Fünfzehntes Kapitel.

»Leben Sie wohl, Beß; ich versprach Ihnen fünfzig Pfund. Hier sind hundert – alles, was ich für meine Einrichtung von Benton erhielt. Das wird Sie eine Zeit lang mit hübschen Kleidern versorgen. Sie sind ein gutes, kleines Mädchen gewesen, alles in allem betrachtet, aber Sie haben Torpenhow und mir eine hübsche Menge Unruhe verursacht.«

»Grüßen Sie Mr. Torpenhow recht herzlich von mir, wenn Sie ihn sehen; wollen Sie das thun?«

»Natürlich werde ich es thun, Teuerste. Nun führen Sie mich zu der Laufplanke und in meine Kabine. Einmal an Bord des Luggers und das Mädchen ist – und ich bin frei, meine ich.«

»Wer wird auf dem Schiffe nach Ihnen sehen?«

»Der Obersteward, wenn das Geld irgend einen Nutzen hat. Dann der Doktor, wenn wir nach Port Saïd kommen, so weit ich mich auf die P. und O. Doktoren auskenne. Nach diesen wird der Herr für mich sorgen, wie er es zu thun pflegte.« Beß fand Dicks Kabine in der wilden Unruhe eines Schiffes, das voll von scheidenden und weinenden Verwandten war. Dann küßte er sie und legte sich in seine Koje, bis das Verdeck wieder klar sein würde. Er, der so lange Zelt gebraucht, sich in seinen eignen, für ihn dunklen Zimmern zu bewegen, kannte vortrefflich die Geographie eines Schiffes, und die Notwendigkeit, für seine eigne Bequemlichkeit zu sorgen, war wie Wein für ihn. Bevor die Schraube begann, das Schiff längs den Docks vorwärts zu treiben, hatte er sich mit dem Obersteward bekannt gemacht, ihn mit einem fürstlichen Trinkgelde bedacht, sich einen guten Platz an der Tafel gesichert, sein Gepäck geöffnet und sich ganz lustig in seiner Kabine hingesetzt. Er hatte kaum nötig, seinen Weg durch das Gefühl zu finden, denn er kannte alles ganz genau. Dann war Gott sehr gütig gegen ihn, ein tiefer Schlaf der Ermüdung kam über ihn, gerade als er an Maisie hatte denken wollen, er schlief, bis der Dampfer die Themsemündung hinter sich hatte und dem Kanale zusteuerte.

Das Rasseln der Maschinen, der Geruch von Oel und Farbe, und ein sehr vertrauter Ton in der nächsten Kabine veranlaßten ihn, aufzustehen.

»O, es ist gut, wieder aufzuleben!« Er gähnte, dehnte sich kräftig und ging auf Deck, wo man ihm mitteilte, daß man sich beinahe den Leuchtfeuern von Brighton gegenüber befände. Das ist ebenso wenig offenes Wasser, wie Trafalgar Square eine Gemeindewiese ist; die freie See beginnt bei Ushant, aber Dick konnte nichtsdestoweniger bereits das Heilsame der See auf sich wirken fühlen. Eine ungestüme kleine Gegendünung packte den Dampfer respektwidrig bei der Nase, während eine sich in der Nähe brechende Welle das Hinterdeck und den Haufen neuer Verdeckstühle bespritzte. Er hörte den Gischt mit dem Tone von zerbrochenem Glase niederfallen, erhielt einen Tassenkopf voll davon ins Gesicht, schnüffelte kräftig, und fühlte sich nach dem Rauchzimmer beim Steuerrade hin. Dort traf ihn eine kräftige Brise, blies ihm die Mütze fort und ließ ihn barhäuptig in der Thüre stehen, worauf der Kellner des Rauchzimmers, der begriffen, daß Dick ein erfahrener Reisender sei, sagte, daß das Wetter in der Verengerung des Kanals steif und mehr als eine steife Brise in der Bai sein würde. Diese Dinge ereigneten sich so, wie eben erwähnt, und Dick empfand eine außerordentliche Freude darüber. Es ist auf See gebräuchlich und sogar notwendig, sich an Tischen, Stützen und Tauen festzuhalten, wenn man von einer Stelle zur andern geht. Auf dem Lande ist ein Mann, der sich mit den Händen weiter fühlt, offenbar blind; auf der See kann sogar ein blinder Mann, der nicht seekrank ist, den Doktor über sein Gebrechen täuschen. Dick erzählte dem Arzte zahlreiche Geschichten, und diese sind eine Münze von größerem Werte als Silber, wenn sie richtig gehandhabt werden – rauchte mit demselben bis in die späte Nacht hinein, und gewann dessen kurzlebige Beachtung in einem Maße, daß er Dick versprach, ihm einige Stunden von seiner Zeit zu widmen, wenn sie in Port Saïd angelangt sein würden.

Die See brüllte oder war ruhig, je nachdem der Wind blies, die Maschinen sangen Tag und Nacht ihr Lied, die Sonne schien mit jedem Tage heißer, während Tom, der laskarische Barbier, Dick eines Morgens unter dem offenen Lukengitter rasirte, wo die kühle Luft wehte; die Sonnenzelte wurden aufgespannt, alle Passagiere lebten auf und schließlich traf man in Port Saïd ein.

»Bringen Sie mich,« sagte Dick zum Doktor, »in das Haus der Madame Binat, wenn Sie wissen, wo es liegt.«

»Pfui!« rief der Doktor. »Ich weiß es. Es ist keine große Auswahl vorhanden; aber ich setze voraus, Sie wissen, daß das eines der verrufensten Häuser der Stadt ist. Man wird Sie erst ausplündern und später totstechen.«

»O nein, diese Leute nicht. Bringen Sie mich nur hin, ich kann dann schon selbst für mich sorgen.«

Er wurde demgemäß zu Madame Binat gebracht, während seine Nasenlöcher den wohlbekannten Geruch des Ostens einsogen, der sich ohne irgend eine Abwechslung, von der Spitze des Kanals zu Hongkong bis dort hinzieht, und sein Mund die abscheuliche Sprache der Lingua Franka der Levante redete. Die Hitze traf ihn zwischen den Schulterblättern wie der Schlag eines alten Freundes, seine Füße glitten auf dem Sande aus, während seine Rockärmel so heiß wie frisch gebackenes Brot waren, wenn er sie an seine Nase brachte.

Madame Binat lächelte mit dem Lächeln, das kein Erstaunen kennt, als Dick in das Schanklokal eintrat, das eine Quelle ihrer Einnahme war.

Mit Ausnahme des kleinen Zwischenfalles vollständiger Dunkelheit konnte er sich kaum vorstellen, daß er jemals das frühere Leben hier verlassen, das vor seinen Ohren brummte. Jemand öffnete eine Flasche starken Schiedamer. Dieser Geruch erinnerte Dick an Monsieur Binat, der beiläufig über Kunst und Degradation gesprochen hatte. Binat war tot; Madame sagte es, nachdem der Doktor, entrüstet, so weit ein Schiffsarzt entrüstet sein kann, über die Wärme von Dicks Empfang, fortgegangen war. »Man entsinnt sich hier meiner noch nach einem Jahre. Man hatte mich über dem Wasser in derselben Zeit vergessen. Madame, ich muß eine lange Unterredung mit Ihnen haben, sobald Ihre Zeit es gestattet. Es ist gut, wieder zurück zu sein.«

An jenem Abend stellte sie einen eisernen Kaffeetisch draußen auf den Sand und nahm mit Dick an demselben Platz, während das Haus hinter ihnen von Lärm, Fröhlichkeit, Flüchen und Drohungen erfüllt war. Die Sterne kamen hervor und die Lichter der Schiffe im Hafen blinkten an der Mündung des Kanals. »Ja, der Krieg ist gut für das Geschäft, mein Freund; aber was willst Du hier machen? Wir haben Dich nicht vergessen.«

»Ich war drüben in England und wurde blind.«

»Aber erst kam der Ruhm. Wir hörten hier davon, sogar hier – ich und Binat; Du hast den Kopf der ›Gelben Tina‹ benützt – sie lebt noch – so oft und so gut, daß Tina lachte, wenn die Zeitungen mit den Mailbooten eintrafen. Es war in den Bildern stets etwas vorhanden, was wir hier wieder erkennen konnten. Und dann gab es noch stets Ruhm und Geld für Dich.«

»Ich bin nicht arm – ich werde Sie gut bezahlen.«

»Nicht mich. Du hast für alles bezahlt.« Dann sagte sie leise: »Mon Dieu, blind zu sein und noch so jung! Wie schrecklich!«

Dick konnte ihr Gesicht mit dem mitleidigen Ausdrucke nicht sehen, noch sein eignes mit dem farblosen Haare an den Schläfen. Er fühlte nicht das Bedürfnis, bemitleidet zu werden, er war zu begierig, noch einmal nach der Front zu gelangen, und erklärte seinen Wunsch.

»Und wohin? Der Kanal ist voll von englischen Schiffen. Zuweilen feuern sie, wie sie es zu thun pflegten, als der Krieg hier war – vor zehn Jahren. Jenseits Kairo wird gekämpft, aber wie kannst Du dorthin gelangen ohne einen Korrespondentenpaß? In der Wüste gibt es stets Gefechte, das ist also auch unmöglich,« sagte sie.

»Ich muß nach Suakim gehen!« Er wußte, dank Alfs Vorlesen, daß Torpenhow sich bei der Kolonne befinde, die den Bau der Suakim-Berberlinie beschützte. Die P. und O. Dampfer berühren jenen Hafen nicht, und außerdem kannte Madame Binat einen jeden, dessen Beistand oder Rat von Wert war. Es waren keine respektablen Leute, aber sie konnten manche Dinge fertig bringen, was viel wichtiger ist, wenn man etwas durchsetzen will.

»Aber bei Suakim wird fortwährend gefochten. Die Wüste erzeugt beständig Menschen, – beständig mehr Menschen. Und dieselben sind so kühn! Weshalb denn nach Suakim?«

»Mein Freund befindet sich dort.«

»Dein Freund! Pfüt! Dein Freund ist dann tot.« Madame Binat ließ ihren fetten Arm auf den Tisch fallen, füllte Dicks Glas von neuem, und blickte ihn aus der Nähe an, beim Lichte der Sterne. Er brauchte gar nicht seinen Kopf zustimmend zu beugen und zu sagen:

»Nein. Er ist ein Mann, aber – wenn es geschehen sollte – würdest Du es tadeln?«

»Ich es tadeln?« sagte sie mit gellendem Gelächter. »Wer bin ich, um irgend jemand zu tadeln – ausgenommen diejenigen, die mich bei dem zu betrügen versuchen, was sie verzehrt haben. Aber es ist wirklich schrecklich.«

»Ich muß nach Suakim gehen. Denken Sie für mich. Es hat sich in diesem Jahre sehr viel geändert, und alle Leute, die ich kannte, sind nicht hier. Der ägyptische Leuchtturmdampfer geht den Kanal hinunter nach Suakim – auch die Postboote – aber selbst dann …«

»Denken Sie nicht weiter darüber nach. Ich weiß es, und es ist meine Sache, nachzudenken. Du sollst hingehen – Du sollst hingehen und Deinen Freund sehen. Sei klug. Bleibe hier sitzen, bis es im Hause etwas ruhiger ist, ich muß nach meinen Gästen sehen – und dann gehe zu Bett. Du sollst hingehen, wirklich. Du sollst.«

»Morgen?«

»Sobald es sein kann.« Sie sprach mit ihm, als ob er ein Kind wäre.

Er blieb an dem Tische sitzen und hörte nach den Stimmen im Hafen und auf den Straßen, und war neugierig, wie bald das Ende kommen würde, bis Madame Binat ihn zu Bett brachte und ihm befahl zu schlafen. Im Hause schrie, sang, tanzte und lärmte man, während Madame Binat sich zwischen durch bewegte, mit einem Auge auf die Bezahlung für die Getränke und die Mädchen, mit dem andern auf Dicks Interessen. Zu diesem letzteren Zwecke lächelte sie einem finster aussehenden türkischen Offizier von den Fellahregimentern zu, war sehr liebenswürdig gegen einen Cyprioten, einen Unterbeamten des Kommissariats, und mehr als freundlich gegen einen Kamelagenten ohne jede Nationalität. Früh morgens machte Madame Binat, angemessen gekleidet, mit einem Ballkleide von flammend roter Seide, vorn mit verblichener Goldstickerei bedeckt, und einem Halsbande aus flachen Glasdiamanten, die Schokolade fertig und brachte sie Dick hinein.

»Ich bin es nur; ich stehe in einem diskreten Alter, nicht? Trinke nur und iß die Rolle dazu. In Frankreich bringen die Mütter ihren Söhnen, wenn dieselben sich artig betragen haben, eben so die Morgenschokolade.« Sie setzte sich auf den Rand des Bettes und flüsterte:

»Es ist alles arrangirt. Du wirft mit dem Leuchtturmboote gehen. Es kostet ein Geschenk von zehn englischen Pfund. Der Kapitän wird niemals von der Regierung bezahlt. Das Boot erreicht Suakim in vier Tagen. Mit Dir wird George gehen, ein griechischer Maultiertreiber. Ein zweites Geschenk von zehn Pfund. Ich werde sie bezahlen; man darf nichts von Deinem Gelde wissen. George wird mit Dir so weit gehen wie mit seinen Maultieren. Darauf kehrt er zu mir zurück, denn seine Geliebte befindet sich hier; und wenn ich kein Telegramm von Suakim erhalte, daß Du Dich wohl befindest, so wird das Mädchen für George verantwortlich gemacht.«

»Ich danke Ihnen.« Er reichte ihr schläfrig die Tasse. »Sie sind wirklich zu gütig, Madame.«

»Wenn es irgend etwas gäbe, was ich für Dich thun könnte, so würde ich sagen, bleibe hier und sei klug; aber ich glaube nicht, daß es das beste für Dich wäre!« Sie blickte mit einem traurigen Lächeln auf ihr mit Liqueurflecken bedecktes Kleid. »Nein, Du sollst gehen, wirklich. Du sollst gehen. Es ist so am besten. Mein Junge, es ist so am besten.«

Sie schwieg und küßte Dick zwischen die Augen. »Das ist zum Morgengruß,« sagte sie im hinausgehen. »Wenn Du angekleidet bist, wollen wir mit George sprechen und alles fertig machen. Aber zuerst müssen wir den kleinen Koffer öffnen. Gib mir die Schlüssel.«

»Die Anzahl der Küsse ist in letzter Zeit einfach skandalös geworden. Ich muß erwarten, daß Torpenhow mich nächstens gleichfalls küßt; obschon er wahrscheinlich über mich fluchen wird, weil ich ihm in den Weg gekommen bin. Nun, es wird nicht lange dauern! – O, Madame, helfen Sie mir bei meiner Toilette für die Guillotine! Dort hinten wird wohl keine Gelegenheit sein, sich ordentlich anzukleiden.«

Er kramte in seiner neuen Feldzugsausrüstung und ritzte sich mit den Sporen an den Händen. Es gibt zwei Manieren, gut geölte Jaquets, fleckenlos blaue Gamaschen, Khakiröcke und Hosen, sowie einen vortrefflich mit Schlemmkreide geputzten Helm zu tragen. Die richtige Manier ist diejenige des unermüdlichen Mannes, der Herr seiner selbst ist und fröhlich zu einer Expedition auszieht.

»Alles muß ganz korrekt sein,« erklärte Dick. »Es wird später schmutzig werden, aber jetzt thut es wohl, sich gut gekleidet zu fühlen. Ist alles, wie es sein soll?«

Er klopfte auf den Revolver, der unter der überhängenden Bluse an der rechten Hüfte verborgen war und fühlte mit den Fingern nach seinem Kragen.

»Ich kann nichts weiter thun,« sagte Madame zwischen Lachen und Weinen, »Sieh selbst nach – doch ich vergaß.«

»Ich bin sehr zufrieden. Nun lassen Sie uns zu dem Kapitän, Georg und dem Leuchtturmboote gehen. Seien Sie etwas rasch, Madame.«

»Aber Du darfst nicht gesehen werden, wie Du bei Tage mit mir am Hafen spazieren gehst. Stelle Dir selbst nur vor, wenn einige englische Damen …«

»Es gibt hier keine englischen Damen; und wenn es welche gäbe, so habe ich sie vergessen. Bringen Sie mich nur hin.«

Trotz seiner glühenden Ungeduld, wurde es beinah Abend, bevor das Leuchtturmboot abfuhr. Madame hatte viel mit George und dem Kapitän gesprochen bezüglich der für Dicks Wohl zu treffenden Arrangements. Sehr wenig Männer, die die Ehre ihrer Bekanntschaft hatten, wagten es, Madames Ratschläge zu verachten. Diese Art von Verachtung möchte leicht damit enden, von einem Fremden in einer Spielhölle, nach einer überraschend kurzen Herausforderung, niedergestochen zu werden.

Sechs Tage arbeitete der kleine Dampfer sich bis Suakim durch, wo er den Oberaufseher der Leuchttürme aufnehmen sollte; Dick machte es sich zum Geschäft, George zu versöhnen, der von der Furcht für seine Geliebte gequält wurde und halb geneigt war, Dick für seinen eigenen Verdruß verantwortlich zu machen. Als sie gelandet, nahm George ihn unter seine Flügel und betrat mit ihm zusammen den glühendheißen Seehafen, der angefüllt war mit Material und Abfällen der Suakim-Berberlinie, von Lokomotiven in trostlosen Fragmenten bis zu Bergen von Schienenstücken und Schwellen.

»Wenn Sie sich zu mir halten,« sagte George »so wird niemand Sie nach einem Passe oder nach dem, was Sie hier wollen, fragen. Alle sind hier sehr beschäftigt.«

»Ja, aber ich möchte gern mit einigen von den Engländern sprechen. Vielleicht entsinnen sie sich meiner. Ich war hier vor längerer Zeit bekannt – als ich wirklich noch jemand war.«

»Vor längerer Zeit bedeutet hier vor sehr langer Zeit. Die Kirchhöfe sind voll. Nun hören Sie zu. Diese neue Eisenbahn geht bis Tanai-al-Hassan – sieben Meilen weit – hinaus. Dort befindet sich ein Lager. Man sagt, daß jenseits Tanai-al-Hassan die englischen Truppen vorwärts marschiren und alles, was dieselben verlangen, ihnen auf dieser Linie hingebracht wird.«

»Ah! Ein Basislager. Ich verstehe. Das ist ein besseres Geschäft, als mit den Fuzzies im offenen Feld zu fechten.«

»Aus diesem Grunde eben gehen die Maultiere mit dem eisernen Zuge hinauf.«

»Eisernen, was?«

»Er ist ganz gepanzert mit Eisen, weil immer auf ihn geschossen wird.«

»Ein gepanzerter Zug. Immer besser! Fahre fort, redlicher George.«

»Ich gehe mit meinen Maultieren heute abend hinauf. Nur diejenigen, die besonders verlangen, nach dem Lager zu gehen, dürfen mit diesem Zuge hinausfahren. Nicht weit von der Stadt fangen sie schon an, auf ihn zu schießen.«

»Die lieben Menschen, sie machten es immer so!« Dick zog den Geruch von trocknem Staub, heißem Eisen und abgeblätterter Farbe mit Wonne ein. Gewiß bewillkommnete ihn das frühere Leben in großmütigster Weise.

»Wenn ich meine Maultiere zusammen habe, gehe ich heute abend hinauf, aber Sie müssen erst ein Telegramm nach Port Said mit der Erklärung abschicken, daß ich Ihnen kein Leid angethan habe.«

»Madame hat Dich gut in der Hand. Würdest Du mir ein Messer in den Leib stoßen, wenn Du Gelegenheit dazu hättest?«

»Ich habe keine Gelegenheit dazu,« erwiderte der Grieche. »Sie befindet sich dort bei dem Weibe.«

»Ich verstehe. Es ist eine böse Sache, zwischen der Liebe einer Frau und der Gelegenheit, Beute zu machen, hin und her zu schwanken. Ich sympathisire mit Dir, George.«

Sie gelangten ungefragt zu dem Telegraphenbureau, da alle Welt außerordentlich beschäftigt war und kaum Zeit hatte, den Kopf nach ihnen zu drehen, denn Suakim war der letzte Ort unter dem Himmel, den man zu seiner Erholung an einem freien Tage sich auswählen würde. Bei ihrer Rückkehr fragte ein englischer Subalternoffizier Dick, was er hier mache.

Dieser trug eine blaue Brille, und hielt sich an Georges Ellenbogen mit der Hand, als er antwortete:

»Aegyptische Regierung – Maultiere. Meine Ordres lauten, dieselben der A. E. G, in Tanai-al-Hassan zu übergeben. Wünschen Sie, meine Papiere zu sehen?«

»O, sicherlich nicht. Ich bitte um Entschuldigung, Ich würde gar nicht gefragt haben, aber da ich Ihr Gesicht früher nicht gesehen, so …«

»Ich gehe heute abend mit dem Zuge hinaus, vermute ich,« sagte Dick kühn. »Es wird doch keine Schwierigkeiten bei dem Verladen der Maultiere geben, nicht wahr?«

»Sie können die Plattformen für die Pferde von hier aus sehen. Sie müssen beizeiten einladen lassen.«

Der junge Mann ging fort und war neugierig, was für eine Art von vom Schicksal Verschlagener das sein möge, der wie ein Gentleman sprach und sich mit einem griechischen Maultiertreiber associirt hatte. Dick fühlte sich ganz unglücklich. Einem englischen Offizier Trotz zu bieten, ist keine Kleinigkeit, doch der Spaß verliert seinen Geschmack, wenn man ihn aus der Dunkelheit herausspielt und über rauhe Wege hinstolpert, mit dem ewigen Gedanken daran, wie es sein würde, wenn die Dinge sich anders gestaltet hätten und alles gewesen wäre, wie es nicht war.

George teilte seine Mahlzeit mit Dick und ging dann zu seinen Maultieren, seinen Schützling allein in einem Schuppen zurücklassend, wo derselbe mit dem Gesichte in den Händen saß. Vor seinen dichtgeschlossenen Augen tanzte das Gesicht von Maisie, lächelnd, mit geöffneten Lippen. Um ihn her gab es viel Lärm und Geschrei. Er bekam Furcht und hätte beinahe nach George gerufen.

»Hast Du Deine Maultiere bereit?« ertönte die Stimme des Subalternoffiziers hinter ihm.

»Mein Diener sieht nach ihnen, Thatsache ist, daß ich einen Anfall von Ophthalmie habe, so daß ich nicht gut sehen kann.«

»Beim Himmel, das ist schlimm. Sie sollten eine Zeit lang in ein Hospital gehen. Ich habe selbst einen Anfall davon gehabt. Es ist eben so schlimm als blind zu sein.«

»Das finde ich auch. Wann fährt der gepanzerte Zug ab?«

»Um sechs Uhr. Er gebraucht eine Stunde zu den sieben Meilen.«

»Sind die Fuzzies in der Nähe der Strecke, wie?«

»Etwa an drei Abenden in der Woche. Ich habe das Kommando über den Zug heute abend. Gewöhnlich kehrt derselbe leer in der Nacht nach Tanai zurück.«

»Ein großes Lager in Tanai, vermute ich?«

»Ziemlich groß. Es muß unsere Wüstenkolonne irgendwo mit Lebensmitteln versorgen.«

»Ist dieselbe weit davon entfernt?«

»Zwischen dreißig und vierzig Meilen, in einem höllisch trockenen Lande.«

»Ist das Land zwischen Tanai und unseren Leuten ruhig?«

»Mehr oder weniger. Ich möchte nicht allein über dasselbe reiten, oder mit einem kleinen Kommando, obgleich die Späher oft auf außerordentliche Weise durchkommen.«

»Das thaten sie stets.«

»Sind Sie denn früher hier gewesen?«

»Ich war während des ganzen Krieges hier, als er zuerst ausbrach.«

»Im Dienst und kassirt,« war der erste Gedanke des Offiziers, deshalb stand er von weiteren Fragen ab.

»Dort kommt Ihr Diener mit den Maultieren. Es erscheint wirklich sonderbar …«

»Daß ich Maultiere führe?« fragte Dick.

»Das wollte ich nicht sagen, aber es ist so. Verzeihen Sie mir – es ist schrecklich unbescheiden, ich weiß es, aber Sie sprechen wie ein Mann, der in einer öffentlichen Schule gewesen ist. Man kann sich über den Ton nicht täuschen.«

»Ich war in einer öffentlichen Schule.«

»Ich dachte es. Ich will Ihre Gefühle nicht verletzen, aber Sie scheinen in Ihren Verhältnissen etwas heruntergekommen zu sein, nicht wahr? Ich sah Sie mit dem Kopf in den Händen sitzen, und deshalb redete ich Sie an!«

»Ich danke Ihnen. Ich bin so vollständig heruntergekommen, wie ein Mann es nur sein kann.«

»Ich vermutete es – ich will sagen, ich bin selbst ein Mann aus einer öffentlichen Schule. Könnte ich vielleicht – nehmen Sie es als ein Darlehen an, Sie wissen, und …«

»Sie sind zu freundlich, aber, bei meiner Ehre, ich habe so viel Geld, wie ich brauche – ich will Ihnen sagen, was Sie für mich thun könnten; Sie würden mich damit für immer verpflichten. Lassen Sie mich in den vordersten Waggon steigen. Es gibt doch einen Vorderwagen, nicht wahr?«

»Ja. Wie wissen Sie das?«

»Ich hin schon früher in einem gepanzerten Zuge gewesen. Lassen Sie mich nur etwas von dem Spasse sehen – hören, meine ich, und ich werde Ihnen sehr dankbar sein. Ich gehe auf eigene Gefahr als ein Nichtkombattant.«

Der junge Mann dachte einen Augenblick nach.

»Gewiß,« sagte er dann, »Man hält uns für einen leeren Zug, und niemand wird mich am andern Ende niederblasen.«

George und eine Horde freiwilliger Gehilfen hatten mit vielem Geschrei die Maultiere eingeladen, und der schmalspurige gepanzerte Zug, mit dreizolligen Platten aus Gußstahl so bekleidet, daß er wie ein langer Sarg aussah, stand fertig zum Abfahren da bereit.

Zwei Vorwagen befanden sich vor der Lokomotive und waren vollständig mit Panzerplatten bedeckt, nur der erste hatte vorn eine Oeffnung für die Mündung eines Maschinengeschützes, während der zweite Wagen auf jeder Seite eine solche Oeffnung besaß, um seitwärts feuern zu können. Beide Wagen bildeten zusammen ein langes, gewölbtes Zimmer aus Eisen, in dem eine Abteilung Artilleristen lärmte.

»Whitechapel – der letzte Zug! Ah, ich sehe, wie Ihr dort in der ersten Klasse jemanden küßt!« rief ein Artillerist ans, gerade als Dick in den vordersten Wagen kollerte.

»Himmel! Da ist ein wirklicher, lebendiger Passagier für den Kew-Tanai-Actoa-Frühzug.« – »Echo, Herr! Extrablatt! Star, Herr!« – »Soll ich Ihnen einen Fußwärmer bringen?« fragte ein anderer.

»Danke. Ich will meinen Eintritt bezahlen,« sagte Dick, worauf sich bis zur Ankunft des Subalternoffiziers ein sehr freundschaftlicher Verkehr entwickelte, dann rüttelte der Zug auf der rauhen Bahn fort.

»Dieses ist eine sehr große Verbesserung bei dem Feuern auf die unempfindlichen Fuzzies in offenem Felde,« bemerkte Dick von seinem Platze in einer Ecke aus.

»O, aber sie hat noch keinen Eindruck auf sie gemacht. Da geht es los!« sagte der Offizier, als eine Kugel gegen die Außenseite des Wagens schlug. »Wir haben immer mindestens einen Angriff auf den Abendzug. Gewöhnlich greifen sie den letzten Wagen an, wo mein jüngerer Kamerad kommandirt. Er hat den ganzen Spaß von der Geschichte.«

»Doch nicht heute abend! hören Sie!« erwiderte Dick. Einer Salve von anprallenden Kugeln folgte gellendes Geschrei. Die Kinder der Wüste liebten ihre nächtliche Unterhaltung und der Zug bot ein ausgezeichnetes Ziel darauf dar.

»Lohnt es, ihnen einen halben Springer zu geben?« fragte der Offizier den Lieutenant von den Sappeurs, der auf der Maschine stand.

»Ich denke, ja! Es ist dieses meine Sektion der Bahn. Sie werden allen möglichen Unfug mit meinem Bahndämme anstellen, wenn wir ihnen nicht Einhalt thun.«

»Fertig!«

»Grrmph!« machte das Maschinengeschütz durch alle fünf Mündungen, als der Offizier den Hebel zurückzog. Die leeren Patronenhülsen fielen auf den Fußboden, während der Rauch sich nach hinten durch den Wagen zog. Auch am Ende des Zuges wurde gefeuert und aus dem Dunkel der Nacht das Feuer mit großem Geheule erwidert. Dick streckte sich auf dem Fußboden aus, ganz aufgeregt vor Entzücken über das Knallen und den Geruch des Pulvers.

»Gott ist sehr gnädig – ich glaubte niemals, daß ich dies noch einmal hören würde. Gebt ihnen die Hölle, Leute. O, gebt ihnen die Hölle!« rief er aus.

Der Zug hielt vor irgend einem Hindernisse auf der Bahn, worauf eine Abteilung zum Rekognosziren aussteigen mußte, doch kam sie fluchend zurück, um Schaufeln zu holen. Die Kinder der Wüste hatten Sand und Kies auf den Schienen aufgehäuft, so daß zwanzig Minuten verloren wurden, um ihn fortzuräumen. Dann fing das langsame Fahren wieder an, während noch mehr Schüsse, noch mehr Geschrei mit dem stetigen Geknatter des Maschinengeschützes abwechselten; schließlich hatte man noch einige Schwierigkeit mit einer halb ausgehobenen Schiene, bis man in den Schutz des geräuschlosen Lagers bei Tanai-al-Hassan gelangte.

»Nun, Sie haben gesehen, daß es anderthalb Stunden erfordert, um den Zug durchzubringen,« sagte der Subalternoffizier.

»Es war dennoch ein Spaß! Ich wünschte, es hätte noch zweimal so lange gedauert. Wie prächtig muß die Sache sich von außen ausgenommen haben!« sagte Dick, einen Seufzer des Bedauerns ausstoßend.

»Es wird nach den ersten paar Nächten langweilig. Beiläufig, wenn Sie Ihre Maultiere untergebracht haben, so kommen Sie in mein Zelt, ich will sehen, ob ich etwas zu essen finden kann. Ich bin Bennit von den Kanonieren – wo die Artillerie kampirt – und, denken Sie daran, daß Sie nicht im Finstern über meine Zeltstricke stolpern.«

Aber für Dick war ja alles finster. Er konnte die Kamele, die Heuballen, das Kochen, die rauchenden Feuer und die in Lohe getränkte Leinwand der Zelte nur riechen, als er dort stillstand, wo er aus dem Zuge gestiegen und nach George rief. Dieser lud, am Ende des Zuges, seine Maultiere aus.

Die Maschine blies den Dampf fast in Dicks Ohr ab; ein kalter Wind aus der Wüste strich über ihn hin; er war hungrig und fühlte sich ermüdet und schmutzig, so schmutzig, daß er versuchte, seinen Rock mit den Händen zu reinigen. Das war eine vergebliche Arbeit; er steckte die Hände in die Taschen und fing an nachzuzählen, wie oft er in fremden oder entlegenen Orten auf Eisenbahnzüge oder Kamele, Maultiere oder Pferde hatte warten müssen, um sich fortschaffen zu lassen. Zu jener Zeit konnte er sehen – wohl wenig Menschen besser – und der Anblick eines bewaffneten Lagers zur Zeit des Diners unter den Sternen war ein stets neues Vergnügen für das Auge. Da gab es Farbe, Licht und Bewegung, ohne die kein Mensch viel Vergnügen im Leben hat. An diesem Abende blieb für ihn nur noch eine Reise durch die Finsternis, die niemals aufhört, übrig, um einem Menschen zu fügen, wie weit er gereist sei. Dann wollte er Torpenhows Hand noch einmal ergreifen, Torpenhows, der lebend und kräftig war, und mitten in der Aktion lebte, die einst den Ruf eines Mannes gegründet, der Dick Heldar hieß; nicht im geringsten zu verwechseln mit dem blinden, verwilderten Vagabunden, der denselben Namen zu führen schien. Ja, er wollte Torpenhow aufsuchen und dem früheren Leben so nahe als möglich kommen. Später wollte er alles vergessen: Bessie, welche die Melancholie zerstört hatte und beinahe sein eigenes Leben zerstört hätte; Benton, der in einer merkwürdig unreellen Stadt lebte voll von Zinnstiften, Gashähnen und anderer Dinge, die kein Mensch nötig hatte; jenes unverständige Wesen, das ihm Liebe und Treue umsonst angeboten, aber nicht seinen Namen unterschrieben hatte; und vor allem Maisie, die, von ihrem eignen Gesichtspunkte aus, recht hatte in allem, was sie that, aber, o, in dieser Entfernung, so verführerisch schon war.

Georgs Hand legte sich auf seinen Arm und brachte ihn in die Gegenwart zurück.

»Und was nun?« fragte George.

»O ja, natürlich. Was nun? Bringe mich zu den Kameltreibern; wo die Späher sitzen, wenn sie von der Wüste hereinkommen. Sie sitzen bei ihren Kamelen, während diese Korn aus einer an den Ecken hochgebundenen schwarzen Decke fressen. Bringe mich zu ihnen!«

Das Lager war rauh und uneben, so daß Dick häufig über die Stümpfe von Gesträuch stolperte. Die Späher saßen bei ihren Tieren, wie Dick es gesagt. Der Schein von den Dungfeuern flackerte auf ihren bärtigen Gesichtern, während die Kamele an ihrer Seite sprudelten und murmelten. Es lag nicht in Dicks Absicht, mit einem Transporte von Lebensmitteln in die Wüste zu gehen, das würde zu lästigen Fragen führen, und da man einen blinden Nichtkombattanten in der Front nicht gebrauchen kann, so würde er wahrscheinlich genötigt werden, nach Sullkim zurückzukehren. Er mußte allein und sogleich hinausgehen.

»Jetzt noch einen letzten Spaß – den größten von allen,« sagte er. »Friede sei mit euch, Brüder!« Der aufmerksame George führte ihn zu dem Kreise am nächsten Feuer. Die Kamelscheiks neigten ernst den Kopf, während die Kamele, einen Europäer riechend, neugierig zur Seite blickten, wie brütende Hennen, halb bereit, aufzuspringen.

»Ein Tier und einen Treiber, um heute nacht bis zu den Vortruppen zu gehen,« sagte Dick.

»Ein Mulaid?« fragte eine Stimme, spöttisch die Rasse der besten Lastkamele nennend, die er kannte.

»Ein Bisharin,« erwiderte Dick mit großem Ernste. »Ein Bisharin ohne Sattelgallen.«

Zwei oder drei Minuten gingen in tiefem Schweigen vorüber.

»Wir haben diese Nacht Ruhe. Man kann nicht aus dem Lager hinauskommen.«

»Auch nicht für Geld?«

»Hm! Ah! Englisches Geld?«

Ein zweites drückendes Schweigen.

»Wie viel?«

»Fünfundzwanzig Pfund englisches Geld, bezahlt in die Hand des Treibers am Ende meiner Reise, und ebenso viel in die Hand des Kamelscheiks hier, um bezahlt zu werden bei der Rückkehr des Treibers.«

Das war eine fürstliche Bezahlung und der Scheik, der wußte, daß er von dem Depositum seine Kommission erhalten würde, schürte Dicks wegen die Sache an.

»Für kaum einen Nachtmarsch – fünfzig Pfund. Land und Mühlen, gute Bäume und Weiber, um einen Mann für den Rest seiner Tage zufrieden zu machen.«

»Wer spricht?« sagte Dick.

»Ich,« rief eine Stimme. »Ich will gehen – aber man kann nicht aus dem Lager herauskommen.«

»Thor! Ich weiß, daß ein Kamel sein Kniehalfter zerreißen kann und die Schildwachen nicht feuern, wenn man geht, um es wieder einzufangen. Fünfundzwanzig Pfund und noch fünfundzwanzig Pfund. Aber das Tier muß ein gutes Bisharin sein; ich werde kein Lastkamel nehmen.«

Dann fing das Handeln von neuem an und nach einer halben Stunde wurde das erste Depositum dem Scheik eingehändigt, der leise mit dem Treiber sprach. Dick hörte den letzteren sagen: »Nur ein Stückchen Weges außerhalb. Irgend ein Lasttier wird genügen. Bin ich ein Narr, mein Vieh für einen blinden Mann zu riskiren?«

»Obgleich ich nicht sehen kann,« – Dick erhob seine Stimme ein wenig, – »so führe ich doch etwas bei mir, das sechs Augen hat, und der Treiber wird vor mir sitzen. Wenn wir die englischen Truppen nicht bis zur Morgendämmerung erreichen, wird er tot sein.«

»Aber wo, in Gottes Namen, befinden sich die Truppen?«

»Wenn Du es nicht weißt, so lasse einen andern Mann reiten. Weißt Du es? Denke daran, daß es Leben oder Tod für Dich ist.«

»Ich weiß es,« sagte der Treiber mürrisch. »Stelle Dich hinter mein Tier. Ich will es los lassen.«

»Nicht so rasch. George, halte den Kopf des Kamels einen Augenblick; ich will seine Backe befühlen.« Die Hände wanderten über die Haut, bis sie den eingebrannten Halbkreis fanden, das Zeichen des Bisharin, des leicht gebauten Reitkamels. »Das ist gut. Schneide dieses eine los. Denke daran, daß Gottes Segen nicht über den kommt, der versucht, den Blinden zu betrügen.«

Die Männer bei den Feuern kicherten über die Niederlage des Kameltreibers. Er hatte beabsichtigt, ein träges, sattelgalliges Lasttier unterzuschieben.

»Stelle Dich dahinter!« rief jemand, das Bisharin unter den Bauch mit einem Dorn schlagend. Dick gehorchte, sobald er den Nasenriemen fest in seiner Hand fühlte, worauf ein Schrei folgte. »Illaha, aho! Es ist los!«

Mit einem Schrei und Gegrunze erhob das Bisharin sich auf seine Füße und tauchte nach vorwärts der Wüste zu, gefolgt von seinem schreienden und jammernden Treiber. George ergriff Dick am Arm und lief mit ihm dicht, bei einer Schildwache vorüberstolpernd, die an das Losbrechen von Kamelen gewöhnt war.

»Was ist denn das nun für ein Lärm?« schrie sie.

»Jedes Stück von meiner Ausrüstung auf diesem verdammten Dromedar,« antwortete Dick in dem Tone eines gewöhnlichen Soldaten.

»Lauf zu und nimm Dich in acht, daß man Dir draußen nicht die Kehle durchschneidet – Dir und Deinem Dromedar.«

Das Geschrei hörte auf, als das Kamel hinter einem Hügel verschwunden war, worauf sein Treiber es zurückrief und niederknien ließ.

»Steige zuerst auf,« sagte Dick. Dann kletterte er in den zweiten Sitz und druckte die Mündung des Revolvers gegen den Rucken des Gefährten »Geh in Gottes Namen und schnell. Leb wohl, George. Grüße Madame von nur und amüsire Dich mit Deinem Mädchen. Vorwärts, Kind des Pit««

Wenige Minuten später war er von tiefem Schweigen umgeben, das kaum von dem Knarren des Sattels und dem leisen Tritt der unermüdlichen Fuße unterbrochen wurde. Dick bequemte sich gemächlich dem Schaukeln der Gangart an, zog seinen Gürtel fester und fühlte die Finsternis an sich vorübergleiten. Während einer Stunde war er sich nur des Gefühles des raschen Vorwartskommens bewußt

»Ein gutes Kamel,« sagte er schließlich

»Es ist niemals schlecht gehalten worden. Es ist von meiner eignen und reinen Zucht,« erwiderte der Treiber.

»Vorwärts!«

Sein Kopf sank auf seine Brust und er versuchte nachzudenken, aber der Gang seiner Gedanken wurde unterbrochen, weil er sehr schläfrig war. In dem halben Dusel schien es ihm, als ob er bei Mrs. Jennet zur Strafe eine Hymne lernen müsse. Er hatte irgend ein Verbrechen begangen, wie Sabbathschändung, und sie ihn in seinem Schlafzimmer eingeschlossen. Aber er konnte nur die beiden ersten Zeilen der Hymne wiederholen

Als Israel, das der Herr geliebt.
Heim aus dem Land der Knechtschaft kam

Er sagte dieselben immer wieder her. Der Treiber drehte sich im Sattel, um zu sehen, ob eine Gelegenheit sich darböte, sich des Revolvers zu bemächtigen und den Ritt zu beendigen. Dick richtete sich auf und schlug ihm mit dem Kolben über den Kopf und wurde wieder vollständig wach. Jemand, in einem Haufen Kameldorn verborgen, schrie, als das Kamel sich eine Bodenerhöhung hinaufarbeitete. Ein Schuß fiel, worauf tiefes Schweigen eintrat, das den Wunsch zu schlafen mit sich brachte. Dick konnte nicht mehr nachdenken. Er war zu ermüdet, steif und krampfig, um mehr thun zu können als von Zeit zu Zeit mit dem Kopfe zu nicken, ruckweise zu erwachen und den Treiber mit dem Revolver zu schlagen.

»Ist Mondschein?« fragte er schläfrig.

»Der Mond geht bald unter.«

»Ich wollte, ich könnte ihn sehen. Halte das Kamel an. Ich will wenigstens die Sprache der Wüste hören.«

Der Mann gehorchte. Aus der tiefsten Stille kam der Atem des Windes. Es raschelte in den abgefallenen Blättern eines Strauches und hörte dann auf. Eine Handvoll trockener Erde löste sich vom Rande eines Regengrabens und kollerte leise auf den Boden.

»Weiter! Die Nacht ist recht kalt.«

Diejenigen, die bis zum Morgen gewacht haben, wissen, wie sich die letzte Stunde vor Sonnenaufgang zu einer Ewigkeit ausdehnt. Es kam Dick so vor, als ob er seit dem Beginne der ursprünglichen Finsternis nichts anderes gethan hätte, als sich durch die Luft rütteln zu lassen. Einmal in tausend Jahren berührte er mit den Fingern die Nägelköpfe vorn auf dem Sattel und zählte sie sorgfältig. Jahrhunderte später nahm er den Revolver aus der rechten in die linke Hand und ließ den ermüdeten Arm herunterhängen. Von dem sichern London her war er beschäftigt gewesen, auf sich zu achten.

Der Treiber grunzte und Dick bemerkte eine Veränderung im Luftzuge.

»Ich rieche die Dämmerung,« flüsterte er.

»Sie ist da, und dort sind die Truppen. Habe ich es gut gemacht?«

Das Kamel streckte seinen Hals aus und schrie, als mit dem Winde der scharfe Geruch der Kamele im Viereck herüberkam.

»Vorwärts. Wir müssen schnell dort sein. Vorwärts.«

»Im Lager findet eine Bewegung statt. Der Staub ist so dicht, daß ich nicht sehen kann, was sie machen.«

»Bin ich besser daran? Nur vorwärts.«

Sie konnten das Gesumme von Stimmen vor ihnen hören, das Heulen und Brummen der Tiere und das heisere Schreien der Soldaten, die sich rüsteten.

Zwei oder drei Schüsse fielen.

»Ist das für uns? Sie können doch genau sehen, daß ich ein Engländer bin.« sagte Dick ärgerlich.

»Nein, es kommt von der Wüste her,« antwortete der Treiber, sich in seinem Sattel deckend.

»Geh vorwärts, mein Kind! Es ist gut, daß die Dämmerung uns nicht eine Stunde früher hat entdecken lassen.«

Das Kamel eilte gerade auf die Kolonne zu, während die Schüsse hinter demselben sich vervielfältigten. Die Kinder der Wüste hatten die allerunangenehmste Ueberraschung für die englischen Truppen ins Werk gesetzt, einen Angriff in der Morgendämmerung, und nahmen ihre Distanz durch Versuchsschüsse auf den einzigen Gegenstand, der sich außerhalb des Carrés bewegte.

»Welches Glück! Welches großartige Glück!« sagte Dick. »Es ist, wie gerade vor der Schlacht, Mutter. O, Gott ist sehr gütig gegen mich gewesen! Nur« – das Schmerzliche des Gedankens ließ ihn einen Moment die Augen aufreißen – »Maisie …«

»Allahu! Wir sind darin,« sagte der Mann, als er in die Nachhut ritt und das Kamel niederkniete.

»Wer zum Henker sind Sie? Depeschen oder was? Wie stark ist der Feind hinter jenem Hügelrücken? Wie sind Sie durchgekommen?« fragte ein Dutzend Stimmen. Statt jeder Antwort holte Dick tief Atem, löste seinen Gürtel und rief vom Sattel aus mit einer ermüdeten und vom Staube heiseren Stimme: »Torpenhow! O, Torp! Cu–ca, Tor–pen–how!«

Ein bärtiger Mann, der in der Asche eines Feuers herumstocherte nach einer Kohle für seine Pfeife, lief rasch auf diesen Ruf herbei, als die Nachhut nach den Rauchwolken von den Hügeln rings umher zu feuern begann. Allmälich zogen sich die vereinzelten weißen Wölkchen zu einer langen weißen Linie zusammen, die in der Stille der Dämmerung hing, bevor sie wie Wellen in die Thäler glitt. Die Soldaten im Carré husteten und fluchten über ihren eigenen Rauch, der sie am Sehen verhinderte, und rückten vor, um aus demselben herauszukommen. Ein verwundetes Kamel sprang auf und schrie laut; der Schrei endete mit einem murmelnden Röcheln; es hatte ihm jemand die Kehle durchschnitten, um Verwirrung zu verhüten. Dann kam das schwere Stöhnen eines Mannes, der von einer Kugel seine Todeswunde erhalten hatte; dann ein gellender Schrei und verdoppeltes Feuern.

Es war keine Zeit, viel zu fragen.

»Komme herunter, Mann! Komme herunter hinter das Kamel!«

»Nein. Bringen Sie mich, ich bitte, zur Front des Gefechtes.« Dick wandte sein Gesicht Torpenhow zu und erhob die Hand, um seinen Helm gerade zu setzen, stieß denselben indes herunter, da er die Entfernung falsch berechnet hatte. Torpenhow sah, daß sein Haar an den Schläfen grau geworden, sein Gesicht das eines alten Mannes geworden war.

»Kommen Sie herunter, Sie verdammter Narr! Dickie, kommen Sie herunter!«

Dick kam gehorsam herunter, doch wie ein Baum fällt, seitwärts aus des Bisharin Sattel zu Torpenhows Füßen stürzend. Sein Glück hatte bis zuletzt standgehalten, gerade bis zur letzten Gnade einer mitleidigen Kugel durch den Kopf. Torpenhow kniete unter dem Schutze des Kamels, mit Dicks Körper in seinen Armen.