Sechstes Kapitel.

Die Witwe Cooper, welche von jedermann aufs liebevollste ›Tante Patsy‹ genannt wurde, wohnte in einem hübschen, sauber gehaltenen Häuschen, zusammen mit ihrer Tochter Rowena, die neunzehn Jahre alt, liebenswürdig, schwärmerisch und sehr hübsch war, doch im übrigen für uns nicht in Betracht kommt. Rowena besaß auch noch ein paar jüngere Brüder, mit denen wir uns aber auch nicht weiter zu beschäftigen brauchen.

Die Witwe hatte ein großes Gastzimmer, das sie an einen einzelnen Herrn zu vermieten pflegte, den sie womöglich auch beköstigte; aber jetzt stand das Zimmer zu ihrem Leidwesen schon über ein Jahr leer. Die Sache war nicht ohne Wichtigkeit, denn ihr Einkommen reichte gerade nur für den täglichen Bedarf der Familie aus; jeder kleine Aufwand mußte mit dem Mietsgeld bestritten werden. Doch jetzt endlich, an einem glühend heißen Junitage, kam das Glück, und die lange Wartezeit war zu Ende. Auf ihre ewige Zeitungsanzeige hin hatte sich ein Bewerber gefunden, und nicht einmal jemand hier am Orte – o nein, der Brief kam von weither, aus der unbekannten großen Welt, die im Norden lag – er war aus St. Louis datiert. Tante Patsy saß auf ihrer Veranda, schaute traumverloren den dahin rollenden Wellen des mächtigen Mississippi nach und freute sich ihres Lebens. Es war aber auch ein ganz besonderer Glücksfall, denn sie sollte statt eines Mieters deren zwei bekommen.

Nachdem sie ihren Kindern den Brief vorgelesen hatte, war Rowena fortgehüpft, um der Sklavin Nancy zu sagen, daß sie das Zimmer putzen und lüften sollte, und die Knaben liefen gleich in die Stadt, weil sie die große Neuigkeit überall verkünden mußten. Das öffentliche Interesse war bei der Sache mit im Spiel, und die Leute würden es sehr übel vermerkt haben, hätte man sie nicht davon benachrichtigt. Nicht lange, so kam Rowena wieder; sie glühte über und über vor freudiger Erregung und bat, den Brief noch einmal lesen zu dürfen. Sein Wortlaut war folgender:

»Sehr geehrte Frau!

Zufällig ist uns Ihre Anzeigt zu Gesicht gekommen, und wir – mein Bruder und ich – möchten das Zimmer mieten, das Sie zu vergeben haben. Wir sind Zwillinge, vierundzwanzig Jahre alt und von Geburt Italiener. Doch haben wir lange in verschiedenen Ländern von Europa gelebt und sind jetzt schon seit mehreren Jahren in den Vereinigten Staaten. Wir heißen Luigi und Angelo Capello. – Sie rechnen zwar nur auf einen Gast, geehrte Frau, wenn Sie uns aber gestatten wollen für zwei zu bezahlen, werden wir Ihnen gewiß nicht lästig fallen. Nächsten Donnerstag gedenken wir einzutreffen.«

»Italiener! Wie romantisch! Stelle dir’s nur ‚mal vor, Mama – noch nie ist ein Italiener hier in der Stadt gewesen und alle werden vor Neugierde brennen, sie zu sehen – aber sie gehören uns – uns ganz allein! Welche Ueberraschung, welches Glück!«

»Ja, sie werden viel Aufsehen machen.«

»Das will ich meinen! Die ganze Stadt wird auf dem Kopf stehen. Denke nur – in Europa sind sie gewesen und überall. Solche große Reisende kennt man hier gar nicht. Meinst du wohl, daß sie auch Prinzen und Könige gesehen haben?«

»Wie soll ich das wissen – aber sie werden so wie so alles in Aufregung bringen.«

»O, natürlich. Luigi – Angelo! Was für schöne Namen, wie vornehm und ausländisch das klingt – ganz anders als Jones und Robinson. Am Donnerstag kommen sie, und heute ist erst Dienstag, da müssen wir noch schrecklich lange warten. – Ach, dort macht Herr Richter Driscoll eben das Thor auf. Er hat gewiß auch davon gehört; ich will ihm die Hausthür öffnen.«

Driscoll brachte die besten Glückwünsche und war voller Neugierde. Der Brief wurde vorgelesen und besprochen. Bald stellte sich auch der Amtsrichter Robinson ein und das Lesen und Besprechen begann von neuem. Dies war erst der Anfang. Nun folgten die Nachbarn und Nachbarinnen in langer Reihe; das Kommen und Gehen wollte kein Ende nehmen bis zum Abend und den ganzen Mittwoch und Donnerstag über. Immer wieder wurde der Brief vorgelesen, bis er ganz abgegriffen war. Jedermann bewunderte die höfliche und freundliche Ausdrucksweise, den gefälligen, gewandten Stil; alle waren voll Anteil und gespannter Erwartung, die Familie Cooper wußte sich kaum zu fassen vor Freude und Stolz.

Damals hielten die Dampfer ihre Ankunftszeit bei der Ebbe nie regelmäßig ein. An dem bewußten Donnerstag war das Dampfboot um zehn Uhr abends noch nicht da; den ganzen Tag über hatten die Leute umsonst am Landungsplatz gewartet, und zuletzt wurden sie von einem heftigen Gewitterregen nach Hause getrieben, ohne daß sie die berühmten Fremdlinge zu Gesicht bekommen hatten.

Es schlug elf Uhr. Das Coopersche Haus war das einzige in der ganzen Stadt, wo noch Licht brannte. Der Regen strömte und der Donner grollte, während die besorgte Familie wartete und hoffte. Endlich vernahm man ein Klopfen an der Hausthür und alle sprangen auf. Zwei Neger traten ein, jeder mit einem Koffer auf der Schulter und gingen die Treppe hinauf nach dem Gastzimmer. Ihnen folgten die Zwillinge – wahrlich, so schöne, feingekleidete und vornehm aussehende junge Herren hatte man hier im Westen noch nie erblickt! Einer war etwas blonder als der andere, aber im übrigen das genaue Abbild seines Bruders.