Kapitel 2

Sie betraten die festungsartige Eisenbahn-Station in tief dunkler Nacht. Die elektrischen Lichter flammten noch über dem Güterschuppen, wo die bedeutende Getreideverladung nach dem Norden abgefertigt wird.

»Das ist das Werk von Teufeln,« sagte der Lama, schaudernd vor der hohl widerhallenden Dunkelheit, vor dem Glitzern der Schienen zwischen den Perrons von Backsteinen und vor dem Gewirre von Balken oben. Er stand in einer riesigen Steinhalle, die, wie es schien, mit übereinander gehäuften Toten gepflastert war, Passagieren dritter Klasse, die ihre Fahrkarten am Abend genommen hatten und in den Warteräumen schliefen. Alle Stunden bei Nacht und Tag sind den Orientalen gleich, und demgemäß ist der Reiseverkehr geordnet.

»Hierher kommen die Feuerwagen. Hinter dem Loch steht einer,« Kim wies nach der Billetausgabe – »der Dir ein Papier geben wird, das Dich nach Umballa bringt.«

»Aber wir wollen nach Benares,« sagte ängstlich der Lama.

»Ganz gleich. Benares also. Rasch! Er kommt.«

»Nimm Du die Börse.«

Der Lama, nicht so vertraut mit Eisenbahnzügen, wie er behauptet, fuhr zurück, als der 3 Uhr 25 Frühzug nach dem Süden in die Station brauste. Die Schläfer wurden lebendig, die Station war voll Tumult und Lärm; dazwischen Geschrei der Wasser- und Kuchenverkäufer, Rufe der eingeborenen Polizisten, Zetern der Weiber, die ihre Körbe, Kinder und Männer zusammen suchten.

»Es ist der Zug – nur der Zug. Er tut uns nichts. Warte hier.« Erstaunt über des Lamas wunderliche Naivität (er hatte ihm einen kleinen Sack ganz voll Rupien gegeben), holte und bezahlte Kim ein Billett nach Umballa. Ein verschlafener Beamter knurrte und warf ein Billett für die nächste Station, sechs Meilen entfernt, hinaus.

»Nein,« sagte Kim, es mit einem Grinsen betrachtend. »Das magst Du Bauern bieten, ich aber lebe in der Stadt Lahore. Du hast es geschickt gemacht, Babu. Nun gib das Billett nach Umballa!«

Der Babu brummte, gab aber das richtige Billett.

»Nun noch eins nach Amritzar,« rief Kim, der nicht einsah, weshalb er Mahbub Alis Geld an so etwas Überflüssiges wie eine bezahlte Reise nach Umballa verschwenden sollte. »Der Preis ist so viel, die kleine Münze, die man zurück bekommt, so viel. Ich weiß Bescheid mit den Eisenbahnen… Niemals hat ein Yogi einen Chela so nötig gehabt wie Du,« redete er lustig weiter zu dem bestürzten Lama. »Bei Mian Mir würden sie Dich hinausgeworfen haben, hätte ich nicht für Dich gesorgt. Dies ist der Weg. Komm!« Kim gab das Geld zurück und behielt nur eine Anna von jeder Rupie des Preises der Fahrkarte nach Umballa, als seine Kommission – die uralte Kommission von Asien.

Der Lama zögerte vor der offenen Türe eines überfüllten Wagens dritter Klasse. »Wäre es nicht besser, wir gingen?« fragte er schüchtern.

Ein stämmiger Sikh, Handwerker, streckte seinen bärtigen Kopf hinaus. »Fürchtet er sich? Fürchte Dich nicht. Ich weiß noch die Zeit, wo ich mich vor dem Zug fürchtete. Steig ein! Dies ist ein Werk der Regierung.«

»Ich fürchte mich nicht,« sprach der Lama. »Habt Ihr noch Platz für Zwei?«

»Nicht einmal Platz für eine Maus,« keifte die Frau eines wohlhabenden Farmers, eines Hildu-Jat aus dem reichen Jullundur-Distrikt. »Unsere Nachtzüge sind nicht so gut kontrolliert, wie die Tagzüge, wo die Geschlechter streng getrennt in besonderen Wagen sitzen.«

»O, Mutter meines Sohnes, wir können Platz machen,« sagte der blau beturbante Gatte. »Nimm das Kind auf den Schoß. Er ist ein heiliger Mann, siehst Du?«

»Und mein Schoß ist voll mit sieben mal siebzig Bündeln. Willst Du vielleicht, daß er auf meinem Knie sitzt? Schamloser! Aber so sind die Männer immer!« Sie sah sich nach Beifall um. Eine am Fenster sitzende Courtisane von Amritzar kicherte hinter ihren Kopftüchern.

»Steig ein, steig ein!« rief ein beleibter hindostanischer Geldverleiher, der sein Kontobuch, in ein Tuch gewickelt, unter dem Arm trug. Und mit einem fettigen Schmunzeln: »Es ist recht, gegen Arme gütig zu sein.«

»Aha! mit sieben Prozent monatlich und einem Pfandbrief auf das ungeborene Kalb,« sagte ein junger Dogra-Soldat, der auf Urlaub nach dem Süden war; und alles lachte.

»Wird er nach Benares fahren?« fragte der Lama. »Gewiß, weshalb sonst wären wir hier? Steig ein, sonst werden wir zurückgelassen,« rief Kim.

»Seht!« kreischte das Amritzar-Mädchen. »Er hat noch keinen Zug bestiegen. O, seht!«

»Nein, helft,« sagte der Farmer, eine große, braune Hand ausstreckend und den Lama hereinziehend. »So wird es gemacht, Vater.«

»Aber – aber – ich muß auf dem Boden sitzen. Es ist gegen die Vorschrift, auf der Bank zu sitzen. Und dann – es macht mir Krämpfe.«

»Ich sage,« begann der Geldverleiher, mit gekräuselten Lippen, »es gibt keine Regel gerechten Lebens, die diese Züge uns nicht zu brechen zwingen.« Wir sitzen, zum Beispiel, Seite an Seite mit allen Kasten und allem Volk.«

»Ja, und mit höchst Schamlosen,« sprach die Frau höhnisch nach dem Amritzar-Mädchen schielend, die einem jungen Sepoy verliebte Augen zuwarf.

»Ich sagte gleich,« meinte der Gatte, »wir sollen den Weg zu Wagen machen. Wir hätten noch Geld dabei gespart.«

»Ja, und das Gesparte doppelt für Essen ausgegeben auf dem Wege. Das ist doch zehntausendmal besprochen worden.«

»Ja,« murrte er, »und von zehntausend Zungen.«

»Die Götter mögen uns armen Weibern beistehen, wenn wir nicht sprechen dürfen. Der ist von der Sorte, die eine Frau nicht ansehen, noch mit ihr sprechen dürfen.« Der Lama hatte, seiner Regel gemäß, nicht die geringste Notiz von ihr genommen. »Und ist sein Schüler ebenso?«

»Nein, Mutter. Nicht wenn die Frau hübsch und barmherzig gegen die Hungrigen ist,« war Kims schlagfertige Antwort.

»Eine Bettler-Antwort,« sprach lachend der Sikh. »Du hast sie Dir selbst zugezogen, Schwester!« Kim hatte bittend die Hände gefaltet. »Und wohin gehst Du?« fragte die Frau, ihm aus einem fettigen Paket einen halben Kuchen reichend.

»Geradeaus nach Benares.«

»Gaukler vermutlich,« meinte der junge Soldat. »Könnt Ihr uns einige Kunststücke vormachen, um uns Zeit zu vertreiben? Warum antwortet der gelbe Mann nicht?«

Weil,« antwortete Kim hochmütig, »er heilig ist und an Dinge denkt, die Dir verborgen sind.«

»Das kann möglich sein. Wir,« sprach er rollend und volltönend, »wir von den Loodhiana Sikhs plagen unsere Köpfe nicht mit heiligen Lehren – wir fechten!«

»Meiner Schwester Brudersohn,« sprach gemessen der Sikh-Handwerker, ist Naik (Korporal) in dem Regiment. Es sind auch einige Dogra-Kompanien dabei.«

Der Soldat wurde still: denn ein Dogra ist von niederer Kaste, als ein Sikh; und der Geldmann kicherte.

»Mir sind die alle gleich wert,« sagte das Amritzar-Mädchen.

»Das glauben wir,« schnaubte boshaft des Farmers Weib.

»Nein, aber alle, die dem Sirkar (Regiment) mit Waffen in der Hand dienen, sind eine Brüderschaft. Da ist eine Brüderschaft von der Kaste – aber über dieser wieder –« sie blickte schüchtern um sich – »das Band des Pulton – das Regiment – nicht?«

»Mein Bruder ist in einem Jat-Regiment,« sagte der Farmer. »Dogras sind tüchtige Männer.«

»Deine Sikhs wenigstens dachten so,« sprach der Soldat mit einem Grinsen nach dem stillen, alten Mann in der Ecke. »Deine Shiks dachten so, als unsere beiden Kompanien ihnen vor noch nicht drei Monaten bei Pirzai Kotal auf dem Bergpaß, angesichts von acht Alfridi-Fahnen zu Hilfe kamen.«

Er erzählte die Geschichte einer Grenz-Aktion, bei der die Dogra-Kompanien von den Loodhiana-Sikhs sich tapfer gehalten halten. Das Amritzar-Mädchen lächelte: sie wußte, daß die Geschichte erzählt wurde, um ihren Beifall zu gewinnen.

»O weh!« sagte die Frau des Farmers. »So wurden ihre Dörfer verbrannt und ihre kleinen Kinder heimatlos?«

»Sie hatten unsere Toten gebrandmarkt. Sie hatten eine große Summe zu zahlen, nachdem wir von den Sikhs ihnen eine gute Lehre gegeben. So war es. Ist dies Amritzar?«

»Ja, und hier müssen wir die Fahrkarten vorzeigen,« sagte der Bankier, an seinem Gürtel herumtastend.

Die Lampen glommen fahl in der Dämmerung, als der Halbblutschaffner die Runde machte. Fahrkarten-Einsammeln ist im Osten ein langsames Geschäft, weil die Leute sie an allen möglichen sonderbaren Orten verstecken. Kim zeigte die seinige vor und wurde hinaus gewiesen.

»Aber,« protestierte er, »ich muß nach Umballa. Ich reise mit diesem heiligen Mann.«

»Du kannst meinetwegen nach Jehannum (Hölle) gehen. Dies Billet ist nur bis Amritzar. Hinaus!«

Kim brach in eine Flut von Tränen aus, beteuerte, der Lama sei sein Vater und seine Mutter, er sei die Stütze der alten Tage des Lama und dieser würde ohne seinen Beistand sicherlich sterben. Der ganze Wagen bat den Schaffner, Mitleid zu haben – der Geldmann besonders war sehr bereit – der Schaffner aber packte Kim und warf ihn auf den Bahnsteig.

Der Lama blinzelte mit den Augen; er begriff den Vorgang nicht; Kim erhob die Stimme und weinte draußen vor den Wagenfenstern.

»Ich bin so arm. Mein Vater ist tot. Meine Mutter ist tot. O, Barmherzige, wer soll für den alten Mann sorgen, wenn ich hier bleibe?«

»Was – was ist dies?« fragte der Lama. »Er muß nach Benares. Er muß mit mir fahren. Er ist mein Chela. Wenn Geld bezahlt werden muß –«

»O, schweige,« flüsterte Kim; »sind wir Rajahs, daß wir gutes Silber wegwerfen, wo die Welt so barmherzig ist?«

Das Amritzar-Mädchen stieg mit ihren Bündeln aus. Auf sie richtete sich Kims schlauer Blick. Damen von dem Bekenntnis, wußte er, sind großmütig.

»Ein Billet – ein kleines Billetchen nach Umballa – o, Herzenbrecherin!« Sie lachte. »Hast Du kein Erbarmen?«

»Kommt der heilige Mann vom Norden her?«

»Von weit, weit aus dem Norden her kommt er,« antwortete Kim. »Aus den Bergen her.«

»Schnee ist zwischen den Fichtenbäumen im Norden – auf den Bergen ist Schnee. Meine Mutter war aus Kulu. Hol‘ Dir ein Billet. Bitte ihn um einen Segen.«

»Zehntausend Segen.« kreischte Kim. »O, Heiliger, eine Frau hat uns barmherzig gegeben, so daß ich mit Dir kommen kann – eine Frau mit einem goldenen Herzen. Ich renne, das Billet zu holen.«

Das Mädchen blickte zu dem Lama auf, der Kim mechanisch auf den Bahnsteig nachgefolgt war. Er senkte das Haupt, um sie nicht anzusehen, und murmelte etwas in Tibetanisch, als sie in der Menge sich verlor.

»Leicht bekommen – leicht gegeben,« sprach höhnisch die Farmerfrau.

»Sie hat Verdienst erworben,« erwiderte der Lama, »gewiß ist sie eine Nonne.«

»Solcher Nonnen gibt’s in Amritzar allein zehntausend. Komm zurück, alter Mann, sonst geht der Zug ohne Dich ab,« rief der Bankier.

»Nicht nur für das Billet war’s genug,« sagte Kim auf seinen Platz springend, »auch für etwas zu essen. Nun iß, Heiliger. Sieh, der Tag bricht an.«

Golden, rosig, safrangelb und nelkenfarben lösten die Morgennebel sich auf über der flachen grünen Ebene. Das ganze Reich Punjab lag ausgebreitet im Glanz der strahlenden Sonne. Der Lama schreckte ein wenig zusammen, wie die Telegraphenstangen vorüberflogen.

»Groß ist die Schnelligkeit des Zuges,« sagte mit gönnerhaftem Grinsen der Geldverleiher. »Wir sind schon weiter von Lahore, als Du in zwei Tagen gehen könntest. Am Abend werden wir in Umballa sein.«

»Und das ist noch weit von Benares,« sprach der erschöpfte Lama an den Kuchen knabbernd, die Kim ihm gegeben. Alle öffneten jetzt ihre Bündel und hielten ihre Morgenmahlzeit. Dann bereiteten der Sikh, der Farmer und der Soldat ihre Pfeifen und füllten den Wagen mit scharfem ätzendem Rauch, spuckend und hustend, und fühlten sich sehr behaglich. Der Bankier und die Farmersfrau kauten Pan (narkotisches Kaumittel in präpariertem Betelpfefferblatt); der Lama schnupfte und zählte seine Perlen; Kim saß mit gekreuzten Beinen, die Annehmlichkeit eines gefüllten Magens lächelnd genießend.

»Welche Flüsse habt Ihr bei Benares?« fragte plötzlich der Lama, sich an den ganzen Wagen wendend.

»Wir haben Gunga,« antwortete der Bankier, als das Gekicher aufhörte.

»Welche noch?«

»Welche anders als Gunga?«

»Ah, ich dachte an einen gewissen Fluß des Heils.«

»Das ist Gunga. Wer in ihm badet, wird von Sünden rein und kommt zu den Göttern. Drei Mal bereits machte ich die Pilgerfahrt zum Gunga.« Er blickte sich stolz um.

»Es tat not,« sagte der junge Sepoy trocken, und das Kichern der Reisenden wandte sich gegen den Bankier.

»Nein – um zu den Göttern zurückzukehren,« murmelte der Lama. »Und um weiter zu wandeln die Runde durch neue Leben – noch immer an das Rad gefesselt.« Er schüttelte nachdenklich den Kopf. »Kann sein, daß da ein Irrtum ist. Wer denn schuf Gunga zu Anfang?«

»Die Götter. Welchem bekannten Glaubensbekenntnis gehörst Du denn an?« fragte der Bankier, ganz entsetzt.

»Ich folge dem Gesetz – dem höchst vortrefflichen Gesetz. Die Götter also schufen Gunga? Welche Art von Göttern waren diese?«

Die Wagengesellschaft schaute ihn starr vor Staunen an. Es war unbegreiflich, daß irgend einer nichts von Gunga wußte.

»Was – was ist Dein Gott?« fragte endlich der Geldmann.

»Höret! denn ich rede nun von ihm! O, Volk von Hindostan, höre!«

Er begann die Geschichte vom Gott Buddha, im Urdu-Dialekt, aber, von seinen Gedanken fortgetragen, fiel er bald ins Tibetanische und den eintönig schleppenden Text eines chinesischen Buches über das Leben des Buddha. Die sanften, duldsamen Leute lauschten ehrerbietig. Ganz Indien ist voll von heiligen Männern, die in seltsamen Zungen heilige Lehren stammeln, die glühen und sich verzehren im Feuer ihres Eifers – Schwärmer, Visionäre, Schwätzer – wie es von Anfang an war und bis zum Ende bleiben wird.

»Hm,« machte der Soldat von den Loodhiana-Sikhs. »Bei einem mohammedanischen Regiment, das nächst dem unsrigen bei dem ›Pirzai Kotal‹ lag, war ein Priester – wie ich mich entsinne: ein Naik – der, wenn der Anfall über ihn kam, prophezeite. Aber die Wahnsinnigen sind alle in Gottes Schutz. Seine Vorgesetzten sahen dem Manne vieles nach.«

Der Lama fiel in Urdu zurück, sich besinnend, daß er in fremdem Lande war. »Höret die Geschichte von dem Pfeil, den unser ›Herr‹ vom Bogen abschoß,« sprach er.

Dies war mehr nach dem Geschmack der Leute, und sie hörten der Erzählung aufmerksam zu. »Nun, o Volk von Hindostan, ziehe ich aus, den Fluß zu suchen. Wißt Ihr etwas, das mir helfen kann? Denn wir alle, Männer und Weiber, leben in Verblendung.«

»Gunga – und Gunga allein ist es, der von Sünde rein wäscht,« rann das Murmeln durch den ganzen Wagen.

»Obwohl ohne Frage,« begann das Weib des Farmers, »wir auch gute Götter im Jullundur-Land haben.« Und aus dem Fenster sehend: »Sieh, wie sie die Aehren gesegnet haben.«

»Jeden Fluß in Punjab aufzusuchen ist keine Kleinigkeit,« sagte der Gatte. »Mir genügt ein Fluß, der guten Schlamm auf meinen Feldern zurückläßt, und ich danke Bhumia, dem Gott der Heimstätte.« Er zuckte die muskulöse, bronzefarbene Schulter.

»Glaubst Du, daß unser ›Herr‹ so weit nordwärts kam?« fragte der Lama, sich an Kim wendend.

»Es kann sein,« sagte Kim beschwichtigend und spie roten Betelsaft auf den Boden.

»Der Letzte der Erhabenen,« sprach mit Nachdruck der Sikh, »war Sikander JuIkarn (Alexander der Große). Er pflasterte die Wege von Jullundur und baute die große Zisterne bei Umballa. Das Pflaster hält heute noch, und die Zisterne ist auch noch da. Von Deinem Gotte habe ich noch nie gehört.«

»Laß Dein Haar lang wachsen und sprich punjabisch,« sagte der junge Soldat scherzhaft, ein nordisches Sprichwort zitierend, zu Kim. »Das ist alles, was einen Sikh ausmacht.« Er sagte das aber nicht gerade laut. Der Lama seufzte und sank in sich zusammen, eine braune, formlose Masse. In den Pausen ihrer Unterhaltung hörten die Reisenden das langsam hingezogene – »Om mane padme hum! Om mane padme hum!« – (buddhistisches Gebet) und das Klick-Klick der hölzernen Rosenkranz-Perlen.

»Es schmerzt mich,« sprach endlich der Lama. »Das Gerassel und die Schnelligkeit schmerzen mich. Und außerdem, mein Chela, denke ich, wir könnten über den Strom hinweg gefahren sein.«

»Ruhig, ruhig,« sagte Kim. »War der Fluß nicht nahe Benares? Wir sind noch weit von dem Ort entfernt.«

»Aber – wenn unser ›Herr‹ nordwärts kam, könnte es irgend einer von diesen kleinen Flüssen sein, über die wir wegfuhren.«

»Das weiß ich nicht.«

»Aber Du wurdest mir gesendet – bist Du mir nicht gesendet? – für das Verdienst, das ich erwarb im fernen Suchen. Von der Seite der Kanone kamest Du – und trugest zwei Gesichter und zweierlei Gewand.«

»Stille, stille,« wisperte Kim. »Von diesen Dingen muß man hier nicht reden. Ich war nur einer. Denke nach, Du wirst Dich erinnern – ein Knabe – ein Hindu-Knabe – bei der großen grünen Kanone.«

»Aber war nicht auch ein Engländer mit weißem Bart da, der zwischen Götterbildern saß und mich selbst noch sicherer machte in meiner Sicherheit über den Strom des Pfeils?«

»Er – wir – gingen in das Ajab-Gher zu Lahore, um vor den Göttern zu beten,« erklärte Kim der zuhorchenden Gesellschaft. »Und der Sahib von dem Wunderhaus sprach zu ihm – ja es ist die Wahrheit – wie ein Bruder. Er ist ein sehr heiliger Mann von weit her, jenseit der Berge. Ruhe Du! Zur rechten Zeit kommen wir nach Umballa.«

»Aber mein Strom – der Strom meines Heils?«

»Und dann, wenn Du es wünschest, wollen wir zu Fuß den Fluß suchen, so daß wir keinen verfehlen – selbst nicht den kleinsten Bach an einer Feldseite.« »Aber Du selbst bist ja auch auf einer Suche.« Der Lama, sehr erfreut über sein gutes Gedächtnis, richtete sich gerade auf.

»Ei, wohl,« sagte Kim gut gelaunt. Der Knabe war kreuzfidel, hier zu sitzen, Betel zu kauen und sich fremdes Volk anzusehen in der großen, gutherzigen Welt.

»Es war ein Stier – ein Roter Stier – der kommen soll, Dir zu helfen – und Dich zu tragen – wohin? Das habe ich vergessen. Ein Roter Stier auf grünem Felde, war’s nicht so?«

»Nein, er wird mich nirgendwo hintragen,« sagte Kim. »Ich habe Dir nur ein Märchen erzählt.«

»Was ist das?« Des Farmers Weib beugte sich so rasch vorwärts, daß die Spangen an ihren Armen klirrten.

»Träumt Ihr beide Träume? Ein Roter Stier auf grünem Felde, der Dich tragen soll in den Himmel oder sonst wohin? War es eine Vision, eine Prophezeiung? Wir haben einen roten Ochsen in unserem Dorf, hinter der Stadt Jullundur, der grast nach seinem Belieben in dem grünsten unserer Felder.«

»Gib einer Frau ein Altweibermärchen und einem Wasservogel ein Blatt und einen Faden, und sie werden wunderliche Sachen zusammenweben,« sprach der Sikh. »Alle heiligen Männer träumen Träume, und ihre Schüler, die sie begleiten, erwerben dieselbe Fähigkeit.«

»Ein Roter Stier auf einem grünen Felde, war es nicht so?« wiederholte der Lama. »In einem früheren Leben – kann sein – hast Du Verdienst erworben, und der Stier wird kommen Dich zu belohnen.«

»Nein – nein – es war nur ein Märchen, das mir, zum Scherz vielleicht, erzählt wurde. Aber ich will den Stier bei Umballa herum suchen, und Du kannst Umschau halten nach Deinem Fluß und vom Gerassel des Zuges Dich erholen.«

»Kann sein – daß der Stier es weiß – und daß er gesendet ist, uns beide zu führen,« sprach der Lama, hoffnungsvoll wie ein Kind. Dann –« zu der Gesellschaft sich wendend – und auf Kim deutend – »Dieser hier ward mir erst gestern gesendet. Er ist nicht, so glaube ich, von dieser Welt.«

»Bettler habe ich haufenweise getroffen und heilige Männer noch obendrein,« sagte die Frau, »aber noch niemals so einen Pogi oder so einen Chela.«

Ihr Gatte berührte seine Stirn leicht mit einem Finger und lächelte. Aber als der Lama das nächste Mal zu essen wünschte, gaben sie ihm ihr Bestes hin.

Und endlich – ermüdet, staubig und schläfrig – erreichten sie Umballa.

»Wir bleiben hier wegen eines Prozesses,« sprach des Farmers Frau zu Kim. »Wir wohnen bei meines Mannes Vetters jüngerem Bruder. Es ist Platz für Deinen Pogi und für Dich im Hofraum. Wird – wird er mir seinen Segen geben?«

»O, heiliger Mann! Eine Frau mit einem goldenen Herzen gibt uns Unterkunft für die Nacht. Es ist ein freundliches Land, dieses Land des Südens. Sieh, wie uns seit Tagesgrauen schon geholfen wurde.«

Der Lama beugte mit einer Segnung sein Haupt.

»Sollen wir meines Vetters jüngeren Bruders Haus mit Vagabunden füllen?« murmelte der Mann, seinen schweren Bambusstock schulternd.

»Deines Vetters jüngerer Bruder ist meines Vaters Vetter noch Geld schuldig von seiner Tochter Hochzeitsfest,« antwortete schnippisch die Frau. »Laß ihn ihr Futter auf dies Konto schreiben. Der Pogi wird auch zweifellos betteln.«

»Oho, ich bettle für ihn,« sagte Kim, bestrebt, den Lama baldmöglichst für die Nacht unter Obdach zu bringen, um selbst Mahbub Alis Engländer zu finden und sich von des weißen Hengstes Stammbaum zu befreien.

»Nun,« sagte er, als der Lama in dem inneren Hofe eines anständigen Hindu-Hauses hinter den Kasernen verankert war, »nun gehe ich eine Weile fort, um – um Lebensmittel im Bazar einzukaufen. Streife nicht umher, bis ich zurück bin.«

»Wirst Du zurückkehren? Wirst Du gewiß zurückkehren?« Der alte Mann hielt ihn am Handgelenk fest. »Und wirst Du in dieser selben Gestalt zurückkehren? Ist es zu spät, heute noch nach dem Strom auszuschauen?«

»Zu spät und zu dunkel. Beruhige Dich. Denke, wie weit Du schon auf dem Wege bist, wohl hundert Kos schon von Lahore.«

Kim stahl sich hinaus und fort – eine Gestalt, so unauffällig, als wohl je eine ihr eigenes und das Geschick einiger tausend anderer um den Nacken geschlungen trug. Mahbub Alis Beschreibung ließ ihm wenig Zweifel über das Haus, in dem sein Engländer wohnte, und ein Groom, der ein Dogcart vom Club heimbrachte, machte ihn vollständig sicher. Es blieb nur übrig, seinen Mann zu identifizieren. Kim schlüpfte durch die Gartenhecke und legte sich auf einen Haufen weiches Gras dicht an der Veranda. Das Haus strahlte von Licht, Diener bewegten sich um die mit Blumen, Kristall und Silber geschmückten Tafeln. Ein Engländer im Dinneranzug kam heraus und summte eine Melodie. Es war zu dunkel, um sein Gesicht zu sehen, so versuchte Kim ein Bettler-Experiment:

»Wohltäter der Armen!«

Der Mann trat schnell zurück, auf die Stimme zu.

»Mahbub Ali sagt –«

»Ha, was sagt Mahbub Ali?« Er machte keinen Versuch, den Sprecher zu sehen; das zeigte Kim, daß er Bescheid wußte.

»Der Stammbaum des weißen Hengstes ist vollständig festgestellt.«

»Welcher Beweis dafür?« Der Engländer hieb mit seiner Gerte gegen die Rosenhecke an der Seite der Auffahrt.

»Mahbub Ali gab mir diesen Beweis.« Kim warf das Päckchen zusammengefaltetes Papier in die Luft; es fiel neben dem Manne zur Erde, der den Fuß darauf stellte, als ein Gärtner um die Ecke bog.

Als der Diener vorüber war, hob er es auf, ließ eine Rupie fallen (Kim hörte den Klang) und schritt ins Haus, ohne sich umzudrehen. Rasch hob Kim das Geld auf; war aber, obschon als Inder aufgezogen, Irländer genug von Geburt, um Silber als das weniger Bedeutende bei einer Intrigue anzusehen. Was er wollte, war der sichtbare Effekt der Tat; und so, statt sich hinweg zu schleichen, legte er sich platt ins Gras und schlängelte sich an das Haus heran.

Er sah – indische Bungalows sind durch und durch offen – den Engländer in ein kleines Ankleidezimmer in eine Ecke der Veranda treten, das zugleich Bureau schien, denn Papiere und Depeschentaschen lagen verstreut umher – sich setzen und Mahbub Alis Botschaft studieren. Sein Gesicht, im vollen Licht der Petroleumlampe, veränderte, verdüsterte sich, und Kim, geübt wie jeder Bettler sein muß, Gesichter zu beobachten, nahm gute Notiz davon.

»Willy! Lieber Willy!« rief eine Frauenstimme.

»Du solltest in den Salon kommen. Sie können jeden Augenblick eintreffen.«

Der Mann las eifrig weiter.

»Willy!« rief die Stimme fünf Minuten später. »Er kommt. Ich höre die Reiter in der Avenue.«

Der Mann eilte barhäuptig hinaus, als ein großer Landauer, gefolgt von vier eingeborenen Reitern vor der Veranda hielt und ein stattlicher schwarzhaariger Mann gerade wie ein Pfeil sich hinaus schwang; ihm voraus ein junger, freundlich lächelnder Offizier.

Platt auf dem Bauche lag Kim, fast die hohen Räder berührend. Sein Mann und der dunkelhaarige Fremde wechselten einige Worte.

»Aber natürlich, mein Herr. Alles muß zurückstehen, wenn es sich um ein Pferd handelt,« sprach höflich der junge Offizier.

»Wir brauchen kaum mehr als zwanzig Minuten,« sagte Kims Mann. »Sie können die Honneurs machen – sorgen, daß man sich amüsiert und so weiter.«

»Heißt einen der Soldaten warten,« sagte der schlanke Mann, und die beiden traten in das Toilettenzimmer. Der Landauer rollte weg. Kim sah ihre Köpfe über Mahbub Alis Schreiben gebeugt und hörte ihre Stimmen – die eine leise und ehrerbietig, die andere scharf und bestimmt.

»Es ist keine Frage von Wochen. Es ist eine Frage von Tagen – von Stunden beinahe. Ich erwartete es seit einiger Zeit, aber dies – er tippte auf Mahbub Alis Papiere – macht der Sache ein Ende. Grogan speist heute hier?«

»Ja, Herr, und auch Macklin.«

»Sehr gut. Ich selbst will mit ihnen sprechen. Die Angelegenheit wird dem Rate unterbreitet werden, natürlich; doch ist dies ein Fall, wo man annehmen darf, daß wir berechtigt sind, sofort zu handeln. Benachrichtigen Sie die Pindi- und Peshawur-Brigaden. Es wird die Sommer-Urlaubsliste sehr aus der Ordnung bringen, aber das können wir nicht ändern. Das kommt davon, daß wir sie nicht gleich das erste Mal völlig niedergeschmettert haben. – Acht Tausend sollten genügen.«

»Und Artillerie, Herr?«

»Ich muß mit Macklin beraten.«

»Es bedeutet also Krieg?«

»Nein. Bestrafung. Wenn ein Mann durch das Tun seines Vorgängers gebunden ist –«

»Aber C 25 kann gelogen haben.«

»Er bestätigt die Mitteilung des anderen. Tatsächlich zeigten sie ihr Spiel schon vor sechs Monaten. Devenish aber war nicht abzubringen davon – es sei noch ein Ausweg zum Frieden zu finden. Natürlich benutzten sie dies, sich zu verständigen. Senden Sie diese Telegramme sofort ab – nach dem neuen Code – nicht dem alten – dem von mir und Wharton. Ich meine, wir brauchen die Damen nicht länger warten zu lassen. Wir können das Übrige bei der Zigarre abmachen. Ich wußte, daß es so kommen würde. Es ist Strafe – nicht Krieg.«

Als der Reiter fortgetrabt war, kroch Kim um die Ecke nach der Rückseite des Hauses, wo er, nach seinen Lahorer Erfahrungen, wußte, daß er Futter und Neuigkeiten finden werde. Die Küche war voll von aufgeregt hantierenden Küchenjungen, von denen einer nach ihm trat.

»O weh,« schrie Kim, Tränen heuchelnd, »ich wollte nur aufwaschen helfen, für einen Mundvoll.«

»Ganz Umballa überläuft uns aus demselben Grund. Mach, daß Du fortkommst. Die Suppe wird jetzt hineingetragen. Meinst Du, daß wir, in Creighton’s Dienst, fremde Küchenjungen brauchen, uns bei einem großen Diner zu helfen?«

»Es ist ein sehr großes Diner,« sagte Kim, nach den Schüsseln blickend.

»Kein Wunder. Der Ehrengast ist kein anderer als der Jang-i-Lat Sahib.« (Der Höchstkommandierende).

»Oho!« rief Kim in dem richtigen Gutturalton der Verwunderung. Er hatte erfahren, was er wissen wollte, und als der Küchenjunge sich umsah, war er fort.

»Und das alles,« sprach Kim zu sich selbst, wie immer wenn er über etwas nachdachte, in Hindostanisch – »um eines Pferdes Stammbaums willen. Mahbub Ali sollte zu mir kommen, um ein wenig lügen zu lernen. Bisher, wenn ich eine Botschaft auszurichten hatte, betraf sie stets ein Weib. Jetzt betrifft sie Männer. Besser! Der lange Mann sagte, er wolle eine große Armee los lassen, um jemand zu bestrafen – irgendwo. – Die Nachricht geht nach Pindi und Peshawur. Da sind auch Kanonen. Wollte, ich wäre noch näher herangekrochen. Es ist eine große Neuigkeit.«

Bei seiner Rückkehr fand er des Farmers Vetters jüngeren Bruder mit dem Farmer, dessen Frau und einigen Freunden eifrig dabei, den Familien-Prozeß nach allen Richtungen zu erörtern. Der Lama schlummerte. Nach der Abendmahlzeit gab man Kim eine Wasserpfeife, und er dünkte sich ein ganzer Mann, als er, mit ausgespreizten Beinen im Mondlicht liegend, an der glatten Kokosnußschale zog und ab und zu ein wenig mit der Zunge schnalzte. Seine Wirte waren sehr höflich, denn des Farmers Frau hatte ihnen von seiner Vision von dem Roten Stier erzählt und daß Kim wahrscheinlich aus einer anderen Welt stamme. Überdies war der Lama eine große und ehrwürdige Merkwürdigkeit. Später kam der Familien-Priester, ein alter, toleranter Sarsut-Brahmane, hinzu und brachte natürlich bald ein theologisches Argument vor, um Eindruck auf die Familie zu machen. Nach ihrem Bekenntnis waren sie natürlich alle auf ihres Priesters Seite; der Lama aber war der Gast und die Neuheit. Seine sanfte Freundlichkeit und seine eindrucksvollen chinesischen Zitate, die wie Zaubersprüche klangen, entzückten sie außerordentlich, und der Lama entfaltete sich in dieser einfachen, sympathischen Umgebung gleich des Bodhisats eigener Lotosblüte. Er erzählte von seinem Leben in den großen Bergen von Suchzen, bevor, wie er sagte: »ich mich aufmachte, um Erleuchtung zu suchen.«

Da kam es auch heraus, daß er in jenen weltlichen Tagen ein Meister im Horoskop- und Nativitäten-Stellen war. Der Familien-Priester bewog ihn, seine Methode mit seiner zu vergleichen. Jeder gab aufwärts nach den großen Sternen deutend, die durch die Dunkelheit der Nacht segelten, den Planeten Namen, die der andere nicht verstand. Die Kinder zupften, ungetadelt, an des Lamas Rosenkranz, und er vergaß selbst des Verbotes, Frauen anzusehen, als er von den ewigen Schneegipfeln, von Erdrutschen, von blockierten Pässen, den entlegenen Felsen sprach, wo man Saphire und Türkisen findet, und zuletzt von der wundervollen Hochlandstraße, die in das große China führt.

»Wie denkst Du über den da?« fragte der Farmer, den Priester bei Seite nehmend.

»Ein heiliger Mann – wahrhaftig ein heiliger Mann. Seine Götter sind nicht die Götter, aber seine Füße sind auf dem Wege,« war die Antwort. »Und seine Methode beim Nativitäts-Stellen – wenn das auch über Deinen Verstand geht, ist weise und sicher.«

»Sage mir,« fragte Kim schläfrig, »ob ich meinen Roten Stier auf einem grünen Felde finde, wie mir versprochen wurde?«

»Welche Kenntnis hast Du von Deiner Geburtsstunde?« fragte der Priester, aufschwellend vor Wichtigkeit.

»Zwischen dem ersten und zweiten Hahnkrähen in der ersten Nacht des Mai.«

»In welchem Jahr?«

»Ich weiß nicht; aber in der Stunde, wo ich den ersten Schrei tat, war das große Erdbeben in Srinagar, das in Kashmir liegt.« Dies hatte Kim von der Frau, die ihn beherbergte, und diese wieder von Kimball O’Hara. Das Erdbeben hatte man in ganz Indien gespürt, und es blieb für lange Zeit ein leitendes Datum im Punjab.

»Aha!« rief aufgeregt eine Frau. Dies schien ihr Kims übernatürliche Herkunft noch gewisser zu machen. »War nicht irgend jemandes Tochter auch da geboren?«

»Und ihre Mutter gebar dem Manne vier Söhne in vier Jahren – alles hübsche Knaben,« bestätigte die Farmersfrau, außerhalb des Kreises im Schatten sitzend.

»Kein in der Wissenschaft Erzogener,« sprach der Familien-Priester, »vergißt, wie die Planeten in jener Nacht in ihren Häusern standen.« Er begann in dem Staube des Hofes zu zeichnen. »Jedenfalls hast Du auf die Hälfte vom Hause des Stieres Anrecht. Wie lautet Deine Prophezeiung?«

»Eines Tages,« hub Kim an, entzückt von dem Aufsehen, das er erregte, »eines Tages werde ich durch Hilfe eines Roten Stieres auf einem grünen Felde mächtig werden; aber erst werden zwei Männer antreten, um alles bereit zu machen.«

»Ja, so ist es immer bei Beginn einer Vision. Eine tiefe Dunkelheit, die allmählich heller wird; dann kommt einer mit einem Besen und macht den Platz klar. Dann beginnt die Erscheinung. Zwei Männer sagst Du? Ei! Ei! Die Sonne, wenn sie das Haus des Stieres verläßt, tritt ein in das der Zwillinge. Daher die zwei Männer der Prophezeiung. Laß uns überlegen. Hole mir einen Zweig, Kleiner!«

Er zog die Augenbrauen zusammen, kratzte, wischte aus und kratzte wieder mysteriöse Zeichen in den Staub. Alle standen verwundert dabei, nur der Lama nicht, der sich mit seinem Takt vor jeder Einmischung hütete. Nach einer halben Stunde warf der Priester murrend die Rute fort. »Hm! So sprechen die Sterne. Innerhalb dreier Tage kommen die zwei Männer, um alles klar zu machen. Nach ihnen kommt der Stier, aber das Zeichen über ihm ist das Zeichen des Krieges und bewaffneter Männer.«

»Es war in der Tat ein Mann von den Ludhiana-Sikhs in dem Wagen von Lahore,« sagte die Farmersfrau, freudig aufgeregt.

»Tck, Bewaffnete Männer – viele Hunderte. Was hast Du mit Krieg zu tun?« fragte der Priester Kim. »Deins ist ein rotes und ein böses Zeichen von Krieg, der bald losbrechen wird.«

»Es geht ihn nichts an – nein – wir suchen nur Frieden und unseren Strom,« sprach ernsthaft der Lama.

Kim lächelte, sich dessen erinnernd, was er vor dem Toilettenzimmer erlauscht. Gewiß, er war ein Liebling der Sterne.

Der Priester strich mit dem Fuß über des Horoskop. – »Mehr als dies kann ich nicht sehen. In drei Tagen kommt der Stier zu Dir, Knabe.«

»Und mein Fluß, mein Fluß,« sprach flehentlich der Lama. »Ich hatte gehofft, der Stier würde uns beide zu dem Flusse leiten.«

»Ach, der wunderbare Fluß, mein Bruder,« antwortete der Priester. »Solche Dinge sind nicht gewöhnlicher Art.«

Am nächsten Morgen, trotz der Bitten ihrer Wirte, daß sie noch bleiben möchten, bestand der Lama auf der Abreise. Sie gaben Kim ein großes Bündel guter Lebensmittel und beinahe drei Annas in Kupfermünze mit auf den Weg, und mit vielen Segenswünschen sahen sie die beiden im Morgengrauen südwärts wandern.

»Schade ist es,« sprach der Lama, »daß diese und solche wie diese nicht frei werden können von dem Rad der Dinge.«

»Nein,« sagte Kim, »dann würde nur böses Volk auf der Erde zurückbleiben, und wer würde uns Obdach und Fleisch geben?« Und lustig schritt er aus mit seinem Bündel.

»Dort ist ein kleiner Fluß,« sprach der Lama. »Laß uns sehen.« – Er ging von der weißen Landstraße ab querfeldein und geriet in ein wahres Wespennest von herrenlosen Hunden.