Achtes Kapitel.

Hätte der Mensch immer Gelegenheit zum Morden, wenn ihn Mordlust überfällt, so kämen viele an den Galgen.

Querkopf Wilsons Kalender.

Auf der Eisenbahn. Vor fünfzig Jahren, in meiner Knabenzeit, drangen in unser entlegenes, schwach bevölkertes Mississippi-Tal sagenhafte Gerüchte von einer Genossenschaft berufsmäßiger Mörder, die in Indien hausen sollte, einem Lande, das uns tatsächlich ebenso fern lag wie die Sterne, die droben am Himmel funkelten. Man erzählte, es gäbe dort eine Sekte, deren Mitglieder sich Thugs nennten und zu Ehren eines Gottes, dem sie dienten, den Wanderern an einsamen Orten aufzulauern und sie umzubringen pflegten. Jeder hörte diesen Geschichten gern zu, aber man glaubte sie nicht, oder doch nur mit Vorbehalt. Man nahm an, daß sie sich auf dem weiten Wege bis zu uns lawinenartig vergrößert hätten, auch waren sie bald wieder verschollen. Da erschien Eugène Sues ›Ewiger Jude‹ und machte eine Zeitlang viel von sich reden. Eine Figur des Romans ist ›Feringhea‹, der furchtbare, geheimnisvolle Inder, ein Häuptling der Thugs, glatt, listig und todbringend wie eine Schlange. Durch ihn wurde das Interesse für die Thugs von neuem erweckt, aber nach kurzer Zeit schlief es abermals ein und zwar auf immer.

Dies mag wohl auf den ersten Blick befremdlich erscheinen, doch war es der natürliche Lauf der Dinge, wenigstens auf unserer Halbkugel. Was man von den Thugs wußte, stammte der Hauptsache nach aus einem Regierungsbericht, von dem in Amerika schwerlich jemals etwas verlautet ist. Man pflegt dergleichen amtliche Schriftstücke nicht ohne weiteres in Umlauf zu setzen; nur gewissen Leuten läßt man sie zukommen, und ob diese sie lesen ist noch sehr die Frage. Ich selbst habe vor einigen Tagen zum allererstenmal von diesem Bericht gehört und ihn mir zu verschaffen gewußt. Er fesselt mich ungemein und macht jene alten Märchen aus meinen Knabenjahren zur Wirklichkeit.

Major Sleeman, der in Indien diente, hat das Thug-Buch, von dem ich rede, im Jahr 1839 abgefaßt. Es wurde 1840 in Kalkutta herausgegeben, ein dicker, plumper Band, der uns zwar keine hohe Meinung vom damaligen Stand der Buchdruckerkunst beibringt, aber vielleicht als Erzeugnis einer amtlichen Druckerei aus alter Zeit und fernen Landen gar nicht so übel war. Dem Major fiel die Riesenaufgabe zu, Indien von den Thugs zu befreien und er hat sie mit siebzehn Gehilfen, die unter seiner Oberleitung standen, glücklich vollbracht. Die Reinigung der Augiasställe war nichts dagegen.

Damals schrieb Hauptmann Valencey in einer Zeitung, die in Madras erschien: »Wenn der Tag kommt, an dem jenes weit verbreitete Uebel in Indien ausgerottet und nur noch dem Namen nach bekannt ist, wird dies viel dazu beitragen, die britische Herrschaft im Orient auf ewige Zeiten zu befestigen.«

Er hat die Größe und Schwierigkeit des Werkes, durch dessen Vollendung sich England ein unsterbliches Verdienst erworben hat, in keiner Weise überschätzt.

Von dem Vorhandensein der furchtbaren Sekte waren die britischen Behörden schon seit 1810 unterrichtet, doch ahnte kein Mensch ihre weite Ausdehnung; man legte ihr nur geringe Bedeutung bei und erst 1830 wurden systematische Maßnahmen zu ihrer Unterdrückung getroffen. Damals war es Major Sleeman gelungen, den Thug-Häuptling Eugène Sues in seine Gewalt zu bekommen, und der furchtbare Feringhea ließ sich bewegen Kronzeuge zu werden. Die Enthüllungen, die er machte, waren so ungeheuerlicher Art, daß sie Sleeman ganz unglaublich schienen. Er hatte in dem Wahn gelebt, er kenne sämtliche Verbrecher in seinem Bezirk und hatte die schlimmsten höchstens für Diebe und Spitzbuben gehalten. Feringhea machte dem Major jedoch klar, daß er die ganze Zeit über von Scharen berufsmäßiger Mörder umgeben gewesen sei, die ihre Opfer in seiner nächsten Nähe begruben. Sleeman hielt das für Hirngespinste, aber Feringhea sagte: »Komm und siehe selbst!« Er führte ihn an eine Grube, in der hundert Leichname lagen, erzählte ihm alle näheren Umstände ihrer Ermordung und nannte die Namen der Thugs, welche die Tat vollbracht hatten. Sleeman traute seinen Augen kaum; er nahm einige von jenen Thugs gefangen und stellte Einzelverhöre mit ihnen an, nachdem er Sorge getragen, daß sie sich nicht unter einander verständigen konnten. Auf die unbeglaubigten Aussagen eines Inders wollte er sich nicht verlassen. Aber, o Schrecken! die gesammelten Zeugnisse ergaben nicht nur, daß Feringhea die Wahrheit geredet hatte, sondern lieferten zugleich den Beweis, daß die Banden der Thugs in ganz Indien ihr furchtbares Gewerbe trieben. Nun tat die Regierung ernstliche Schritte zur Vertilgung der Sekte und man verfolgte sie zehn Jahre lang mit unerbittlicher Strenge, bis sie gänzlich ausgerottet war. Eine Räuberbande nach der andern wurde gefangen, vor Gericht gestellt und bestraft. Ueberall spürte man die Thugs in ihren Schlupfwinkeln auf und machte Jagd auf sie. Die Regierung brachte alle ihre Geheimnisse ans Licht und ließ die Namen sämtlicher Mitglieder der Banden, sowie den Geburtsort und Wohnplatz jedes einzelnen aufs genauste verzeichnen.

Die Thugs waren Anbeter des Gottes Bhowanee, dem sie alle Wanderer opferten, welche ihnen in die Hände fielen. Die Sachen der Getöteten behielten sie jedoch für sich: dem Gotte war nur an dem Leichnam etwas gelegen. Bei der Aufnahme in die Sekte fanden feierliche Zeremonien statt; jeder neue Bekenner wurde unterwiesen, wie er die Erdrosselung mit dem heiligen Tuch zu vollziehen habe, doch war ihm erst nach langer Uebung gestattet, selbständig handelnd vorzugehen. Nur ein erfahrener Würger war im stande, die Erdrosselung so rasch zu bewerkstelligen, daß der dem Tode Geweihte auch keinen Laut mehr von sich geben konnte; jeder dumpfe Schrei, jedes Stöhnen, Seufzen oder Schnappen nach Luft mußte verhindert werden. In einem Augenblick schlang sich das Tuch um den Hals des Opfers, es ward plötzlich zusammengezogen, der Kopf fiel lautlos nach vorn, die Augen traten aus ihren Höhlen und alles war vorüber. Vornehmlich gaben die Thugs wohl acht, daß sie auf keinen Widerstand stießen, auch forderten sie ihr Opfer meist auf sich niederzusetzen, weil sich das Geschäft so am bequemsten verrichten ließ.

Alle Zustände und Einrichtungen Indiens waren den Thugs ausnehmend günstig: Eine öffentliche Fahrgelegenheit gab es nicht, man konnte auch kein Gefährt mieten. Der Reisende mußte zu Fuß gehen, wenn er nicht einen Ochsenwagen benutzen oder sich ein Pferd für die Gelegenheit kaufen konnte. Sobald er die Grenze seines kleinen Fürstentums überschritten hatte, war er unter Fremden; dort kannte ihn niemand, er blieb unbeachtet, kein Mensch vermochte mehr anzugeben, wohin er seine Schritte gelenkt hatte. Weder in Städten noch Dörfern pflegte der Reisende einzukehren; er hielt außerhalb derselben Rast und schickte seine Diener in den Ort, um Lebensmittel zu kaufen. Einzelne Höfe gab es nicht; auf der öden Strecke zwischen zwei Dörfern fiel der Wanderer dem Feinde leicht zur Beute, besonders da er meist bei Nacht weiterzog, um der Hitze zu entgehen. Unterwegs gesellten sich häufig Fremdlinge zu ihm und boten ihm an, zu gegenseitigem Schutz die Fahrt gemeinsam fortzusetzen; das waren meistens Thugs, wie der Wanderer bald zu seinem Verderben erfuhr. Die Güterbesitzer, die eingeborene Polizei, die kleinen Fürsten, die Dorfrichter und Zollwächter steckten oft mit den Räubern unter einer Decke, gewährten ihnen Schutz und Obdach und lieferten ihnen die Reisenden aus, um Anteil an der Beute zu haben. Dadurch ward es der Regierung zuerst fast unmöglich gemacht die Uebeltäter zu fangen, weil die wachsamen Freunde ihnen zur Flucht verhalfen. Und so zogen denn handeltreibende Leute aus allen Kasten und Ständen, paarweise oder in Gruppen, schutzlos, bei schweigender Nacht, auf den Pfaden des weiten Ländergebiets einher, Kostbarkeiten, Geld, Juwelen, kleine Seidenballen, Gewürze und allerlei Waren mit sich führend – es war ein Paradies für die Thugs.

Bei Eintritt des Herbstes pflegte die Genossenschaft ihre zum voraus verabredeten Zusammenkünfte zu halten. Um sich untereinander zu verständigen brauchten die Thugs, selbst wenn sie aus den verschiedensten Gebieten stammten, keine Dolmetscher wie andere Völker. Sie hatten ihre eigene Sprache und geheime Zeichen, an denen sich die Genossen erkannten; alle waren untereinander befreundet, selbst die Unterschiede der Kaste und Religion traten in den Hintergrund, wo Hingebung an den Beruf ins Spiel kam. Der Moslem und der Hindu aus höherer oder niederer Kaste, standen sich als Thugs gleich Brüdern treulich zur Seite.

War eine Bande versammelt, so ward Gottesdienst gehalten und man wartete auf die Omen. Das Geschrei verschiedener Tiere hatte eine gute oder schlechte Vorbedeutung, wie jedermann wußte. Erfolgte ein böses Omen, so gab man das Vorhaben auf und die Leute gingen wieder nach Hause.

Schwert und Tuch galten als heilige Symbole der Thugs. Das Schwert beteten sie daheim an, ehe sie zur Versammlung gingen, und das Tuch, mit dem sie ihre Opfer würgten, verehrten sie gemeinschaftlich. Meist verrichtete der Häuptling der Bande die religiösen Zeremonien selbst, nur die Kaets beauftragten damit gewisse angestellte Erwürger, Chaurs genannt. Diese Kaets hielten so streng an ihren gottesdienstlichen Gebräuchen fest, daß es nur dem Chaur gestattet war, die geheiligten Gefäße und was sie sonst dabei benützten, anzurühren.

Zwei charakteristische Merkmale sind dem Raubsystem der Thugs besonders eigen: die größte Vorsicht, Ausdauer und Geduld bei Verfolgung der Beute und gänzliche Erbarmungslosigkeit im Moment der Tat.

Vor allem richteten sie ihr Augenmerk darauf, daß sie an Zahl der Reisegesellschaft, welcher ihr Angriff galt, mindestens vierfach überlegen waren. Offene Feindseligkeiten vermieden sie und überfielen ihre Opfer nur, wenn diese nichts Böses ahnten. Oft reisten sie tagelang in ihrer Gesellschaft und suchten durch allerlei Künste ihr Vertrauen und ihre Freundschaft zu gewinnen. Sobald ihnen dies gelungen war, gingen sie an ihr eigentliches Geschäft: Zuerst wurden ein paar Thugs vorausgeschickt, um bei dunkler Nacht den günstigsten Schauplatz für die Ermordung zu wählen und die Gräber zu graben. Wenn die übrigen den Ort erreichten, ward unter dem Vorwand, etwas zu rasten und eine Pfeife zu rauchen, Halt gemacht. Man schlug der Gesellschaft vor, sich niederzusetzen. Auf einen Wink des Hauptmanns nahmen einige Thugs den Reisenden gegenüber Platz, andere setzten sich neben sie und fingen ein Gespräch mit ihnen an, während die geübtesten Würger sich, des verabredeten Zeichens harrend, in ihrem Rücken aufstellten. Dies Zeichen war gewöhnlich irgend eine alltägliche Bemerkung: »Bringt den Tabak,« oder etwas derart. Oft verging noch eine beträchtliche Zeit, nachdem jeder der Handelnden seinen bestimmten Platz eingenommen hatte; der Hauptmann wartete erst, ob auch alles ganz sicher sei. Unterdessen spann sich die Unterhaltung einförmig weiter; düstere Gestalten huschten im Hintergrund hierhin und dorthin bei dem ungewissen Dämmerschein; die Nacht war still und friedlich und die Reisenden überließen sich arglos der angenehmen Ruhe, ohne zu ahnen, daß die Todesengel sie von allen Seiten umgaben. Jetzt war der Augenblick da; das verhängnisvolle Wort: »Bringt den Tabak,« wurde gesprochen. Sofort entstand eine rasche aber lautlose Bewegung. Im gleichen Moment hielten die Männer, welche neben den Reisenden saßen, ihre Hände fest, die vor ihnen ergriffen ihre Füße und taten einen kräftigen Ruck, während ein Mörder jedem Opfer von hinten das Tuch um den Kopf schlang und zuzog – der Kopf des Erdrosselten sank auf die Brust, das Trauerspiel war zu Ende. Nun wurden die Leichen ausgeplündert, und in den Gräbern verscharrt; darauf packte man die Beute zusammen, die mitgenommen werden sollte. Nachdem dann die Thugs noch zum Schluß dem Gotte Bhowanee ihren frommen Dank dargebracht hatten, zogen sie weiter, um noch mehr heilige Taten zu verrichten.

Aus Major Sleemans Bericht ergibt sich, daß die Reisenden meist in kleiner Anzahl beisammen waren, in der Regel nicht mehr als zwei, drei oder vier. Die Thugs dagegen zogen in Banden von zehn, fünfzehn, fünfundzwanzig, vierzig, sechzig, hundert, hundertfünfzig, zweihundert, zweihundertundfünfzig Mann umher, ja, es wird sogar eine Bande von dreihundertzehn Mann erwähnt. Bei solcher starken Ueberzahl kann man ihren Fang nicht besonders groß nennen, wenn man bedenkt, daß sie durchaus nicht wählerisch waren, sondern wo und wie sie konnten jeden umbrachten, ob reich oder arm, oft sogar Kinder. Manchmal töteten sie auch Frauen, aber das galt für sündhaft und brachte Unglück. Die günstige Jahreszeit für ihre Raubzüge dauerte sechs bis acht Monate. In einem solchen Jahrgang töteten zum Beispiel die sechs Banden von Bundelkund und Gwalior, welche zusammen 712 Köpfe zählten, 210 Menschen. Die Thugs von Malwa und Kandeisch waren 702 Mann stark und mordeten 232. Die Kandeisch- und Berar-Banden, 963 Mann, brachten 385 Leute um.

Bettler gelten in Indien für heilig, und manche Banden schonten ihr Leben, andere dagegen mordeten nicht nur sie, sondern sogar den Fakir, diesen Inbegriff aller Heiligkeit, der nichts als Haut und Knochen ist, sich Staub und Schmutz auf das buschige Haupthaar streut und seinen nackten Körper über und über mit Asche bepudert, daß er aussieht wie ein Gespenst. Mancher Fakir verließ sich jedoch allzu fest auf seine unverletzliche Heiligkeit. Von einem solchen Fall wird uns in Sleemans Buch unter andern Großtaten Feringheas berichtet. Er war einmal mit vierzig Thugs ausgezogen und sie hatten schon neununddreißig Männer und eine Frau getötet, ehe der Fakir zum Vorschein kam.

»Wir näherten uns Doregow,« lautete der Bericht, »trafen auf drei Brahminen, dann auf einen Fakir zu Pferde, der sich ganz mit Zucker bekleistert hatte, um die Fliegen herbeizulocken, von denen er über und über bedeckt war. Wir jagten ihn fort und töteten die drei andern.

»Hinter Doregow stieß der Fakir nochmals zu unserer Gesellschaft und zog mit uns bis Raojana; wir begegneten sechs Hindus, die von Bombay nach Nagpore wollten. Den Fakir vertrieben wir durch Steinwürfe, töteten die sechs Leute in ihrem Lager und begruben ste im Gebüsch.

»Am nächsten Tage stellte sich der Fakir wieder ein; erst in Mana wurden wir ihn los. Hinter dem Orte trafen wir drei Sepoys und hatten fast den Platz erreicht, der zu ihrer Ermordung bestimmt war, als der Fakir abermals erschien. Nun endlich riß uns die Geduld und wir gaben Mithoo, einem unserer Gefährten, fünf Rupien, daß er ihn umbringen und die Sünde auf sich nehmen sollte. Alle vier wurden erdrosselt, also auch der Fakir. In seinem Gepäck fanden sich zu unserer Ueberraschung dreißig Pfund Korallen, dreihundert fünfzig Schnüre kleine Perlen, fünfzehn Schnüre große Perlen und ein vergoldetes Halsband.«

Ob wohl Mithoo, der allein die Sünde trug, sich die unerwartete Beute ganz aneignen durfte, oder ob er sie mit den Gefährten teilen mußte und nur die Sünde für sich behielt? – Wie schade, daß der Regierungsbericht uns gerade diesen interessanten Umstand verschweigt!

Feringhea fürchtete sich selbst nicht vor den Mächtigen der Erde. Einen Elefantentreiber des Rajahs von Oodeypore erdrosselte er ohne weiteres. Er hat auf jenem Raubzug nicht weniger als hundert Männer und fünf Frauen umgebracht.

Unter den Unglücklichen, welche den Thugs zum Opfer fielen, waren Personen jeden Standes und Ranges; nur den Weißen taten sie nichts zu Leide. Die Liste verzeichnet:

Eingeborene, Soldaten, Fakirs, Bettler, Träger des heiligen Wassers, Zimmerleute, Hausierer, Schneider, Schmiede, eingeborene Polizisten, Kuchenbäcker, Stallknechte, Pilger, Chuprassies, Weber, Priester, Bankiers, Schatz-Träger, Kinder, Kuhhirten, Gärtner, Ladenbesitzer, Palankin-Träger, Landleute, Ochsentreiber, Diener, die Beschäftigung suchten, Frauen, die sich verdingen wollten, Schafhirten, Bogenschützen, Aufwärter, Bootsleute, Händler, Grasmäher.

Selbst einen fürstlichen Koch verschonten sie nicht, ebenso wenig den Wasserträger des Herrschers über alle Fürsten und Könige, des Generalgouverneurs von Indien. Ja, eine Bande war sogar grausam genug, armen, herumziehenden Komödianten das Leben zu nehmen, und trotzdem sie auf demselben Raubzug auch noch einen Fakir und zwölf Bettler töteten, beschützte sie ihr Gott Bhowanee: Sie wollten einen Mann im Walde erdrosseln, während gerade viele Leute in der Nähe vorbeigingen, zogen aber die Schlinge nicht fest genug, und der Mann stieß einen lauten Schrei aus. Da ließ Bhowanee im gleichen Augenblick ein Kamel durch das Dickicht brechen, dessen Gebrüll den Angstschrei übertönte, und ehe der Mann den Mund wieder öffnen konnte, war sein Atem entflohen.

Die Kuh ist in Indien ein so heiliges Tier, daß schon ihren Hirten zu töten für frevelhaft gilt. Das wußten die Thugs recht gut, aber bisweilen war ihr Blutdurst so groß, daß sie dennoch einige Kuhhirten umbrachten. Ein Thug, der solche Missetat verübt hatte, bekennt:

»Unser Glaube verbietet das aufs strengste; es kann nur Unheil daraus entstehen. Ich lag nachher zehn Tage am Fieber darnieder. Tötet man einen Mann, der eine Kuh führt, so bringt es Unglück; hat er keine Kuh bei sich, dann schadet es nichts.« Ein anderer Thug, der bei dieser Gelegenheit die Füße des Opfers gehalten hatte, fürchtete für sich keine schlimmen Folgen, »weil das Mißgeschick für solche Tat immer nur den Erwürger selbst, nicht seine Gehilfen bedroht, und wenn er deren auch hundert gehabt hätte.«

Während vieler Menschenalter durchwanderten Tausende von Thugs Indien in allen Richtungen. Ihr Räuberhandwerk war zu einem Beruf geworden, der sich vom Vater auf den Sohn und Enkel forterbte. Von sechzehn Jahren an konnte ein Knabe schon Mitglied der Verbindung werden, und siebzigjährige Greise waren noch in voller Tätigkeit.

Was fesselte die Leute aber an ihr Mordgeschäft, worin bestand der Reiz desselben? Teils trieb sie offenbar Frömmigkeit, teils Beutegier dazu, aber das Hauptinteresse scheint doch das Vergnügen an der Jagd selbst gewesen zu sein, die Mordlust, welche auch dem weißen Manne im Blute steckt. Meadows Taylor schreibt in seinem Roman: ›Bekenntnisse eines Thug‹:

»Wie leidenschaftlich liebt ihr Engländer nicht die Jagd! Ganze Wochen und Monate widmet ihr diesem aufregenden Zeitvertreib. Um Tiger, Panther, Büffel oder Eber zu töten, strengt ihr eure ganze Tatkraft an, ja ihr setzt selbst das Leben aufs Spiel. Wir Thugs aber verfolgen ein weit edleres Wild!«

Vielleicht liegt hierin wirklich der Schlüssel des Rätsels, das die Entstehung und Verbreitung der furchtbaren Sekte umgibt. Dem Menschengeschlecht im großen und ganzen ist die Mordgier eigen, es ergötzt sich am Töten lebender Geschöpfe wie an einem Schauspiel. Wir weißen Leute sind nur etwas verfeinerte Thugs, denen ihr dünner Anstrich von Zivilisation wie ein lästiger Zwang erscheint. Als Thugs haben wir uns vor noch gar nicht so langer Zeit an den Metzeleien der römischen Arena ergötzt und später an dem Feuertod, welcher zweifelhaften Christen durch rechtgläubige Christen auf öffentlichem Marktplatz bereitet wurde. Noch jetzt gehen wir mit den Thugs in Spanien oder in Nimes zu den blutigen Greueln der Stiergefechte hinaus. Keiner unserer Reisenden, welches Geschlechts oder welcher Religion er auch sein mag, hat je der Anziehungskraft der spanischen Arena zu widerstehen vermocht, wenn sich ihm Gelegenheit bot, dem Schauspiel beizuwohnen. Auch zur Jagdzeit sind wir fromme Thugs: wir hetzen das harmlose Wild und töten es mit Wonne. Aber einen Fortschritt haben wir doch gemacht. Zwar ist er nur winzig und kaum der Rede wert, so daß wir nicht nötig hätten besonders stolz darauf zu sein, aber es ist immerhin ein Fortschritt zu nennen, daß es uns nicht mehr Freude macht, hilflose Menschen niederzumetzeln oder zu verbrennen. Von diesem höheren Standpunkt aus können wir mit selbstgefälligem Schaudern auf die indischen Thugs herabsehen; auch dürfen wir zuversichtlich hoffen, daß einst der Tag erscheinen wird, an dem unsere Nachkommen in künftigen Jahrhunderten mit ähnlichen Gefühlen auf uns herabschauen.