Aladdins Wunderlampe

II.

Im Musikzimmer im obersten Stock von »Nummer fünf« hatte sich die Aladdin-Truppe zur Probe versammelt. Dickson Quartus, gewöhnlich Dick Vier genannt, war Aladdin, Bühneninspizient, Ballettmeister, das halbe Orchester und größtenteils auch der Librettist, denn das »Buch« war ungeschrieben und mit lokalen Anspielungen gespickt worden. Die Pantomime sollte nächste Woche gegeben werden, unten in dem Parterrezimmer, das Aladdin, Abanazar und der Kaiser von China inne hatten. Der Sklave der Lampe mit der Prinzessin Badrulbudar und der Vitum Twankey bewohnten das Zimmer am anderen Ende des halben Treppenflurs, so daß die Truppe sich leicht versammeln konnte. Der Fußboden erzitterte unter dem Stampfen und Trampeln des Balletts, während Aladdin, in rosa baumwollenen Trikots, einem blauen, mit Flittergold besetzten Jackett und einem Federhut, abwechselnd auf dem Klavier und seinem Banjo herumklimperte. Er war die Seele und der Leiter des Spiels, wie es sich für einen älteren Schüler gehörte, der bereits sein erstes Examen hinter sich hatte und im nächsten Frühjahr nach Landhurst zu kommen hoffte.

Aladdin kam schließlich zu seinem Eigentum, Abanazar lag vergiftet am Fußboden, die Vitum Twankey tanzte ihren Tanz und die Gesellschaft entschied, daß »am Abend alles prächtig gehen würde«.

»Und wie steht’s mit dem Schlußgesang?« fragte der Kaiser, ein lang aufgeschossener blonder Bursche mit dem geisterhaften Anflug eines Schnurrbärtchens, an dem er mannhaft zog. »Wir brauchen irgendein altes Lied, das ordentlich aufkratzt.«

»John Peel?« »Trink‘, Püppchen, trink‘?« schlug Abanazar vor und strich sich die zerknüllten lila Pyjamos wieder glatt. »Puß«-Abanazar sah nie mehr als halb wach aus, aber er hatte ein sanftes, bedachtsames Lächeln, das gut zu der Rolle des bösen Onkels paßte.

»Blech,« sagte Aladdin, »könnt’st ebensogut sagen: »Großvaters Uhr«. Was war das, was du gestern abend in der Arbeitsstube brummtest, Latte?«

Latte, der Sklave der Lampe, in schwarzen Trikots und Wams, eine schwarzseidene Halbmaske vor dem Gesicht, pfiff gemächlich, während er oben auf dem Piano liegen blieb. Es war ein leicht zu behaltender Gassenhauer.

Dick Vier hob kritisch den Kopf und schielte an seiner gewaltigen roten Nase vorbei.

»Noch mal, und ich kann’s«, sagte er und fing an zu klimpern. »Sing‘ die Worte.«

»Hurra, Patsy, sorg‘ fürs Baby! Hurra, auf den Bengel acht!
Wickel‘ ihn in ’nen Ueberrock; er wird wild, wenn er erwacht.
Hurra, Patsy, paß aufs Baby! Ja, jetzt gerade nimmst du ’s Kind,
Er wird strampeln, beißen, schreien die ganze Nacht.
Hurra, Patsy, auf den Bengel acht!«

»Famos, ganz famos!« erklärte Dick Vier. »Wir werden nur kein Klavier haben. Wir müssen es mit dem Banjo fertig bringen – – zu gleicher Zeit spielen und tanzen. Versuch’s, Tertius!«

Der Kaiser legte seine grasgrünen Staatsärmel beiseite und begleitete Dick Vier auf einem schwer vernickelten Banjo. »Ja, ich bin doch die ganze Zeit über tot. Und lieg‘ grad‘ noch mitten auf der Bühne«, meinte Abanazar.

»Oh, das muß Käfer besorgen, los, fang‘ an, Käfer. Du mußt! Laß uns nicht den ganzen Abend warten. Du mußt Pussy irgendwie aus dem Licht schaffen und uns dann zum Schluß alle zum Tanzen bringen.«

»Schön, spielt ihr beide ’s noch mal«, sagte Käfer, der die Vitum Twankey darstellte, in einem grauen Rock und einer Perücke von kastanienbraunen Hängelöckchen, die schief über einer mit alten Schuhsenkeln zusammengebundenen Brille saß. Er schlug mit einem Bein den Takt zu dem Refrain, und die Banjos wurden lauter.

»Bum! Ah! Eh! – Aladdin hat nun sein Weib errungen«, sang er, und Dick Vier wiederholte es.

»Euer Kaiser ist versöhnt!« Tertius stellte sich in Positur, als er seine Zeile hersagte.

»Jetzt spring‘ auf, Pussy, und sag‘: »Ich denk‘, es ist besser, wenn ich wieder auflebe.« Dann fassen wir uns alle an den Händen und kommen nach vorn: »Wir hoffen, daß es Ihnen gut gefallen hat. Verstandez-vous

» Nous avons verstanden. Sehr gut. Was wird zum Schlußballett gesungen? Es sind vier Hopser und dann Kehrt«, sagte Dick Vier.

»Oh!« »Der Vorhang fällt, die Glocke tönt,
Das Märchen ist nun aus.
Die besten Wünsche nehmt von uns,
Eh‘ ihr nun geht nach Haus!«

»Famos! Famos! Jetzt tanzt die Vitum mit der Prinzessin. Los, ‚ran, Turkey.«

M’Turk, in einem violetten Seidenrock und einem koketten blauen Turban, schlotterte langsam vorwärts, wie jemand, der sich durch und durch vor sich selbst schämt. Der Sklave der Lampe kletterte vom Klavier herunter und versetzte ihm ein paar leidenschaftslose Fußtritte. »Spiel‘ auf, Turkey,« sagte er, »dies ist recht.« Da aber klopfte der Finger der Autorität an die Tür. Zufällig war es King. In Talar und Mörtelbrett, der sich an einem Samstagabendspaziergang vor dem Essen erfreute.

»Geschlossene Türen! Geschlossene Türen!« stieß er mürrisch hervor. »Was soll das heißen, und was hat das, wenn ich fragen darf, für ’nen Zweck – dieser gemischte Aufzug?«

»Pantomime, Sir. Wir haben Erlaubnis vom Direktor«, antwortete Abanazar, als der einzige, der von der ersten Klasse dabei war. Dick Vier stand fest da, in dem Selbstvertrauen, das gutsitzenden Trikots entspringt, aber Käfer bemühte sich, sich hinter dem Klavier zu verbergen. Ein grauer Prinzeßrock, der von der Mutter eines Extraneers besorgt war, und eine gesprenkelte baumwollene Taille, die unsystematisch mit Papier von alten Strafarbeiten ausgefüllt war, verleihen einem etwas Lächerliches. Aber Käfer hatte auch in anderer Hinsicht ein schlechtes Gewissen.

»Wie gewöhnlich,« äußerte King mit Grinsen, »unnütze Allotria, gerade wenn eure Karriere, wie sie nun auch sein mag, in der Schwebe ist. Ich sehe. Ach, ich sehe! Die alte Verbrecherbande – – verbündete Mächte der Unordnung: Corkran« – der Sklave der Lampe lächelte höflich – »M’Turk« – der Irländer grinste – »und natürlich der stumme Käfer, unser Freund Gigadibs.«

Abanazar, der Kaiser und Aladdin hatten mehr oder weniger etwas vom Charakter ihrer Rollen, und King überging diese drei. »Komm nur hinter dem Instrument da hervor, mein Tintenbajazzo. Du hast doch sicher, glaub‘ ich, die Knüttelreime für diese Unterhaltung geschmiedet. Hältst dich wohl für ’n Dichter?«

»Er hat eins davon gefunden«, dachte Käfer, als er die Röte auf Kings Backenknochen wahrnahm.

»Ich habe eben das Vergnügen gehabt, einen Erguß von dir zu lesen, der an meine Adresse gerichtet war – einen Erguß, glaube ich, der gereimt sein sollte. So also denkt man über mich, Mr. Gigadibs, in der Tat? Ich bin ja sicher, du brauchst es nicht erst zu erklären, daß er augenscheinlich nicht bestimmt war, mir zu Gesicht zu kommen. Ich habe ihn mit Lachen gelesen – ja, mit Lachen. Diese Papiergeschosse von Tintenjungen – denn ein Junge sind wir doch noch, Mr. Gigadibs – stören meinen Gleichmut nicht.«

»Möcht‘ gern wissen, welches es wär’«, dachte Käfer. Er hatte viele Pasquille vor einem beifallsfreudigen Publikum vom Stapel gelassen, seitdem er die Entdeckung gemacht hatte, daß es möglich war, Satiren in Reime zu bringen.

Um seine unerschütterliche Seelenruhe zu beweisen, fuhr King gemächlich fort, Käfer herunterzureißen. Von seinen aufgegangenen Schuhbändern an bis zu seiner ausgebesserten Brille – ein Dichter auf einer großen Schule führt ein beschwerliches Leben – zog er ihn zum Spott seiner Genossen auf – mit dem gewöhnlichen Resultat. Seine Brennessel-Sticheleien – King hatte eine unangenehme Zunge – brachten ihn schließlich wieder zu guter Laune. Er entwarf ein düsteres Gemälde von Käfers Ende, der als gewöhnlicher Pamphletist in einer Mansarde sterben würde, streute noch ein paar Komplimente über M’Turk und Corkran aus, erinnerte Käfer daran, daß er nach oben gerufen werden würde, um seine Strafe entgegenzunehmen, und begab sich ins Eßzimmer, wo er von neuem über sein Opfer triumphierte.

»Und das Schlimmste ist,« erklärte er mit lauter Stimme bei seiner Suppe, »daß ich solche Perlen von Sarkasmen auf ihre dicken Schädel verschwende. Sie gehen sicher meilenweit über ihren Horizont.«

»Na,« begann der Schulgeistliche langsam, »ich weiß nicht, wie Corkran Ihren Stil schätzt, aber der junge M’Turk liest Ruskin zu seiner Unterhaltung.«

»Unsinn, er tut’s, um sich zu zeigen. Ich traue dem verschlossenen Kelten nicht.«

»So was macht er nicht – ich kam gestern abend ganz unoffiziell in ihr Zimmer, und da leimt M’Turk gerade den Rücken von vier Nummern von »Fors Clavigera« zusammen.«

»Ich weiß nichts über ihre privaten Beschäftigungen,« sagte der Mathematiklehrer hitzig, »aber ich habe durch schlimme Erfahrungen gelernt, daß man Zimmer »Nummer fünf« am besten ungeschoren läßt. Es sind ganz und gar gottlose, junge Teufel.« Er wurde rot, als die andern lachten. – –

Im Musikzimmer aber herrschten Wut und Geschimpfe. Nur Latte, der Sklave der Lampe, lag unbeweglich auf dem Piano.

»Das kleine Schwein Manders II muß ihm deinen Quatsch gezeigt haben. Er schustert sich immer bei King an. Geh und schlag‘ ihn tot«, brachte er langsam heraus. »Welches war es denn, Käfer?«

»Keine Ahnung«, antwortete Käfer und arbeitete sich aus dem Rock heraus. »Eins war darunter, wie er nach Beliebtheit bei den kleinen Jungen jagt, und das andere war, wie er in der Hölle ist und dem Teufel erzählt, er wäre von Balliol. Ich möchte schwören, daß beide ganz richtig gereimt waren. Wahrhaftig! Vielleicht hat Manders II ihm beide gezeigt. Ich will ihm die Zäsuren verbessern.«

Er verschwand zwei Treppen tiefer, störte einen kleinen, rotbackigen Jungen in einem Zimmer auf, das neben Kings Arbeitszimmer lag, das sich wieder unmittelbar unter dem seinen befand, und jagte ihn den Korridor hinauf in ein Zimmer, das den Versammlungen der Unterquarta reserviert war. Dann kam er zurück, höchst in Unordnung, um M’Turk, Latte und die übrigen von der Truppe in ihrem Arbeitszimmer zu finden, wie sie sich an einem kolossalen Schmause delektierten – Kaffee, Kakao, Fladen, frisches Brot, noch heiß und dampfend, Anchovis, drei verschiedene Kompotts und mindestens ebensoviel Pfund Devonshire-Sahne.

»Donnerwetter«, sagte er und stürzte sich auf das Bankett. »Wer hat dafür berappt, Latte?«

»Du«, antwortete Latte ernsthaft.

»Der Deiwel hol‘ euch! Ihr habt doch nicht etwa meine Sonntagsbuxen versetzt?«

»Reiß dir man kein Bein aus! ’s ist bloß deine Uhr.«

»Uhr? Hab‘ sie verloren – schon vor Wochen, draußen auf den Hügeln, als wir den alten Hammel schießen wollten – den Tag, wo unsere Pistole platzte.«

»Sie fiel dir aus der Tasche – du bist so verflucht unvorsichtig, Käfer – und M’Turk und ich hoben sie für dich auf. Ich hab‘ sie ’ne Woche lang getragen, und du hast’s nie gemerkt, Hab‘ sie heut‘ nach dem Essen nach Bideforo gebracht, dreizehn Schilling und sieben Pence bekommen. Hier ist der Schein.«

»Na, das ist doch ein bißchen frech«, meinte Abanazar hinter einem Teller voll Sahne und Kompott, während Käfer, beruhigt über die Sicherheit seiner Sonntagshosen, nicht einmal Ueberraschung, viel weniger noch Verdruß zeigte. Dafür war es M’Turk, der ärgerlich wurde und sagte: »Du hast ihm ’nen Schein gegeben, Latte? Du hast sie versetzt? Du gräßliches Biest! Vor’gen Monat habt ihr meine verkauft, du und Käfer. Hab‘ nie ’nen Schnippsel von ’nem Schein zu sehen gekriegt.«

»Ach, das ist, weil du deine Kommode verschlossen hast und wir den halben Nachmittag vertrödelten, um sie aufzukriegen. Wir hätten sie schon versetzt, wenn du dich nur wie ’n Christ aufge…führt hättest, Turkey.«

»Heilige Tante!« sagte Abanazar, »ihr Burschen seid Sozialdemokraten. Aber trotzdem – ein Dankvotum für Käfer!«

»Das ist verflucht unpassend,« erklärte Latte, »wenn ich all die Mühe gehabt hab‘, sie zu versetzen. Käfer hat gar nicht gewußt, daß, er ’ne Uhr hatte. Ach, wißt ihr, Karnickelei hat mich heut‘ nachmittag nach Bideford mitfahren lassen.«

Karnickelei war der Ortsfuhrmann – ein Ueberbleibsel aus der devonischen Formation. Latte hatte diesen wenig lieblichen Namen erfunden. »Er war ganz hübsch betrunken, sonst hätt‘ er’s auch nicht getan. Karnickelei ist ’n bißchen mißtrauisch gegen mich – manchmal. Aber ich schwor, es wäre pax zwischen uns, und gab ihm ’nen Schilling. Bei zwei Kneipen hielt er an, und heut‘ abend wird er mächtig besoffen sein. Oh, fang‘ nicht an zu lesen, Käfer, jetzt fängt der Kriegsrat an. Was, zum Deiwel, ist mit deinem Kragen los?«

»Hab‘ Manders II in das Schrankzimmer der Unterquarta ‚reingejagt, alle seine verdammten kleinen Freunde kamen mir auf den Kopf«, sagte Käfer hinter einem Glas mit Sardinen und einem Buch hervor.

»Du Esel! Jeder Schafskopf hätte dir sagen können, wo Manders sich verkriechen würde«, sagte M’Turk.

»Hab‘ nicht daran gedacht«, erwiderte Käfer mild und fischte mit einem Löffel Sardinen heraus. »Natürlich nicht, denkst ja nie.« M’Turk zog Käfers Kragen mit einem heftigen Ruck zurecht. »Schütt‘ ja kein Oel auf meine »Fors« oder ich würge dich.«

»Hör‘ auf, du – du irischer Besen! Es ist ja nicht deine verfluchte »Fors«, es ist eine von meinen.«

Das Buch war ein fettiger, braun eingebundener Band aus dem Ende der sechziger Jahre. King hatte ihn Käfer einmal an den Kopf geworfen, damit Käfer nachsehen könnte, woher der Name Gigadibs käme. Käfer hatte das Buch ganz ruhig annektiert und verschiedene Dinge darin gefunden. Die zum vierten Teil verstandenen Verse lebten und aßen mit ihm, wie die Schmutzflecken auf den beiden Zeiten bewiesen. Er zog sich ganz von dieser Welt zurück und schweifte weit umher mit wunderlichen Männern und Frauen, bis M’Turk seinen Kopf mit dem Sardinenlöffel bearbeitete und er zu brummen begann.

»Käfer, du bist angegriffen und beleidigt und angeschnauzt worden von King. Fühlst du das nicht?«

»Laß mich in Ruh‘, wenn ich’s bin, kann ich ja noch mehr Gedichte über ihn schreiben, denk‘ ich.«

»Verrückt, ganz verrückt«, sagte Latte zu den Besuchern, wie jemand, der fremde Tiere vorführt. »Käfer liest einen Esel, der Browning heißt, und M’Turk liest einen Esel, der Ruskin heißt, und – –«

»Ruskin ist kein Esel«, unterbrach ihn M’Turk. »Er ist beinah‘ so gut wie der Opiumesser. Er sagt: wir sind Kinder edler Rassen, erzogen durch Kunst, die uns umgibt. – Das geht auf mich und die Art und Weise, wie ich das Arbeitszimmer dekorierte, als ihr bei dem Dachse Bücherbretter und Weihnachtskarten anmachen wolltet. Kind einer edlen Rasse, erzogen durch Kunst, die dich umgibt, hör‘ auf mit Lesen, oder ich will dir ’ne Sardine den Rücken runterschieben.«

»Es sind zwei gegen einen«, sagte Latte warnend, und Käfer schloß das Buch und gehorchte dem Gesetz, nach dem er und seine Kameraden sechs reichbewegte Jahre gelebt hatten.

Die Besucher paßten voll Vergnügen auf. Zimmer »Nummer fünf« stand in dem Ruf, mehr ausgesuchte Verrücktheiten zustande zu bringen als die ganze übrige Schule zusammen, und soweit seine Lebensregeln Freundschaft mit anderen zuließen, war es höflich und offenherzig zu seinen Nachbarn auf demselben Korridor.

»Was für’n Dreck wollt ihr denn?« fragte Käfer.

»King, King«, entgegnete M’Turk und deutete mit dem Kopf gegen die Wand, wo eine kleine, hölzerne, afrikanische Kriegstrommel hing, die M’Turk von einem seefahrenden Onkel als Geschenk erhalten hatte.

»Dann werden wir wieder aus dem Arbeitszimmer ‚rausgeschmissen werden«, sagte Käfer, der seine Fleischtöpfe liebte. »Mason hat uns auch ‚rausgeschmissen, weil wir darauf getrommelt haben.« Mason war der Mathematiker, der im Speisezimmer Zeugnis abgelegt hatte.

»Trommeln? – O Gott!« sagte Abanazar. »Wir konnten in unserm Arbeitszimmer unser eigenes Wort nicht hören, als ihr das verdammte Ding rührtet. Was habt ihr denn davon, wenn ihr aus eurem Arbeitszimmer ‚rausgesetzt werdet?«

»Wir mußten eine Woche lang im Arbeitssaal sitzen«, sagte Käfer tragisch. »Und es war verflucht kalt.«

»Ja–a, aber Masons Zimmer waren jeden Tag voll von Ratten, solange wir ausquartiert waren. Er brauchte eine Woche, um diesen Schluß zu ziehen«, sagte M’Turk. »Er kann Ratten nicht ausstehen. Im Augenblick, wo er uns wieder zurückkommen ließ, verschwanden die Ratten. Mason ist jetzt ’n bißchen mißtrauisch auf uns, aber er hatte keinen Beweis.«

»Sehr gut, daß er keinen hatte,« meinte Latte, »wenn ich auf den Boden ‚raufging und das verdammte Viehzeug in seinen Schornstein herunterjagte. Aber seht mal – die Frage ist, ob man von unserm Charakter so viel hält, daß wir ’nen Spektakel riskieren können?«

»Meinem schadet’s nichts«, sagte Käfer. »King schwört, ich habe gar keinen.«

»Ich denke nicht an dich«, erwiderte Latte verächtlich. »Du willst nicht in die Armee eintreten, du alte Fledermaus. Ich will nicht geschaßt werden – und der Direktor wird jetzt ziemlich mißtrauisch gegen uns.«

»Blech!« sagte M’Turk, »der Direktor schaßt nicht – nur wegen Roheit oder Stehlen. Aber ich vergaß: – du und Latte seid Diebe – richtige Einbrecher.«

Die Besucher waren starr vor Staunen, aber Latte erklärte die Parabel mit breitem Grinsen.

»Ja, wißt ihr, das kleine Biest Manders II sah Käfer und mich, wie wir im Schlafzimmer M’Turks Kommode aufhämmerten, als wir vorigen Monat seine Uhr nahmen. Natürlich petzte Manders das Mason, und Mason faßte es feierlich als einen Fall von Diebstahl auf, um uns die Ratten anzustreichen.«

»Dadurch bekommen wir Mason aber gerade in die Hände«, fiel M’Turk sanft ein. »Wir waren nett zu ihm, weil er ein neuer Lehrer war und bei den Jungens sich Vertrauen verschaffen wollte. Schade, daß er trotzdem Schlüsse zieht. Latte ging in sein Arbeitszimmer und tat so, als ob er heulte, und erzählte Mason, er wolle ein neues Leben anfangen, wenn Mason ihn diesmal laufen lassen würde, aber Mason wollte nicht. Er sagte, es wäre seine Pflicht, ihn beim Direktor anzuzeigen.«

»Rachsüchtiges Schwein!« erklärte Käfer. »Alles wegen der Ratten! Dann heulte ich auch, und Latte gestand, daß er schon sechs Jahre lang ein regelrechter Dieb gewesen wäre, schon seit er auf die Schule kam, und daß ich es ihm beigebracht hätte, à la Fagin. Mason wurde weiß vor Freude. Er dachte, jetzt hätte er uns im Sack.«

»Großartig! Oh, famos!« sagte Dick Vier, »wir haben niemals was davon gehört.«

»Natürlich nicht! Mason hat’s hübsch für sich behalten. Er schrieb unsere Geständnisse auf Strafarbeitspapier. Nichts war dabei, was er nicht geglaubt hätte«, sagte Latte.

»Und die ganze Geschichte übergab er dem Direktor mit ’nem improvisierten Gebet. Es waren beinah‘ vierzig Seiten«, erzählte Käfer. »Ich half ein bißchen.«

»Und dann, ihr verdrehten Idioten?« fragte Abanazar.

»Oh, wir wurden gerufen, und Latte verlangte, daß die Aussagen ganz vorgelesen werden sollten, und der Direktor gab ihm einen Stoß, daß er in ’nen Papierkorb ‚reinflog. Dann gab er jedem von uns acht Hiebe – die ordentlich zogen – weil – weil – wir uns unerhörte Frechheiten einem neuen Lehrer gegenüber herausgenommen hätten. Ich sah, wie er die Schultern schüttelte, als wir herausgingen, wißt ihr,« sagte Käfer gedankenvoll, »daß Mason uns jetzt in der zweiten Stunde nicht mehr ansehen kann, ohne rot zu werden? Manchmal glotzen wir drei ihn so lange an, bis er beinah‘ auseinanderfließt. Er ist ’ne schrecklich sensitive Kreatur.«

»Er liest »Eric« oder »Nach und Nach«, sagte M’Turk, »deshalb gaben wir ihm »St. Winifreds oder die Schulwelt«. In St. Winifreds verbrachten sie ihre ganze freie Zeit mit Stehlen, wenn sie nicht beteten oder sich in Kneipen besoffen. Na, das war erst vor ’ner Woche, und der Direktor ist ’n bißchen mißtrauisch gegen uns. Er nannte es ausgedachte Teufelei. Latte hat alles erfunden.«

»’s lohnt gar nicht, mit ’nem Lehrer Spektakel zu haben, wenn man ihn nicht blamieren kann«, sagte Latte, höchst bequem auf dem Kaminvorleger ausgestreckt. »Wenn Mason »Nummer fünf« noch nicht kannte – na, jetzt hat er sie kennen gelernt; das ist die ganze Geschichte. Nun, meine teuren, geliebten Hörer« – Latte schlug die Knie untereinander und redete die Gesellschaft an – »haben wir diesen starken, eifrigen Mann King in unsere Hände bekommen. Er ist meilenweit zu weit gegangen, um Streit vom Zaun zu brechen.« (Hier ließ Latte den schwarzseidenen Domino fallen und nahm die Miene eines Richters an.) »Er hat Käfer, M’Turk und mich angegriffen, privatim et seriatim, einen nach dem andern, wie er uns kriegen konnte. Aber jetzt hat er »Nummer fünf« oben im Musikzimmer beleidigt, und in Gegenwart dieser braven Leute.«

»Und außerdem,« bemerkte M’Turk, »ist er ein Philister; er hängt Körbe an. Er trägt eine karierte Krawatte; Ruskin sagt, daß jeder, der eine karierte Krawatte trägt, ohne Zweifel in alle Ewigkeit verdammt ist.«

»Bravo, M’Turk,« schrie Tertius, »ich dachte, er wär‘ bloß ’n Biest.«

»Das ist er auch natürlich, aber er ist noch schlimmer. Er hat einen Porzellankorb mit blauen Bändern und ’ner rosa Katze drauf in seinem Fenster aufgehängt und zieht ’ne Moschuspflanze darin. Und wißt ihr noch, wie ich all die alte Eichenschnitzerei aus der Kirche in Bideford mitnahm, als sie sie restaurierten (Ruskin sagt, daß jeder, der ’ne Kirche restaurieren will, ein gemeiner Kerl ist), und hier anleimte? Na, da kam King und wollte wissen, ob wir’s mit ’ner Laubsäge gemacht hätten!«

Und M’Turks tintiger Daumen deutete zur Erde, vor einer eingebildeten Arena voll blutender Kings. » Placetne, Kind einer edlen Rasse!« schrie er Käfer an.

»Schön,« begann Käfer unschlüssig, »er kommt von Balliol, aber ich will ihm manchmal ’ne Gelegenheit geben. Ihr seht, ich kann ihn immer in Wut bringen durch irgendein neues Poetisches. Er kann mich nicht beim Direktor anzeigen, weil’s ihn lächerlich macht. (Latte hat ganz recht.) Aber ich will ihm nochmal Gelegenheit geben.«

Käfer schlug das Buch vor dem Tisch auf, fuhr mit dem Finger eine Seite herunter und begann aufs Geratewohl:

»Und der mit tiefstem Fußfall dann
In Moskau zu dem Zaren kam,
Und wo im Kreml der Eßtisch weiß
vom Syenit und Marmor glänzt,
Mit fünf der Generäle schritt – –«

»Das taugt nichts, versuch‘ was anderes«, sagte Latte.

»Wart‘ ’n bißchen, ich weiß, was jetzt kommt.« M’Turk las über Käfers Schulter hinweg:

»Die Tabak schnupften allzugleich,
Daß jeder so den Vorwand fänd‘,
Als Tuch zu zieh’n den Seidengurt,
Der weich, weich zwar, aber fester hält
Als Ketten selbst, und keine Flucht
Den starken weißen Nacken läßt.«

»Versteh‘ kein Wort davon«, erklärte Latte.

»Dämlack du! Denk‘ doch nach«, sagte M’Turk. »Diese sechs Kerle erwürgten den Zar, und ’s war nicht zu beweisen. Actum est mit King.«

»Und er hat mir das Buch gegeben«, sagte Käfer.

»Er kommt jetzt gerade vom Essen«, sagte Dick Vier, der durch das Fenster sah. »Manders II ist bei ihm.«

»Jetzt gerad‘ der sicherste Platz für Manders II«, erklärte Käfer.

»Dann könnt ihr Jungens jetzt lieber verduften«, sagte Latte höflich zu den Besuchern. »’s ist nicht anständig, sich in Spektakel auf ’ner fremden Stube zu mischen. Außerdem – wir dürfen auch keine Zeugen haben.«

»Wollt ihr denn schon anfangen?« sagte Aladdin.

»Sofort, wenn nicht früher«, erwiderte Latte und drehte das Gas aus. »Starker, eifriger Mann – King. Schert euch!«

Die Gesellschaft zog sich voll Erwartung in ihr eigenes aufgeräumtes und geräumiges Arbeitszimmer zurück.

»Wenn Latte die Nüstern aufbläst wie ein Pferd,« sagte Aladdin zum Kaiser von China, »ist er auf dem Kriegspfad. Möcht‘ wissen, was King abkriegt.«

»Massig,« meinte der Kaiser, »Nummer fünf« zahlt immer gehörig aus.«

»Weiß nicht, ob ich nicht offiziell Kenntnis davon nehmen müßte«, sagte Abanazar, der sich jetzt eben daran erinnerte, daß er »Aufseher« war.

»Ist nicht deine Sache, Pussy, außerdem, wenn du’s tätest, würden wir sie zu Feinden haben, und dann könnten wir überhaupt nichts mehr vornehmen, sie haben schon losgelegt.«

Die westafrikanische Kriegstrommel war eigentlich nur dazu gemacht, Signale über Buchten und Flußmündungen zu geben. Es war »Nummer fünf« verboten, die Maschine innerhalb der Hörweite von der Schule zum Erwachen zu bringen. Aber jetzt erfüllte ein tiefer, Mark und Bein durchdringender Ton die Korridore, als M’Turk und Käfer voll Verständnis die Oberseite der Trommel rieben. Dann verwandelte er sich in das Blasen von Trompeten. – Wilder, verfolgender Trompeten. Darauf, als M’Turk die eine Seite bearbeitete, die vom Blut ehemaliger Opfer poliert war, ging das Brüllen in abgerissenes, hustendes Heulen über, wie es der Gorilla in seinen heimatlichen Wäldern ausstößt. Dann kam Kings Wutausbruch – drei Treppenstufen auf einmal hinunter, mit dem trockenen Rauschen des langen Rocks. Aladdin und Genossen horchten und quietschten vor Aufregung, als die Tür schmetternd aufgerissen wurde. King stolperte in die Dunkelheit hinein und verfluchte die Tonkünstler bei den Göttern Balliols und friedlicher Ruhe.

»Für eine Woche ‚rausgesetzt«, sagte Aladdin, der die Tür spaltenbreit offenhielt. »Schlüssel soll in fünf Minuten in sein Arbeitszimmer ‚runtergebracht werden. Rowdies – Barbaren – Wilde! Kinder! Er ist ganz nett wütend. Hurra, Patsy, sorg‘ fürs Baby!« sang er mit Flüstertönen, während er sich an den Türdrücker klammerte und einen geräuschlosen Kriegstanz vollführte.

King ging die Treppe wieder hinunter, und Käfer und M’Turk steckten das Gas an, um mit Latte zu beraten. Aber Latte war verschwunden.

»Sieht verdammt schlimm aus«, meinte Käfer und suchte seine Bücher und sein Reißzeug zusammen. »Eine Woche im Arbeitssaal – davon haben wir nichts Besonderes.«

»Ja, aber siehst du denn nicht, daß Latte nicht hier ist, du Eule?« sagte M’Turk. »Bring den Schlüssel ‚runter, mach ’n trauriges Gesicht. King wird dich bloß ’ne halbe Stunde ausschimpfen. Ich geh nach unten in den Arbeitssaal und will schmökern.«

»Wart‘ doch, bis wir sehen«, sagte M’Turk hoffnungsvoll. »Ich weiß nicht mehr als du, was Latte will, aber es ist irgend was. Geh ‚runter und schüre Kings Feuer. Du verstehst das.«

Kaum hatte sich der Schlüssel im Türschloß gedreht, als der Deckel der Kohlenkiste, die gleichzeitig auch Fensterbank war, vorsichtig in die Höhe geschoben wurde. Sie war ein recht enges Versteck gewesen, selbst für den gelenkigen Latte, der den Kopf zwischen die Knie gesteckt hatte, den Bauch unter dem rechten Ohr. Aus einer Tischschublade holte er ein gebrauchtes Katapult, eine Handvoll Rehposten und einen zweiten Stubenschlüssel. Geräuschlos öffnete er dann das Fenster und kniete dabei nieder, die Augen auf den Weg gerichtet, auf die vor dem Abendwind sich beugenden Bäume, die dunklen Linien der Hügel und weiße Kuppe der Brandung, die hoch gegen den Kiesstreifen des Strandes heranbrauste. Tief unten in dem Hohlweg hörte er das Horn des Fuhrmanns heiser tuten. Es lag die Andeutung einer Melodie darin, so etwa, wie wenn der Wind auf einer Ginflasche singen wollte: »Das ist so Brauch in der Armee.«

Latte lächelte mit zusammengekniffenen Lippen und gab in äußerster Schußweite Feuer. Der alte Gaul ruckte in den Deichseln zusammen.

»Na, wo willst du denn hin«, rülpste Karnickelei. Ein zweiter Rehposten durchschlug mit einem unangenehmen »Zipp« den vermoderten Wagenplan.

»Habet«, murmelte Latte. Karnickelei aber fluchte in die stille Nacht hinaus und beteuerte, er sehe den »verfluchten Schulbouske«, der ihn angriff.

*

»So also«, sprach King mit erhobener Stimme zu Käfer, an dem er vor Manders II seinen Witz ausgelassen hatte, wohl wissend, daß es die Gefühle eines Sekundaners verletzt, zum Gelächter eines kleinen Fuchses aufgezogen zu werden. – »So also, Master Käfer, sind wir trotz all unserer Verse, auf die wir so stolz sind, wenn wir uns herausnehmen, in direktem Konflikt mit einer Autoritätsperson zu kommen, selbst mit einer niedrigen, wie zum Beispiel ich, so also sind wir aus unserm Arbeitszimmer herausgeworfen, nicht wahr?«

»Ja, Sir«, antwortete Käfer, mit einem Schafsgrinsen auf den Lippen und dem Grimm des Wolfs im Herzen. Die Hoffnung hatte ihn beinahe verlassen, aber er klammerte sich noch an das wohlbegründete Vertrauen darauf, daß Latte niemals so gefährlich war, als wenn er unsichtbar war.

»Du brauchst nicht zu kritisieren, danke. Aus unserm Arbeitszimmer ausquartiert sind wir, gerade, als ob wir nichts Besseres wären als der kleine Manders II. Nichts als tintige Schuljungen sind wir und müssen als solche behandelt werden.«

Käfer spitzte die Ohren, denn Karnickelei fluchte wütend auf dem Wege, und etwas von seinem Erguß schallte durch das Oberfenster herein. King war ein Anhänger von Ventilation. Er schritt ans Fenster, majestätisch im langen Talar, deutlich sichtbar im Gaslicht.

»Ich seh‘ einen! Ich seh‘ einen«, brüllte Karnickelei, der jetzt einen sichtbaren Feind entdeckt hatte, während ein anderer oben aus der Dunkelheit feuerte. »Ja, du, du langnäsiger, dreckbärtiger Kerl mit vier Augen. Du bist zu alt für solche Geschichten, Ach! Kühl‘ dir deine Nase, sag‘ ich dir! Kühl‘ dir deine lange Nase.«

Käfers Herz hüpfte ihm im Leibe. Irgendwo, irgendwie, das wußte er, stak Latte hinter diesen Erscheinungen. Hoffnung war da und die Aussicht auf Rache. Er nahm sich vor, die Anregung in Betreff der Nase in unsterbliche Verse zu kleiden. King riß das Fenster auf und verwies Karnickelei höchst energisch. Aber der Fuhrmann kannte weder Furcht noch Scheu. Er war von seinem Wagen herabgestiegen und bückte sich am Wegrande nieder.

Es ging alles schnell wie ein Traum. Manders II hob mit einem Schrei die Hand an den Kopf, als ein zackiger Kieselstein gegen ein paar schöne Franzbände im Bücherregal prallte. Ein weiterer folgte über den Schreibtisch. Käfer suchte ihn mit geheucheltem Eifer aufzuhalten und riß bei diesem Bestreben die Arbeitslampe um, die ihr Oel, via Kings Papiere und einige Prachtbände, alles einfettend, auf einen persischen Teppich ergoß. Auf der Fensterbank gab es viele Glassplitter; der Porzellankorb – M’Turks Aversion – war in Splitter gekracht, die Moschuspflanze war heruntergefallen und die Erde über die roten Ripskissen gestreut. Manders II blutete in Strömen von einem Wurf, der ihn gegen den Backenknochen getroffen hatte, und King, unerhörte Worte gebrauchend, deren jedes Käfer im Herzen bewahrte, rannte hinaus, um den Sergeanten zu holen, damit Karnickelei auf der Stelle eingesperrt würde.

»Armer Bengel!« sagte Käfer mit tückisch geheuchelter Sympathie. »Laß‘ es ein bißchen bluten, das verhütet Schlaganfall.« Und er hielt ihm den blutenden Kopf über den Tisch und die Papiere darauf, als er den heulenden Manders nach der Tür führte.

Als er sich dann inmitten der Ruinen allein befand, vergalt Käfer Böses mit Gutem. Wie es kam, daß hier im Zimmer sämtliche Bände auf dem Rücken wie durch einen Kieselstein zerschrammt waren, daß so viel schwarze und Kopiertinte sich auf dem Tuch des Schreibtisches zufällig mit Manders Blut vermischt hatte, daß die große, nicht zugekorkte Leimflasche im Halbkreis über den Fußboden gerollt war, und wie es geschehen konnte, daß der Türdrücker aus weißem Porzellan ebenfalls mit Manders jungem Blut bemalt war, das waren Dinge, die Käfer nicht erklärte, als der wütende King zurückkehrte, um ihn in höflicher Haltung vor dem rauchenden Kaminteppich zu finden.

»Sie hatten es mir noch nicht gesagt, daß ich gehen sollte, Sir«, sagte er mit der Miene eines Casabianca, und King wies ihn in die Dunkelheit hinaus.

Käfer lief schleunigst auf einen Stiefelschrank unter der Treppe zu, um den Freudenparoxismus auszutoben, der ihn fast umbrachte. Er hatte noch nicht Atem geschöpft zu einem ersten Triumphgebrüll, als zwei Hände ihm den Mund stopften.

»Geh ins Schlafzimmer und hol‘ mir meine Sachen. Bring‘ sie ins Badezimmer von »Nummer fünf«. Ich bin noch in Trikots«, raunte Latte, der oben über seinem Kopf saß. »Lauf‘ nicht, geh langsam.«

Aber Käfer schwenkte durch die nächste Tür in den Arbeitssaal und übergab dem ahnungslosen M’Turk seinen Auftrag mit einem krampfhaft hervorgestoßenen Umriß des bisherigen Feldzuges. So brachte also M’Turk mit hölzernem Antlitz die Kleidungsstücke vom Schlafzimmer, während Käfer auf einer Bank nach Atem rang. Dann begruben sich die drei im Badezimmer »Nummer fünf«, drehten alle Hähne auf, füllten den Raum mit Dampf und planschten triefend in der Wanne, wo sie die Einzelheiten des Krieges erörterten.

»Moi! Ich! Je! Ego!« keuchte Latte.

»Ich wartete, bis ich kaum noch ’nen Gedanken hatte, während ihr die Trommel schlugt, versteckte ich mich im Kohlenkasten und zwickte Karnickelei – und Karnickelei schmiß King mit Steinen. War’s nicht wundervoll? Habt ihr das Glas gehört?«

»Na ob – er – er –« kreischte M’Turk und deutete mit zitternden Fingern auf Käfer. »Na ob, ich war mitten drin in allem,« brüllte Käfer, »in seinem Zimmer, als er mich ausschimpfte.«

»Himmel«, sagte Latte mit einem Juchzer und verschwand unterm Wasser.

»Das – das Glas war noch nichts. Manders II hat ’n Loch in’n Kopf gekriegt. Die Lampe über’n Teppich ausgegossen, Blut auf Büchern und Papieren. Der Leim! Der Leim! Der Leim! Die Tinte! Die Tinte! Die Tinte! O Gott!«

Da sprang Latte heraus, über und über gerötet wie er war, und schüttelte Käfer, um ihm eine etwas zusammenhängendere Darstellung beizubringen; aber seine Erzählung warf sie von neuem nieder.

»Ich macht‘, daß ich nach dem Stiefelspind kam, sowie ich King die Treppe herunterkommen hörte. Käfer kam gleich nach mir an. Der andere Schlüssel ist hinter dem losen Brett versteckt. Es ist auch kein Schatten von Beweis da«, sagte Latte. Sie brüllten alle zusammen los.

»Und er hat uns selbst ‚rausgesetzt! Er selbst!« Das war M’Turk. »Er kann ja gar nicht einmal daran gedacht haben, uns in Verdacht zu haben. Oh, Latte, dies war das Herrlichste, was wir je gemacht haben.«

»Leim! Leim! Leim! Massenweise Leim!« jauchzte Käfer, und seine Brillengläser schimmerten durch ein Meer von Seifenschaum. »Tinte und Blut ganz vermischt. Ich hielt dem kleinen Biest seinen Kopf über die lateinische Ausarbeitung für Montag. O Gott! Wie das Oel stank! Und Karnickelei sagte zu King, er soll sich die Nase kühlen. Hast du Karnickelei getroffen, Latte?«

»Na, aber ganz famos! Ganz gehörig hab‘ ich ihn gezwickt. Habt ihr gehört, wie er fluchte? Oh, ich lach‘ mich halb tot in ’ner Minute, wenn ich nicht gleich aufhöre.«

Das Anziehen war eine schwierige Prozedur, und M’Turk fühlte sich verpflichtet, zu tanzen, als er hörte, daß der Blumentopf zerbrochen sei, und dann wiederholte Käfer auch Kings ganzen Erguß, mit Verbesserungen und kräftigen Zusätzen.

»Einfach frech,« sagte Latte, »so verflucht unverschämt zu sein … gegen unschuldige Jungens wie wir. Möcht‘ wissen, was sie in »St. Winifreds« oder »Die Schulwelt« sagen würden. Wahrhaftig! Da fällt mir ein, wir müssen der Unterquarta noch was geben, weil sie Käfer angefallen haben, als er Manders II vertackelte. Los! Das gibt auch ein Alibi, Samiel, und dann, wenn wir sie laufen lassen, sind sie nächstes Mal noch frecher.«

Die Unterquarta hatte vor ihrem Arbeitszimmer eine Wache aufgestellt gehabt – eine Stunde lang, und das bedeutet für einen Jungen auf Lebenszeit. Jetzt waren sie bei ihren gewöhnlichen Sonnabend-Beschäftigungen – brieten Spatzen an rostigen Federn über der Gasflamme, brauten heillose Getränke in Salbentöpfen, balgten Maulwürfe mit Taschenmessern ab, hüteten Pappkartons mit Seidenraupen und diskutierten die Sünden der älteren Schüler mit einer Freiheit, Lebhaftigkeit und Genauigkeit, die ihre Eltern entzückt hätte. Der Schlag fiel aus heiterem Himmel nieder. Latte brachte eine Bank, ganz besetzt von kleinen Bengeln, mit ihren Kochutensilien zum Kentern, M’Turk stürzte sich auf die offenstehenden Schubladen, wie ein Terrier in ein Kaminloch eindringt, während Käfer auf alle die Köpfe Tinte ausleerte, an die er nicht mit Smiths Wörterbuch der klassischen Sprachen appellieren konnte. Drei aufregende Minuten wurden auf eine Menge Seidenwürmer, sorgsam behütete Schmetterlingsgruppen, französische Exerzitien, Schulmützen, halb präparierte Knochen und Schädel und ein Dutzend Töpfe von Hause mitgebrachter Marmelade verwandt. Es gab ein großes Trümmerfeld, und das Zimmer sah aus, als ob drei Ungewitter, die miteinander in Streit lagen, darin gehaust hätten.

»Puh«, stöhnte Latte, als sie aus der Tür waren, und holte Atem.

»Oh, ihr verdammten Kaffern, haltet euch für schrecklich witzig«, und ähnlich klang es von den andern dazwischen.

»Das wäre besorgt. Laß nie deine Sonne über deinem Haß untergehen. Dolle kleine Teufel, die Füchse, hab‘ nicht gemerkt, daß sie zusammenhalten!« »Sechs von ihnen saßen mir auf dem Kopf, als ich nach Manders II ‚reinkam. Ich hab’s ihnen gesagt, was es setzen würde.«

»Jeder hat sein Teil ordentlich gekriegt – wundervolles Gefühl«, sagte M’Turk abweichend, als sie den Korridor entlangstrichen. »Glaub‘ nicht, daß es lohnt, viel von King zu erzählen – was meinst du, Latte?«

»Nicht viel. – Wir sind natürlich die beleidigte Unschuld – g’rad‘ so wie damals, als der olle Foxybus uns anzeigte, wir hätten mal im Versteck geraucht. Hätt‘ ich nicht die Idee gehabt, Pfeffer zu kaufen und in unsere Anzüge zu streuen, dann hätt‘ er’s gerochen. King war verflucht witzig darüber. Nannte uns in der Klasse eine Woche lang »Vögelkonservatoren.«

»Ach, King haßt den Naturwissenschaftlichen Verein, weil der kleine Hartopp Präsident ist. Man muß nichts im Institut tun, was King keinen Ruhm verschafft«, sagte M’Turk. »Aber er müßt‘ wirklich ’n kranker Esel sein, wißt ihr, wenn er glauben wollt‘, daß wir, so alt wir sind, noch ‚rumlaufen und Vögel ausstopfen werden, wie die Füchse.«

»Armer oller King«, meinte Käfer. »Er ist schrecklich unbeliebt im Konferenzzimmer, und sie werden ihn wegen Karnickelei schön aufziehen. Gott! Wie lieblich! Wie schön! Wie prächtig! Aber ihr hättet sein Gesicht sehen sollen, als der erste Stein ‚reingeflogen kam. Und die Erde aus dem Topf.«

Fünf Minuten machte das Lachen sie wieder hilflos.

Schließlich begaben sie sich nach Abanazars Zimmer und wurden ehrfurchtsvoll empfangen.

»Was ist los?« fragte Latte, der immer jeden Umschwung fühlte.

»Wißt ihr ganz gut«, meinte Abanazar. »Ihr werdet geschaßt werden, wenn sie euch kriegen. King tobt wie ’n Verrückter ‚rum.«

»Wer? Was? Wie? Geschaßt? Weshalb? Wir haben bloß die Kriegstrommel gerührt, wir sind deshalb schon ausquartiert worden.«

»Wollt ihr Burschen etwa sagen, ihr habt Karnickelei nicht betrunken gemacht und aufgehetzt, in Kings Zimmer Steine zu werfen?«

»Ihn aufgehetzt? Nein, ich kann schwören, daß wir das nicht getan haben«, entgegnete Latte, erleichterten Herzens, denn er scheute es, zu lügen. »Was für ’ne schlechte Meinung hast du, Pussy. Wir waren unten und haben gebadet, hat Karnickelei King geschmissen, den starken, eifrigen Mann King? Scheußlich.«

»Furchtbar! King schäumt vor Wut. Da läutet’s zum Gebet. Kommt!«

»Wart‘ ’n Weilchen«, sagte Latte und setzte die Unterhaltung mit lauter und fröhlicher Stimme fort, während sie die Treppe herunterstiegen. »Weshalb hat Karnickelei King geschmissen?«

»Ich weiß«, erklärte Käfer, als sie an Kings offener Tür vorbeigingen. »Ich war in seinem Arbeitszimmer.«

»Stt, du Esel«, zischte der Kaiser von China.

»Ach, er ist zum Gebet ‚runtergegangen«, sagte Käfer, der den Schatten des Hausmeisters an der Wand bemerkte. »Karnickelei war bloß ’n bißchen betrunken und fluchte auf seinen Gaul, und King schimpfte ihn durchs Fenster, und dann natürlich schmiß er King.«

»Willst du sagen,« fragte Latte, »daß King angefangen hat?«

King war hinter ihnen, und jedes wohl abgewogene Wort flog die Treppe wie ein Pfeil hinauf. »Ich kann nur schwören,« sagte Käfer, »daß King wie ein Schifferknecht fluchte. Einfach gräßlich. Ich will meinem Vater davon schreiben.«

»Sag‘ es lieber Mason«, riet ihm Latte. »Er kennt unser zartes Gewissen. Wart‘ ein bißchen, ich muß mein Schuhband zubinden.«

Die andern machten, daß sie weiter kamen. Sie wünschten nicht in Szenen dieser Art hineingezogen zu werden. So fiel es M’Turk zu, die Sachlage unter den Kanonen des Feindes zusammenzufassen.

»Seht ihr,« sagte der Irländer, am Geländer hängend, »erst schnauzt er die kleinen Bengel an, dann schnauzt er die Großen an, und dann schnauzt er einen an, der gar nicht zum Institut gehört, und dann kriegt er es. Ist ihm ganz recht geschehen. – Bitte um Entschuldigung, Sir, ich sah nicht, daß Sie die Treppe herunterkamen.«

Der schwarze Talar zog wie ein Gewitter vorüber, und in seinem Kielwasser, drei in einer Reihe, Arm in Arm, walzte die Aladdin-Truppe den langen Korridor zum Gebet entlang und sang mit unschuldvollstem Eifer:

»Hurra, Patsy, sorg‘ fürs Baby! Hurra, auf den Bengel acht!
Wickel ihn in ’nen Ueberrock, er wird wild, wenn er erwacht.
Hurra, Patsy, paß‘ aufs Baby! Ja, jetzt gerade nimmst du’s Kind!
Er wird strampeln, beißen, schrei’n die ganze Nacht,
Hurra, Patsy, auf den Bengel acht!«

  1. Bezeichnung für die flache Kopfbedeckung.
  2. Balliol College – eine bekannte Schule in Oxford.
  3. Beiname des engl. Schriftstellers Thomas de Quincey (1785–1859).