Nächtliche Expeditionen.

Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Am nächsten Morgen beim Erwachen erschienen Tom die Erlebnisse des verflossenen Tages wie ein böser, schwerer Traum. Er grübelte und sann, und je mehr er nachdachte und überlegte, desto mehr kam es ihm vor, daß er geträumt habe. So viel Geld auf einmal beisammen zu sehen, konnte ja gar nicht Wirklichkeit sein. In seinem bisherigen Leben hatte er nie mehr als fünfzig Dollars auf einem Brett vor sich gesehen. Tausende von Dollars aber auf einem Haufen, das überstieg seine ausschweifendsten Vorstellungen, selbst von verborgenen Schätzen.

Noch ganz benommen von seinen Hirngespinsten kleidete er sich an, schlang wie geistesabwesend sein Frühstück hinunter, und machte sich alsbald auf, Huck zu suchen und sich von ihm die Bestätigung zu holen, daß alles nur Traum und Schaum gewesen. Er fand diesen am Ufer des Flusses in einem Nachen, mit den Beinen über den Bootrand baumelnd und mürrisch vor sich hinstarrend.

»Morr’n, Huck.«

»Morr’n, Tom, Verdammtes Pech, das, mit der Hacke und Schaufel!«

Also war’s doch kein Traum, sondern greifbare, wirkliche Wirklichkeit! Tom erzählte Huck von seinen Gedanken diesen Morgen.

»Schöner Traum!« brummte der als Antwort, »hätt‘ was Niedliches werden können, wenn die Stiege nicht zusammengekracht war. Mir hat’s auch die ganze Nacht geträumt, aber nur von dem Teufel von Spanier und von seiner ›Nummer Zwei‹.«

In bezug auf diese rätselhafte Nummer ergingen sich die Jungen in allerhand Vermutungen. Schließlich kamen sie überein, es solle wohl die Nummer des Zimmers in irgendeiner Herberge bedeuten, und Tom machte sich auf den Weg, es auszukundschaften.

Nach einer halben Stunde kam er zu Huck zurück und erzählte diesem, daß von den beiden Wirtshäusern der Stadt wohl nur eins in Frage kommen könne, denn in »Nummer Zwei« des einen wohne schon seit lange ein allgemein bekannter und geachteter junger Mann. »Nummer Zwei« des anderen Wirtshauses dagegen sei selbst dem Sohn des Hauses ein Geheimnis. Der sage, es werde immer geschlossen gehalten und nur bei Nacht höre er zuweilen Geräusch und sehe Licht darin. Er habe immer gedacht, es müsse dort spuken.

»Das hab ich entdeckt, Huck,« schloß Tom ganz erregt seinen Bericht, »Das ist so gewiß die ›Nummer Zwei‹, die wir suchen, so gewiß, wie ich hier vor dir steh!«

»Wird wohl so sein, Tom. Was sollen wir aber tun?«

»Laß mich ’n bissel nachdenken.«

Und Tom dachte eine lange Weile nach, dann sagte er:

»Paß mal auf. Siehst du, die Hintertür von der ›Nummer Zwei‹ führt in den kleinen, engen Gang zwischen dem Wirtshaus und der alten Mausefalle von Ziegelbrennerei. Du kaperst nun alle Türschlüssel, die du irgend erwischen kannst, und ich nehm meiner Tante ihre, und in der ersten dunklen Nacht schleichen wir hin und probieren, ob einer paßt. Daß du dich fein nach dem Spanier umsiehst! Der sagt ja, er wolle kommen und herumschnüffeln wegen seiner Rache. Und wenn du ihn entdeckst, dann folgst du ihm und siehst, ob er nach meiner › Nummer Zwei‹ geht, wenn nicht, ist’s natürlich Essig! Also, heut abend! Bring nur brav Schlüssel mit!«

Am Abend waren Huck und Tom bereit zu ihrem Abenteuer. Sie trieben sich in der Nachbarschaft der Herberge herum, konnten aber nirgends etwas Verdächtiges erspähen. Um ungesehen das Experiment mit den Schlüsseln vornehmen zu können, war die Nacht viel zu hell, und so zog sich denn Tom bald nach zehn Uhr zurück, heimwärts, dem warmen Neste zu, während Huck, der etwas langer aushielt, gegen zwölf in einem leeren Zuckerfaß für die Nacht unterkroch.

Dienstag nacht verfolgte die Jungen derselbe Unstern, ebenso Mittwoch, Donnerstag endlich standen dicke Wolken am Himmel und versprachen eine schöne, dunkle Nacht, Beizeiten stellte sich Tom ein, bewaffnet mit der alten Blechlaterne seiner Tante und einem großen Handtuch, um dieselbe zu verhüllen. Er barg die Laterne in Hucks Zuckerfaß, und die Wacht begann. Eine Stunde vor Mitternacht wurde die Herberge geschlossen und ihre Lichter, die einzigen in der Nachbarschaft, ausgelöscht. Kein Spanier war gesehen worden. Niemand hatte den schmalen Gang auf der Rückseite des Hauses betreten oder verlassen. Alles schien dem Unternehmen günstig. Die schwärzeste Finsternis herrschte, und die Totenstille ringsum wurde nur hier und da durch fernes Donnerrollen unterbrochen.

Tom lief nach seiner Laterne, zündete sie an, hüllte sie fest in das Handtuch und die beiden Abenteurer tasteten sich durch die Finsternis nach dem Wirtshaus hin. Huck stand Schildwache und Tom schlich sich in den dunklen Gang hinein. Nun kam eine Pause unerträglich heimlichen, angstvollen Wartens, die auf Hucks Gemüt lastete, gleich einem erdrückenden Berge. Er begann sich heiß nach einem wieder auftauchenden Strahl der Laterne zu sehnen, der ihm zeigte, daß Tom noch am Leben sei.

Stunden schienen verflossen, seit Tom verschwunden war. Gewiß hatte er irgendwo das Bewußtsein verloren, war am Ende gar tot, vielleicht war ihm das Herz gebrochen vor Schreck und Aufregung. In seiner Angst rückte Huck dem Gäßchen näher und näher, den Kopf voll schrecklicher Befürchtungen und jeden Augenblick auf eine Katastrophe gefaßt, die ihm den Atem vollends benehmen würde. Viel Atem zum Wegnehmen blieb nicht übrig; er war kaum imstande, denselben fingerhutvollweise einzuziehen, und sein Herz mußte bei dem Tempo, in dem es schlug, baldigst ganz den Dienst versagen. Plötzlich blitzte ein Lichtstrahl auf, und Tom schoß keuchend an ihm vorüber.

»Fort,« schrie er, »fort, wenn dir dein Leben lieb ist.«

Ein Wiederholen der Warnung war unnötig, einmal genügte. Huck rannte mit Riesenschritten davon, als ob es hinter ihm brenne, Tom hinterdrein. So stürzten die Jungen unaufhaltsam davon, bis sie den Schuppen eines alten, unbenutzten Schlachthauses erreichten, am unteren Ende des Ortes. Gerade, als sie unter dies Obdach geschlüpft waren, brach das Gewitter los und der Regen strömte nieder. Nachdem Tom zu Atem gekommen war, stöhnte er:

»Ach, Huck, ’s war gräßlich. Ich probierte erst zwei von den Schlüsseln, so leise ich konnte, die machten aber ’n solchen Lärm, daß mir übel und weh wurde vor Angst. Ich konnte sie auch gar nicht im Schloß umdrehen. Dann, ohne selber zu wissen, was ich tu, faß ich nach der Klinke, drücke und – auf springt die Tür. Sie war gar nicht verschlossen gewesen! Ich hinein, werf das Tuch von der Laterne und – Heiliger Gott!«

»Was – was war’s, Tom?«

»Huck! Ich trat fast auf ’ne Hand, und wie ich näher hinseh, ist’s dem Indianer-Joe seine.«

»Puh!« stöhnte Huck wortlos.

»Weiß Gott! Da lag er am Boden und schlief ganz fest, mit dem alten Pflaster über dem einen Aug und weit ausgestreckten Armen.«

»Um alles in der Welt, sprich, – was hast du denn da gemacht? Ist er aufgewacht?«

»Nee, der rührt sich nicht. Er muß betrunken gewesen sein. Ich greif nur flink nach meinem Tuch und stürz davon.«

»Ich hätt‘ nicht mehr an das Tuch gedacht, das wett ich.«

»Na, aber ich! Tante Polly hätt‘ mir ’nen feinen Tanz aufgespielt, wenn ich’s verloren hätt‘!«

»Hör du, Tom, hast du die Kiste gesehen?«

»Huck, nach der hab ich mich gar nicht umgeschaut, Hab keine Kiste und hab auch kein Kreuz gesehen. Nichts hab ich gesehen, als ’ne Flasche und ’nen Zinnbecher am Boden neben dem Indianer-Joe! Ja, zwei Fäßchen und viele Flaschen hab ich noch außerdem im Zimmer gesehen. Weißt du jetzt, was in dem Zimmer spukt?«

»Wieso?«

»Dickkopf! Schnaps spukt drin, Schnaps! Und der Wirt dort gehört zum Mäßigkeitsverein! Ob wohl alle die Mäßigkeitsvereinler so ’n Spukzimmer haben? He, Huck?«

»Wird wohl so sein! Wer hätt aber so was gedacht? Sag mal, du, Tom, war denn das nicht jetzt grad die richt’ge Zeit, um die Kiste auszuführen? Wenn der Indianer-Joe doch betrunken ist.«

»Ei, so versuch’s doch!«

Huck schauderte.

»Nee, lieber nicht!«

»Ich auch lieber nicht, Huck, Nur eine Flasche leer neben dem Kerl, das ist nicht genug. Ja, wenn’s drei gewesen wären, dann ließe sich weiter darüber reden!«

Eine lange Pause des Nachdenkens folgte. Dann sagte Tom:

»Paß mal auf, Huck. Ich mein, wir sollten das Ding gar nicht mehr probieren, bis wir sicher wissen, daß der Joe nicht drin ist. ’s ist zu gruselig! Wir passen jede Nacht auf, und einmal muß er doch ‚raus aus seinem Loch, dann wollen wir die Kiste schon kriegen, schneller als der Blitz.«

»Mir recht. Ich will jede Nacht wachen, die ganze Nacht durch, wenn du nur den Rest besorgen willst.«

»Gut, wollen’s so machen. Du brauchst dann nur zu kommen und vor unserem Haus zu miauen, und wenn ich schlaf, wirfst du mir ’ne Handvoll Kies ans Fenster, das wird mich schon wachkriegen!«

»Topp, ’s gilt!«

»Jetzt ist’s da draußen auch besser geworden, Huck, der Sturm hat aufgehört und ich muß heim. ’s muß schon bald Morgen sein. Du gehst noch mal hin und wachst, willst du?«

»Ich hab’s gesagt, Tom, daß ich’s tu, und ich tu’s auch! Und wenn’s ’n Jahr lang dauert, ich spuk jede Nacht in dem Gäßchen dort herum. Bei Tag schlaf ich und bei Nacht wach ich.«

»Schön. Aber wo wirst du schlafen?«

»Auf Ben Rogers Heuboden. Der hat nichts dagegen und Onkel Jakob, – weißt du, der alte Nigger, der im Hause ist – auch nicht. Dem hab ich schon oft ’s Wasser geschleppt, und er gibt mir manchmal was zu essen, wenn er selber was hat. ’s ist ’n guter Nigger, Tom. Der hat mich gern, weil ich nie tu, als ob ich was Besseres wär. Manchmal hab ich mich, weiß Gott, schon hingesetzt und mit ihm gegessen. Das brauchst du aber niemand zu sagen, Tom. Wenn einer so gräßlich hungrig ist, tut er manches, was er sonst für gewöhnlich nicht tät!«

»Na, also Huck, wenn ich dich bei Tag nicht brauch, laß ich dich schlafen und stör dich nicht weiter. Und wenn in der Nacht was los ist, springst du zu mir ‚rüber und miaust.«

  1. Unsere Geschichte spielt in der Zeit vor Aufhebung der Sklaverei.