Totaler Ausverkauf – Entdeckter Verlust – Mary Jane entschließt sich zum Fortgehen – Huck nimmt Abschied von ihr – Mumps

21. Kapitel

Schon am Tag nach dem Begräbnis bekam die Freude der Mädchen den ersten Stoß. Gegen Mittag erschienen nämlich zwei Sklavenhändler, und der König verkaufte die Neger zu passablen Preisen gegen in drei Tagen fällige Wechsel, wie sie es nannten. Ich dachte, den armen Mädchen und den Negern würde vor Jammer das Herz brechen. Ich glaube, ich wäre mit der Wahrheit herausgeplatzt und hätte die Kerls entlarvt, wenn ich nicht gewußt hätte, daß der Verkauf ungültig sei und die Neger in ein bis zwei Wochen wieder zurück sein würden.

Dieser Verkauf machte viel Gerede in der Stadt. Es schadete den Betrügern etwas; aber der König blieb hartnäckig dabei, trotz aller Einwendungen des Herzogs, der sich ernstlich unbehaglich fühlte.

Der nächste Tag war Auktionstag. Es war schon hell am Morgen, als König und Herzog zu mir auf den Boden kamen und mich weckten. Ich konnte in ihren Gesichtern lesen, daß was los sei.

Der König redete mich an: »Warst du vorgestern abend in meinem Zimmer?«

»Nein, Majestät« – so nannte ich ihn immer, wenn niemand außer unserer Bande dabei war.

»Warst du gestern oder letzte Nacht drin?«

»Nein, Majestät.«

»Auf Ehre? – Keine Lügen jetzt!«

»Auf Ehre, Majestät; ich sage Ihnen die Wahrheit. Ich bin nicht in Ihrem Zimmer gewesen, seit Fräulein Mary Sie und den Herzog hinführte, um es Ihnen zu zeigen.«

Der Herzog fragte: »Hast du sonst jemand hineingehen sehen?«

»Nein, Ihro Gnaden, nicht daß ich mich zu erinnern wüßte.«

»Denk etwas nach.«

»Doch, ja, ich habe die Neger mehreremal hineingehen sehen.«

»Wann war das?«

»Es war am Begräbnistag, am Morgen. Ich war nicht früh auf, denn ich hatte mich verschlafen. Ich kam gerade die Leiter herab, als ich sie sah.«

»Ja, ja, nur weiter, nur weiter. Was taten sie? Wie benahmen sie sich?«

»Sie taten nichts, und es fiel mir auch nichts Besonderes an ihnen auf. Sie schlichen auf den Zehen davon; allein ich dachte, sie seien in Ihro Gnaden Zimmer gegangen, um aufzuräumen oder dergleichen, in der Meinung, Sie wären schon auf; da sie aber merkten, daß Sie noch schliefen, würden sie nun leise davonschleichen, um Sie nicht zu wecken.«

»Alle Wetter, das ist ’ne Bescherung!« rief der König und sie sahen einander verdutzt und ziemlich dumm an. Eine Minute lang standen sie da, grübelnd und sich hinter den Ohren kratzend, dann brach der Herzog in ein heiseres Gelächter aus und sagte: »Es übersteigt alles, wie gut diese Neger ihre Rolle, gespielt haben. Sie taten so jämmerlich, weil sie aus dieser Gegend fort mußten! Und ich glaubte, sie fühlten sich wirklich elend, und du glaubtest es auch, und alle andern. Mir soll kein Mensch je wieder behaupten, daß Neger kein histrionisches Talent besitzen. In denen steckt ein Vermögen. Hätte ich die Mittel und ein Theater, so wäre mein erstes: Die müßten mir her. Und wir haben sie verschleudert, hergegeben für einen Wisch, einen Wechsel! Sag mal, wo ist er eigentlich, der Wisch?«

»Zum Einkassieren auf der Bank. Wo soll er sonst sein?«

»Nun, dann ist es, gottlob, in Ordnung.«

Jetzt sagte ich in etwas ängstlichem Ton: »Ist irgend etwas schiefgegangen?«

Der König wandte sich zu mir und fuhr mich an: »Geht dich nichts an! Halt deinen Mund und kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten, wenn du welche hast. Vergiß das nicht, solange du in dieser Stadt bist – verstanden?«

Als der König mit mir fertig war, sagte der Herzog höhnisch: »Schnelle Verkäufe mit kleinem Gewinn! Ist ja das wahre Geschäftsprinzip – was?«

Der König schnarrte zurück: »Ich hab’s gerade recht gut machen wollen, als ich die Kerls so rasch verkaufte. Wenn der Gewinn gleich Null oder gar minus ist, so ist’s mein Fehler nicht mehr als deiner.«

»Nun, sie wären noch in diesem Hause, und wir wären fort, wenn man meinen Rat befolgt hätte.«

Der König gab ihm darauf wieder heraus, dann fuhr er mich an und machte mich arg herunter, weil ich ihm nicht auf der Stelle gesagt hätte, daß die Neger aus seinem Zimmer gekommen seien und sich so eigen benommen hätten; jeder Narr hätte wissen können, daß dahinter was steckt. Dann fluchte er zur Abwechslung auf sich selbst und sagte, das käme davon, wenn man früh aufstehe, anstatt sich seine Ruhe zu gönnen, er wolle verdammt sein, wenn er’s je wieder täte. So gingen sie grollend und zankend ab.

Mittlerweile war’s Zeit zum Aufstehen geworden; so stieg ich denn die Leiter hinab und wandte mich zur Treppe. Als ich am Zimmer der Mädchen vorbeikam, stand die Tür offen, und ich sah Mary Jane neben ihrem alten haarigen Koffer sitzen, der offen war und in den sie eben Sachen gepackt hatte, um sich zur Reise nach England zu rüsten. Doch jetzt hielt sie inne – mit einem gefalteten Kleid auf dem Schoß –, bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und weinte.

Es tat mir leid, sie so traurig zu sehen, ich trat daher ins Zimmer und sagte:

»Fräulein Mary Jane, was fehlt Ihnen?«

So sagte sie mirs denn. Es war wegen der Neger; der Verkauf hätte ihr alle Freude an der Reise nach England verdorben. Sie könne nie wieder glücklich sein, wenn sie daran denke, daß Mutter und Kinder voneinander getrennt würden und daß sie sich nie, nie wiedersehen würden.

»Aber sie werdens doch, eh‘ zwei Wochen um sind – ich weiß es gewiß!« sagte ich.

Da war’s heraus, bevor ich mich’s versah! Und im nächsten Augenblick schlang sie ihre Arme um meinen Hals und rief: »Wär’s möglich? Bitte sag’s noch einmal!«

Ich hatte zuviel gesagt und fühlte mich etwas verlegen. Ich bat sie, mir eine Minute Zeit zum Besinnen zu lassen. Sie setzte sich wieder und war ganz voll Erwartung und Aufregung; dabei sah sie so glücklich und beruhigt aus wie jemand, der sich eben einen Zahn hat ausziehen lassen. Ich überlegte mir’s und sprach zu mir selbst: Ein Mensch, der sich aufrafft und die Wahrheit sagt, wenn er in die Enge getrieben wird, läuft manche Gefahr – zwar kann ich nicht aus Erfahrung sprechen und weiß es nicht gewiß, aber es will mir so scheinen. Nun ist hier aber ein Fall, wo es mir entschieden vorkommt, als ob die Wahrheit besser und sogar sicherer wäre als eine Lüge. Ich will’s also wagen und diesmal die Wahrheit sagen, obwohl für mich viel auf dem Spiel steht und es mir dabei zumute ist, wie einem, der sich mit der brennenden Pfeife auf ein Faß Schießpulver setzt. Dann sagte ich: »Fräulein Mary Jane, wissen Sie irgendeinen Platz etwas außerhalb der Stadt, wo Sie hingehen und drei bis vier Tage zubringen könnten?«

»Ja – bei Lothrops. Warum?«

»Lassen wir das warum. Wenn ich Ihnen sage, woher ich weiß, daß die Neger einander wiedersehen werden, innerhalb zwei Wochen, hier in diesem Hause, und beweise, woher ich’s weiß – wollen Sie dann zu Lothrops gehen und vier Tage dort bleiben?«

»Vier Tage«, rief sie »ein Jahr, wenn es sein muß!«

»Gut«, sagte ich, »von Ihnen will ich nichts mehr als Ihr Wort, das ist mir sicherer, als wenn ein anderer auf die Bibel schwört.« Sie lächelte und errötete lieblich; ich fuhr fort: »Wenn Sie nichts dagegen haben, will ich die Tür schließen und verriegeln.«

Dann kam ich zurück und begann: »Nun bitte ich, nicht aufzuschreien. Sitzen Sie hübsch still und hören Sie mich an wie ein Mann. Ich muß die Wahrheit sagen, und Sie müssen sich fassen, Fräulein Mary, denn sie ist schlimmer Art und schwer zu ertragen, aber es geht einmal nicht anders. Diese Onkel sind gar nicht Ihre Onkel; sie sind ein paar Betrüger, erbärmliche Landstreicher. – So, über’s Schlimmste sind wir nun hinweg, den Rest werden Sie ziemlich leicht ertragen.«

Natürlich griff sie dieser Anfang tüchtig an; doch ich war jetzt über das Gröbste weg und konnte nun leichter fortfahren. Ihre Augen leuchteten mehr und mehr, als ich ihr alles erzählte, von dem Augenblick an, wo wir den jungen Burschen trafen, der zum Dampfboot wollte – alles haarklein –, bis zu dem Moment, wo sie sich an der Haustür dem König an die Brust warf und ihn sechzehn- oder siebzehnmal küßte.

Da sprang sie auf, ihr Gesicht glühte wie die untergehende Sonne, und rief: »Der Schändliche! – Komm, verlier keine Minute, keine Sekunde. Sie sollen geteert und gefedert und in den Fluß geworfen werden!«

Ich entgegnete: »Versteht sich. Aber doch nicht, bevor Sie zu Lothrops gehen, oder…«

»Oh!« rief sie, »was fällt mir nur ein!« und setzte sich wieder. »Wo habe ich meine Gedanken? Du bist mir doch nicht böse, nicht wahr?« Und dabei legte sie ihre Sammethand auf meine, daß ich meinte, ich müsse vergehen. »Meine Aufregung war zu groß«, sagte sie, »sei jetzt so gut und fahre fort, ich werde mich zusammennehmen. Sag mir nur, was ich tun soll, es soll genau befolgt werden!«

»Wahrhaftig«, sprach ich, »es ist eine schlimme Bande, diese zwei Gauner, und ich bin leider darauf angewiesen, daß ich mit ihnen noch eine Weile reisen muß, ob ich will oder nicht – den Grund sage ich Ihnen lieber nicht. Allerdings, wenn Sie die Kerls anzeigten, würde die Stadt mich schon aus ihren Klauen reißen, und ich wäre sicher; es ist aber da noch ein anderer, von dem Sie nichts wissen, dem es dann schlecht gehen könnte. Den müssen wir doch retten, nicht wahr? Natürlich, so wollen wir also das Pärchen noch nicht anzeigen.«

Wie ich das sagte, kam mir ein guter Gedanke. Am Ende gelang es doch, mich und Jim von den Gaunern loszumachen und sie hier ins Gefängnis zu bringen. Doch da ich das Floß nicht bei Tage treiben lassen wollte, so durfte mein Plan nicht vor Abend zur Ausführung kommen.

Ich sagte: »Fräulein Mary Jane, ich will Ihnen sagen, was wir tun, dann werden Sie auch bei Lothrops nicht so lange zu bleiben brauchen. Wie weit ist’s bis dorthin?«

»Eine gute Stunde, landeinwärts.«

»Das genügt. Gehen Sie jetzt hin, bleiben Sie ruhig dort bis neun oder halb zehn Uhr abends, und dann lassen Sie sich wieder heimbringen; Sie können ja sagen, Sie hätten etwas vergessen. Wenn Sie vor elf hier sind, stellen Sie ein Licht ans Fenster und warten auf mich bis elf Uhr; sollte ich bis dahin nicht erscheinen, so denken Sie, daß ich fort bin und in Sicherheit. Dann kommen Sie heraus, enthüllen alles und lassen die Gauner ins Gefängnis stecken.«

»Gut«, sprach sie, »das will ich tun.«

»Sollte es aber passieren, daß ich nicht fortkomme, sondern mit den beiden ergriffen werde, dann müssen Sie den Leuten sagen, daß Sie alles durch mich erfahren haben, und müssen mir beistehen, soviel Sie können.«

»Dir beistehen? Gewiß will ich das. Sie sollen kein Haar auf deinem Haupte krümmen.«

»Wenn ich entwische, so kann ich freilich nicht beweisen, daß diese Schurken nicht Ihre Onkel sind; doch könnt‘ ich das auch nicht, selbst wenn ich hier wäre. Ich könnte nur beschwören, daß sie Landstreicher und Gauner sind, doch das wär‘ auch schon von Bedeutung. Aber es gibt noch andere, die das besser können als ich, und denen man leichter Glauben schenken wird als mir. Ich will Ihnen sagen, wo sie zu finden sind. Geben Sie mir einen Bleistift und ein Stück Papier – so, Königliches Nonplusultra zu Bricksville. Stecken Sie das ein und verlieren Sie’s nicht. Wenn das Gericht sich Auskunft verschaffen will über die zwei, so soll man nur nach Bricksville schicken und sagen lassen, die Leute, die das Königliche Nonplusultra gespielt haben, seien abgefaßt und man brauche einige Zeugen. Dann wird das ganze Städtchen im Nu hier sein, Fräulein Mary. Alle werden kommen, und zwar kochend vor Wut.«

Ich dachte, nun ist alles wohlgeordnet und sagte noch: »Lassen Sie die Versteigerung ruhig vor sich gehen. Niemand braucht für die gekauften Sachen zu bezahlen vor dem nächsten Tag, und die beiden werden nicht von hier fortgehen wollen, bis sie das Geld haben. So wie wir’s jetzt eingefädelt haben, wird der Verkauf ungültig sein, und die beiden werden das Geld nicht bekommen. Es geht ebenso wie mit den Negern: es ist kein gültiger Verkauf, und die Neger werden bald wieder heimkehren. Die Gauner können nicht einmal das Geld für die Neger erhalten. Warten Sie nur, das Pärchen soll seine Wunder erleben!«

»Ich will nur noch zum Frühstück hinunter«, rief sie, »und dann gehe ich gleich zu Lothrops.«

»Nein, nein, Fräulein Mary Jane«, entgegnete ich, »das geht nicht – geht unmöglich; Sie müssen vor dem Frühstück gehen. Stellen Sie sich vor, Sie könnten Ihren Onkeln begegnen! Sie können jeden Augenblick erscheinen, um Ihnen guten Morgen zu wünschen und Sie zu küssen –«

»Genug, genug davon! Da will ich lieber vor dem Frühstück gehen. Sollen die Schwestern hierbleiben?«

»Ja, grämen Sie sich nicht um sie. Sie müssen’s noch etwas aushalten. Es würde Verdacht erregen, wenn alle gingen. Sie dürfen jetzt weder den Gaunern, noch den Schwestern, noch irgend jemandem in der Stadt zu Gesicht kommen. Wenn Sie heute ein Nachbar nach dem Befinden Ihrer Onkel fragen würde, so könnte Ihr Gesicht Sie verraten. Nein, gehn Sie nur gleich fort, Fräulein Mary Jane, und lassen Sie mich alles besorgen. Ich werde Fräulein Susan auftragen, daß Sie den Onkeln einen freundlichen Gruß senden; Sie seien auf einige Stunden fortgegangen, um eine Freundin zu besuchen, und würden am Abend oder frühmorgens heimkehren.«

Fräulein Mary Jane stutzte einen Augenblick, dann bemerkte sie ein wenig spitz: »Sag meinetwegen, ich sei zu meinen Freundinnen gegangen, aber einen Gruß darfst du dem sauberen Paar von mir nicht ausrichten.«

»Gut, also keinen Gruß.« – Warum sollt‘ ich ihr gegenüber darauf bestehen? »Aber noch eins, Fräulein – der Geldsack!«

»Nun, den haben die leider; und ich schäme mich, wenn ich daran denke, wie sie ihn bekamen.«

»Nein, da irren Sie sich. Die haben ihn nicht.«

»Die nicht? – Wer sonst?«

»Ich wollte, ich wüßt‘ es; doch weiß ich es nicht. Ich hatte ihn, denn ich stahl ihn, stahl ihn für Sie und weiß auch, wo ich ihn versteckt habe, fürchte aber, daß er nicht mehr da ist. Es tut mir sehr leid, Fräulein Mary Jane, nie hat mir etwas so leid getan; aber ich tat alles, was ich tun konnte. So wahr ich lebe, ich meinte es ehrlich. Ich wurde beinah erwischt, und ich mußte ihn am ersten besten Platz verstecken und mich aus dem Staub machen – und es war kein guter Platz.«

»Oh, hör doch auf, dich anzuklagen! Es ist nicht recht von dir, und ich leid‘ es nicht. Es war nicht deine Schuld. – Wo hast du ihn versteckt?«

Ich wollte sie nicht wieder an ihren großen Kummer erinnern, so schwieg ich eine Minute und sagte dann: »Ich sag‘ es Ihnen jetzt lieber nicht, Fräulein Mary Jane, wenn Sie’s mir nicht übelnehmen; doch ich will es Ihnen auf ein Stück Papier schreiben, und Sie können es auf dem Weg zu Lothrops lesen, wenn Sie wollen. Sind Sie damit zufrieden?«

»O ja.«

So schrieb ich denn: »Ich verbarg ihn im Sarg. Er steckte drin, als Sie dort weinten – damals in der Nacht. Ich stand hinter der Tür und hatte viel Mitleid mit Ihnen, Fräulein Mary Jane.«

Mir wurden die Augen feucht bei dem Gedanken, wie sie dort einsam in der Nacht weinte, während diese Teufel, unter ihrem eigenen Dach beherbergt, sie betrogen und beraubten; und als ich das Papier zusammenfaltete und ihr gab, sah ich auch in ihren Augen Tränen, und sie schüttelte mir kräftig die Hand und sagte: »Leb wohl. Ich will alles tun, wie du mir’s gesagt hast. Und sollte ich dich auch nie wiedersehen, so werde ich dich doch nie vergessen; und ich werde oft, sehr oft an dich denken und auch für dich beten!« – und sie war fort.

Für mich beten! Na, wenn die dich kennen würde, dachte ich bei mir, würde sie eine Arbeit wählen, die ihrer Kraft angemessener und erfolgversprechender wäre. Aber ich wette, sie hat’s doch getan, das sah ihr ganz gleich. Darüber war kein Zweifel, sie besaß mehr Festigkeit, als ich je bei einem Mädchen gesehen hatte, und wirklichen Charakter. Das mag wie Schmeichelei klingen, ist aber keine. Was Schönheit anbetrifft, und auch Güte – ach, da übertraf sie alle. Seit dem Augenblick, als sie zur Tür hinausging, hab‘ ich sie nie wiedergesehen, nein – nie; aber an sie gedacht hab‘ ich viele, viele millionenmal, auch an ihre Worte, daß sie für mich beten würde. Und wenn ich genau gewußt hätte, daß es ihr wohltun könnte, wenn ich für sie betete, so will ich verdammt sein, wenn ich’s nicht versucht hätte.

Also Mary Jane war fort, und niemand hatte sie fortgehen sehen.

Als ich der Susan und der Hasenlippe begegnete, sagte ich: »Wie heißen die Leute jenseits des Flusses, die Sie zuweilen besuchen?« Sie antworteten: »Da sind mehrere, aber besonders die Proktors.« »Das ist der Name«, rief ich, »bald hätt‘ ich’s vergessen! Fräulein Mary Jane befahl mir, Ihnen zu sagen, daß sie in großer Eile dahinüber mußte; es ist dort jemand krank.«

»Wer denn?«

»Ich weiß nicht; oder vielmehr, ich hab’s vergessen, aber ich glaube, es war –«

»Um Gottes willen, doch nicht etwa Hannah?«

»Leider doch«, rief ich, »Hannah war der Name.«

»Um Gottes willen! Und noch vorige Woche war sie so munter! Ist es schlimm?«

»Ach, wenn’s bloß schlimm wäre. Man wachte bei ihr die ganze Nacht, sagte Fräulein Mary Jane, und befürchtet, daß sie nicht mehr lange leben wird.«

»Wer hätte das gedacht! Was fehlt ihr denn?«

Mir fiel im Augenblick nichts Vernünftiges ein, so sagte ich denn: »Mumps.« In manchen Gegenden auch Wochentölpel genannt.

»Mumps? Du Schlafmütze! Man wacht nicht bei Leuten, die Mumps haben.«

»So, meinen Sie? Na, Sie können darauf wetten, daß man bei diesem Mumps wacht. Das ist nämlich ein ganz anderer Mumps. Es sei eine neue Gattung Mumps, sagte Fräulein Mary Jane.«

»Wieso?«

»Weil noch andere Übel dabei sind.«

»Was für andere?«

»Ach, Masern und Keuchhusten und Rose und Schwindsucht und Gelbsucht und Gehirnfieber, und ich weiß nicht, was noch mehr.«

»Ach was! Und das heißen sie Mumps?«

»Fräulein Mary Jane sagte so!«

»Aber um alles in der Welt, warum nennen sie das Mumps?«

»Warum? Weil’s Mumps ist. Damit fängt’s an.«

»Liegt darin auch Sinn und Verstand? Angenommen, es verstaucht einer seine Zehen und fällt nachher von einem Haus herab, bricht den Hals und die Hirnschale, und es fragte jemand, woran er gestorben sei, und so ein Tölpel antwortete: ›Nun, er hatte sich die Zehen verstaucht!‹ – hätte das auch Sinn und Verstand? Nein: und ebensowenig Sinn ist in deinem Mumps! – Ist’s wohl ansteckend?«

»Jedenfalls, ich würde der Krankheit nicht trauen.«

»Das ist ja schrecklich«, rief die Hasenlippe, »da muß ich gleich zu Onkel Harry gehen, und…«

»Jawohl«, sag‘ ich, »das würd‘ ich auch. Natürlich tät‘ ich das. Ich würde keine Minute verlieren.«

»So, warum meinst du?«

»Nur Geduld, es soll Ihnen gleich ein Licht aufgehen. Nicht wahr, Ihre Onkel müssen so bald wie möglich wieder in England sein? Sie trauen Ihren Onkeln doch nicht zu, daß sie selber jetzt abreisen und Ihnen und Ihren Schwestern zumuten, später nachzukommen und die lange Seereise allein zu machen? Nein, Sie wissen wohl, daß sie warten werden, bis Sie alle zusammen reisen können. Also gut. Ihr Onkel Harry ist Pfarrer, nicht wahr? Wird ein Pfarrer einen Dampfbootbeamten täuschen, nicht bloß hier, sondern auch in New York und sonst, damit Fräulein Mary Jane an Bord gelassen wird? Trauen Sie Ihrem Onkel zu, daß er das Leben der anderen Passagiere in Gefahr brächte? Sie wissen recht gut, daß er das nicht täte. Also, was wird er tun? Nun, er wird sagen: ›Das ist zwar recht fatal, aber meine Kirche muß sich eben behelfen, so gut sie kann, denn meine Nichte war diesem ansteckenden, fürchterlichen Universal-Mumps ausgesetzt, und da ist es meine Pflicht und Schuldigkeit, hier zu bleiben und drei Monate zu warten, um zu wissen, ob sie angesteckt ist.‹ – Nun, ich will nichts gesagt haben, und wenn Sie meinen, es sei besser, dem Onkel Harry zu sagen…«

»Was, ein paar Monate hier herumliegen, während wir uns in England gut amüsieren könnten, bloß um zu wissen, ob Mary Jane angesteckt ist oder nicht? Du bist wohl nicht gescheit.«

»Was meinen Sie, wollen Sie’s nicht lieber einigen Nachbarn sagen?«

»Nun hör doch einer – deine Dummheit geht über alles. Weißt du denn nicht, daß sie es sogleich ausposaunen würden? Das beste ist, man sagt’s gar niemand.«

»Aber Onkel Harry sollten wir sagen, daß sie auf eine Weile ausgegangen ist, damit er sich nicht ihretwegen ängstigt.«

»Mag sein, daß Sie recht haben – ja, ich glaube Sie haben recht.«

»Ja, Fräulein Mary Jane wünschte auch, Sie möchten das bestellen. Sie sagte: ›bringe den Onkeln Harry und William von mir Gruß und Kuß und sag ihnen, ich sei nur geschwind zu einem kleinen Besuch über’n Fluß gegangen zu Herrn – Herrn –‹ wie ist der Name der reichen Familie, auf die Ihr Onkel Peter soviel hielt? Ich meine die, die…«

»Ach, du meinst wohl die Apthorps, nicht wahr?«

»Ja, ganz richtig. Der Kuckuck soll diese Namen holen, die man gar nicht behalten kann. Ja, sie sagte, ich solle melden, sie sei nur hinüber, um die Apthorps zu bitten, sicher zur Auktion zu kommen und das Haus zu kaufen, denn sie glaube, Onkel Peter möchte gern, daß sie es bekämen, statt jemand anderer. Sie will ihnen so lang zusetzen, bis sie versprechen zu kommen, und wenn sie nicht zu müde ist, will sie heute abend noch heimkommen, andernfalls würde sie bestimmt morgen früh zurück sein. Sie wünschte, daß man nichts von den Proktors sagen solle, sondern nur von den Apthorps – was auch ganz wahr ist, denn sie wird wegen des Hauses mit ihnen sprechen; ich weiß es, denn sie hat es mir selbst gesagt.«

»Schon gut«, riefen sie und gingen fort, um den Onkeln Gruß, Küsse und die Nachricht zu bringen.

Soweit war alles gut. Die Mädchen, dachte ich, werden den Mund halten, denn sie wollen nach England gehen; und dem König und Herzog muß es lieber sein, wenn Mary Jane fort ist und für die Auktion arbeitet, als daß sie sich noch im Bereich des Dr. Robinson befindet. Ich war mit mir zufrieden und schmeichelte mir, die Sache ziemlich nett gedeichselt zu haben – und daß Tom Sawyer selbst es nicht viel besser gekonnt hätte.