Sechstes Kapitel.

Jeder Mensch hat ein Geburtsrecht auf etwas, das alle seine andern Besitztümer überdauert – es ist sein letzter Atemzug.

Querkopf Wilsons Kalender.

Am selben Abend, gegen Mitternacht, wohnten wir noch einem andern Feste bei, nämlich einer Hindu-Hochzeit, oder richtiger gesagt, einer Verlobungsfeier. Bisher hatte sich auf den Straßen, durch die wir fuhren, stets ein buntes, malerisches Schauspiel entfaltet, sie waren von einer zahlreichen, lärmenden Menge angefüllt gewesen; jetzt fand nichts dergleichen statt. Es herrschte überall Totenstille; selbst das Geschrei der Krähen war verstummt. Aber leer konnte man die Straßen doch nicht nennen, denn auf dem Boden lagen schlafende Eingeborene zu Hunderten, der Länge nach ausgestreckt und bis über den Kopf fest in Decken gewickelt. So starr und regungslos lagen sie da, daß man sie für Tote halten konnte.

Damals hatte die Pest, welche jetzt in Bombay wütet, noch nicht ihren Einzug in die Stadt gehalten. Heute stehen die Läden verödet da, die Hälfte der Bewohner hat die Flucht ergriffen und die Zurückgebliebenen kommen massenhaft an der Krankheit um. Ohne Zweifel sehen die Straßen jetzt bei Tage so aus wie damals zur Nachtzeit. Als wir immer weiter in dem Hindu-Viertel vordrangen und in enge, düstere Gassen gelangten, mußten wir sehr behutsam fahren, weil der Wagen beinah nicht Raum genug fand, um zwischen den Schläfern durchzukommen, die sich allenthalben gelagert hatten. Von Zeit zu Zeit huschte eine Schar Ratten in dem ungewissen Dämmerschein dicht vor den Hufen der Pferde vorüber – dieselben Ratten, welche jetzt in Bombay die Pest von Haus zu Haus schleppen. Die Kaufläden sind nur eine Art Verschläge – kleine Buden, die nach der Straße zu offen stehen. Man hatte die Waren fortgenommen und ganze Familien schliefen auf den Ladentischen, meist beim Schein einer Oellampe. Es sah aus wie eine Totenwacht.

Endlich bogen wir um eine Ecke und hatten eine förmlich strahlende Beleuchtung vor uns. Das Haus der Braut war in ein Lichtmeer von Gasflammen getaucht, welche die mannigfaltigsten Figuren bildeten. Auch drinnen prangte alles in hellstem Glanze – Kostüme, Spiegel, Beleuchtung, Farben brachten im Verein mit der ganzen Ausschmückung der Räume eine so feenhafte Wirkung hervor, als hätte sie Aladdins Wunderlampe hergezaubert.

Die Braut war ein zierlich gebautes, schmuckes kleines Ding von zwölf Jahren, sehr kostbar gekleidet, aber mehr wie ein Knabe. Sie bewegte sich ungezwungen unter den Gästen oder blieb stehen, um sich mit diesem oder jenem zu unterhalten und ihren Hochzeitsschmuck befühlen und bewundern zu lassen. Am schönsten fand ich eine Schnur großer Diamanten, an welcher ein prächtiger Smaragd hing.

Der Bräutigam war nicht zugegen; er beging eine besondere Verlobungsfeier in seinem väterlichen Hause. Wie man mir sagte, mußte sowohl er wie die Braut eine Woche lang alle Abend Gäste empfangen, welche fast die ganze Nacht hindurch im Hochzeitshause blieben. Dann heirateten sich die Brautleute, falls sie noch am Leben waren. Die Kinder zählten beide zwölf Jahre – ein ältliches Paar nach indischen Begriffen – sie hätten schon seit einem Jahre verheiratet sein sollen; einem Fremden kamen sie freilich noch jung genug vor.

Etwas nach Mitternacht erschienen ein paar berühmte und hochgeschätzte Natsch-Tänzerinnen in den prachtvollen Sälen, um ihre Kunst zu zeigen. Zu ihrem Gesang und Tanz machten Männer auf sonderbaren Instrumenten eine unheimliche, lärmende Musik, bei deren Klängen mich eine Gänsehaut überlief. Ein Tanz der Mädchen sollte einen Schlangenzauber darstellen. Mir schien zwar die Flötenbegleitung, welche dazu ertönte, wenig geeignet, irgend etwas zu bezaubern, doch versicherte mir ein vornehmer Hindu, daß die Schlangen solche Musik sehr lieben; sie kommen aus ihren Höhlen heraus und lauschen ihr mit allen Zeichen von Wonne und Wohlbehagen. Bei einer Vorstellung in seinem Garten, sagte er, seien einmal sechs Schlangen von den Tönen der Flöte herbeigelockt worden und man hätte sie nicht bewegen können sich wieder zu entfernen, bevor die Musik zu Ende war. Ihre gefährliche Nähe war zwar keinem Anwesenden erwünscht, weil sie sich frech und allzu vertraulich benahmen, aber natürlich wollte niemand sie töten, denn der Hindu hält es für Sünde, irgend ein Geschöpf umzubringen.

Gegen zwei Uhr morgens verließen wir die Festlichkeit. Unterwegs sah ich noch ein Bild, das sich mir tief ins Gedächtnis eingeprägt hat. Eine glänzend erleuchtete Vorhalle, zu der mehrere Treppenstufen emporführten, überall schwarze Gesichter und gespenstische, weiße Gewänder; in ihrer Mitte eine wahre Riesengestalt, den Turban auf dem Haupte, mit einem Namen, der zu ihrer Größe paßte: Rao Bahadur Baskirao Balinkanje Pitale, Vakeel seiner Hoheit des Gaikawar von Baroda. Der Mann gehörte notwendigerweise zur Vervollständigung des Gemäldes, aber wenn er Smith hieße, hätte es den ganzen Eindruck verdorben. Auf beiden Seiten der engen Straße hatte man die Häuser in der bei den Hindus gebräuchlichen Weise illuminiert. Viele Dutzende von Gläsern mit brennenden Lichtern waren wenige Zoll von einander auf großen Lattengestellen befestigt, so daß sie leuchtende Sterne bildeten, deren Strahlenglanz sich grell von dem schwarzen Hintergrund abhob. Als wir weiter durch die düstern Gassen fuhren, verschmolzen in der Ferne alle Sternbilder zu einer einzigen Lichtmasse, die wie eine große Sonne in der Finsternis glühte.

Dann folgte wieder jene tiefe Stille; Ratten huschten über den Weg, überall lagen unbewegliche Gestalten auf der Erde und rechts und links sah man die offenen Buden gleich Särgen, in denen Leichen zu liegen schienen, welche von flackernden Totenlampen unheimlich beleuchtet wurden. Seitdem ist ein Jahr vergangen, und wenn ich die Kabeldepeschen aus Indien lese, meine ich das alles mit eigenen Augen im voraus gesehen zu haben, wie in einem prophetischen Traum. Die eine Depesche lautet: »In dem Stadtteil der Eingeborenen stocken die Geschäfte, die meisten Läden sind geschlossen. Man hört nur Klagelaute und den Schritt der Leichenträger, alles übrige Leben scheint erstorben.« In einer andern heißt es: »325 000 Bewohner haben die Stadt verlassen, und verbreiten die Pest über das ganze Land.« Drei Tage später kommt die Nachricht: »Die Einwohnerschaft ist auf die Hälfte herabgesunken.« Die Flüchtlinge haben die Epidemie in Karachi eingeschleppt. »220 Krankheitsfälle, 214 Tote.« Tags darauf: »52 neue Fälle, sämtlich mit tödlichem Verlauf.«

So fürchterliche Verwüstungen wie der ›Schwarze Tod‹ vermag keine Krankheit anzurichten, es gibt keine, welche ähnliches Grauen und Entsetzen im Gefolge hat. Wir können uns von dem Schrecken, der in solcher verpesteten Stadt herrscht, nur eine schwache Vorstellung machen. Zwar gibt die wilde Flucht einer halben Million Einwohner Zeugnis von ihrem Seelenzustand, aber wer schildert die Qual und Todesangst derer, die zurückbleiben müssen und sich rettungslos dem unaufhaltsam nahenden Verhängnis preisgegeben sehen?

Indien ist einzig in seiner Art und es hat das alleinige Recht auf verschiedene Spezialitäten von überwältigender Großartigkeit. Wenn irgend ein Land sonst eine Merkwürdigkeit besitzt, ist sie doch nicht sein ausschließliches Eigentum; man findet das Gegenstück in einem andern Lande. Aber Indien hat Wunderdinge erzeugt, die ihm allein gehören, niemand wagt sein Patentrecht anzutasten, Nachahmungen sind gänzlich ausgeschlossen. Und dabei welche Größenverhältnisse, welche Majestät! Wie fremdländisch und unheimlich sind die meisten dieser Erfindungen.

Von dem Schwarzen Tod haben wir schon gesprochen. Er ist Indiens eigenstes Werk. In Indien wurde dieser mächtige Fürst der Schrecken geboren.

Auch den Wagen des Juggernaut hat sich Indien ausgedacht. Desgleichen die Suttis. Es leben noch Menschen, zu deren Zeit sich achthundert Witwen in einem Jahre, freiwillig und unter Frohlocken, mit den Leichen ihrer Ehemänner verbrennen ließen. Noch in diesem Jahre würden es abermals achthundert tun, wenn die britische Regierung es ihnen gestattete.

Auch eine Hungersnot wie in Indien gibt es nirgends. Wenn anderswo Mangel eintritt, ist es ein verhältnismäßig unbedeutendes, vorübergehendes Ereignis; die indische Hungersnot aber bricht herein gleich einer verheerenden Flut und tötet Millionen, wo an andern Orten Hunderte sterben würden.

Indien hat zwei Millionen Götter und betet sie sämtlich an. In religiöser Beziehung sind alle andern Länder Bettler und Indien der einzige Millionär.

Alles nimmt dort einen Riesenmaßstab an – sogar die indische Armut hat nirgends auf Erden ihresgleichen. Der Reichtum aber verfügt über solche Schätze, daß man für die größten Summen ganz kurze Wörter erfinden mußte. Um hunderttausend auszudrücken, sagt man ein lakh, und ein crore bedeutet zehn Millionen.

Im Innern seiner Granitberge hat Indien, mit namenloser Geduld, Dutzende von großen Tempeln in den Fels gehauen, sie durch großartige Säulenhallen und Statuen geschmückt und ihre ewigen Mauern mit stolzen Gemälden bedeckt. Es hat sich starke Burgen von solchem Umfang errichtet, daß selbst die großen Musterfestungen der übrigen Welt dagegen wie Spielzeug aussehen. Seine Paläste sind aus dem erlesensten Baumaterial und mit so viel Feinheit und Kunstfertigkeit ausgeführt, daß man sie anstaunt wie Wunderwerke; um eins seiner Grabmäler – den Tadsch-Mahal – zu sehen, reisen die Menschen rund um die Erde. Achtzig Völker, die achtzig Sprachen reden, bewohnen das Land, ihre Zahl beläuft sich auf dreihundert Millionen.

Und zu Indiens merkwürdigsten Eigentümlichkeiten gehört noch das Kastenwesen und das Geheimnis aller Geheimnisse – die satanische Genossenschaft der Thugs.

Im Anfang aller Dinge hatte Indien einen Vorsprung vor der ganzen übrigen Welt. Es besaß die früheste Kultur, die erste Anhäufung materieller Reichtümer, eine Menge der tiefsten Denker, der größten Weisen, Fruchtbarkeit des Bodens, reiche Bergwerke und große Wälder. Hätte man da nicht meinen sollen, es würde seine Führerschaft auch ferner behaupten und eines Tages, statt sich in Demut einem fremden Machthaber zu unterwerfen, selbst die Welt beherrschen und jeder Nation, jedem Volksstamm der Erde Gesetze vorschreiben? – Und doch ist eine solche Oberherrschaft Indiens von jeher unmöglich gewesen. Wo es achtzig Völkerschaften und Hunderte von Regierungen gibt, kann von einheitlicher Macht nicht die Rede sein. Das Hauptgeschäft des Lebens wird Kampf und Streit, gemeinsame Ziele und Zwecke sind ausgeschlossen; aus solchen Elementen entsteht keine Weltherrschaft. Nicht nur durch die Verschiedenartigkeit der Sprachen, sondern vor allem durch das Kastenwesen mag die Zersplitterung entstanden sein. Dadurch wurde das Volk in einzelne Schichten geteilt und diese wieder in Ober- und Unterschichten, welche kein Gefühl der Zusammengehörigkeit miteinander verband. Bei solchen Zuständen war eine gesunde Entwicklung der Vaterlandsliebe völlig undenkbar.

Hätte es in Indien nicht so viele Reiche und Völker gegeben, so würden auch die Thugs dort schwerlich haben entstehen und gedeihen können. An jeder Grenze wurden Reisende und Kaufleute fortwährend belästigt, denn überall stießen sie auf Wächter und Zollhäuser; Dolmetscher, welche alle Sprachen verstanden, gab es so gut wie gar nicht, auch herrschte ein fortgesetzter Kriegszustand bald in diesen bald in jenen Reichen. Das alles hinderte die Sicherheit des allgemeinen Verkehrs und öffnete dem Räuberwesen Tür und Tor – was jedem gescheiten Menschen, den seine angeborene Neigung zu diesem Beruf trieb, auf der Stelle einleuchten mußte. Da es nun in Indien durchaus nicht an klugen Leuten fehlte, die sich zum Räuberwesen hingezogen fühlten, bildete sich auf ganz natürliche Weise die Genossenschaft der Thugs, um einem längst empfundenen Bedürfnis zu entsprechen.

Um welche Zeit das geschehen ist, weiß niemand; vermutlich schon vor Jahrhunderten. Was uns am meisten dabei Wunder nimmt ist, daß es gelingen konnte, die unheilvolle Verbindung so lange geheim zu halten. Englische Kaufleute hatten schon seit zweihundert Jahren in Indien Handel getrieben, ohne je etwas davon zu hören, und doch wurden alljährlich Tausende in ihrer nächsten Nähe von den Thugs umgebracht.

Daß es auch amtliche Berichte über die Thugs gibt, habe ich erst neuerdings erfahren. Es war mir von großem Wert, das betreffende Schriftstück eine Zeitlang zur Einsicht zu erhalten.

  1. Der Verfasser schrieb dies 1897.