Tom und Beckys Heimkehr.

Neunundzwanzigstes Kapitel.

Der Dienstag nachmittag kam und schwand, die Dämmerung setzte ein. Das Städtchen St. Petersburg trauerte noch tief. Die verlorenen Kinder waren immer noch nicht aufgefunden. In der Kirche war öffentlich für sie gebetet worden, und wie viele Gebete mochten im stillen Kämmerlein zum Himmel aufgestiegen sein! Aber noch immer kam keine bessere Kunde aus der Höhle. Die Mehrzahl der Suchenden hatte die weitere Nachforschung aufgegeben und war zu ihren täglichen Beschäftigungen zurückgekehrt; sie meinten, die Kinder würden doch niemals wieder gefunden werden. Frau Thatcher war ernstlich erkrankt und lag meist in Fieberphantasien. Die Leute sagten, es sei herzbrechend anzuhören, wie sie nach ihrem Kinde riefe, den Kopf hebe, um wohl eine Minute lang zu lauschen, und ihn dann ermattet und seufzend wieder niedersinken zu lassen. Tante Polly war in tiefste Schwermut verfallen, ihr graues Haar war beinahe schneeweiß geworden. Am Dienstag abend ging alles im Städtchen traurig und hoffnungslos zur Ruhe.

Etwa gegen Mitternacht brachen die Glocken in ein wildes Geläute aus und im nächsten Augenblick waren die Straßen voll von Gruppen halb angekleideter Gestalten, welche wie wahnsinnig: »heraus, heraus, sie kommen, sie kommen!« in die Nacht hineinschrien. Blechpfannen und Hörner halfen das Getöse noch vermehren. Die Bevölkerung drängte sich in Massen dem Flusse zu, den wiedergefundenen Kindern entgegen, welche in einem offenen Wagen daherkamen, der von jubelnden, jauchzenden Männern gezogen wurde. Im Nu war der Wagen dicht umringt und mit Jubel und Hurraruf bewegte sich der Triumphzug die Hauptstraße hinauf.

Alle Häuser waren festlich beleuchtet, niemand fiel es ein, nochmals zu Bett zu gehen, es war der größte Moment, den das Städtchen je erlebt hatte. Während der ersten halben Stunde bewegte sich die Einwohnerschaft in langem Zuge durch Richter Thatchers Haus. Die geretteten Kinder wurden mit Fragen und Küssen überschüttet, der armen Mutter die Hand vor Mitgefühl fast ausgerenkt und dabei das ganze Haus mit Tränen förmlich überschwemmt.

Tante Pollys Seligkeit war vollkommen, und bei Frau Thatcher fehlte nicht viel dazu. Ihr Glück konnte jedoch erst vollständig sein, wenn der Bote, den man alsbald mit der großen Neuigkeit nach der Höhle gesandt, dem armen trostlos weitersuchenden Vater die Freudenkunde überbracht haben würde.

Tom lag auf dem Sofa. Einer atemlos lauschenden Zuhörerschaft, die um ihn herumstand, erzählte er die Geschichte seiner wunderbaren Abenteuer, wobei er nicht verfehlte, aus freier Erfindung manch wirkungsvollen Zug zur weiteren Ausschmückung anzubringen. Zum Schlusse gab er eine besonders anschauliche Beschreibung davon, wie er Becky verlassen, um eine erneute Entdeckungsreise anzutreten, wie er mit der Drachenleine in der Hand durch zwei Gänge gekrochen, wie er eben im Begriff gewesen, dem dritten. den er der ganzen Länge der Schnur nach durchmessen, hoffnungslos und verzweifelnd den Rücken zu kehren, als er plötzlich in weitester Entfernung einen hellen Fleck gewahrte, der wie Tageslicht aussah. Da habe er die Leine fahren lassen, sei auf den Knien dem verheißenden Flecke zugekrochen, habe Kopf und Schultern durch ein enges Loch gezwängt, habe frische, freie Gottesluft geatmet und den Mississippi seine breiten Wogen an sich vorüberwälzen sehen. Wäre es zufällig Nacht gewesen, so daß kein heller Fleck zu sehen war, dann würde er den Gang nicht weiter untersucht haben! Er erzählter, wie er dann zu Becky zurückkroch, um ihr die Freudenkunde zu bringen, wie sie ihn bat, sie mit solchem Unsinn zu verschonen, sie sei müde, wisse, daß sie sterben müsse und wollte sterben. Er beschrieb, welche Mühe es ihn gekostet, sie zu überzeugen und wie sie dann beinahe wirklich gestorben sei vor Glück, als sie sich nun mühsam dahingeschleppt, wo sie das Fleckchen wirkliches und wahrhaftiges Tageslicht sehen konnte. Wie er zuerst durch das Loch gekrochen und ihr sodann herausgeholfen, worauf sie beide sich niedergesetzt und vor Freude und Glück geweint hätten. Dann, sagte er, seien ein paar Männer in einem Boot den Fluß dahergekommen, er habe sie angerufen und von seiner und Beckys Lage und von ihrem halbverhungerten Zustande erzählt. Wie ihm die Leute zuerst nicht hatten glauben wollen, weil es ihnen wie ein tolles Märchen geklungen, »denn,« sagten sie, »ihr seid ja fünf Meilen unterhalb der Bucht, in der die Höhle ist,« sich aber dann doch eines anderen besonnen und sie an Bord genommen hätten. Dann seien sie nach einem Hause gerudert, hätten ihnen ein Abendessen gegeben, sie ein paar Stunden lang ausruhen lassen und sie dann endlich nach Hause gebracht.

Vor Tagesgrauen wurden denn auch der Kreisrichter und die handvoll Leute, die ihm noch immer treulich suchen halfen, vermittels des Leitfadens, den sie hinter sich herlaufen ließen, aufgesucht und ihnen die freudige Botschaft überbracht. Alles war eitel Glück und Freude!

Drei Tage und drei Nächte der Trübsal und des Hungers lassen sich jedoch nicht mit einem Male abschütteln, das sollten auch Tom und Becky erfahren. Mittwoch und Donnerstag mußten sie das Bett hüten und schienen nur immer elender und müder zu werden. Tom freilich fing schon am Donnerstag an ein wenig herumzukriechen, zeigte sich Freitag auf der Straße und war Sonnabend fast wieder er selber. Becky aber konnte vor Sonntag das Zimmer nicht verlassen und dann sah sie aus, als ob sie eine lange, zehrende Krankheit durchgemacht hätte.

Tom hörte von Hucks Kranksein und ging am Freitag, ihn zu besuchen wurde aber nicht zu ihm gelassen, ebensowenig an den beiden folgenden Tagen. Nachher durfte er ihn täglich sehen, mußte aber versprechen, über sein Abenteuer in der Höhle zu schweigen und auch sonst nichts Auflegendes zu berühren. Frau Douglas, die treue Pflegerin, war immer zugegen und paßte auf. Zu Hause hörte Tom von dem nächtlichen Abenteuer hinter dem Douglasschen Besitztum, auch, daß man den Körper des einen Halunken im Fluß, nahe an dem Landungsplatze der Dampffähre gefunden habe; er war sicherlich bei dem Fluchtversuch ertrunken.

Etwa vierzehn Tage nach Toms Befreiung aus der Höhle machte dieser wieder einmal einen Besuch bei Huck, welcher mittlerweile genügend zu Kräften gekommen war, um ein aufregendes Gespräch ertragen zu können. An Stoff dazu fehlte es Tom nicht. Sein Weg führte ihn an des Kreisrichters Haus vorüber und er trat ein, um nach Becky zu sehen. Deren Vater und ein paar Freunde fingen ein Gespräch mit ihm an und man fragte ihn scherzweise, ob es ihn nicht gelüste, noch einmal in die Höhle zu gehen. Tom meinte, warum nicht – das würde ihm nichts ausmachen.

Da sagte der Kreisrichter:

»Tollköpfe, wie du einer bist, gibt’s noch mehr, Tom, daran zweifle ich keinen Augenblick. Aber wir haben der Sache ein Ende gemacht. In der Höhle soll von nun an keiner mehr verloren gehen.«

»Wieso?«

»Weil ich die große Eichentüre mit Eisen habe beschlagen und dreifach verschließen lassen, und weil ich die Schlüssel dazu selber verwahre.«

Tom wurde weiß wie ein Leinentuch. »Herrgott, was gibt’s, Junge? Schnell, bring mal einer ein Glas Wasser!«

Das Wasser wurde gebracht und Tom damit bespritzt. »So, so, mein Junge, ist dir nun besser? Sag doch nur mal ums Himmels Willen, was mit dir los ist, Tom?«

»Ach, Herr Kreisrichter, in – der Höhle war ja der – der Indianer-Joe!«