerade vor dem Aufruf, und ohne weiter zu fragen, konnten sie aus Kings Stimme und Benehmen ersehen, daß sein Haus auf dem Weg zum Siege war.

»Aha!« sagte er und wandte sich, um seine strahlenden Züge zu zeigen. »Da haben wir ja auch die Zierden des Hauses mit den unsicheren Kantonisten. Ihr haltet wohl Kricket für unter eurer Würde, wie mir scheint« – die Menge in Flanell kicherte – »und nach dem, was ich heute nachmittag gesehen hab‘, denk‘ ich mir, daß viele andere aus eurem Haus auch derselben Ansicht sind. Und darf ich fragen, was ihr mit euren edlen Persönlichkeiten bis zum Tee anzufangen gedenkt?«

»Baden gehen, Sir«, antwortete Latte.

»Und woher dieser plötzliche Eifer für Sauberkeit? Ihr habt nichts an euch, das ihn besonders nahe legt. In der Tat, soweit ich mich erinnere, – ich kann mich irren, aber vor nicht langer Zeit –«

»Fünf Jahre, Sir«, sagte Käfer hitzig.

King sah verdrossen drein. »Einer von euch war damals, was man wasserscheu nennt, ja wasserscheu. Und jetzt wünscht ihr euch zu waschen? Das ist schön, Reinlichkeit schadet niemals einem Jungen – oder einem ganzen Hause. Wir wollen an unser Geschäft gehen«, und er verfügte sich an die Aufruftafel.

»Was, zum Henker, hast du ihm überhaupt was gesagt, Käfer?« sagte M’Turk ärgerlich, als sie auf die großen, offenen Seebäder zuwanderten.

»’s ist nicht anständig, einen daran zu erinnern, daß man wasserscheu gewesen ist. Mein erstes Semester außerdem. Massig Jungens sind’s, wenn sie nicht schwimmen können.«

»Ja, du Esel, aber er sah, daß er dich ‚reingelegt hatte, du hättest King gar nicht antworten sollen.«

»Aber es war nicht anständig, Latte.«

»Mein Himmel! Du bist jetzt sechs Jahre hier und erwartest Anstand! Wahrhaftig, du bist ein schauerlicher Idiot!«

Ein Haufe von Kings Jungen, ebenfalls auf dem Wege zu den Bädern, rief sie an und ersuchte sie dringend, sich zu waschen, um der Ehre ihres Hauses willen.

»Das kommt davon, wenn King quatscht und sich einmischt. Diese jungen Biester hätten nicht an so etwas gedacht, wenn er es ihnen nicht in die Schädel gesetzt. Jetzt werden sie wochenlang ihre Witze darüber machen,« sagte Latte, »kehrt euch nicht daran.«

Die Jungen kamen näher und riefen ihnen ein höchst beleidigendes Wort zu. Schließlich wendeten sie sich in der Windrichtung ab und hielten ostentativ ihre Nasen zu.

»Das ist hübsch«, sagte Käfer. »Sie werden nächstens noch sagen, unser Haus stinkt.«

Als sie vom Bad zurückkamen, mit feuchtem Haar, matt, in Frieden mit der Welt, wurde Käfers Vorsage nur zu wahr. Im Korridor kam ein Fuchs auf sie zu – ein gewöhnlicher Unterquintaner-Fuchs – der ihnen auf Armeslänge ein sorgfältig eingewickeltes Stück Seife überreichte – »mit den Komplimenten von Kings Haus«.

»Wartet!« sagte Latte und hielt einen unmittelbaren Angriff ab. »Wer hat dich dazu angestellt, Nixon? Rakray und White? (Das waren zwei Führer in Kings Haus.) Danke schön, Antwort ist nicht nötig.«

»Oh, es ist zu elend, wenn einem solch Dreck vorgehalten wird, was für’n Sinn hat das? Was für’n Witz ist dabei?« meinte M’Turk.

»Es wird trotzdem bis zu Ende des Semesters gehen.« Käfer schüttelte sorgenvoll das Haupt. Er hatte selbst auf eigene Kosten manche Späße bis zur Abnützung ertragen müssen.

In wenigen Tagen wurde es in der Schule zur überall verbreiteten Legende, daß Prouts Haus sich nicht wasche und deshalb stinke. Mr. King geruhte ausgiebig zu lächeln, als in der Klasse einer seiner Jungen sich mit gewissen Gesten von Käfer abwandte.

»Es scheint dir irgend etwas Unangenehmes anzuhaften, mein lieber Käfer, oder weshalb sollte Button I das Tischtuch zwischen euch sozusagen zerschneiden? Ich gestehe, ich bin vollkommen im Dunkeln, will nicht einer so freundlich sein, mich aufklären?«

Natürlich klärte ihn die ganze Klasse auf.

»Merkwürdig, höchst merkwürdig! Indessen, jedes Haus hat seine Traditionen, und um alle Welt möchte ich mich nicht drin einmischen, Wir sind nun einmal für das Waschen voreingenommen. Fahre fort, Käfer, von » Jugurtha tamen« – und, wenn du kannst, vermeide es, allzuviel herumzuraten.«

Prouts Haus war wütend, weil Macreas und Hartopps Häuser sich mit Kings verbanden, um sie zu beleidigen. Sie beriefen nach dem Essen ein Hausmeeting zusammen – ein aufgeregtes und ärgerliches Meeting, bei dem alle zugegen waren, mit Ausnahme der Aufseher, deren Würde, obgleich sie sympathisierten, ihnen die Teilnahme verbot. Sie verlasen ungrammatische Resolutionen und hielten Reden, die begannen: »Meine Herren, wir haben uns bei dieser Veranlassung versammelt – – «, und endeten: »Es ist ’ne verfluchte Gemeinheit«, genau so, wie Häuser es gemacht haben, seit Zeit und Schule begannen.

Zimmer »Nummer fünf« war mit seiner gewöhnlichen Miene milder Gönnerschaft zugegen. Schließlich äußerte sich M’Turk mit den breiten Kinnbacken folgendermaßen:

»Ihr quatscht und schimpft und schwatzt, das ist alles, was ihr tun könnt. Was hat das für’n Zweck? Kings Haus wird sich bloß freuen, weil sie euch aufgezogen haben, und King wird vergnügt sein. Außerdem, Orrins Resolution da hat ein Schock grammatische Fehler, und King wird schön darüber grinsen.«

»Ich dacht‘, du und Käfer würdet das in Ordnung bringen, und dann würden wir es im Korridor anschlagen«, erklärte der Verfasser zaghaft.

» Par si je le connais. Ich hab‘ keine Lust, mich in die Geschichte einzumengen«, sagte Käfer. »Es ist ’n Vergnügen für Kings Haus. Turkey hat ganz recht.«

»Na, Latte, willst du denn nicht?«

Aber Latte blies die Backen auf, schielte panurgisch seine Nase hinunter, und alles, was er sagte, war: »O ihr elenden Quatschköpfe.«

»Ihr seid drei gemeine Lumpen«, war die augenblickliche Erwiderung der Volksmasse, und sie entehrten sich unter Verwünschungen.

»Das ist ja recht nett,« sagte M’Turk, »wollen unsere Pistolen holen und Karnickel schießen gehen.«

Drei Salonpistolen, nebst der nötigen Munition, waren in Lattes Lade verwahrt, und diese Lade stand in ihrem Schlafzimmer, und ihr Schlafzimmer war ein Mansardenraum mit drei Betten, an den sich ein Zimmer mit zehn Betten anschloß, das wiederum in Verbindung mit der großen Reihe von Schlafzimmern stand, die von einem Ende des Gebäudes bis zum andern lief. Macreas Haus lag neben Prouts, Kings neben Macreas, und dann folgte Hartopps. sorgfältig geschlossen gehaltene Türen teilten Haus von Haus, aber jedes Haus – das Institut war ursprünglich eine Reihe von zwölf Gebäuden gewesen – stand in baulichem Zusammenhang mit dem nächsten, ein gerades Dach überdeckte alles.

Sie fanden Lattes Bett von der Wand links vom Schlafzimmer fortgerückt und Richards‘ hintere Partie aus einem Wandschrank, der zwei Fuß im Geviert hatte, hervorragen.

»Was ist denn los? Das hab‘ ich ja noch nie gesehen, was wollen Sie denn da machen, Dicker?«

»Wasserkannen füllen, Master Corkran.« Richards‘ Stimme klang gedämpft und halb erstickt. »Man hat mir Arbeit gespart. Ja!«

»Sieht so aus«, meinte M’Turk. »Hi! Sie werden ersticken, wenn Sie sich nicht in acht nehmen.«

Richards bewegte sich keuchend rückwärts.

»Ich kann ihn nicht zu fassen kriegen. Ja, das is ’n Wasserhahn, M’Turk. Man hat alle Wasserröhren genommen und einen Stock höher gelegt in den Häusern, hat sie alle unter den Dachrinnen langgeführt. In den letzten Ferien ist es gemacht. Ich kann den Hahn nicht zu fassen Kriegen.«

»Ich werd‘ mal versuchen«, schlug Latte vor, und schlüpfte in die Oeffnung.

»Kriechen sie nach links, Master Corkran. Kriechen Sie nach links und fühlen Sie im Dunkeln nach.«

Latte wandte sich nach links und sah eine lange Linie Bleirohr in einem dreieckigen Tunnel verschwinden, dessen Dach die Sparren und Platten des Hausdaches waren, dessen Boden Querbalken, auf die hohe Kante gelegt, bildeten, und dessen Seitenwand der rohe Mörtelbewurf auf der Fachwerkwand nach dem Schlafzimmer zu war.

»Tolle Sache! Wie weit geht das?«

»Ganz g’rad’aus, Master Corkran – immer g’rad’aus – von einem Ende zum anderen. Geht unter den Dachrinnen lang, haben sie nun schon den Hahn gepackt? Mister King hat’s machen lassen, damit wir nich‘ mehr das Wasser von unten ‚rauftragen müssen, um die Wasserkannen vollzugießen, Kein Platz für’n tüchtigen Mann, wie der alte Richards ist. Un‘ dann bin ich auch zu dick, um da ‚reinzukriechen. Dank‘ schön, Master Corkran.«

Das Wasser sprudelte aus dem Hahn, gerade im Innern des Schrankes, und nachdem er die Kannen gefüllt hatte, wankte Richards dankbar von dannen.

Die Jungen saßen mit großen Augen auf ihren Betten und überlegten die Ausnutzungsmöglichkeiten dieser Entdeckung. Aus den zwei Treppen tiefer gelegenen Räumen war das summende Lärmen des erregten Hauses vernehmbar, denn nirgends ist es so still wie in einem Schlafzimmer mitten am Nachmittag im Hochsommer.

»Es ist übertapeziert gewesen bis jetzt.« M’Turk untersuchte die kleine Tür. »wenn wir’s bloß früher gewußt hätten!«

»Ich meine, wir gehen ‚rein und kundschaften. Um diese Zeit wird keiner ‚raufkommen, wir brauchen uns nicht in acht zu nehmen.«

Sie kletterten unter Lattes Anführung hinein, zogen die Tür hinter sich zu und krochen auf allen Vieren einen dunklen, schmutzigen Pfad entlang, voll von Mörtel, allerhand Spänen und all dem Schurrmurr, den Baumeister in der Rumpelkammer eines Hauses liegen lassen. Der Gang war ungefähr drei Fuß breit und, abgesehen von dem wenigen Licht, das sich an den Kanten der Wandschränke (zu jedem Schlafzimmer gehörte einer) hindurchstahl, fast pechdunkel.

»Hier ist Macreas Haus«, sagte Latte, der das Auge an die Ritze des dritten Wandschrankes gelegt hatte. »Ich kann Barnes Namen auf seiner Lade lesen. Mach‘ nicht solchen Spektakel, Käfer! Wir können richtig bis zum Ende vom Institut kommen, weiter! … Jetzt sind wir bei Kings Haus, ich kann ein 5tück von Rattrays Lade sehen, wie man sich an den verdammten Brettern die Knie stößt!« – Sie hörten, wie er mit den Nägeln an dem Kalkbewurf kratzte.

»Das ist die Decke unten, paßt auf, wenn wir mal ‚ranballerten, daß der Kalk in das untere Schlafzimmer ‚runterfällt«, schlug Käfer vor.

»Los, wollen mal!« flüsterte M’Turk.

»Damit man uns gleich beim erstenmal kriegt? Keinen Zweck! Ei wei, da, ich kann meine Hand hier so weit zwischen die Bretter schieben.«

Latte steckte einen Arm bis zum Ellbogen zwischen die Querbalken.

»Nicht sehr schön hier! Ich mein‘, wir gehn zurück und besprechen die Sache mal. Ist ’n mist’ger Platz hier! Muß sagen, ich bin King für seine Wasserwerke dankbar.«

Sie krochen heraus, bürsteten einer den andern ab, steckten die Salonpistolen in ein Hosenbein und machten, daß sie zu einem tiefen, einsamen Hohlweg kamen, an dessen Böschungen ein Junge manchmal vielleicht ein junges Kaninchen erlegen konnte, sie warfen sich unter den alten, dichten Büschen nieder und fingen an, laut zu denken.

»Wißt ihr,« sagte Latte schließlich, während er nach einem entfernten Sperling zielte, »wir könnten unsere Pistolen da ganz famos verstecken.«

»Huh!« Käfer schnaubte, würgte und gurgelte. Er hatte geschwiegen, seit sie das Schlafzimmer verlassen.

»Habt ihr schon einmal ein Buch gelesen: »Die Geschichte eines Hauses« oder so ähnlich? Ich hab’s neulich aus der Bibliothek gekriegt, ’n Franzose hat’s geschrieben – Violet – oder so ähnlich. Aber es ist übersetzt und riesig interessant. Erklärt einem, wie das Haus gebaut wird.«

»Na, wenn du so drauf versessen bist, das ‚rauszukriegen, brauchst du ja nur nach den neuen Häusern ‚runterzugehen, die sie für die Strandwächter bauen.«

»Wahrhaftig, das tu ich!« Er suchte in seinen Taschen herum. »Gib mir ein paar Pence.«

»Du, Käfer, du bist doch nicht über irgendwas böse, sag‘ mal?« meinte M’Turk, als er ihm die Kupferstücke einhändigte. Er sprach in ernstem Ton, denn wenn auch Latte und M’Turk gelegentlich manövrierten, hatte man das an Käfer bisher in der ganzen Geschichte ihres Bündnisses noch niemals erfahren.

»Nein, ich bin nicht böse, ich hab‘ was vor.«

»Na, wir können ja auch mitkommen«, sagte Latte mit der Miene eines Generals, der zu seinem Adjutanten kein rechtes Zutrauen hat.

»Brauch‘ euch nicht!«

»Ach, laß ihn allein, den quält ein Gedicht«, meinte M’Turk. »Jetzt wird er an den Klippen langgehen und vor sich herquatschen, und nachher, wenn er zurückkommt, spuckt er die ganze Geschichte im Zimmer aus.«

»Weshalb hat er dann aber die zwei Pence gebraucht, Turkey? Er wird jetzt verdammt unabhängig. Hi! Da ist ’n Karnickel. Nein, es ist keins. Es ist ’ne Katze, du ballerst zuerst.«

Zwanzig Minuten später sah ein Junge, einen Strohhut auf dem Hinterkopf und die Hände in den Taschen, den Arbeitern zu, die bei einem halbfertigen Häuschen beschäftigt waren. Er förderte eine Portion übelriechenden Tabaks zutage, und man ließ ihn von dem Vorhof in das Innere passieren, wo er viele Fragen tat.

»Na, nun gib dein verfluchtes Epos zum besten«, sagte Turkey, als sie in das Arbeitszimmer hereinplatzten, wo sie Käfer in » Violet le Duc« und ein paar Zeichnungen vertieft fanden, »wir haben riesigen Spaß gehabt.«

»Epos? Was für’n Epos? Ich war unten bei den Strandwächtern.«

»Kein Epos? Dann wollen wir dich totschlagen, o Käfer«, rief Latte und rüstete sich zum Angriff. »Du hast irgendwas auf dem Gewissen. Das kenn‘ ich schon, wenn du in dem Ton red’st.«

»Euer Onkel Käfer« – er versuchte, langue de guerre zu imitieren, – »ist ein großer Mann.«

»Ach nein, er ist ganz und gar nicht so was. Du täuschst dich selbst, Käfer, würg‘ ihn, Türkey!«

»Ein großer Mann«, gurgelte Käfer vom Flur aus. »Ihr seid elende – laß meinen Schlips los – elende Quatschköpfe. Ich bin der große Mann.«

»Käfer, lie-ber« – Latte fiel ihm rückhaltslos um den Hals – »wir haben dich lieb, und du bist ein Dichter, wenn ich je gesagt hab‘, du wärst ’n Hundssohn, bitt‘ ich um Entschuldigung; aber du weißt so gut wie wir, daß du nichts machen kannst, ohne es zu vermisten.«

»Und du wirst die ganze Geschichte verderben, wenn du sie nicht deinem Onkel Latte erzählst. Hust‘ es aus, Püppchen, und wir wollen sehen, was sich machen läßt, ’ne Idee, du fetter Gauner – ich wußte, du hattest ’ne Idee, als du weggingst! Turkey meinte, es wär‘ ’n Gedicht.«

»Ich hab‘ rausgekriegt, wie Häuser gebaut sind. Ich will’s euch mal sagen. Die Fußbalken des einen Zimmers sind die Deckbalken des Zimmers darunter.«

»Sei nicht so ekelhaft technisch!«

»Na, der Mann hat’s mir so gesagt. Der Fußboden wird auf den Balken heraufgelegt – diese Bretter auf hoher Kante, über die wir krochen – aber der Fußboden hört an ’ner Querwand auf. Na, wenn man nun hinter ’ne Querwand kommt, ebenso wie du in der Mansarde, seht ihr denn nicht, daß ihr irgendwas, was ihr wollt, unter den Fußboden schieben könnt, zwischen die Dielen, und das Geflecht und den Bewurf der Decke unten? seht her. Ich hab’s aufgezeichnet.«

Er wies eine rohe Skizze vor, welche die Verbündeten hinreichend aufklärte. In dem modernen Schullehrplan gibt es kein Fach, das sich mit Architektur befaßt, und keiner von ihnen hatte je darüber nachgedacht, ob Fußböden und Decken hohl oder massiv wären. Außerhalb seiner eigenen unmittelbaren Interessen ist ein Junge ebenso unwissend wie der Wilde, den er so bewundert, aber er hat auch den Instinkt des Wilden.

»Ich sehe«, sagte Latte. »Ich schob meine Hand da hinein. Und dann?«

»Und dann – sie haben uns Stinker genannt, ihr wißt ja. wir könnten irgendwas runterschieben – Schwefel, oder irgendwas, das hübsch scheußlich stinkt. Ich weiß, irgendwie läßt es sich machen.« Käfers Augen wanderten zu Latte, der mit der Zeichnung spielte.

»Stinkt?« meinte Latte fragend. Dann erstrahlte sein Antlitz vor Entzücken, »wahrhaftig! Ich hab’s, schrecklich stinkt! Turkey!« Er sprang auf den Irländer zu. »Heut‘ nachmittag – g’rad‘ als du weggegangen warst, Käfer! Sie ist das richtige!«

»Komm‘ in meine Arme, mein Hauptkerl!« jubelte M’Turk, und sie fielen einander in die Arme und tanzten. »O ein glorioser Tag! Halli! Hallo! Sie wird! Sie wird! Sie wird!«

»Haltet an,« rief Käfer, »ich verstehe nichts.«

»Lieber Mann! So soll’s sein, o Artie, mein herzensguter Jüngling, wir wollen unserm lieben Reggie von pestilenzmäßigem Stinkadores erzählen.«

»Erst wenn der Aufruf gewesen ist, dann los!«

»Hört mal,« sprach Orrin steif, als sie auf ihre Plätze an der wand der Turnhalle zustürzten, »das Haus wird jetzt noch ein Meeting abhalten.«

»Halt’s doch ab!« Lattes Gesicht weilte anderwärts.

»Es ist diesmal über euch drei.«

»Schon gut, bestell‘ ’nen schönen Gruß von mir … Hier, Sir!« und er raste den Korridor hinunter.

Jagend, wie spielende Ziegen, mit Sätzen und Seitensprüngen, mit Kapriolen und Kurbetten, führten sie den beinahe platzenden Käfer nach dem Kaninchenhohlweg und zogen unter einem Steinhaufen den Körper einer frisch erlegten Katze hervor. Nun erkannte Käfer die innere Bedeutung des vorangegangenen und erhob seine Stimme zu einem Lobgesang dafür, daß die Welt so weise Krieger aufweise wie Latte und M’Turk.

»Wohlgenährte alte Lady, nicht wahr? Wie lang wird’s dauern, bis sie in einem geschlossenen Raum ’n bißchen zu stinken anfängt?«

»Bißchen stinken? was für ’n rohes Biest du bist!« sagte M’Turk. »Kann eine arme Pussy-Katze nicht unter Kings Schlafzimmer zu sterben kommen, ohne daß du sie mit deinen dreckigen Bemerkungen verfolgst?«

»Woran krepierte sie unter dem Fußboden?« fragte Käfer, in die Zukunft blickend.

»Oh, darüber werden sie sich nicht den Kopf zerbrechen, wenn sie sie finden«, sagte Latte.

»selbst ’ne Katze darf sich den König ansehen.« M’Turk rollte über seinen eigenen Witz den Abhang hinunter, »Pussy, du weißt nicht, wie nützlich du drei unschuldsvollen, hochherzigen Knaben sein wirst.«

»Sie werden ihretwegen den Fußboden aufreißen müssen, wie sie es in Nummer neun machten, als die Ratte krepierte. Gehör’ge Medizin, massig ordentliche Medizin. Puh! O Gott! Ich möchte, ich könnte aufhören vor Lachen«, sagte Käfer.

»Stinkt! Hi, stinkt! hier ist’s feucht!« M’Turk rang nach Atem, als er seinen Platz wieder erreichte. »Und« – der wunderbare Humor der Jache packte sie, daß sie alle zusammen in einem Knäuel herunterrutschten – »es ist alles zur Ehre des Hauses.«

»Und sie halten jetzt ’n anderes Meeting ab – über uns«, keuchte Latte, die Knie im Graben und das Gesicht im langen Gras.

»Na, dann wollen wir die Kugel ‚rausholen, und dann los. Je früher sie ins Bett gebracht ist, desto besser.«

Gemeinsam verbrachten sie eine gräßliche Arbeit mit einem Federmesser, gemeinsam (fragt nicht, wer sie an seinen Busen bettete) nahmen sie den Körper auf und eilten zurück, während Latte in vollem Trabe ihren Aktionsplan entwarf.

Die Nachmittagssonne, die in breiten Streifen auf den Bettvorlegern lag, sah drei Knaben und einen Regenschirm in einer Schlafzimmerwand verschwinden. Nach fünf Minuten tauchten sie wieder auf, bürsteten sich ganz und gar ab, wuschen sich die Hände, kämmten das Haar und gingen hinunter.

»Bist du sicher, daß du sie weit genug ‚runtergeschoben hast?« fragte M’Turk plötzlich.

»Donnerwetter, Mensch, ich hab‘ sie so weit wie mein Arm und Käfers Regenschirm geschoben. Das müssen gegen sechs Fuß sein. Sie ist in der Mitte von Kings großem Zehnbettenzimmer eingespundet. Vorzügliche zentrale Lage möcht‘ ich sagen, sie wird seine Jungens ausstänkern und Hartopps und Macreas, wenn sie wirklich zu riechen anfängt. Ich schwöre, nur Onkel Latte ist ein großer Mann. Fühlst du, was für ein großer Mann er ist?«

»Na, ich hab‘ zuerst die Idee gehabt, nich‘ wahr, bloß –«

»Du konnt’st es nicht tun ohne deinen Onkel Latte, nich‘ wahr?«

»Jetzt haben sie schon ’ne Woche lang Stinker geschimpft«, sagte M’Turk. »Oh, sie werden’s kriegen.«

»Stinker! Ha! Stin-kee-er!« erscholl es den Korridor hinunter.

»Und sie ist dort«, sagte Latte, die Hände auf die Schultern der andern gelegt. »Sie ist dort und macht sich fertig, sie zu überraschen – auf einmal wird sie anfangen, in ihren Träumen zu ihnen zu flüstern. Dann wird sie stinken. Gott, wie sie stinken wird! Tut mir den Gefallen und denkt mal zwei Minuten dran!«

Mehr oder weniger stillschweigend kamen sie auf ihrem Zimmer an. Dort fingen sie an zu lachen – zu lachen, wie es Jungen nur können. Sie lachten mit den Stirnen auf den Tischen oder auf dem Fußboden, lachten in voller Länge oder über die Rücken der Stühle gebogen oder sich an ein Bücherfach anklammernd, lachten sich krank.

Und mitten dazwischen trat Orrin ein, im Auftrage des Hauses.

»Kümmere dich nicht um uns, Orrin, setz dich. Du weißt nicht, wie wir dich achten und bewundern. Es liegt etwas auf deiner reinen, hohen, jungen Stirn, voll von den Träumen unschuldiger Kindheit, das überaus anziehend ist. Ja, wirklich!«

»Das Haus hat mich geschickt, um euch dies zu geben.« Er legte ein zusammengefaltetes Blatt Papier auf den Tisch und zog sich mit hoheitsvoller Miene zurück.

»Es ist die Resolution! Oh, lest sie vor, irgend einer. Ich bin zu schwach und krank vor Lachen, um sehen zu können«, sagte Käfer.

Latte riß es auseinander, nachdem er vorher daran herumgeschnüffelt hatte.

»Puh! Puh! Hört! Das Haus bemerkt mit Kummer und Verachtung die Haltung von Indiferenz – wieviel »F’s« in Indifferenz, Käfer?«

»Zwei, vorzugsweise.«

»Hier is‘ bloß eins – welche die Bewohner des Arbeitszimmers »Nummer fünf« in bezug auf die Beleidigungen, welche Mister Prouts Haus zugefügt sind, auf dem neulichen Meeting im Klassenzimmer »Nummer zwölf« angenommen haben, und das Haus erteilt hierdurch dem besagten Zimmer ein Tadelsvotum. Das ist alles.«

»Und sie hat mir noch mein ganzes Hemd blutig gemacht!« sagte Käfer.

»Und ich rieche über und über nach der Katze,« sagte M’Turk, »trotzdem ich mich zweimal gewaschen hab‘.«

»Und ich hab‘ beinah‘ Käfers Schirm zerbrochen, als ich sie dahin pflanzte, wo sie blühen soll.«

Die Situation ging über eine Erörterung hinaus, aber nicht über Gelächter. – In dieser Nacht wurde ein schwacher Versuch gemacht, eine Demonstration gegen die drei in ihrem Schlafzimmer zu veranstalten, sie kamen deshalb heraus.

»Seht ihr,« begann Käfer leutselig, wahrend er sein Hosenträger abknöpfte, »der Skandal mit euch ist, daß ihr eine Bande von gedankenlosen Eseln seid, ihr habt nicht mehr Brägen als Spinnen, wir haben euch das massig oft gesagt, nicht wahr?«

»Wir werden euch alle drei hier im Schlafzimmer verprügeln, ihr schimpft immer auf uns, als wenn ihr Aufseher wär’t –«, schrie einer.

»Oh, nein, ihr werdet’s nicht,« sagte Latte, »denn ihr wißt’s, wenn ihr’s tätet, würdet ihr früher oder später am schlechtesten dabei wegkommen. Wir haben gar keine Eile, wir können es uns erlauben, auf unsere kleine Revanche zu warten. Ihr habt euch zu schrecklichen Eseln gemacht, und sowie King morgen was von eurer kostbaren Resolution erwischt, werdet ihr das ‚rausfinden, wenn ihr morgen abend nicht krank und elend seid, will ich – will ich meinen Hut essen.«

Aber noch bevor am nächsten Tage die Mittagsglocke läutete, waren die Prouts über ihren Irrtum jämmerlich aufgeklärt. King empfing einzelne Mitglieder des Hauses mit übertrieben furchtsamer Attitude. Beabsichtigten sie, durch ihre einstimmige Resolution seine Entlassung aus dem Institut herbeizuführen? Welches wären ihre Ansichten über das Schulregiment, damit er sich beeilen könne, sie in die Tat umzusetzen. Er wollte sie um alle Welt nicht beleidigen, aber er fürchtete, daß sein eignes Haus, das keine Resolutionen annahm (sich aber wusch), ein wenig spotten würde.

King war ein glücklicher Mensch, und sein Haus, das sich in der Gnade seines Lächelns sonnte, machte diesen Nachmittag zu einem langen Fegefeuer für die irregeleiteten Prouts. Und Prout selbst, mit trüber und niedergeschlagener Miene, versuchte in der ganzen Sache Recht und Unrecht abzuwägen, geriet aber nur noch tiefer in die Irre. Warum sollte sein Haus »Stinker« genannt werden?

Es war ja wirklich eine Kleinigkeit, aber die Verhältnisse hatten ihm die Erkenntnis beigebracht, daß der Halm sich neigt, wie der Wind weht, und daß es keinen Rauch ohne Feuer gibt. Im Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, wandte er sich im Eßzimmer an King, aber King geruhte gerade, voll munterer Spottlust zu sein, und vollführte gerade dialektische Tänze um Prout.

»Nun,« sagte Latte, als er beim Zubettgehen eine Pilgerfahrt durch die Schlafzimmer unternahm, bevor die Aufseher heraufkamen, »nun, was könnt ihr jetzt zu eurem Besten sagen? Foster, Carton, Finch, Longbridge, Martin, Brett? Ich hörte, wie ihr Burschen es von King bekamt – er machte euch schön ‚runter – und alles, was ihr tun konntet, war, euch zu winden und zu grinsen und zu sagen: Ja, Sir, Nein, Sir, und Oh, Sir, und Bitte schön, Sir. Ihr und eure Resolution! Uh!«

»Oh, hör‘ auf, Latte!«

»Kein bißchen, ihr seid eine famose Bande von Resolutionisten – ihr habt ’nen schönen Spaß daraus gemacht, vielleicht seid ihr nächstes Mal so anständig, uns in Ruh‘ zu lassen.«

Hier wurde das Haus ärgerlich, und mehrere Stimmen machten darauf aufmerksam, daß diese Uebereilung nie vorgekommen wäre, wenn »Zimmer fünf« ihnen von Anfang an beigestanden hätte.

»Aber ihr Burschen seid so verdammt eingebildet, und ihr quatscht im Meeting gerad‘ so, als ob wir ’ne Gesellschaft von Idioten wären«, brummte Orrin mit der Resolution.

»Das ist genau das, was ihr seid! Das ist das, was wir schon die ganze Zeit in eure dicken Schädel einzuhämmern versucht haben«, sagte Latte. »Schad’t nichts, wir wollen’s euch vergeben. Tröstet euch, ihr könnt nichts dafür, daß ihr Esel seid, wißt ihr.« Latte umging geschickt die Flanke des Feindes und sprang ins Bett.

In dieser Nacht gab es den ersten Kummer unter den jubilierenden Kings. Infolge irgendwelcher zufälligen Zugwinde unter dem Fußboden beunruhigte die Katze nicht das Schlafzimmer, in dem sie lag, sondern das nächste nach rechts hin; freilich mehr nur durch einen blaßblauen Eindruck als irgendeinen scharfen Angriff. Aber der bloße Schatten eines Geruchs ist genug für die empfindliche Nase und unverdorbene Zunge der Jugend. Die gute Sitte fordert, daß wir ein paar karbolgetränkte Leinentücher vor das ziehen, was das Schlafzimmer zu Mister King sagte und was Mister King entgegnete. Er war wirklich stolz auf sein Haus und peinlich in allem, was das Wohlergehen der Jungen betraf. Er kam, er schnüffelte, er sagte verschiedenes. Am nächsten Morgen vertraute ein Junge aus diesem Schlafzimmer seinem Busenfreunde, einem Fuchs aus Macreas Hause, an, daß es in ihrer Mitte einige Unruhe gäbe, die King gern verheimlichen wollte.

Aber der Junge aus Macreas hatte auch einen Busenfreund in Prouts Haus, einen krausköpfigen Sextaner von bösartiger Charakteranlage. Der hatte kaum das Geheimnis herausgeholt, als er es auch schon im höchsten Diskant herausschrie, daß es durch die Korridore wie das Quietschen einer Fledermaus schallte.

»Und – und sie haben uns Stinker genannt, die ganze Woche. Ei, und Harland II sagt, sie können in ihrem Schlafzimmer einfach nicht schlafen vor Gestank. Kommt.«

Mit einem Ruf und einem Schrei stürmten die Jungen aus Prouts Hause in den Kampf, und die ganze Pause zwischen der ersten und zweiten Stunde hindurch drängten sich gegen fünfzig zwölfjährige Jungen vor Kings Fenstern zu einem Sang zusammen, dessen Leitmotiv das Wort Stinker bildete.

»Hört die Notschüsse auf See!« sagte Latte. Sie befanden sich in ihrem Arbeitszimmer und suchten Bücher für die zweite Stunde zusammen – Lateinisch bei King. »Ich glaub‘, seine azurne Stirn war ein bißchen bewölkt beim Beten.«

»Nunmehr kommt sie, Schwester Mary.«

»Nunmehr – – –«

»Wenn sie jetzt schon solchen Spektakel machen, was werden sie tun, wenn sie sich erst wirklich bemerkbar macht und Aufsehen erregen wird.«

»Na, bloß keine kommunen Ausfälle, Käfer. Alles, was wir tun müssen, ist, uns wie Gentlemen von dem Spektakel fernzuhalten.«

»’s ist nur eine kleine welke Blume. Wo ist mein Horaz? Seht mal, ich versteh nicht, was sie damit sagen will, daß sie Rattrays Schlafzimmer zuerst ausstänkert, wir haben sie doch unter Whites verbuddelt, nich‘ wahr?« fragte M’Turk, die Stirn in Falten.

»Launenhaftes kleines Ding. Sie treibt sich, glaube ich, unter der ganzen Gegend ‚rum!«

»Heilige Tante! King wird ’n vergnügter Kunde sein in der zweiten Stunde. Ich hab‘ kein einziges bißchen Horaz präpariert«, sagte Käfer. »Los.«

Sie befanden sich jetzt vor der Tür des Klassenzimmers. Es war fünf Minuten vor dem Läuten, und King konnte jeden Augenblick erscheinen.

Turkey drängte sich mit Ellbogenstößen in eine Kohorte sich herumbalgender Füchse, holte Tornton III heraus (denselben, der Harlands Busenfreund gewesen war) und bat ihn, seine Geschichte zu erzählen.

Sie war nur einfach, von Tränen unterbrochen, viele von Kings Haus hatten ihn schon für seine Verleumdung durchgewalkt.

»’s ist nichts,« rief M’Turk, »er sagt, Kings Haus stinkt. Das ist alles.«

»Alte Sache!« rief Latte, »wir wußten das schon vor Jahren, hatten bloß keine Lust, herumzurennen und »Stinker« zu rufen, wenn sie keine haben, wir haben uns ’n paar Manieren angeeignet. Greif ’nen Fuchs, Turkey, und überzeug‘ dich mal.«

Turkeys Kim hielt eine sehr eilige und ängstliche Zierde der Unterquinta an.

»Oh, M’Turk, bitte, laß‘ mich gehen. Ich stinke nicht, ich schwöre – wirklich nicht!«

»Schlechtes Gewissen«, schrie Käfer, »wer sagt denn, daß du stänkest?«

»Was meint ihr darüber?« Latte stieß den kleinen Jungen in Käfers Arme.

»Sef! Sef! Stinkt – gewiß! Ich mein‘, es ist Aussatz oder Schwämmchen. Vielleicht auch beides, weg damit!«

»In der Tat, Master Käfer,« – King kam gewöhnlich eine oder zwei Minuten an die Haustür vor dem Läuten – »wir sind dir ungeheuer verpflichtet für deine Diagnose, die ebensosehr die natürliche Verdorbenheit deines Charakters zu bezeugen scheint als die klägliche Ignoranz in bezug auf die Krankheiten, über die du so geläufig sprichst, wir wollen aber dein Wissen in anderen Richtungen prüfen.«

Das war eine lustige Stunde, aber in seiner Hast, Käfer zu schröpfen, vergaß King ganz und gar, ihm eine Strafarbeit zu geben, und da er ihn gleichzeitig mit vielen unschätzbaren Adjektiven zu späterer Verwendung bereicherte, war Käfer wohl zufrieden und widmete sich die ganze dritte Stunde hindurch (Algebra mit dem kleinen Hartopp) höchst ernsthaft der Ausarbeitung eines Gedichtes, betitelt: »Das Haus der Aussätzigen«.

Nach dem Essen nahm King sein Haus nach den Klippen mit, zum Baden in der See. Es war ein altes Versprechen, aber er wünschte es nicht einlösen zu brauchen, denn die sämtlichen Prouts hatten sich am Hof in Linie aufgestellt und schrien voll Eifer Hurra. In seiner Abwesenheit drang nicht weniger als die halbe Schule in das infizierte Schlafzimmer ein, um ihre eignen Schlüsse zu ziehen. Die Katze hatte in den letzten zwölf Stunden gewonnen, aber ein Schlachtfeld am fünften Tage hätte nicht so schlimm sein können, wie die Spione berichteten.

»Mein Wort, sie tut ihr Bestes«, sagte Latte. »Habt ihr jemals so was gerochen wie das? Ach, und dabei ist sie noch nicht mal unter Whites Schlafzimmer.«

»Wird schon kommen. Laß‘ ihr Zeit«, meinte Käfer. »Sie wird sich drehen, wie ein schwankendes Geißblatt. Was für entsetzliche Aussätzige sie sind. Kein Haus hat das Recht, sich selbst zum Gestank zu machen, in den Nasen anständiger – – –«

»Hochherziger, unschuldiger Knabe. Plagen dich Gewissensbisse und Reue?« fragte M’Turk, während sie liefen, um dem Hause zu begegnen, das von der See heraufkam. King hatte es verlassen, und so brauchte man der Zunge keinen Zaum anzulegen. Vor der Front schwärmte ein Haufen Tirailleure aus allen Häusern, auseinanderstiebend, sich sammelnd, Beleidigungen ausstoßend. An den bedrängten Flanken marschierten die Hopliten, bemooste Häupter, die einen Witz nach dem andern losließen, einfache und primitive Witze aus der Steinzeit. Diesen gesellten sich die drei zu, leidenschaftslos, mit gleichgültiger Miene, beinahe traurig.

»Und sie sehen dabei noch ganz vergnügt aus«, sagte Latte. »Es kann doch nicht Rattray sein, nicht wahr, Rattray?«

Keine Antwort.

»Lieber Rattray? Er scheint über irgend was böse sein. Sieh, Alter, wir tragen es dir gar nicht nach, daß du uns vor’ge Woche die Seife geschickt hast, nicht wahr? Sei vergnügt, Ratte. Du wirst schon ganz gut drüber wegkommen. Wahrscheinlich sind’s bloß ’n paar Füchse, euer Haus ist aber auch so verflucht nachlässig.«

»Ihr geht doch nicht ins Haus zurück, nicht wahr?« fragte M’Turk – die Opfer verlangten nichts Besseres. – »Ihr habt einfach keine Idee von dem Dunst da oben. Natürlich, wenn man immer drinnen hockt wie ihr, kann man’s nicht merken! Aber jetzt, nach dieser hübschen Waschung und der reinen, frischen Luft werdet selbst ihr ’nen Schreck kriegen. ’n viel besseres Quartier wäre draußen in den Erdhöhlen. Wir werden auch etwas Stroh besorgen, nicht wahr?« Das Haus drängte hinein, während ein paar liebenswürdige Kameraden das Lied von »Hohn Broons Leichnam« anstimmten, und verbarrikadierten sich im Arbeitssaal. Stracks zeichnete Latte mit Kreide ein großes Kreuz mit einem »Herr, sei uns gnädig!« an die Tür und überließ es King, es zu finden.

Der Wind schlug in dieser Nacht um und trug einen Leichengeruch in Macreas Schlafzimmer hinüber. Die Folge war, daß die Jungen in Nachtgewändern an die verschlossene Tür zwischen den Häusern hämmerten und die Kings ersuchten, sich zu waschen. »Nummer fünf« kam zur zweiten Stunde mit mehr als einem halben Pfund Kampfer pro Person in den Kleidern, und King, zu vorsichtig, Erklärungen zu fordern, wütete eine Weile und warf sie dann hinaus. So beendete Käfer in Frieden auf dem Zimmer noch ein zweites Gedicht.

»Sie nehmen jetzt Karbol, King denkt, es ist die Kanalisierung, Malpas hat’s mir erzählt«, sagte Latte.

»Massig Karbol wird sie brauchen«, meinte M’Turk. »Kann nichts schaden, mein‘ ich. ’s hält King davon ab, schlimme Streiche zu machen.«

»Ich schwör‘, ich glaubt‘, er wollt‘ mich totschlagen, als ich vorhin schnüffelte. Aber als Burton neulich an mir schnüffelte, hat er sich nicht darum gekümmert. Er hat Alexander nie verboten, in unserer Klasse »Stinker« zu brüllen, ehe – ehe – wir sie kurierten. Er grinste erst recht«, sagte Latte. »Weshalb war er so wütend über dich, Käfer?«

»Aha! Das war ’n schlauer Spaß von mir. Ich hatt‘ ihn schön im Feuer. Ihr wißt, er schimpft immer über den gelehrten Lipsius.«

»Der im Alter von vier Jahren – der Junge?« fragte M’Turk.

»Ja, jedesmal, wenn er hört, ich hab‘ ’n Gedicht geschrieben. Na, als ich mich eben hingesetzt hatte, flüsterte ich Burton I zu: »Wie geht es unserm gelehrten Lipsius?« Der olle Butt grinste wie ’ne Eule. Er wußte nicht, worauf ich anspielte, aber King wußte es ganz gut. Deshalb hat er uns auch nur ‚rausgeschmissen. Seid ihr mir nicht dankbar? Nun halt’s Maul. Ich will die Ballade vom gelehrten Lipsius schreiben.«

»Laß aber jede Grobheit sein«, sagte Latte. »Ich würde bei dieser schönen Gelegenheit nicht grob sein wollen.«

»Nicht um die Welt. Reimt sich auf Stinken irgendwas?«

Im Eßzimmer ließ King beim Frühstück gegenüber Prout sich heftig über Knaben boshafter Veranlagung aus, die ihre wenigen und kümmerlichen Talente dazu mißbrauchen, um die Disziplin zu untergraben und ihre Kameraden zu korrumpieren, verruchte Pläne auszuhecken und den Respekt zu zerstören.

»Sie schienen das aber nicht zu beachten, als Ihr Haus uns – ah – Stinker nannte. Wenn Sie mir nicht versichert hätten, daß Sie sich nie in die Angelegenheiten eines anderen Hauses mischten, möchte ich beinah‘ glauben, daß es ein paar zufällige Bemerkungen Ihrerseits waren, die diesen Unsinn veranlaßten.«

Prout hatte viel durchgemacht, denn King brachte seine schlechte Laune immer zu den Mahlzeiten mit.

»Sie selbst sagten etwas zu Käfer, nicht wahr? Etwas von nicht baden gehen und wasserscheu sein?« warf der Schulkaplan ein. »Ich stand an dem Tage am Pavillon und schrieb auf.«

»Ich mag’s getan haben, scherzweise … Ich mache wirklich keinen Anspruch darauf, mich jeder Bemerkung zu erinnern, die ich unter kleinen Jungen fallen ließ. Und dann weiß ich recht wohl, daß Käfer keine Veranlassung hat, sich beleidigt zu fühlen.«

»Kann sein, aber er oder sie – es kommt auf eins heraus – finden mit dem Geschick des bösen Feindes die schwache Seite eines Menschen heraus. Ich gestehe, ich gehe lieber etwas von meiner Weise ab, um Zimmer Nummer fünf zu beschwichtigen. Es mag Schwäche sein, aber bis jetzt, denke ich, bin ich der einzige hier, den sie noch nicht wild gemacht haben mit ihren Aufmerksamkeiten.«

»Das trifft alles die Sache nicht. Ich schmeichle mir, daß ich mit ihnen umgehen kann, einzig, wie es die Gelegenheit mit sich bringt. Wenn sie sich aber moralisch unterstützt fühlen von denen, die absolute und klare Gerechtigkeit handhaben sollten, dann sage ich, daß mein Stand in der Tat ein schwieriger ist. Von allen Dingen, die ich hasse, muß ich sagen, daß die kleinste Spur von Illoyalität unter uns das schlimmste ist.«

Im Eßzimmer schielte einer auf den andern, und Prout wurde rot.

»Das bestreite ich absolut«, sagte er. »Eh – in der Tat, ich gebe zu, daß ich persönlich gegen alle drei bin. Es ist deshalb nicht fair, zu – –«

»Wie lange gedenken Sie das zu erlauben?« fragte King.

»Aber sicher,« sagte Macrea, der seinen gewöhnlichen Verbündeten im Stich ließ, »die Schuld, wenn überhaupt eine da ist, liegt bei Ihnen, King. Sie können mich nicht verantwortlich machen für den – Sie ziehen wohl das gute, alte Angel-Sächsische vor – Gestank in Ihrem Hause. Meine Jungen beklagen sich jetzt darüber.«

»Was können Sie erwarten? Sie wissen, wie Knaben sind. Natürlich ziehen sie ihren Vorteil aus dem, was ihnen eine vom Himmel gesandte Gelegenheit ist«, sagte der kleine Hartopp. »Was ist denn bloß in Ihren Schlafzimmern, King?«

Mister King erklärte, da er zur einzigen Regel seines Lebens gemacht hätte, sich niemals um eines andern Haus zu kümmern, erwarte er, daß man sich nicht allzusehr um ihn kümmere. Vielleicht würde es sie interessieren, zu erfahren – hier stieß der Kaplan einen schweren Seufzer aus – daß er alle Schritte getan hätte, die – seinem geringen Ermessen nach – der Fall zu erfordern schien. Ja, er hätte ferner sogar, ohne den Gedanken an eine Wiedererstattung, Summen, über deren Höhe er sich nicht verbreiten wollte, für Desinfektionsmittel verausgabt. Dies hätte er getan, weil er aus bitterer, aus höchst bitterer Erfahrung wußte, daß die Leitung des Instituts nachlässig, langsam und kraftlos wäre. Er möchte sogar hinzufügen, beinahe so schwach wie die Leitung gewisser Häuser, die sich jetzt ein Urteil über seine Maßnahmen erlauben zu können glaubten. Mit einem kurzen Ueberblick über seine Schulkarriere und einer Aufzählung seiner Fähigkeiten samt seiner Grade zog er sich zurück und schlug die Tür hinter sich zu.

»Hoho!« sagte der Kaplan. »Unser Leben macht einen klein – setzt einen herab, meine Brüder. Gott helfe allen Schulmeistern! Sie haben’s nötig!«

»Ich liebe die Knaben nicht, gestehe ich« – Prout stieß wild mit der Gabel in das Tischtuch – »und ich behaupte auch nicht, ein strenger Mensch zu sein, das wissen Sie. Aber ich gestehe, ich kann nicht den geringsten Grund sehen, weshalb ich gegen Latte und die andern einschreiten sollte, weil King zufällig belästigt wird von – von –«

»Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein«, sagte der kleine Hartopp. »Gewiß nicht, Prout. Kein einziger klagt Sie an, ein Haus gegen das andere aufzuhetzen durch eine Nachlässigkeit.«

»Ein entwürdigendes Leben – ein entwürdigendes Leben.« Der Kaplan stand auf. »Ich gehe französische Exerzitien korrigieren. Zum Mittagessen wird King schon ein paar unglückliche Kinder von dreizehn Jahren zum Gegenstand seines Witzes gemacht haben. Er wird uns jedes Wort von seinen brillanten Aeußerungen wiederholen, und alles wird gut sein.«

»Unsinn,« entgegnete der kleine Hartoop, »wenn Sie es sich mal ’ne Minute überlegen wollten, Prout, würden Sie sehen, daß der »zeitige Strom stinkender Einbildungen«, den King beklagt, ganz und gar auf King selbst zurückzuführen ist. Er »nährt den Fittich, den der Stahl zum Aufschwung trieb«. Natürlich gibt er es nicht zu. Kommen Sie auf ’ne Minute ins Rauchzimmer. Es ist nicht fair, Knaben zu belauschen, aber sie dürften die Sache jetzt gerade von Kings Haus vorhaben. Heimlichkeiten gefallen kleinen Geistern.«

Die schmutzige Höhle neben dem Eßzimmer wurde nur zur Aufbewahrung der Talare benutzt. Ihre Fenster waren aus Milchglas; man konnte nicht hinaussehen, aber man konnte fast jedes Wort hören, das draußen auf dem Kies gesprochen wurde. Ein leichter und vorsichtiger Fußtritt kam von Nummer fünf her heran.

»Rattray,« ertönte eine gedämpfte Stimme – Rattrays Zimmer lag nach dem Weg hinaus – »weißt du, ob Mister King irgendwo in der Nähe ist? Ich habe eine – –« M’Turk ließ seinen Satz diskret unbeendet.

»Nein, er ist ausgegangen«, sagte Rattray vorsichtigerweise.

»Ah, der gelehrte Lipsius lüftet sich, nicht wahr? Seine Königliche Hoheit ist ausgegangen, um sich zu räuchern.« M’Turk kletterte bis zum Gitter empor, wo er wie eine niemals müde Krähe Fuß faßte.

»Und in dem ganzen Institut war kein solch Gestank wie der Gestank von Kings Hause, denn es stank gar sehr, und keiner wußte, was man davon denken sollte. Nur King. Und er wusch die Füchse privatim et seriatim. In den Fischteichen von Heshbon wusch er sie, seine Lenden mit einem Schurz umgürtet.«

»Halt’s Maul, du verrückter Irländer.« Man hörte, wie ein Golfball den Kies auseinanderstäubte.

»Hat gar keinen Zweck, wütend zu werden, Rattray. Wir sind gekommen, um mit dir zu spaßen. Los, Käfer! Sie sind alle zu Hause. Sie sind jetzt alle zu Hause. Du kannst sie jetzt vornehmen.«

»Wo ist der Pomposo Stinkadore? Es ist nicht geraten für einen unschuldigen, hochherzigen Knaben, in diesen Tagen hier bei diesem Hause gesehen zu werden. Ausgezogen ist er? Schad’t nichts. Ich will mein Bestes tun, Rattray. Ich bin jetzt in loco parentis

(»Das geht auf Sie, Prout«, flüsterte Macrea, denn das war Mister Prouts Lieblingsphrase.)

»Ich habe euch ein paar Worte mitzuteilen, wir wollen ein wenig miteinander reden, meine jungen Freunde.«

(Hier sprudelte der lauschende Prout hervor: »Käfer hat sich da eben voll Pathos einen beliebten Satz Kings ausgesucht.«)

»Ich wiederhole, Master Rattray, wir wollen miteinander reden, und der Gegenstand unserer Rede soll nicht Gestank sein, denn das ist ein ekelhaftes, obszönes Wort. Wir werden mit deiner freundlichen Erlaubnis, Master Rattray – die wir erhalten, hoffe ich – diese schreckliche Zunahme latenter Demoralisation untersuchen. Was mir am meisten auffällt, ist nicht so sehr die himmelschreiende Ungeniertheit, mit der ihr unter eurer Bude von Fäulnis noch groß tut (man muß sich zu diesem Diskurs Golfbälle als Interpunktionszeichen denken, aber der alte Rattray traf von jeher schlecht), als die zynische Immoralität, mit der ihr in eurem abschreckenden Aroma umherjubelt. Es sei mir fern, mich in die Angelegenheiten eines andern Hauses zu mischen – –«

(»Guter Gott!« sagte Prout, »das ist ja King!«

»Satz für Satz, Buchstabe für Buchstabe. Hören Sie«, sagte der kleine Hartopp.)

»Aber zu sagen, daß ihr stinkt, wie gewisse Burschen geringeren Schlages das behaupten, heißt nichts sagen, weniger als nichts. In der Abwesenheit eures geliebten Hausmeisters, für den niemand mehr Achtung hegen kann als ich, will ich, wenn ihr gestattet, die Masse, die unvergleichliche Ueberfülle, den erschreckenden Gestank der Gestänke, Sir, mit denen ihr es verstanden habt, euer Haus heimzusuchen – Oh, verflucht! Ich hab‘ den Rest vergessen, aber es war höchst wundervoll. Seid ihr uns nicht dankbar, daß wir uns in dieser Weise um euch bemühen, Rattray? ’ne Masse von Jungens wird sich nie die Mühe genommen haben, aber wir sind dankbar, Rattray.«

»Ja, wir sind dankbar, schrecklich dankbar«, grunzte M’Turk. »Wir vergessen die Seife nicht. Wir sind höflich. Warum bist du nicht höflich, Ratte?«

»Hallo!« Latte galoppierte heran, die Mütze über einem Auge. »Ermahnt die Stänker, he? Ich fürchte, sie sind zu weit gegangen, um zu bereuen. Rattray, White, Perowne, Malpas! Keine Antwort. Das ist betrübend. Das ist wahrhaftig betrübend. Bringt euren Toten heraus, ihr rotzigen Aussätzigen!«

»Ihr haltet euch für witzig, nicht wahr?« fragte Rattray, durch diese letzte Bemerkung aus seiner Würde gebracht. »Es ist bloß ’ne Ratte oder so was unterm Fußboden, wir werden’s morgen vorkriegen.«

»Versucht nicht, es auf ein armes, stummes Tier zu schieben, das noch dazu tot ist. Ich hasse Ausflüchte. Bei meiner Seele, Rattray!«

»Halt! Hartöppchen sagte in seinem ganzen Leben niemals: »Bei meiner Seele«, meinte Käfer kritisch.

(»Ah!« sagte Prout zu dem kleinen Hartopp.)

»Auf mein Wort, Sir, ich erwartete Besseres von dir, Rattray. Warum kannst du dich nicht wie ein Mann zu deinen Missetaten bekennen? Habe ich jemals Mangel an Vertrauen zu dir gezeigt?«

(»Es ist nicht Bosheit«, murmelte der kleine Hartopp, als ob er eine Frage beantwortete, die niemand getan hatte: »Es ist nur knabenhaft, bloß knabenhaft.«)

»Und dies war das Haus,« Latte ging vom leichten, scherzenden Tonfall zum scherzenden Ernst über, »das war die offene Senkgrube, die uns »Stinker« zu schimpfen wagte. Und jetzt – und jetzt versucht dasselbe Haus, sich hinter einer toten Ratte zu verstecken. Du langweilst mich, Rattray. Du machst mir Ekel. Du reizest mich unaussprechlich. Dank dem Himmel, daß ich ein Mann von Gleichmut bin – –«

(»Das geht an Ihre Adresse, Macrea«, sagte Prout.

»Ich fürchte, ich fürchte.«)

»Sonst würde ich mich kaum zurückhalten können vor deiner spöttischen Visage.«

» Cave!« erklang es gedämpft; Käfer hatte King erspäht, der den Korridor hinuntersegelte.

»Und was macht ihr hier, meine kleinen Freunde?« begann der Hausmeister. »Ich hatte eine flüchtige Idee – verbessert mich, wenn ich unrecht habe – daß, falls ich euch vor meinem Hause finden würde, ich euch mit höchst betrübenden Strafarbeiten und Zwangsarbeiten bedenken müßte!«

»Wir wollen gerade spazieren gehen, Sir«, sagte Käfer.

»Und ihr machtet Halt, um mit Rattray en route zu sprechen?«

»Ja, Sir. Wir haben Golfbälle geworfen«, erklärte Rattray, der aus dem Zimmer herauskam.

(»Die alte Ratte ist ein besserer Diplomat als ich gedacht hätte. Soweit ist er streng bei der Wahrheit geblieben«, sagte der kleine Hartopp. »Beachten Sie die ethische Seite dabei, Prout.«)

»Ah, ihr habt mit ihnen Sport getrieben, nicht wahr? Ich muß sagen, ich beneide euch nicht um die Wahl eurer Partner. Ich glaube, sie sind bei denselben boshaften Ausfällen gewesen, mit denen sie kürzlich so ekelerregend freigebig gewesen sind. Ich möchte euch ernstlich raten, in Zukunft höchst vorsichtige Schritte zu nehmen. Hebt die Golfbälle da auf.« Er ging weiter.

*

Tags darauf wurde Richards, der Zimmermann in der Marine gewesen war und allerhand kleine Arbeiten anvertraut erhielt, beordert, eine Diele im Schlafzimmer aufzuheben, da Mister King der Ansicht wäre, daß dort irgend etwas krepiert sein müßte.

»Wir brauchen unsere ganze Arbeit nicht eines derartigen belanglosen Zwischenfalls wegen zu vernachlässigen, wenn ich auch weiß, daß Kleinigkeiten kleinen Geistern gefallen. Ja, ich habe veranlaßt, daß die Dielen nach dem Frühstück unter Richards‘ Aufsicht gehoben werden. Ich zweifle nicht, daß es für einen gewissen Typus sogenannten Intellekts ungeheuer interessant sein wird; aber jeder Knabe aus meinem Hause oder aus einem andern, der sich auf der Treppe zum Schlafzimmer sehen läßt, hat eo ipso seine dreihundert Zeilen weg.«

Die Jungen versammelten sich nicht auf der Treppe, aber die meisten warteten vor Kings Hause. Richards war verpflichtet worden, die Neuigkeit vom Mansardenfenster herunterzuschreien und, wenn möglich, den Körper vorzuweisen.

»’s ist ’ne tote Katze, ’ne tote Katze!« Richards‘ Antlitz schaute purpurrot aus dem Fenster. Er war in dem Totenzimmer gewesen und hatte eine Zeitlang knien müssen.

»Zum Teufel auch mit der Katze,« schrie M’Turk, »’s ist ein toter Sextaner, der vom letzten Semester übrig gelassen ist. Drei Hurras für King und den toten Fuchs!«

Sie schrien laut Hurra!

»Zeigen Sie sie, zeigen Sie sie! Nur einen Blick darauf!« schrien die jüngeren. »Geben Sie sie den Wanzenjägern. (Das war der Naturwissenschaftliche Verein.) Die Katze hat sich den König angesehen und ist dran gestorben. Husch! Jeh! Joh! Miau! Ftz!« waren einige von den Lauten, die folgten.

Richards erschien wiederum.

»Sie ist ja« – er stockte plötzlich – »schon ’ne ganze Zeit tot gewesen!«

»Na, kommt, wir wollen spazieren gehen«, sagte Latte in einer wohl abgepaßten Pause. »Es ist alles höchst ekelhaft, und ich möcht‘ hoffen, daß das aussätzige Haus das nicht wieder tun wird.«

»Eine arme, unschuldige Katze totschlagen, jedesmal, wenn ihr euch nicht waschen wollt. Es ist doch schrecklich schwer, zwischen euch zu unterscheiden. Ich muß sagen, ich zieh‘ die Katze vor. Sie stinkt nicht ganz so sehr, was hast du vor, Käfer?«

» Je vais lachen. Je vais lachen tout le gesegneten Nachmittag. Jamais je n’ai gelacht comme je lacherai aujourd’hui. Wir wollen uns irgendwo verkriechen.«

Und das schien ihnen das beste.

*

Unten im Keller, wo die Gasflamme flackerte und die Stiefel auf Gestellen standen, hielt Richards inmitten seiner Wichsbürsten Oke vom Eßzimmer, Gumbly vom Speisesaal und der schönen Lena von der Waschküche einen Vortrag.

»Ja – sie war in ’nem schrecklichen Zustand und Verfassung. Sie macht‘ mich beinah‘ krank, sag‘ ich euch. Aber ich zog sie ‚raus, und ich macht‘ alles sauber, wenn sie auch stank wie der Kielraum im Schiff.«

»Sie hat gemaust, denk‘ ich, armes Ding«, sagte Lena.

»Dann hat sie anders gemaust wie jede erschaffne Katze von der Welt, Lena. Ich hob ’s oberste Brett auf, und sie lag auf ihrem Rücken, und ich dreht‘ sie um mit’m Besenstiel, und ihr Rücken war voll von dem Kalk zwischen den Dielen. Ja, ich sag‘ euch! Am untern Kopf, da lag, könnt‘ man sagen, ’n kleines Kopfkissen aus Kalk – das war ‚vor ihr zusammengefegt, weil man sie auf ihrem Rücken geschoben hat. Eine Katze ging niemals auf ihrem Rücken mausen, Lena. Irgendwer hat sie ganz ‚runtergeschoben, so weit, als er sie schieben konnt‘, Katzen machen sich nicht Kissen und sterben drauf. Sie wurd‘ langgeschoben, als sie gerad‘ kalt geworden war.«

»Oh, du bist zu schlau fürs Leben, Dicker. Du mußt heiraten, daß dir ’n bißchen Vernunft beigebracht wird«, sagte Lena, Gumblys Braut.

»Hab‘ ’n bißchen gelernt, noch eh‘ manche Mädchen geboren waren. Hab‘ in der Marine der Königin gedient, und da lernt man’s, die Augen zu gebrauchen. Geh und denk‘ an deine eigene Arbeit, Lena.«

»Meinst du das wirklich, was du uns erzählst?« fragte Oke.

»Frag‘ mich keine Fragen, ich will dir keine Lügen sagen, ’n Kugelloch, g’radedurch von einem End‘ zum andern, un‘ zwei Herzrippen gebrochen wie ’n toter Ast. Ich hab’s gesehen, als ich sie umdrehte. Sie sind schlau, o sie sind schlau. Aber sie sind nich‘ zu schlau für den alten Richards, war mir schon ganz auf der Zungenspitz‘, es zu sagen, aber – er hat gesagt, wir waschen uns nie, ja. Is‘ ihm verflucht recht geschehen, sag‘ ich.«

Richards spuckte auf einen frischen Stiefel und fuhr in seiner Arbeit fort, aus vollem Halse lachend.

  1. Englisches Sprichwort. Hier ein unübersetzbares Wortspiel auf house-master King bezüglich.