Kämpfe.

Der Mount Winnetou liegt im südlichen Winkel zwischen Arizona und Neumexiko. Die dortigen freien Indianer erkennen keine Regierung über sich an. Das „Komitee des Denkmals für Winnetou“ war so pfiffig gewesen, sich an den Vereinigten-Staaten-Kongreß zu wenden, und hatte die Erlaubnis erhalten, „am Mount Winnetou eine Stadt namens Winnetou anzulegen, dem einstigen Häuptling der Apatschen dort ein Denkmal beliebiger Höhe und beliebigen Umfanges zu setzen und alle Einrichtungen zu treffen und alle Bauten vorzunehmen, die zur Erreichung dieser löblichen Zwecke nötig sind“. So lautete die Genehmigung, welche der betreffende Delegierte ihnen erwirkte.

Hieraufhin hatten sie ihr Werk begonnen, ohne sich um die Traditionen und Rechte anderer zu bekümmern. Die Stämme der Apatschen waren leicht gewonnen, weil es sich angeblich um ihren Liebling Winnetou handelte. Auch einige Komantschenstämme dazu, denn Apanatschka war ja der Häuptling der Kanean-Komantschen. Einen Häuptling, auf den alle Stämme der Apatschen hörten, gab es seit Winnetou nicht mehr, und was den alten Tatellah-Satah betraf, dessen Einfluß sich über alle roten Stämme erstreckte, so war er zwar nicht zu bewegen gewesen, in das Projekt zu willigen, aber Old Surehand und Apanatschka glaubten, daß es ihnen doch noch gelingen werde, ihn auf ihre Seite hinüber zu ziehen. Sie rechneten hierbei auf den Zwang der Tatsachen, der unwiderstehlich ist, und begannen also, zu schaffen und zu bauen, ohne seine Einsprüche zu beachten. Ein jeder seiner Einwürfe wurde mit der allerdings sehr wahren Behauptung zurückgewiesen, daß man die Genehmigung des Kongresses habe und eine höhere Autorität nicht anerkenne. Old Surehand und Apanatschka waren nicht mehr die Indianer resp. die Westmänner, als die ich sie vor Zeiten kennengelernt hatte. Sie waren infolge ihrer Reichtümer und weit verzweigten Geschäftsverbindungen hoch über ihre früheren Anschauungen und Verhältnisse hinausgewachsen. Sie gehörten innerlich schon längst nicht mehr zu den Roten, sondern zu den Weißen. Dafür, daß der Indianer in jedem Augenblicke bereit ist, für seine rote Farbe zu sterben, war ihnen das Verständnis abhanden gekommen. Sie wollten mit ihrem Projekte ein „Geschäft“ machen, und sie wollten ihre Söhne zu einer Berühmtheit emporschrauben, aus welcher neue Reichtümer zu schöpfen waren.

Aber Tatellah-Satah war nicht der Mann, der auf das, was er für richtig hielt, so leicht verzichtete, wie sie dachten. Er wich zunächst dem Zwang, aber nur scheinbar. Er konnte sie nicht hindern, den Wasserfall in elektrische Drähte zu fesseln, den Wald durch Steinbrüche zu entweihen und eine Menge roter Arbeiter herbeizuziehen, die sich ganz gewiß nicht hierzu hergegeben hätten, wenn sie nicht von ihren Stämmen ausgestoßenes Gesindel gewesen wären. Aber er sandte zu den Mescaleros, den Llaneros, den Jicarillas, den Taracones, den Nawachos, den Tschiriguais, den Pinalenjos, den Kojoteros, den Gilas, den Lipans, den Mimbrenjos und den Kupferminenindianern. Das sind lauter Apatschenstämme, welche den „Bewahrer der großen Medizin“ als den bedeutendsten Mann ihrer ganzen Rasse verehren.

Er ließ ihre Häuptlinge kommen. Er sprach mit ihnen. Er erklärte ihnen, daß es sich hier weniger um die Ehrung ihres Winnetou, als vielmehr um eine Ehrung Young Surehands und Young Apanatschkas handle und überhaupt um ein ganz gewöhnliches Geschäft. Es gelang ihm sogar, ihnen klarzumachen, daß es eine Versündigung an Winnetou, dem in jeder Beziehung Bescheidenen, sei, ihn auf ein so laut hinausschreiendes Piedestal zu heben. Er bewies ihnen, daß dies den Untergang ihres Volkes nicht verzögern, sondern nur beschleunigen könne, weil es die anderen Stämme neidisch gegen die Apatschen reize. Kurz, er erwirkte sich bei den Häuptlingen einen durchschlagenden Erfolg und schickte sie zu ihren Leuten zurück, um nun ihrerseits auf diese einzuwirken. Der Clan der „Winnetous“ war bereits gegründet; der wirkte mit. Die eigentliche, offene Aktion gegen das Stadt- und Denkmal-Komitee verschob Tatellah-Satah auf die Zeit der großen Meetings, die am Mount Winnetou abgehalten werden sollten. Diese Zeit war nun fast nahe. Er wollte zunächst sondieren. Er mußte wissen, wer von den Häuptlingen für und wer gegen das Projekt war. Doch hatte er sich bis jetzt noch niemandem gezeigt. Er war auf seinem „Schloß“ verborgen geblieben und heute zum ersten Male seit langer Zeit herabgekommen, um mich zu sich hinaufzuholen.

Das erzählte er uns während des Mittagessens, zu dem er uns geladen hatte. Es fiel ihm dabei gar nicht etwa ein, diese streitigen Dinge zu beklagen. Sein Blick war scharf und weitschauend. Er erkannte sehr wohl, daß es fast nur allein auf ihn ankam, die gegenwärtigen Verhältnisse zur Basis einer neuen, hoffnungsreichen Zukunft auszugestalten. Ein derartiges Zusammenströmen aller Arten von Indianern wie jetzt war wohl in Jahrhunderten nicht wieder zu erwarten, ganz abgesehen davon, daß diese Rasse überhaupt zu verschwinden hatte, wenn es nicht jetzt gelang, ihr neues, inneres Leben einzuhauchen. Darum war er fest entschlossen, diese Gelegenheit beim Schopfe zu fassen und der erwachenden Seele seiner Rasse eine breite Bahn zu schaffen. Die Eigenschaften, welche hierzu nötig waren, besaß er wohl alle, außer einer einzigen. Ich meine die initiative Offenheit, die aggressive Ehrlichkeit. Die besitzt der Indianer nicht. Er hat sie besessen, gewiß; aber sie ist ihm im Umgange mit den niemals worthaltenden Bleichgesichtern verlorengegangen. Er war gezwungen, sich auf die heimliche List zurückzuziehen, und das ist ihm schließlich zum Charakter, zum Merkmal geworden. Nur ganz hervorragend edle Indianer, wie z. B. Winnetou, haben sich nicht gescheut, dann, wenn es nötig war, zum ehrlichen, offenen Angriff zu schreiten und dies sogar schon vorher anzukünden; gewöhnlich aber hält der Indianer es nicht für klug, in dieser Weise zu verfahren. Darum hatte Tatellah-Satah so lange gezögert. Und darum hatte er mein Kommen erwünscht. Ich will mich eines bekannten, vulgären Ausdruckes bedienen, indem ich sage: Er traute mir den Mut zu, ganz offen das „Karnickel“ sein zu wollen, „welches angefangen hat“. Darum war es ihm von größter Wichtigkeit gewesen, sobald wie möglich zu erfahren, auf welcher Seite ich zu suchen sei, auf der seinen oder auf derjenigen der Denkmalbauer. Seit er vom Nugget-tsil aus benachrichtigt worden war, daß ich treu zu ihm stehen werde, fühlte er sich von einer seiner größten Sorgen befreit. Er hatte von Tag zu Tag gehofft, daß ich kommen werde, und nun ich endlich eingetroffen war, fragte er mich, ob ich bereit sei, in Wirklichkeit sein „Shatterhand“, seine Schmetterhand zu sein, mit deren Hilfe es ihm möglich werde, seine Gegner niederzuwerfen.

„Ich bin bereit“, antwortete ich. „Und ich schlage vor, daß wir sofort beginnen, womöglich gleich jetzt, noch heut. Zunächst in Güte und Liebe, dann aber, wenn das nicht wirkt, mit allen möglichen Fäusten!“

Das befriedigte ihn vollständig. Er gab mir Generalvollmacht, zu tun, was mir beliebte, und über alles zu verfügen, was mir als nötig erschien. So war ich also Herr meiner selbst und ohne jede Fessel oder Schranke, die mich beengen konnte. Das nutzte ich ganz selbstverständlich ohne Zögern aus.

Es galt zunächst, das Modell der Statue zu sehen. Darum ritten wir gleich nach dem Essen hinab nach der Stadt, ich, das Herzle, Pappermann und Intschu-inta, der Diener. Der letztere bat mich, sechs junge, aber trotzdem erfahrene und rüstige „Winnetous“ mitnehmen zu dürfen, die meine Leibgarde seien. Tatellah-Satah wünsche das so. Ich willigte sehr gern ein. Ich hatte sehr viel vor, wobei mir diese Leute von großem Nutzen sein konnten.

Wir ritten nicht direkt nach der Stadt, sondern ich lenkte, unten im Innental angekommen, zunächst nach dem Schleierfall ein. Wir untersuchten seine ganze Umgebung, auch die zwei Teufelskanzeln zu beiden Seiten des freien Platzes. Wir taten das so unbefangen wie möglich, um nicht aufzufallen, und ich äußerte kein einziges Wort über die Gedanken, die ich dabei hatte. Aber der „Diener“ war, wie ich sehr bald bemerkte, ein sehr scharfer Beobachter, was mich gar nicht wundernahm, da Winnetou ihn erzogen hatte. Er forschte nach jedem meiner Blicke. Er dachte nach. Er kombinierte. Er kam infolge seines wohlgeübten Scharfsinns sehr bald auf die richtige Fährte. Als wir umkehrten, um nun auf dem schon beschriebenen, tief ausgefahrenen Talweg hinaus nach der Stadt zu reiten, lenkte er sein Pferd für einige Augenblicke neben das meinige und sagte:

„Old Shatterhand wollte nicht den Schleierfall sehen.“

Ich schaute ihn fragend an.

„Auch nicht den angefangenen Winnetou, den man bauen will“, fuhr er fort.

„Was denn?“ forschte ich.

„Die zwei Ohren des Teufels, das richtige und das falsche.“

Er hatte recht. Nur dieser beiden „Ohren“ wegen hatte ich den Weg nach dem Innental eingeschlagen. Sie waren mir außerordentlich wichtig. Noch viel wichtiger als der herrliche Wasserfall an sich.

„Hm!“ brummte ich.

Das trieb ihn an, aus sich herauszugeben.

„Ich kenne sie“, versicherte er. „Aber es ist nicht wahr, was man von ihnen sagt. Man kann stehen, wo man will, so hört man nichts.“

„Hast du schon überall gestanden?“

„Ja, überall. Sogar hinten, wo niemand hingehen darf, weil es verboten ist. Aber auch da hört man nichts.“

„Versprichst du mir, verschwiegen zu sein?“

Er legte die Hand auf das Herz und antwortete:

„Dir ebenso gern wie einst unserm Winnetou!“

„So wirst du bald hören lernen. Ich werde dir zeigen, wie man das macht. Kennst du das Tal der Höhle am Mount Winnetou?“

„Ganz genau!“

„Vielleicht auch die Höhle?“

„Ebenso.“

„Ist sie groß? Ist sie lang?“

„Sehr groß und sehr lang! Man reitet von hier aus fast fünf Stunden, bis man sie erreicht, und doch ist sie so lang, daß sie bis zum Schleierfall geht und erst in seiner Nähe endet.“

„Wir reiten morgen früh hin, um sie zu untersuchen. Bereite alles vor. Doch sage keinem Menschen ein Wort!“

Jetzt war dieser Redewechsel zu Ende, denn wir hatten nun das Innental hinter uns, ritten durch das Felsentor und sahen die Zeltstadt vor uns liegen. Es herrschte jetzt in ihr ein regeres Leben als zur Stunde unserer Ankunft. Eine Reiterschar kam uns entgegen. Sie wollte allem Anscheine nach hinauf nach dem Schloß. Als diese Leute uns erblickten, hielten sie an. Nur zwei von ihnen ritten weiter, bis sie uns erreichten. Das waren Athabaska und Algongka. Sie saßen wunderbar zu Pferde. Nachdem sie in indianisch höflichster Weise gegrüßt hatten, sagte Athabaska:

„Wir wollten nach dem Berge, um Old Shatterhand, den Gast der roten Männer, zu begrüßen. Wir hatten ihn lieb, noch ehe wir ihn sahen. Wir achteten ihn sehr hoch, als wir ihn dann kennenlernten, ohne seinen Namen zu wissen. Und nun er hier eingetroffen ist und sich genannt hat, dürfen wir nicht warten, bis er zu unsern Zelten kommt, sondern wir reiten zu ihm, weil er der Höhere ist.“

„Kann es unter Brüdern einen geben, der höher steht als die andern?“ fragte ich. „Wir gehören einem einzigen Vater, und der heißt Manitou. Wir stehen einander gleich. Ich besuche meine Brüder. Ich bitte, an ihren Zelten die Pfeife des Willkommens mit ihnen rauchen zu dürfen!“

Diese Höflichkeit erfreute sie. Algongka antwortete:

„Wir sind stolz auf diesen Wunsch unsers weißen Bruders. Er komme mit uns. Er wird Freunde sehen. Bekannte aus früherer Zeit, die hier angekommen sind. Als sie hörten, daß er schon anwesend sei, baten sie uns, mit nach dem Berg reiten zu dürfen, um sich an seinem Angesicht zu erfreuen. Dort warten sie.“

Er zeigte auf die Gruppe, welche halten geblieben war. Wir ritten hin. Wer waren sie? Wen erkannte ich sofort, trotz der langen Zeit, die zwischen dem damals und der jetzigen Stunde lag? Es waren Wagare-Tey, der Häuptling der Schoschonen, Schahko Matto, der Häuptling der Osagen, und mehrere ihrer Unterhäuptlinge. Wie groß unsere Freude war, uns wiederzusehen! Auch Avaht Niah war da, der „Hundertundzwanzigjährige“! Sollte man das für möglich halten? Ganz selbstverständlich hatte er jetzt nicht mit nach dem Berg reiten können. Er war vor seinem Zelt sitzen geblieben und ich bat, ihn zuerst aufsuchen und begrüßen zu dürfen. Man hatte Wagare-Tey und Schahko Matto veranlassen wollen, ihre Zelte in der Unterstadt aufzuschlagen; sie aber waren so klug gewesen, sich nach den Verhältnissen zu erkundigen, und was sie da hörten, hatte sie veranlaßt, nach der Oberstadt zu reiten, um sich Athabaska und Algongka beizugesellen.

Wir ritten zunächst nach dem Zelt Wagare-Teys, der mit seinem alten Vater beisammen wohnte, hatten uns aber kaum hierzu in Bewegung gesetzt, so kamen uns zwei Kanean-Komantschen entgegen, die auch hinauf nach dem Schloß wollten, aber, als sie uns sahen, halten blieben und sich an mich wendeten. Sie waren von Young Surehand und Young Apanatschka geschickt, um mich zu diesen beiden jungen Künstlern einzuladen, die bei unserer Ankunft abwesend gewesen waren. Sie hatten, als sie dann kamen, gehört, daß ich eingetroffen sei, und forderten mich nun durch diese ihre Boten auf, zu ihnen zu kommen, weil sie beabsichtigten, mir gleich noch heut ihr Kunstwerk, die Statue Winnetous, zu zeigen. Schon öffnete ich den Mund, um Antwort zu geben, da forderte Athabaska mich durch eine Handbewegung auf, still zu sein, und nahm die Sache selbst in die Hand, indem er zu den beiden Komantschen sagte:

„Ihr seht hier Athabaska und Algongka, die Häuptlinge der fernsten, nördlichen Völker, ferner Schahko Matto, den Häuptling der Osagen, und Wagare-Tey, den Häuptling der Schoschonen. Kehrt sofort zu Young Surehand und Young Apanatschka zurück, und sagt ihnen, daß wir mit ihnen zu sprechen haben, sogleich! Sie sollen augenblicklich kommen. Es handelt sich um etwas sehr Wichtiges!“

Er sprach in einem derartigen Ton, daß die beiden Boten kein Wort zu entgegnen wagten und sich schleunigst davonmachten. Dann setzten wir unsern Weg nach den Zelten fort. Die, welche Athabaskal Algongka, Wagare-Tey und Schahko Matto gehörten, standen nahe beisammen. Wir sahen, noch ehe wir sie erreichten, den Hundertundzwanzigjährigen sitzen. Sein weißes, nach hinten gebundenes Haar hing ihm lang über dem Rücken herab. Er war kein Skelett wie Kiktahan Schonka. Er konnte sich noch ziemlich leicht bewegen. Sein Auge war klar und der Ton seiner Stimme so frisch und bestimmt wie bei einem Fünfzig- oder Sechzigjährigen. Er stand, als er uns kommen sah, ohne fremde Hilfe von der Erde auf und erfuhr von Wagare-Tey, seinem Sohn, daß der Trupp so schnell zurückkehre, weil man mich ganz unerwartet getroffen habe, mich und meine Squaw. Sein Gesicht war voll unzähliger, kleiner Fältchen, die es aber nicht im geringsten verunzierten. Es hatte keinen einzigen Flecken, keinen einzigen Zug, keine einzige häßliche Stelle, durch welche seine Reinheit, was im Alter doch häufig vorzukommen pflegt, beeinträchtigt worden wäre. Er war ein schöner, ein wirklich schöner Greis! Als er mich sah, erkannte er mich sofort. Seine alten, guten Augen strahlten vor Freude. Er kam auf mich zu, legte beide Arme um mich, zog mich an sich und rief aus:

„O Manitou, o Manitou, du Großer und du Gütiger! Wie danke ich dir für dieses Glück, für diese Freude! Wie sehnte ich mich, den besten, den aufrichtigsten Freund aller roten Völker noch einmal zu sehen, bevor ich das unbekannte Wasser des Todes mit kühn schwimmendem Arm zerteile! Meine Sehnsucht ist erfüllt. Ich erfuhr, daß er kommen werde. Da beschloß ich, auch zu kommen. Das Alter streckte den dürren Arm nach mir aus, mich festzuhalten. Ich aber fühlte mich jung und riß mich los. In meinem Herzen erklang eine Stimme, die mir sagte, daß ich zu meinem weißen Bruder eilen müsse, denn er bringe uns die Güte, die Liebe und die Einheit zurück, die uns einst verlassen haben. Und kaum bin ich gekommen, so kommt auch er! Und du bist seine Squaw?“

Diese Frage war an das Herzle gerichtet. Wir waren von den Pferden gestiegen. Sie stand neben mir.

„Sie ist es“, antwortete ich.

Da streckte er den Arm nach ihr aus, zog sie grad so an sich wie mich und fuhr fort:

„Er bringt uns eine Freundin, eine weiße Schwester. Sie sei uns willkommen in unseren Zelten und in unseren Seelen! Ich bin der Aelteste von allen. Setzt euch im Kreise und bringt mir das Kalumet. Es soll eine der letzten und der schönsten Ehren sein, die Versammlung des Grußes zu leiten. Old Shatterhand setze sich zu meiner Rechten, seine Squaw zu meiner Linken. Man entzünde das Feuer der Freude!“

Wie gesagt, so getan. Es war ein außerordentlich rührendes, gegenseitigem Willkommenheißen, welches sich nun entwickelte. Die Pfeife ging unaufhörlich von Hand zu Hand. Tausend Erinnerungen tauchten auf, sie alle mit dem herzlieben Namen Winnetou verknüpft. Doch hatten wir jetzt keine Zeit, uns ihnen hinzugeben. Das mußte für später verschoben werden.

Mitten in diese lebhafte, frohe Szene hinein kamen Young Surehand und Young Apanatschka. Sie waren zu Pferde wie überhaupt dort jedermann. Sie stiegen ab. Aber niemand schien sie zu sehen. Sie wollten sich zu uns setzen, aber keiner rückte zu, und keiner machte ihnen Platz. So standen sie eine ganze, lange Weile. Dann gingen sie zu ihren Pferden, um wieder fortzureiten. Nun endlich wurden sie beachtet. Athabaska rief ihnen zu:

„Die Söhne von Old Surehand und Apanatschka mögen näher treten!“

Sie kehrten wieder um. Seine Stimme hatte jenen unwiderstehlichen Ton, dem man gehorchen muß, auch wenn man nicht gehorchen will. Alles war plötzlich still. Niemand sprach. Man konnte das leise Knistern des kleinen Feuers hören. Da fragte Athabaska die beiden:

„Sind Young Surehand und Young Apanatschka Häuptlinge?“

„Nein“, antworteten beide.

„Ist Old Shatterhand Häuptling?“

„Ja.“

„Es sind schon fast siebzig schwere Winter, die er verlebte; sie aber haben noch nicht einmal dreißig leichte Sommer hinter sich. Und doch gehen sie nicht zu ihm, sondern sie verlangen, daß er zu ihnen komme! Seit wann ist es bei den roten Männern Sitte, daß das Alter der Jugend zu gehorchen hat und die Erfahrenheit der Unerfahrenheit? Wir wollen, daß unser Volk vom Schlaf auferstehe. Wir wollen, daß es seine Rechte und seine Pflichten erkennen lerne. Wir wollen, daß es sich zu den gebildeten Nationen zähle. Wie aber sollen wir das erreichen, wenn wir nicht einmal das Gesetz der wildesten unter den Wilden achten, daß die Jugend das Alter ehre?“

Da warf Young Surehand stolz ein:

„Wir sind Künstler!“

„Uff, uff!“ rief Athabaska aus. „Ist das etwas Besseres, als Mensch zu sein und als alt und erfahren zu sein? Ihr seid Künstler? Habt ihr das schon bewiesen? Vielleicht ist Old Shatterhand auch einer. Er hat sich noch nicht als Künstler bezeichnet. Ihr aber nennt euch so. Darum werden wir euch prüfen, ob euch dieser Name zukommt oder nicht. Und selbst wenn ein Künstler etwas so Hohes und so Herrliches wäre, daß kein anderer Mensch ihn zu erreichen vermochte, so müßte man doch von ihm wohl erst recht die Tugenden fordern, die man an jedem gewöhnlichen Menschen zu sehen verlangt. Fragt eure Väter, und fragt Kolma Putschi, was sie Old Shatterhand verdanken! Hat er nun für diese seine Taten und für alle Liebe, die er ihnen erwies, den Söhnen nachzulaufen, weil diese von sich behaupten, Künstler zu sein? Was soll denn diese eure Kunst? Uns ein Riesenbild von Winnetou geben! Könnt ihr das? Ich glaube, nicht! Unser großer Winnetou war vor allen Dingen bescheiden. Er diente. Er achtete und ehrte das Alter selbst im geringsten Menschen. Seine größte Lust war, zu helfen, zu tragen, zu beglücken. Ihr aber seid zu stolz, selbst seinem besten Freund den ersten Besuch, den Höflichkeitsbesuch, der nicht euch, sondern ihm gebührt, zu machen. Ihr habt also Winnetou niemals verstanden und begriffen. Wie könnt ihr uns da ein Bild von ihm geben, welches wahr und ehrlich und nicht erlogen ist? Wo sind eure Väter? Sind sie anwesend?“

„Noch nicht. Sie ritten heute früh fort. Sie kehren erst am Abend wieder.“

„So sagt ihnen, wenn sie kommen, folgendes: Die hier versammelten Häuptlinge verlangen von ihnen, daß sie zu Old Shatterhand kommen, um ihn für ihre Söhne um Verzeihung zu bitten. Wir aber werden nach Verlauf einer Stunde bei eurem tönernen Winnetou eintreffen, um zu prüfen, ob ihr Künstler seid oder nicht. Jetzt könnt ihr gehen!“

Sie stiegen auf ihre Pferde und ritten fort, ohne ein einziges Wort der Entschuldigung zu sagen oder der Verteidigung zu wagen. Und als wir nach Verlauf der angegebenen Zeit bei dem großen, hohen Blockhause ankamen, in welchem sie an dem Modell gearbeitet hatten, standen sie an der Tür und empfingen uns still und ehrerbietig wie Leute, die gern zürnen möchten und aber doch nicht dürfen. Sie waren übrigens ganz prächtige und sympathische junge Menschen, und ich sah es dem Herzle an, daß sie im Innern gern bereit war, sie zu verteidigen. Sie nickte und lächelte ihnen heimlich zu; ich aber durfte ihnen nur einen grüßenden Blick geben, weiter nichts, um Athabaska nicht zu beleidigen.

Als wir in das Gebäude traten, sahen wir da sämtliche „Herren vom Komitee“ versammelt. Sie hatten sich eingestellt, um auf die Häuptlinge einzuwirken, wurden aber von diesen derart als Luft behandelt, daß sie es gar nicht wagten, sich ihnen zu nähern oder gar etwa einen von ihnen anzusprechen.

Das Haus war rund wie ein Zirkus gebaut und enthielt nur einen einzigen Raum. Die mit Leinwand überkleidete Holzblockmauer zeigte ein wohlgelungenes Panorama des hiesigen Platzes mit dem Mount Winnetou und seinen beiden riesigen Felsentürmen. Den vorderen, kleineren Turm mit dem „Schlosse“ Tatellah-Satahs und den größeren, höheren mit der von hoch oben stolz herabschauenden gigantischen Winnetoufigur, selbstverständlich jetzt nur erst projektiert. Als Modell vollendet aber ragte diese Figur in der Mitte des Raumes. Sie war ungefähr acht Meter hoch und stand unter der günstigen Wirkung des durch die offenen Dachfalten hereinbrechenden Oberlichtes. Für die dunklen Abendstunden war elektrische Beleuchtung vorhanden, die hierzu nötige Elektrizität wurde ohne großen Kostenaufwand am Wasserfall erzeugt. Es war berechnet, daß sie später für die ganze Stadt Winnetou ausreichen werde.

Mein erster Blick war nach dem Gesicht Winnetous. Es war getroffen, überraschend getroffen. Und doch erschien es mir fremd. Es waren seine Züge, ganz genau seine Züge; aber sie waren nicht so freundlich ernst, so gütig und so lieb, wie ich sie kennengelernt hatte, sondern sie zeigten einen fremden Ausdruck, der ihm im Leben niemals eigen gewesen war. Dieser Ausdruck harmonierte allerdings mit der aggressiven Bewegung, welche der Figur von ihren Verfertigern erteilt worden war. Die Kleidung war mit peinlichster Gewissenhaftigkeit ausgeführt. Die mit Stachelschweinborsten geschmückten Mokassins, die gestickten Leggins, der eng anliegende, fast faltenlose, lederne Jagdrock, die über die Schulter geschlagene, prächtige Santillodecke, unter welcher die Schlingen des von der rechten Achsel nach der linken Hüfte gehenden Lassos hervorschauten. Am Gürtel hing der Pulver- und Kugelbeutel früherer Zeit. Daneben steckte das Messer, unweit davon eine Pistole und ein Revolver. Den rechten Fuß wie zum Sprung vorgesetzt, stützte sich die Figur auf die in der linken Hand gehaltene Silberbüchse, während die rechte Hand einen geladenen zweiten Revolver drohend vorstreckte. In dieser vorwärts strebenden Bewegung hatte die Gestalt etwas aal- oder schlangenhaftes. Oder man dachte an einen Panther, der sich aus seinem Hinterhalt hervorschnellt, um sich auf die Beute zu stürzen. Hierzu paßte der nicht etwa nur drohende, sondern gierige Ausdruck des Gesichtes, welcher um so befremdender oder abstoßender wirkte, je deutlicher die Schönheit dieses Gesichtes trotz alledem hervortrat.

„Schade, jammerschade!“ flüsterte mir das Herzle zu.

„Leider, leider!“ antwortete ich. „Und sie sind Künstler, wirkliche Künstler!“

„Ganz zweifellos! Nur die Auffassung ist falsch. Es ist eine Sünde, eine ungeheure Sünde! Wie man Winnetou so etwas antun konnte, das begreife ich nicht! Und diese Figur soll auf die Höhe des Berges!“

„Niemals, niemals! Ich dulde das nicht. Und wenn man mich nicht hört, so greife ich zum letzten Mittel und zertrümmere sie vor aller Augen!“

Die Häuptlinge waren still. Sie schritten langsam rund um das Bild, um es von allen Seiten zu betrachten, sagten aber nichts. Young Surehand und Young Apanatschka standen in der Nähe. In ihren Gesichtern drückte sich nicht die geringste Spannung aus. Sie waren vollständig überzeugt, daß der Eindruck ihres Werkes auf uns ein unvermeidlich imponierender sei. Die Herren vom Komitee waren derselben Meinung. Sie hatten erwartet, uns in Ausrufe des Entzückens ausbrechen zu hören. Als aber Minute um Minute verging, ohne daß einer von uns ein Wort verlautete, begannen sie, uns Vorspann zu leisten, indem sie nun ihrerseits das taten, was wir unterliegen. Sie ergingen sich in lobenden Interjektionen, um uns zu verleiten, diesem ihrem Beispiel zu folgen. Aber die Wirkung, die sie erreichten, war dieser ihrer Absicht gerade entgegengesetzt: Die Häuptlinge wendeten sich dem Ausgang zu. Sie schritten hinaus, einer nach dem andern. Ich folgte mit dem Herzle. Da kam das Komitee, die beiden Künstler voran, uns nachgeeilt. Sie wollten Auskunft haben. Athabaska war der erste, der in den Sattel kam. Er wartete, bis wir andern oben saßen, und wendete sich dann an die Fragenden:

„Dieser euer Winnetou ist die größte Lüge, die jemals hier zwischen den Bergen erklang. Zerschmettert sie! Da hinauf kommt sie mir nie, nie, nie!“

Er deutete bei diesen Worten nach der Höhe, auf welcher die Figur errichtet werden sollte.

„Nie!“ stimmte Algongka bei.

„Nie – – nie – – nie – nie!“ fielen auch die anderen Häuptlinge nebst ihren Unterhäuptlingen ein.

„Und sie kommt hinauf!“ rief Young Surehand.

„Ja, sie kommt hinauf!“ behauptete auch Young Apanatschka. „Beweist es, daß es eine Lüge ist!“

Und Mr. Antonius Paper, der immer Voreilige, kam demonstrativ zu uns herangeschlingert und schmetterte uns an:

„Wir sind das Komitee zur Errichtung des Winnetoudenkmals. Was wir beschließen, das geschieht. Die Figur kommt hinauf, hinauf!“

Er fuchtelte dabei mit den Armen, grad vor Schahko Mattos Pferd. Dieser gab schnellen Schenkeldruck, ritt ihn über den Haufen und antwortete:

„Wirklich? Ihr seid das Komitee? So setzen wir euch ab und wählen ein anderes!“

„Ja, ein anderes, ein anderes!“ riefen die Unterhäuptlinge, während Mr. Antonius Paper sich vom Boden aufraffte und hinter den andern Mitgliedern des Komitees Schutz suchte.

Da kam dem ersten Vorsitzenden, Professor Bell, eine Ahnung, daß es mit ihrem Vorhaben denn doch nicht so sicher stehe, wie er bisher angenommen hatte, und daß der jetzige Augenblick vielleicht wohl gar der entscheidende sei. Er tat einige Schritte zu mir herbei und fragte:

„Welcher Meinung seid denn Ihr, Mr. Shatterhand? Ich bitte Euch, mir das zu sagen!“

„Oh, auf das, was ich denke, kommt es hier doch gar nicht an“, antwortete ich.

„Das ist nicht wahr!“ entgegnete er. „Ich bin überzeugt, daß man tun wird, was Ihr vorschlagt. Darum ersuche ich Euch, mir zu sagen: Was schlagt Ihr vor?“

„Dazu ist jetzt wohl nicht die richtige Zeit und hier auch nicht der richtige Platz. Ich kenne überhaupt den mir angewiesenen Platz noch nicht. Ich kann also erst dann sprechen, wenn ich meine Nummermarke habe. Vielleicht hat euer Schriftführer die Güte, sie mir nach meiner jetzigen Wohnung zuzustellen.“

Hierauf ritt ich davon. Die anderen folgten sogleich. In der Oberstadt angekommen, gab es nur noch eine kurze Beratung. Wir alle waren der Ansicht, daß nichts geschehen konnte, bevor wir mit Old Surehand und Apanatschka gesprochen hatten. Das war also abzuwarten. Hierauf verabschiedeten wir uns von den Häuptlingen und ritten nach den Zelten der Siouxfrauen, um unsere Freundinnen, die beiden Aschtas, für heute abend zu uns einzuladen. Sie sagten freudig zu. Dann kehrten wir nach dem „Schlosse“ zurück, übergaben dort unsere Pferde und stiegen durch den Wald zu Fuß nach dem Wachtturm hinauf, um den „jungen Adler“ aufzusuchen und für den Abend auch mit einzuladen. Es waren mehrere Indianer und Indianerinnen bei ihm, die er mit leichten Zimmer- und Flechtarbeiten beschäftigte, warum und wozu, das fragte ich nicht.

Tatellah-Satah war heut nicht mehr zu sehen. Er hielt es für richtig, mich ganz mein eigener Herr sein zu lassen, wie auch ich mir vorgenommen hatte, ihn nicht eher aufzusuchen, als bis es nötig war. So blieben wir am Abend mit unsern drei lieben Gästen allein und beobachteten mit stiller Freude, in wie unendlich zarter Weise die Herzen der jungen Leute sich einander mehr und mehr näherten. Ich hatte es für möglich gehalten, daß Old Surehand und Apanatschka sich noch heut am Abend bei mir einstellen würden. Das geschah aber nicht. Dafür aber fand ich, als ich am andern Morgen aufstand, einen Boten von ihnen vor. Sie ließen mir sagen, daß ich wohl wüßte, wie sehr sie mich liebten und achteten, und wie sehr sie sich freuten, mich wiederzusehen; aber es sei ihnen unmöglich, mich in der Wohnung ihres Feindes Tatellah-Satah aufzusuchen. Ich hätte zu entscheiden zwischen ihnen und ihm; ein Drittes gebe es nicht. Uebrigens seien sie, falls ich zu ihnen nach der Unterstadt komme, zu jeder Zeit für mich zu sprechen. Abbitte zu leisten, liege kein Grund vor, da es für ihre Söhne unmöglich gewesen sei, mich auf dem „Schlosse“ aufzusuchen.

Es fiel mir nicht ein, mir diese Botschaft zu Herzen zu nehmen. Es wirkten da jedenfalls Dinge, die ich nicht kannte und auch nicht kennen zu lernen nötig hatte. Es gab hier nur eines zu beachten, nämlich: Wer nicht will, der muß! Und heut früh hatte ich am allerwenigsten Lust und Zeit, mich mit persönlichen Streitfragen zu befassen. Ich mußte nach dem „Tal der Höhle“, um topographisch orientiert zu sein, wenn die Feinde kamen, sich dort zu verstecken.

Intschu-inta, unser riesiger „Diener“, stand mit seiner Leibgarde schon seit dem Morgengrauen bereit, uns dorthin zu begleiten. Er hatte für alles gesorgt, für Speise und Trank, für Lichter, Fackeln, Stricke, Haken und alle möglichen anderen Gegenstände, deren wir bedurften, um die Höhle so, wie es notwendig war, kennenzulernen. Sie hatte für mich eine ungewöhnliche Wichtigkeit. Es wäre mir wohl schwer geworden, bestimmte, klare Gründe hierfür anzugeben. Es handelte sich dabei mehr um eine Ahnung als um ein bestimmtes, sicheres Wissen. Aber seit ich gesehen hatte, wie plötzlich der Schleierfall in der Erde verschwand, und seit ich wußte, daß die unterirdische Höhle bis nahe an diesen Fall heranreichte, war es mir, als ob sie in unsern hiesigen Erlebnissen eine nicht ganz unbedeutende Rolle spielen werde.

Zum besseren Verständnis dessen, was nun kommt, erinnere ich an die berühmte Mammuthöhle in Kentucky in den Vereinigten Staaten, die mit ihren Seitenhöhlen eine Länge von über dreihundert Kilometern besitzt. Ihr Hauptgang erstreckt sich unter der Erde sechzehn Kilometer weit. Es gibt da unzählige Schächte, Stollen, Gänge, Schluchten, Hallen, Stuben, Säle, Grotten, Dome, Teiche, Seen, Bäche, Flüsse und Wasserfälle. So ungefähr dachte ich mir die Höhle am Mount Winnetou, und die Folge zeigte, daß ich mich da nicht geirrt hatte. Sie war zwar nicht von gar so riesigen Dimensionen, aber der Wunder gab es auch hier genug. Besonders war es die überaus reichliche und unvergleichliche Stalaktitenbildung, welche wir bestaunten.

Der Weg nach der Höhle ging nicht durch die Stadt und dann den „weißen Fluß“ entlang, sondern man ritt auf der anderen Seite von der Höhe hinab und hatte dann einem Bach zu folgen, der den Vorsatz gefaßt zu haben schien, alle diejenigen, die sich seiner Leitung anvertrauten, dahin zurückzuführen, woher sie gekommen waren. Es ging immer rundum, doch in Schraubenlinien immer tiefer hinab. Dabei bekamen wir besonders den kleinen Mount Winnetou, auf dem Tatellah-Satah wohnte, von allen möglichen Gesichtspunkten aus zu sehen. Einmal konnten wir das große Kriegsadlernest, welches unser Freund, der „junge Adler“, erklettert hatte, besonders deutlich erkennen. Das war der Grund, daß das Herzle den „Diener“ fragte, ob er über diesen Vorgang unterrichtet sei. Heut war nur Pappermann, nicht aber auch der „Junge Adler“ bei uns; so konnten wir also über dieses sein Erlebnis sprechen, ohne indiskret zu sein.

„Ja, ich weiß alles“, antwortete Intschu-inta. „Ich stand ja neben Tatellah-Satah, der vor seiner Tür saß, als der junge Adler vom Horst des Kriegsadlers herabgeflogen kam und grad zu unsern Füßen landete. Ich habe dieses Weibchen, welches viel, viel größer als das Adlermännchen war, dann mit erschlagen helfen. Einen stärkeren, größeren und gewaltigeren Vogel als dieses Weibchen gab es nie im ganzen Leben. Wie alt sie war, das wußte man schon längst nicht mehr. Jedermann kannte sie. Sie litt kein Männchen bei sich; sie biß und jagte es fort. Man schrieb ihr ungeheure Kräfte zu. Man behauptete, sie könne einen ausgewachsenen Präriewolf zum Horst tragen. Damals zählte der junge Adler zwölf Jahre. Er wohnte hier bei uns. Er war ein Verwandter Winnetous und der Liebling aller derer, die ihn kannten. Trotz dieser seiner großen Jugend ging er nach Norden, um sich den Ton zu seiner Friedenspfeife aus den heiligen Steinbrüchen von Dokota zu holen. Als er mit dem Ton zurückkam und die Pfeife geschnitten war, erklärte er, daß er sich nun auch seine Medizin erbeuten wolle. Er ging vierzig Tage in die Wüste, um zu fasten, und da träumte ihm, daß er der junge Adler heißen werde und darum die beiden jungen Kriegsadler aus dem Horst holen solle; ihre Krallen und Schnäbel seien seine Medizin. Er war vom Fasten schwach. Er wog kaum noch die Hälfte von vorher. Dennoch wagte er es, das Gebot des Traumes sofort auszuführen, ohne sich recht zu erholen. Er nahm einen Lasso, steckte ein Messer und viele Riemen zu sich und begann den Aufstieg in die Höhe des Horstes. Droben angekommen, fand er das Nest unzugänglich. Um es zu erreichen, mußte man ein Stück darüber hinausklettern und sich dann am Lasso herablassen. Er tat das. Er befestigte den Lasso am überhängenden Felsen und griff sich dann daran hinunter. Aber der Lasso war zu kurz. Als er das Ende erreichte, schwebte er noch hoch über dem Nest und die Kräfte verließen ihn. Er öffnete die Hände und sprang in das Nest herab. Der Lasso schwebte hoch über ihm hin und her und war nicht mehr zu erreichen.“

„Wie fürchterlich!“ rief das Herzle aus. „Gab es keinen Weg aus dem Nest?“

„Nein“, lächelte der Erzähler. „Adler pflegen nicht an Wegen zu horsten. Die Adlermutter war abwesend; die beiden jungen aber lagen da. Sie rissen die Schnäbel auf und kreischten den Eindringling angstvoll an. Er tötete sie, schnitt ihnen die Köpfe und die Krallen ab, steckte diese ein und warf die Körper in die Tiefe. Dann begann er zu überlegen, wie er sich wohl entfernen könne. Aber es war keine Möglichkeit zu ersehen. Hoch über ihm der Lasso, den er nicht erreichen konnte, unter ihm die grausige Tiefe, und er selbst im schwindelnden Felsenhorst, aus dem keine Ratte, keine Maus einen Rettungsweg gefunden hätte, viel weniger ein Mensch! Und indem er das erkannte, sah er die Alte kommen, mit einem kleinen Wild in den Fängen, welches sie für ihre Jungen erbeutet hatte. Sobald sie ihn sah, ließ sie es fallen und schoß mit heiseren Schreien auf ihn zu. Er zog sein Messer, um sich zu verteidigen. Aber in demselben Augenblick war es, als ob eine laute, warnende Stimme ihm zurief: Töte sie nicht, und verletze sie nicht, sonst bist du verloren! Sie ist deine einzige Rettung!“

„Ah, fliegen!“ sagte das Herzle, tief Atem holend.

„Ja, fliegen“, nickte Intschu-inta. „Das war das Einzige; weiter gab es nichts.“

„Der arme Knabe! Wie ermöglichte er das?“

„Nicht der arme Knabe! Sondern der kühne, der kluge, der mutige Knabe! Hier kann es kein Bedauern geben, sondern nur ein Bewundern! Der Horst liegt auf einem kleinen Felsenvorsprung, von dem aus ein schmaler Riß in das Innere des Gesteines führt, um aber bald zu enden. Da lagen die Hölzer und Knüppel der früheren Jahrgänge des Horstes, denn der Kriegsadler baut sein Nest jährlich immer neu und also immer höher. Es gelang dem Knaben, sich in diesen Riß zu retten, noch ehe das kreischende Raubvogelweib den Horst erreichte und den wütenden Angriff begann. Er kroch nach und nach fast ganz unter die Hölzer und verteidigte sich mit ihnen. Dabei dachte er eifrig darüber nach, wie er sich retten könne. Er war so klug, einzusehen, daß dies nur dadurch möglich sei, daß der Adler ihn hinunter in die Tiefe trage. Er fragte sich, ob er trotz seiner jetzigen Leichtigkeit nicht doch zu schwer für diesen Vogel sei. Indem er das dachte, ließ die Alte von ihrem Angriff ab, um nach ihren Jungen zu suchen. Dadurch gewann er Zeit zu ruhigerem Ueberlegen.“

„Er war zu schwer!“ fiel das Herzle ängstlich ein.

„Allerdings war das anzunehmen“, stimmte Intschu-inta bei. „Einen sicheren, ruhigen Flug konnte es also nicht geben, ganz abgesehen davon, daß der Adler sich aus allen Kräften sträuben würde, ihn zu tragen. Aber wenn kein eigentlicher Flug, so war es doch wohl auch kein eigentlicher Sturz in die Tiefe. Es war vorauszusehen, daß die Flügelschläge die Jähheit und Stärke dieses Sturzes mildern würden. Es galt also, den Adler so zu fesseln, daß er den Knaben weder mit dem Schnabel noch mit den Krallen verletzen, aber doch fliegen konnte. Schlingen und Fesseln, mit denen man dies erreicht, sind einem jeden Indianer, sogar auch den Kindern, geläufig. Kaum war der Gedanke gefaßt, so wurde seine Ausführung vorbereitet. Riemen waren mehr als genug da. Mit Hilfe eines passenden, aus dem Horst gezogenen Holzes und dreier Riemen wurde schleunigst ein Knebel gefertigt, der den Adler zwang, Kopf und Hals gradeaus zu strecken. So war ihm der Gebrauch des gefährlichen Schnabels verwehrt. Für die Fänge oder Krallen gab es eine fünffache Schlinge, die später noch zu verstärken war. Für den Leib eine Schleife, welche den Zweck hatte, die Flügel zu schließen und eng an den Körper zu zwingen, natürlich nur bis zu dem Augenblick, an dem der Flug zu beginnen hatte. Mehrere Hölzer wurden fest in die Felsenspalte geklemmt, so daß sich eine Art von Gitter zum Schutz des darinsteckenden Knaben bildete. Wollte der Adler ihn fassen, so war er gezwungen, den Kopf durch dieses Gitter zu stecken, der dann sehr leicht mit der Schlinge gepackt und festgehalten werden konnte.“

Meine Frau war außerordentlich gespannt, ich nicht viel weniger. Pappermann las dem Erzähler die Worte fast von den Lippen weg. Intschu-inta fuhr fort:

„Kurze Zeit, nachdem diese Vorkehrungen getroffen waren, kehrte die Adlersfrau zurück. Sie schien die Leichen ihrer Kinder gefunden zu haben, denn sie fuhr in einer bedeutend größeren Wut als vorher auf ihren Feind los. Sie besann sich nicht im geringsten, den Kopf durch das Gitter zu stecken. Sofort legte sich ihr die Schlinge um den Hals, und mochte sie sich noch so sehr wehren, einige Minuten später war ihr der Knebel angelegt, der sie zwang, Kopf und Hals geradeaus zu strecken Sie wehrte sich aus Leibeskräften, mit den Flügeln und den Krallen. Die letzteren wurden sehr leicht in Schleifen gefangen und dann fest ineinandergebunden. Um die ersteren zur Ruhe zu bringen, mußte der Knabe den gewaltigen Raubvogel, der sich aber nun schon nicht mehr wehren konnte, halb zu sich in den Felsenspalt ziehen, um ihm die Schwingen an den Leib zu drücken und dann mit Riemen festzubinden. Als dies geschehen war, konnte der Adler sich nicht mehr bewegen. Er war vollständig überwältigt; der Sieger aber hatte nicht die geringste Verletzung davongetragen, der Vogel ebenso. Das Schwierigste war vorüber; das Kühnste konnte beginnen, nämlich der fliegende Sturz oder der stürzende Flug in die grausige Tiefe.“

„Gott sei Dank, daß ich es nicht war!“ meinte Pappermann. „Mir wäre dieses Wagnis gewiß nicht gelungen. Wen das Schicksal dazu verurteilt hat, Pappermann zu heißen, der muß auf fester Erde bleiben, sonst geht er sicher kaputt! Doch weiter, schnell weiter! Ich bin gespannt!“

Der Diener fuhr fort:

„Nun das Raubtier gebändigt war, konnte der Knabe die Felsenspalte wieder verlassen. Er trat vor und schaute in den Abgrund. Es kam keine Spur von Zagen über ihn. Es fiel ihm nicht ein, auch nur einen Augenblick zu zögern. Jetzt war der Adler noch bei voller Kraft. Je schwächer er wurde, desto gefährlicher war der Sprung von dem Horst in das gähnende Nichts hinaus. Der Vogel stank nach Wild und Blut. Seine großen, runden Augen glühten vor Haß und Wut. Und doch konnte nur er allein der Retter sein, weiter niemand, weiter nichts! Das sind Rätsel, die nur Einer lösen kann, ein einziger, und dieser einzige ist gut, ist ewig gut! Der Knabe befestigte sich die besten seiner Riemen unter den Armen hindurch über Brust und Rücken, band sie an die Krallen des Adlers, doch so, daß ihm die schlagenden Flügel des Vogels das Gesicht nicht verletzen konnten, und zog den letzteren bis hart an den Rand des Abgrundes. O Manitou, o Manitou! rief er aus. Dann durchschnitt er die beiden Riemen, welche die Flügel fest an den Leib gehalten hatten. Der Adler regte sie; er bemühte sich, sie auszubreiten, aber er konnte sich nicht aufrichten, weil ihm die Krallen zusammengebunden waren. O Manitou, o Manitou! betete der Knabe noch einmal. Dann schloß er die Augen, glitt langsam über den Rand des Felsens hinaus und zog den Vogel nach.“

„Weiter, weiter!“ rief Pappermann. „Ich kann es nicht erwarten!“

„Ja, schnell, schnell!“ bat auch das Herzle. Intschu-inta gehorchte:

„Ich habe gesagt, daß der Knabe die Augen schloß. Stürzte er? Nein. Er wäre in einigen Sekunden unten in der Tiefe aufgeschlagen. Aber die Sekunden vergingen, und er lebte noch. über ihm rauschten Flügel. Er schwankte hin und her. Der Adler schrie in einem fort. Sein Kreischen klang über Berg und Tal, das jedermann zur Höhe schauen mußte. Da öffnete der Knabe die Augen. Er sah, daß er fiel, beständig fiel, aber nicht stürzend, sondern langsam, in einer abwärts gehenden Schraubenlinie. Der Adler wehrte sich. Er wollte nicht nieder. Er arbeitete mit allen Kräften seiner Schwingen. Aber der Knabe war zu schwer; der zog ihn hinab, bis in die Nähe des Schlosses. Da erreichten sie den festen Boden. Aber der Knabe war noch nicht gerettet. Er hatte sein Messer nicht mehr. Er konnte die Riemen nicht durchschneiden, sich nicht vom Vogel befreien, der sich bemühte, wieder aufzusteigen. Es entspann sich ein Kampf, in dem der Adler stärker als der Knabe war. Er schlug ihn mit den Schwingen; er riß ihn hin und her. Leute eilten herbei. Die Angst vor ihnen verdoppelte die Kräfte des Adlers. Er überwand die an ihm hängende Last. Er ging noch einmal in die Luft, wenn auch nicht hoch. Er flog eine kurze Strecke weit, dann sank er wieder zur Erde, die er grad vor uns erreichte, vor Tatellah-Satah und vor mir. Da lag ein Stein. Ich hob ihn auf, und wir erschlugen den Riesenvogel. Der Knabe war gerettet. Die Flügelschläge hatten ihn arg mitgenommen; aber er lächelte. Er jubelte sogar. Denn er hatte erreicht, was er erreichen wollte, nämlich seine – – Medizin. Seitdem wird er der junge Adler genannt, und das Fliegen ist es, wovon er am liebsten spricht. Er ist sogar nach den Städten und Dörfern der Bleichgesichter gegangen, um es dort zu lernen.“

„Und kann er es?“ fragte das Herzle.

„Das weiß ich noch nicht. Aber er ist schon seit gestern dabei, sich eigene FlügeI zu bauen. Also scheint er es doch zu können. Das dürfen aber nur wir wissen, andere nicht.“

Wir waren während dieser Erzählung eine gute Strecke vorwärts gekommen und folgten nun einer ganzen Reihe von Tälern und Schluchten, welche miteinander im Zusammenhange standen, aber nach so verschiedenen Richtungen führten, daß es oft schwer war, zu sagen, ob wir nach Nord oder Süd, nach Ost oder West ritten. Schon waren wir über drei Stunden unterwegs. Da stießen wir auf einen kleinen Fluß, dessen Wasser man es ansah, daß es nicht aus einer erdigen oder gar lehmigen, sondern aus einer felsigen Gegend kam.

„Das ist das Wasser der Höhle, an dem wir nun aufwärts reiten werden“, sagte Intschu-inta. „Es kommt aus der Höhle und führt uns also direkt nach unserem Ziele.“

Wir schwenkten in diese Richtung ein. Als wir an dieses Wasser kamen, hatten wir den tiefsten Punkt unseres heutigen Weges erreicht. Nun ging es wieder aufwärts, dem Mount Winnetou zu, wenn auch von einer anderen Seite. Wir hatten einen großen Umweg gemacht. In der Luftlinie standen wir dem Berg ganz bedeutend näher. Das Tal des Flüßchens war eng und dabei dicht mit Nadelholz bewachsen. Oft fanden wir vor lauter Baumwuchs kaum genug Platz zum Vorwärtskommen. Das dauerte weit über eine Stunde lang. Dabei wurden die Seiten des Flußtales immer höher und höher. Dann kam eine Stelle, wo sie plötzlich weit auseinandertraten und wohl eine halbe Reitstunde lang in schnurgerader Richtung verliefen. Dadurch entstand eine große, lange, pfannenähnliche Bodenvertiefung, deren Sohle der Fluß wie eine mit dem Lineal gezogene Schnur durchschnitt. Eine ganz erstaunliche Vegetation von Riesenbäumen stieg zu beiden Seiten hoch empor. Zwischen den gigantischen Stämmen gab es dichtes Unterholz in Menge. Dicht war auch das Gesträuch, welches den Boden dieser Felsenpfanne bedeckte. Einzelne Laub- und Nadelkronen ragten daraus empor. Hier gab es Laub und Gras in reicher Menge, zum Futter für die Pferde. Allerdings, wenn die Pferde nach Tausenden zählten und nicht nur einige Tage, sondern längere Zeit zu bleiben hatten, so reichte auch diese Menge nicht aus.

„Das ist das Tal der Höhle“, sagte Intschu-inta.

„Und wo ist die Höhle?“ fragte das Herzle.

„Ganz hinten, am Ende des Tales, wo es direkt an den Mount Winnetou stößt. Kommt!“

Wir ritten weiter.

Also hier war es, wo die verbündeten Sioux, Utah, Kiowa und Komantschen sich verstecken wollten. Der Platz war gar nicht übel von ihnen gewählt. Nur lag er von uns sehr weit entfernt, und wer uns von hier aus überfallen wollte, der hatte vorher einen fünf Stunden langen, mühsamen Weg zurückzulegen. Oder gab es vielleicht einen kürzeren, bequemeren Weg? Und war er unseren Gegnern bekannt? Diese Gedanken gingen mir durch den Kopf. Sie erschienen mir der Beobachtung wert. Und sonderbar, kaum hatte ich ihnen Raum gegeben, so parierte ich mein Pferd und winkte den anderen, auch innezuhalten. Ich sah nämlich eine Spur. Ich stieg ab, sie zu untersuchen. Sie stammte von zwei Pferden, die nicht denselben Weg wie wir gekommen waren, sondern links von der Höhe herab, und zwar vor höchstens einer Stunde. Es gab also zwei Reiter, die da vor uns waren. Wer sie waren, konnte ich aus den Spuren nicht ersehen, jedenfalls aber Indianer. Ich nahm meinen Revolver aus der Tasche. Wir ritten weiter, aber langsam und vorsichtig, so geräuschlos wie möglich, immer einer hinter dem andern, ich voran. Wir folgten den Spuren, die in dem weichen, von den Höhen herabgeschwemmten Boden sehr deutlich zu sehen waren. Sie führten am Fluß hin, zwischen den Büschen hindurch, nach dem hinteren Teil der Talpfanne.

„Sie sind nach der Höhle“, sagte Intschu-inta. „Sie kennen sie!“

„Und zwar so gut“, fügte ich hinzu, „daß sie quer über die wilden Vorberge gekommen sind und sie dennoch gefunden haben. Ihre Kenntnis ist also genauer noch als die deine.“

Wir näherten uns dem Ende des Tales. Es hörte da auf, wo der Fluß direkt aus dem Innern des Berges trat. Eine Oeffnung führte hinein. Sie war dreimal breiter als der Fluß und nur so hoch, daß ein Reiter hinein konnte, ohne sich bücken zu müssen. Das war der Eingang zu der großen Höhle, die wir kennenlernen wollten. Vor diesem Eingange gab es einen kleinen, freien Platz, der von dem herabstürzenden Steingeröll bestrichen wurde und darum vegetationslos war. Am Rand dieses Platzes angekommen, hielten wir an, denn nun sahen wir die beiden Reiter, die wir suchten. Sie waren abgestiegen und lagen auf dem Bauch an der Erde, mit den Köpfen über etwas Weißes gebeugt, was ein Papier oder sonst dem ähnliches zu sein schien. Ihre Pferde knusperten von den letztjährigen Zweigen der Büsche. Die beiden Sättel lagen in der Nähe, dabei einige Taschen und Pakete, auch die Gewehre.

Wir stiegen ab und führten unsere Pferde eine kleine Strecke zurück, um sie dort anzubinden, sonst konnten wir durch sie verraten werden. Dann kehrten wir wieder nach dem Buschrand zurück, um die beiden Männer zu beobachten.

„Kennst du sie?“ fragte ich das Herzle.

„Nein“, antwortete sie.

„Du hast sie aber gesehen!“

„Nein, gewiß nicht!“

„Aber doch! Sogar mehrere Stunden lang!“

„Wo?“

„Im Hause des Todes, bei der Beratung der Häuptlinge. Es sind die beiden Medizinmänner der Kiowa und der Komantschen, welche den Altar öffneten.“

„Wirklich?“

„Ganz gewiß!“

„Dein Auge ist sicherer als das meine. Ich habe sie nur bei dem ungewissen, flackernden Licht der Feuer gesehen.“

„Ich auch. Aber der Westmann gibt sich vor allen Dingen Mühe, sich die Gesichtszüge derer, die ihm wichtig sind, so gut wie möglich einzuprägen. Darin bist du nicht geübt. Das Papier, mit dem sie sich beschäftigen, kann kein gewöhnliches sein. Mir scheint, es ist eine Karte oder so etwas. Sie fahren mit den Fingern darauf herum, heftig, als ob sie sich stritten. Sie sprechen dabei so laut, daß man es sogar hier bei uns fast hören kann. Ich schleiche mich hin, sie zu belauschen.“

„Ich mit?“

„Nein, liebes Herzle“, lachte ich. „In welcher Sprache willst du lauschen? Und dein Anschleichen dürfte wohl etwas laut ausfallen.“

„Schade! Ich möchte gern auch mittun! Wie nun, wenn sie dich ermorden wollen? Erschießen, erschlagen oder erstechen?“

„So kommst du schnell, mir zu helfen!“

„Das darf ich?“

„Ja, das darfst du! Du darfst sogar dabei schreien und brüllen und heulen, so sehr und so viel du nur willst!“

„So geh! Ich komme sogar auf alle Fälle!“

Ich gab Pappermann und Intschu-inta die nötige Anweisung und trat dann zwischen die Büsche, um mich zu den Indianern hinzuschleichen. Das fiel mir nicht schwer, denn sie waren so sehr mit sich selbst beschäftigt, daß sie weder Augen noch Ohren für etwas anderes zu haben schienen. Ich kam so nahe an sie heran, daß ich von dem Strauch aus, der mich verbarg, mit meiner Hand den Fuß des auf dem Bauch ausgestreckten Kiowa hätte ergreifen können. Das Thema, welches sie behandelten, war von größter Wichtigkeit, nicht nur für sie, sondern ebensosehr auch für mich.

Das, was ich für Papier gehalten hatte, war nicht Papier, sondern Leder, seidendünn pergamentartig zubereitetes Leder, auf beiden Seiten beschrieben oder wohl auch bemalt. Die eine Seite enthielt eine genaue Zeichnung des Mount Winnetou und den Situationsplan des „Schlosses“, welches der „Bewahrer der großen Medizin“ bewohnte. Auf der anderen Seite befand sich eine ebenso genaue Karte des Inneren der großen Höhle, vor welcher wir uns befanden. Das wußte ich schon nach Verlauf der ersten Minute, in der ich lauschte. Die Unterhaltung war sehr bewegt. Die Karte wurde bald hinum- und bald wieder herumgedreht. Man nannte, suchte und fand die verschiedensten Namen, Stellen und Punkte. Das alles hörte ich und merkte es mir. Ich erfuhr, daß die Karte dem Medizinmann der Komantschen gehörte. Sie war ein ur-, uraltes Erbstück seiner Familie. Niemand außer ihm durfte von ihr wissen, und nur der große, hochwichtige Zweck, der heut und hier zu verfolgen war, hatte ihn veranlaßt, dieses Geheimnis zu lüften. Der Medizinmann der Kiowa war außerordentlich begierig darauf, den Inhalt dieser ledernen Urkunde genau kennenzulernen und sich einzuprägen.

„Also es ist gewiß und wahrhaftig und wirklich so, wie es hier steht?“ fragte er.

„Ja, wirklich!“ nickte der Komantsche.

„Wir liegen jetzt hier, an dieser Stelle?“

Dabei deutete er auf den betreffenden Punkt der Karte.

„Ja“, antwortete der andere.

„Und von hier aus kann man unterirdisch bis auf den Mount Winnetou kommen? Nicht nur gehend, sondern sogar zu Pferde?“

„Gewiß, zu Pferde.“

„Und auf diesem Weg willst du uns und unsere viertausend Krieger nach oben führen, um Tatellah-Satah und seinen ganzen Anhang zu überfallen? Uff, Uff! Das ist ein großer Plan, ein sehr großer Plan! Hat mein roter Bruder diesen Weg schon einmal gemacht? Ist er schon einmal oben gewesen?“

„Nein, aber einer meiner Ahnen hat es heimlich versucht, und es gelang. Der Weg endet an mehreren Stellen; es gelang ihm aber nur, das eine Ende zu erreichen, nach dem auch ich gelangen will.“

„Das ist hinter dem Schleierfall?“

„Ja, Das ist der einzige Punkt, den man zu Pferde erreichen kann. Zu den anderen Punkten kann man nur zu Fuß kommen.“

„Aber wenn es nicht gelingt? Wenn über viertausend Menschen in der Höhle stecken, ohne vor- oder rückwärts zu können? Bedenke mein Bruder, was so viele Menschen und so viele Pferde brauchen!“

„Ich habe es bedacht. Ich bin darum vorausgeritten, um die Höhle vorher zu untersuchen. Und ich nahm dazu nur dich, meinen roten Bruder, mit, keinen andern Menschen, weil du ebenso ein Bewahrer der Medizin bist wie ich und Tatellah-Satah. Dir darf ich vertrauen.“

„So laß uns keine Zeit verlieren, sondern beginnen!“

Er stand auf.

Sie hatten sich also nicht gezankt, sondern es hatte infolge ihrer Lebhaftigkeit nur so geschienen. Der Komantsche erhob sich auch vom Boden. Er legte die Karte mit großer, sorgfältiger Langsamkeit zusammen, um sie dann einzustecken. Da richtete auch ich mich auf, trat hinter dem Gezweig hervor und sagte:

„Meine roten Brüder werden wahrscheinlich doch ein wenig Zeit verlieren, ehe sie beginnen!“

„Uff!“ rief der Kiowa erschrocken. „Ein Weißer!“

„Uff, uff! Ein Bleichgesicht!“ rief zu gleicher Zeit auch der Komantsche.

Ich riß ihm das Pergament aus der Hand, steckte es nicht in seine, sondern in meine Tasche, stellte mich so, daß sie nicht zu ihren Gewehren konnten, und fuhr fort:

„Ich nehme diese Karte einstweilen zu mir, weil ich euch helfen werde, den darauf bezeichneten Weg durch die Höhle zu finden!“

Nun hatten sie sich von ihrer Ueberraschung erholt. Sie richteten sich hoch und kampfbereit auf.

„Wer bist du, daß du es wagst, mich zu bestehlen?“ fragte der Komantsche.

Dabei näherte er sich mir, um zu seinem Gewehr zu gelangen. Ich zog den Revolver, spannte ihn und antwortete:

„Ich stehle nicht! Wenn diese Karte dein rechtmäßiges Eigentum ist, wirst du sie wiederbekommen. Weg von den Gewehren, sonst schieße ich! Ich bin nicht allein!“

Ich winkte. Da kamen Pappermann, Intschu-inta und die Winnetous, das Herzle langsam hinterher.

„Uff, uff!“ rief der Kiowa, als er Pappermann erblickte. „Ein halbes, blaues Gesicht!“

„Und eine weiße Squaw!“ fügte der Komantsche hinzu, jetzt wirklich erschrocken.

„Ihr habt von diesem blauen Gesicht und von dieser Squaw gehört. Wer also bin ich?“ fragte ich.

„Old Shatterhand!“ antwortete der Komantsche.

„Old Shatterhand!“ rief auch der Kiowa. „Unser Feind, unser grimmigster Feind!“

„Das ist eine Lüge! Ich bin keines Menschen Feind. Ja, ich könnte wohl eher der Feind eines Weißen als eines Roten sein! Fragt eure Häuptlinge, wie ich sie geschont habe! Fragt eure alten Krieger, ob sie ein Wort des Hasses von mir hörten oder euch eine einzige Tat der Rache von mir berichten können! Ich liebe alle Menschen, und ich liebe auch euch. Ich will euer Glück und trete darum jeder eurer Absicht entgegen, die euch zum Unglück führt. Eine solche Absicht ist es, die ihr heut verfolgt. Ich dulde nicht, daß sie zur Ausführung kommt. Setzt euch wieder nieder, und gebt eure Messer ab. Ihr seid gefangen!“

„Wir sind nicht gefangen, sondern – – –“

Mit diesen Worten sprang der Komantsche auf mich ein, doch wich ich einen Schritt nach rechts, faßte ihn an der Seite und warf ihn zur Erde. Intschu-inta, der Riese, kniete ihm auf die Brust und überwältigte ihn ohne alle Mühe. Ebenso verfuhr der wackere, alte Pappermann mit dem Kiowa. In kürzester Zeit waren die beiden Gefangenen derart gefesselt, daß sie sich nicht rühren konnten. Wir setzten uns zu ihnen nieder. Die Winnetous holten unsere Pferde. Ich aber nahm vor allen Dingen die Karte wieder aus der Tasche und schlug sie auf, um sie genau zu betrachten. Sobald ich den ersten Blick auf sie geworfen hatte, wußte ich, woran ich war. Ich wendete mich an den Komantschen:

„Avat-towah, der Medizinmann der Komantschen, mag mir sagen, ob er eine große Sammlung von Büchern, also eine Bibliothek, besitzt.“

„Ich habe keine“, antwortete er. „Es gibt bei allen Männern der Komantschen keine.“

„Weiß Avat-towah vielleicht, wo es eine gibt?“

„Hier am Mount Winnetou, bei Tatellah-Satah.“

„Sonst nirgends?“

„Ich weiß keine andere.“

„So wirst du diese Karte nicht wiederbekommen. Ich habe sie ihrem rechtmäßigen Eigentümer auszuliefern. Sie gehört Tatellah-Satah. Sie wurde ihm gestohlen.“

„Das ist eine Lüge!“ brauste der Medizinmann auf.

„Das ist keine Lüge, sondern die Wahrheit.“

„Beweise es!“

„Sofort! Nur besitzt du wahrscheinlich nicht die Kentnisse, welche dazu gehören, zu verstehen, was ich sage. Diese Karte ist nämlich numeriert, und zwar im alten Pokontschidialekt der Mayasprache. Hier unten, in dieser Ecke, stehen die Hunderter: Jo-tuc: d. h. fünfmal vierzig; das bedeutet also zweihundert. Und hier in der anderen Ecke stehen die Zehner und Einer: wuk-laj; das heißt sieben und zehn, also siebzehn. Diese Karte ist also Nummer zweihundertsiebzehn der betreffenden Bibliothek oder einer ihrer Abteilungen. Ich werde sie Tatellah-Satah zeigen, und es wird sich heraustellen, daß sie ihm gehört.“

„Nichts hast du ihm zu zeigen, und nichts hat ihm zu gehören! Diese Karte ist gestohlen, aber erst jetzt von dir! Du bist der Dieb!“

„Schweig, sonst geb ich dir eins auf das Maul, alter Spitzbube!“ unterbrach ihn Pappermann. „Wo sind die Brüder Enters?“

Das war kein übler Trick, daß er diesen Namen brachte. Die beiden Roten erfuhren dadurch in bequemster Weise, daß wir nicht so unwissend waren, wie sie wahrscheinlich annahmen. Sie konnten ihre Ueberraschung nicht ganz verbergen, doch beherrschten sie sich schnell, und der Komantsche fragte in gleichgültigem Ton:

„Enters? Wer ist das?“

„Das sind die zwei Brüder, die versprochen haben, uns an euch auszuliefern. Nun wißt ihr genug, um überzeugt sein zu können, daß wir gar keinen Grund und gar keine Lust haben, euch in Samt und Seide einzuwickeln. Sagt noch ein einziges Wort, was uns nicht gefällt, so setzt es Hiebe, ganz gewaltige Hiebe ab!“

Es wäre zwar besser gewesen, wenn Pappermann mich hätte reden lassen; aber heut war es nach seinen früheren Jahren zum ersten Mal seit langer, langer Zeit, daß er wieder einmal Gefangene vor sich hatte, und so gönnte ich dem alten, braven Burschen ganz gern die billige Genugtuung, ein wenig zu bramarbasieren. Die beiden Medizinmänner waren von jetzt an still. Der Name Enters hatte sie bedenklich gemacht.

Wir mußten zunächst essen. Das Herzle packte also die mitgebrachten Speisen aus und legte uns vor. Die Pferde wurden abgesattelt. Sie durften trinken und sich dann ihr grünes Futter suchen. Mir war die Karte ganz selbstverständlich wichtiger als das Essen. Ich studierte sie genau und zog dabei Intschu-inta zu Rate, der mir versichert hatte, daß er die Höhle genau kenne. Da stellte sich ein Widerspruch zwischen ihm und der Karte heraus. Nach der letzteren gab es hier unten im Tal allerdings nur den einen Eingang zur Höhle, vor dem wir uns befanden, droben auf der Höhe aber drei verschiedene Ausgänge, zwei schmale und einen breiten. Der breite war der Pferdeweg, der hinter dem Schleierfall mündete. Die beiden anderen waren Fußwege, die an einer gewissen Stelle von dem Pferdeweg abzweigten, noch eine Strecke beisammen blieben und dann sich teilten. Der eine mündete droben im Schloß; an welcher Stelle, das war nicht zu sagen; es genau zu bestimmen, war die Zeichnung zu klein. Der andere stieg nicht ganz so hoch. Er ging im Binnental aus; wie es schien, in der Nähe der angefangenen Riesenstatue Winnetous oder einer der beiden Teufelskanzeln. Intschu-inta aber kannte keinen dieser drei Ausgänge. Er wußte zwar, daß früher, in alten Zeiten, mehrere Ausmündungen der Höhle vorhanden gewesen seien, doch habe man sie zugeschüttet. Warum, das wußte er nicht. Er behauptete, daß der Höhlenweg immer breit und sehr gut gangbar, im Innern des Berges aufwärts führe, bis er plötzlich schmal werde und dann vor einer Tropfsteingruppe ende. Diese Gruppe liege etwas seitwärts vor dem Schleierfall, den man noch in der Höhle stürzen höre, wenn man scharfe Ohren habe.

Wer hatte nun recht? Intschu-inta oder die Karte? Jedenfalls die letztere. Ich beschloß also, mich auf sie zu verlassen, wenigstens in Beziehung auf den oberen Teil der Höhle und die dort befindlichen Ausgänge. Bis dorthin aber konnte ich der Ortskenntnis des „Dieners“ vollständig trauen. Darum beschloß ich, die Pferde nicht hier zu lassen, sondern mitzunehmen. Wir hatten angenommen, nach dem Eingang zurückkehren zu müssen; aber wenn es oben einen so breiten und bequemen Ausgang gab, wie er auf der Karte verzeichnet war, so befanden wir uns dort ja schon daheim und hatten nicht nötig, den Rückweg durch die Höhle zu machen und dann noch fünf Stunden weit nach Hause zu reiten. Intschu-inta blieb zwar dabei, daß wir, zumal mit den Pferden, unbedingt gezwungen sein würden, wieder umzukehren; ich aber war der Ansicht; daß kein vernünftiger Mensch auf den Gedanken gekommen sein könne, die drei Ausgänge völlig zuzuschütten. Ich nahm vielmehr an, daß sie nur maskiert, also versteckt worden seien, und verließ mich da auf meine Kombination und auf meine guten Augen.

Sofort nach dem Essen bereiteten wir uns zur Durchforschung der Höhle vor. Wir selbst hatten Fackeln und Lichter mitgebracht, und als wir die Pakete der beiden Gefangenen öffneten, sahen wir, daß auch sie sehr reichlich damit versehen waren. Der Feuchtigkeit und Kühle wegen hatten wir uns große, dünne, aber wasserfeste indianische Decken mitgenommen, die wir wie Mäntel um uns legen konnten. Die Pferde wurden wieder gesattelt, die Medizinmänner auf die ihrigen festgebunden, einige Fackeln angebrannt, und dann begannen wir den unterirdischen Ritt, von dem ich mir so gute Erfolge versprach, obgleich ich gar nicht wußte, woher sie kommen sollten.

Ich würde mehrere Druckbogen brauchen, um das Innere dieser wunderbaren Höhle auch nur einigermaßen zu beschreiben, doch kann ich dies einstweilen unterlassen, da sich mir später reichlich Gelegenheit geben wird, sie so zu schildern, wie sie es verdient. Sie kommt in Winnetous Testament des öfteren vor und ist dort der Schauplatz von Begebenheiten, über die ich jetzt noch schweigen muß. Wir ritten durch eine geradezu herrliche Unterwelt. Voran Intschu-inta mit einem Winnetou als Fackelträger, hinter ihnen ich mit dem Herzle, hierauf die Gefangenen, dann Pappermann mit den übrigen Winnetous, von denen einer die zweite Fackel trug. Wo es nötig war, zündeten wir uns zu den Fackeln auch noch Lichter an.

Der Weg ging unausgesetzt aufwärts, und zwar oft ziemlich steil. Die Höhle war sogar an ihren niedrigsten Stellen so hoch, daß wir nirgends von den Pferden zu steigen brauchten. Kein einziger der unterirdischen Räume, durch die wir kamen, glich einem anderen. Es folgte Abwechslung auf Abwechslung, Ueberraschung auf Ueberraschung. Oft war die Ueberraschung so groß, daß wir uns lauter Ausrufe der Bewunderung nicht enthalten konnten. Es war ein Reich der herrlichsten Tropfsteinmärchen, welches wir da kennenlernten. Die köstlichen Gedanken, zu Spat, Aragonit und Sinter erstarrt, wuchsen als Stalaktiten von oben herab. Ebenso köstliche Stalagmiten stiegen ihnen von unten aus entgegen, um sich mit ihnen zu Pfeifen, Säulen, Orgeln und anderen Gebilden zu vereinigen, von denen man kaum glauben konnte, daß sie der Erde angehörten. Wir aber hatten leider nicht Zeit zu eingehender Betrachtung, die wir uns für später aufheben mußten. Es drängte uns vorwärts, vorwärts, hinauf nach der Stelle, wo es sich zu entscheiden hatte, ob wir weiter konnten oder nicht. So ritten wir durch Gänge und Tunnels, durch kleine Kammern und riesige Säle, durch Refektorien und Kirchen, durch Vorhöfe und weite Säulenhalle, durch Veranden und Korridore. Wir kamen an Abgründen vorüber, in deren Tiefe der Fluß rauschte. Wir schlüpften zwischen dünnen Wasserfäden hindurch, die wie aus unsichtbaren Gartenschläuchen spritzten. Wir kamen über Stellen, wo es zu regnen schien. Wir sahen Kaskaden springen und Wasserstrahlen aus unsichtbaren Dachtraufen stürzen. Aber wir verweilten uns nicht: weiter ging es, immer weiter, bis endlich der breite Weg zu Ende war. Er wurde mit einem Male so schmal und so unbequem, daß nur noch Fußgänger vorwärts konnten.

„Du siehst, daß ich recht hatte“, sagte Intschu-inta. „Der Weg für Pferde ist zu Ende. Er führt nicht weiter. Es gibt keine Mündung, die hinter dem Schleierfall einen Ausgang bildet.“

Er schien recht zu haben. Wir befanden uns in einem breiten Gang, der vor einer Doppelgruppe von Stalaktiten und Stalagmiten haltmachte und sich dann als sehr schmaler Weg von dieser Gruppe nach rechts wendete. Nach der Karte aber machte er diese Wendung nicht, sondern er ging geradeaus, nachdem er den schmalen Pfad von sich abgezweigt hatte. Das war der entscheidende Punkt! Jetzt mußte es sich zeigen, ob ich mich auf meine Augen und auf mein Kombinationsvermögen verlassen konnte oder nicht! Ich begann, die Tropfsteingruppe zu untersuchen, und sah sehr bald daß es gar keiner großen Klugheit bedurfte, das Richtige zu entdecken.

Stalaktiten sind nämlich Tropfsteine, die sich von oben, also von der Decke herab, bilden. Unter Stalagmiten aber versteht man die Tropf steine, die aus dem Boden in die Höhe wachsen. Treffen beide in der Mitte zusammen, so bilden sich nach und nach Säulen und Säulengruppen. Die Stalagmiten entstehen anders als die Stalaktiten. Beide sind sehr leicht voneinander zu unterscheiden, weil sie nicht dieselbe Struktur besitzen. Hier nun sah ich sogleich; daß die von oben herabhängenden Tropfsteine echt waren; die von unten emporragenden aber waren nicht echt; sie waren Stalaktiten, keine Stalagmiten. Sie waren nicht an dieser Stelle entstanden, sondern man hatte sie hergeschafft und hier zusammengestellt. Warum und wozu? Sehr einfach: Um den breiten Pfad abzuschneiden, um ihn zu maskieren, zu verbergen, ganz genauso, wie ich vermutet hatte.

Ich rüttelte an dem äußersten dieser Steine; er ließ sich bewegen. Ich schaffte ihn zur Seite. Um das zu tun, war ich vom Pferde gestiegen. Die anderen folgten diesem Beispiele und halfen, auch die nächsten Steine zu entfernen. Dadurch wurde schon nach kurzer Zeit der breite Weg wenigstens so weit frei, daß wir uns von seiner Fortsetzung überzeugen konnten. Wir vergrößerten die Bresche, bis ein Mann hindurch konnte. Da forderte ich Pappermann und einen der fackeltragenden Winnetous auf, mir in die Lücke zu folgen. Ich wollte sehen, was dahinter lag. Die anderen sollten warten und inzwischen noch so viele Steine zur Seite schaffen, bis auch die Pferde passieren konnten.

Wir drei nahmen zu der einen, brennenden Fackel noch eine zweite als Reserve mit und drangen dann weiter vor, natürlich zu Fuße. Es ging jetzt noch steiler empor als vorher. Bald hörten wir es vor uns rauschen, dann brausen, dann donnern, ganz wie in der unmittelbaren Nähe des Niagarafalles. Dieses Brausen und Tosen wurde so stark, daß wir unsere eigenen Worte nicht mehr hörten. Die Wand zu unserer Rechten sank in die Tiefe;, die zu unserer Linken blieb. Von oben dämmerte es, als ob der Tag durch eine starke Milchglasscheibe zu uns herniederschaue. Und plötzlich, nach einer Biegung des Weges, sahen wir ihn stürzend herniederbrausen, den Schleierfall, in die Unterwelt, in der er sich zu dem Flüßchen bildete, an dem wir vorhin nach der Höhle geritten waren. Es wehte ein so scharfer Wind, daß wir die Hüte festhalten mußten. Wir schritten wie auf einer Felsenstraße der Schweiz. Auf der einen Seite die Felswand, auf der anderen der gähnende Abgrund, in dem der Wasserfall verschwand. Keine Barriere schützte uns. Aber der Weg war fest und so breit, daß vier Pferde nebeneinander gehen konnten. So passierten wir den Wasserfall in seiner ganzen Breite, bis wir an ihm vorüber waren, das Oberlicht verschwand und wir uns wieder nur auf das Licht unserer Fackel verlassen mußten. Hierauf ging es durch einen sehr aufwärts strebenden Stollen, der nicht geraden Laufes, sondern gebogen war. Hier ließ sich das Geräusch des Wasserfalles wieder vernehmen. Es wurde immer stärker und stärker, und als es so stark geworden war, daß es uns beinahe betäubte, sahen wir wieder den Schein des Tages, doch nicht von oben, sondern von vorn. Wir gingen darauf zu und befanden uns wenige Augenblicke später im Freien. Oder vielmehr nicht eigentlich im Freien, sondern zwischen der tosenden Masse des Schleierfalles und dem hochaufstrebenden Felsen, von dem sie sich, herunterstürzte. Wir standen hart an dem Abgrund, in dem sie verschwand. Da unten waren wir soeben vorbeigekommen. Wir befanden uns genau in derselben Lage, wie die Besucher des Niagarafalles, die sich hinter die herniederschmetternde Wogenwand bringen lassen, um dann später davon erzählen zu können. Man brauchte nur zwischen Wasser und Felsen nach dem äußersten Ende des Falles zu gehen, um durch ein dort befindliches Pflanzengestrüpp hinaus auf die feste, trockene Erde zu gelangen.

Ich wußte nun genug. Wir kehrten also nach der Stelle zurück, an der sich unsere Begleiter befanden. Als wir dort ankamen, waren sie mit ihrer Arbeit noch nicht fertig. Die fortzuschaffenden Steine besaßen ein derartiges Gewicht, daß lange Zeit dazu gehörte, sie entfernen. Das benutzte ich zu einer weiteren Exkursion. Ich wollte nun auch wissen, wohin der schmale Weg uns führte. Hierzu ließ ich mich aber nicht von Pappermann, sondern von Intschu-inta und einem Fackelträger begleiten. Das Herzle bat, mitgehen zu dürfen, und ich willigte ein, obgleich ihre Gegenwart uns das Suchen nicht erleichtern, sondern nur erschweren konnte.

Ich rechnete, daß wir uns hier fast genau unter der Stelle befanden, auf welcher da oben die gewichtige Winnetoustatue sich im Bau zu erheben begann. Von hier aus bis zu der Stelle, wo der schmale Weg sich nach der Karte in zwei noch schmälere Wege teilte, war gar nicht weit. Als wir hingelangten, sah ich augenblicklich, daß hier wieder Stalaktiten anstatt Stalagmiten lagen. Man hatte also auch da maskiert. Intschu-inta merkte nichts. Er blieb nicht stehen. Er ahnte nicht, daß sich hier einer der schmalen Wege abzweigte, und ging mit dem Fackelträger weiter. Ich folgte ihnen, ohne etwas zu sagen. Der Weg, den sie versäumten, war jedenfalls derjenige, der bei den Teufelskanzeln mündete. Den wollte ich mir aber für mich allein aufheben. Der weitere Weg führte nach der Karte hinauf zum Schloß, und den hätte ich sehr gern heute noch kennengelernt. Wir folgten darum dem schmalen Weg so weit, bis er zu enden schien.

„Da hört er auf“, sagte Intschu-inta, indem er stehenblieb.

„Und geht nicht weiter?“ fragte ich.

„Nein. Genau wie vorhin!“

„Ja, genau wie vorhin! Nimmt man die Steine weg, die ihn verhallen, so sieht man sofort, daß er nicht alle ist, sondern sich hinter den Steinen fortsetzt. Fort mit ihnen!“

Diese Stalaktiten waren nicht schwer. Ich hob einige zur Seite. Intschu-inta half. Was ich gedacht hatte, das zeigte sich: der Weg ging weiter. Hier war es gar nicht nötig, alle Steine zu entfernen. Es genügte, über sie hinwegzusteigen. Dann hinderte uns nichts mehr, weiterzugehen. Wir taten es. Aber von hier an hörten die Tropfsteine auf. Es gab nur noch Höhlen ohne Sinterbildung. Und sie lagen immer eine höher als die andere. Man hatte zu steigen. Schließlich hörte diese Bildung natürlicher Hohlräume ganz auf, und es ging zwischen Felsenspalten empor, auf künstlichen Stufen und Gängen, die übermauert waren. Dabei war die Luft außerordentlich trocken und rein. Ich hatte nicht nach der Uhr gesehen und auch weder die Stufen noch unsere Schritte gezählt; aber es war mir, als ob wir schon weit über eine Viertelstunde emporgestiegen seien; da hörten die Stufen plötzlich auf. Wir konnten nicht weiter. Wir befanden uns auf einer schmalen steinernen Treppe. Unter uns die Stufen, rechts Mauer, links Mauer, über uns Mauer. Nirgends eine Tür, ein Fenster, eine Oeffnung oder sonst etwas dem ähnliches! Wie da hinauskommen?

Grad über der letzten, also obersten Stufe war eine Steinplatte angebracht. Sie konnte nicht schwer sein, denn sie war höchstens drei Spannen im Geviert. Ich versuchte, sie zu heben. Es ging nicht. Sie hatte zwei Vertiefungen, die jedenfalls nicht ohne Absicht angebracht worden waren. Ich konnte das Heft meines Messers hineinstecken. Dadurch gewann ich einen Griff, die Platte zu verschieben. Ich versuchte dies nach vorn, nach hinten, nach rechts – – vergeblich. Aber nach links bewegte sie sich endlich. Ich hatte das Gefühl, als ob sie auf einer Rolle laufe. Es entstand über mir eine viereckige Oeffnung, durch welche ich steigen konnte. Ich tat dies aber nicht sofort, sondern ich war so vorsichtig, meinen Kopf nur erst bis zu den Augen hineinzustecken. Was sah ich?

Einen sehr hohen, achteckigen, gemauerten Raum mit zwei Türen. Die Wände waren vollständig mit Passifloren überwachsen, deren Ranken bis hinauf an die Decke reichten, wo es rundurn zahlreiche Oeffnungen gab, das nötige Licht hereinzulassen. Die Ranken waren so dicht, daß man von der darunterliegenden Mauer nichts sehen konnte. Sie grünten und blühten, und zwar fast überreich. Daß dies noch jetzt in der ziemlich späten Jahreszeit geschah, war wohl eine Folge der Höhenlage und auch des Umstandes, daß die Vegetation nicht im Freien stattfand, sondern auf das Innere eines geschlossenen Raumes angewiesen war. Die Passionsblume hat bekanntlich über zweihundert Arten; hier aber waren nur zwei derselben vertreten. Die eigentliche Flächenbekleidung wurde von Passiflora quadrangularis gebildet, deren Prachtblumen, innen rosenrot angehaucht, einen Durchmesser von zehn Zentimeter besaßen. Das ergab rundum eine Blütenpracht sondergleichen. Von diesem Untergrund stach an der einen Wand eine vollständig weiß blühende Passiflora incarnata ab, die so gezogen und beschnitten war, daß sie ein vier Meter hohes, aufrechtstehendes Kreuz bildete, ein ganz auffälliges Zeichen des Christentums hier an diesem mir fremden, geheimnisvollen Orte. Mir gegenüber gab es eine Tür, welche nicht geöffnet war. Und da, wo ich mich befand, schien auch eine zu sein, nur konnte ich sie nicht eher sehen, als bis ich höher stieg und dann aus der Oeffnung heraustrat. Da stellte es sich denn heraus, daß hier auf unserer Seite des Passiflorenraumes mehrere Stufen zu einem Ausgange emporführten, welcher verriegelt war. Ich stieg hinauf, schob den Riegel zurück und öffnete. Da stand ich draußen im Freien, nahm mir aber nicht Zeit, die Stelle zu bestimmen, an der ich mich befand, sondern machte die Tür wieder zu, ging die Stufen wieder hinab und forderte Intschu-inta auf, heraufzukommen und mir zu sagen, ob er wohl wisse, wo wir seien. Er tat es. Kaum sah er den Raum, so rief er verwundert aus:

„Uff! Das ist die Blumenkapelle, in welcher Tatellah-Satah zu beten pflegt!“

„Zu wem betet er da?“ fragte ich.

„Zum großen, guten Manitou. Zu wem sonst?“

„Aber da ist doch das Kreuz, das Sinnbild des Christentums?“

„Das stammt von Winnetou. Er hat es gepflanzt. Er sagte, das sei das Zeichen seines Bruders Old Shatterhand. Er verstehe es noch nicht, aber er werde es verstehen lernen, je höher es hier wachse. Er hatte dich so lieb, so unendlich lieb!“

Man kann sich wohl denken, wie tief mich das ergriff! Aber ich mußte diese Rührung schnell überwinden und fragte weiter:

„Wohin führt die Tür, die uns da gegenüberliegt?“

„Nach Tatellah-Satahs Schlafgemach.“

„Und die hier über den Stufen?“

„Hinaus auf den Berg. Niemand hat geahnt, daß es außerdem eine Falltür gibt, durch die wir jetzt gekommen sind!“

Der Verschluß dieser Falltüre bestand in der Platte, welche ich von ihrem Platze entfernt hatte. Sie war unter den Fußbodensteinen derjenige, welcher von der Seite her direkt an die unterste Stufe stieß, in die er, weil sie hohl war, hineingeschoben werden konnte. Indem ich das getan hatte, war die Falltüre geöffnet worden. Ich brauchte ihn nur in seine vorige Lage zurückzuschieben, so war sie wieder zu.

Nun stieg auch das Herzle mit dem Fackelträger herauf. Sie brach beim Anblick der unzähligen Leidensblumen in einen Ausruf der Bewunderung aus. Sie hatte da unten im Gange nicht gehört, was mir von Intschu-inta gesagt worden war. Dennoch erriet sie sofort den Zweck dieses Raumes.

„Das ist ein Zimmer zum Gebet!“

Mit diesen Worten schritt sie nach der Mitte der Stube. Dort stand eine Bank, die mit einem Fell überkleidet war. Sie setzte sich darauf, dem Kreuz grad gegenüber, und sprach weiter:

„Hier sitzt Tatellah-Satah, um mit Gott, seinem einzigen Herrn, zu sprechen. Er hat das Kreuz vor sich, das Erdenleid, welches den einzelnen Menschen und ganze Völker erlöst. Da betet er für die Erlösung seiner Rasse. Hier möchte ich sitzen und mit ihm beten, daß ihn der Herrgott erhöre!“

„Tue es!“ antwortete ich. „Wir gehen jetzt fort, doch nur, um wiederzukommen.“

„Hierher?“ fragte sie.

„Ja, hierher.“

„Wann?“

„Vielleicht schon in einer halben Stunde. Ich kehre in die Unterwelt zurück, um die beiden Gefangenen zu holen und auf diesem verborgenen Weg in das Schloß zu bringen. Da sieht sie kein Mensch außer uns. Ich wünsche, daß niemand von ihren Angehörigen und Genossen erfahre, wo sie sich befinden. Es hat keinen Zweck, daß du uns in die Höhle zurückbegleitest. Du müßtest doch mit uns wieder hier herauf.“

„Gut, so bleibe ich. Aber was tue ich, wenn mich jemand hier erwischt?“

„Du würdest als Freundin behandelt werden, sei es, wer es sei. Uebrigens ist es gar nicht nötig, daß du dich erwischen läßt. Du brauchst nur hier die Stufen hinauf und in das Freie zu gehen, so bleibst du ungesehen. Es würde wohl niemandem einfallen, nachzusehen, ob die Tür angelehnt ist oder nicht.“

„Ja, richtig! Also, ich warte hier.“

Sie setzte sich wieder auf die Bank. Wir anderen aber stiegen wieder in den Gang hinab. Wir Iießen ihn nicht offen, sondern ich schob die Steinplatte wieder vor. Dann kehrten wir nach der Stelle zurück, wo unsere Gefährten auf uns warteten. Sie waren mit ihrer Arbeit, die Stalaktiten wegzuräumen, fast zu Ende. Ich setzte mich nieder, um die wenigen Minuten zu warten. Als ich still saß, fühlte ich, daß es von der Decke auf mich niedertropfte. Aber es war nicht Wasser, sondern zerriebenes Gestein. Es streute wie Mehl oder Sand auf mich herab. Zuweilen war auch ein erbsen-, bohnen- oder nußgroßes Stück dabei. Ich schaute empor. Das Licht unserer Fackeln reichte nicht bis ganz hinauf, trotzdem sah ich grad über mir einen schmalen Riß, aus dem es bröckelte. Das war in einer solchen Höhle nichts Auffälliges. Darum kam ich gar nicht auf den Gedanken, nach den Ursachen dieses Risses zu fragen. Und doch war es, wir sich später zeigte, von außerordentlicher Wichtigkeit für uns.

Als der breite Weg freigeworden war, sagte ich, daß wir uns hier zu trennen hätten. Die beiden Medizinmänner hatten mit mir, Intschuinta und einem Fackelträger zu Fuß nach oben zu steigen. Die andern aber ritten, indem sie unsere ledigen Pferde mitnahmen, unter Pappermanns Führung den vorhin von uns entdeckten Weg empor, der hinter dem Schleierfall mündete. Von dort aus hatten sie sich sogleich nach dem Schloß zu wenden. Wir warteten, bis sie fort waren. Dann verband ich den Medizinmännern die Augen und verbat mir alles Widerstreben. Hierauf nahm ich den Komantschen und Intschu-inta den Kiowa beim Arm. Der Fackelträger schritt voran. So stiegen wir den schon einmal gemachten Weg nach dem Passiflorenraum empor. Das ging, weil die Augen der Gefangenen verbunden waren, so langsam, daß wir nicht, wie ich gesagt hatte, nach einer halben Stunde, sondern erst nach über einer ganzen Stunde droben bei den letzten Stufen ankamen. Da machte ich mich daran, die Platte auf die Seite zu schieben. Indem ich dies tat, hörte ich Stimmen. Es schien jemand bei meiner Frau zu sein. Ich öffnete die Falltür so geräuschlos wie möglich. Dann schob ich vorsichtig nur den oberen Teil meines Kopfes, bis an die Augen, hinaus, um zu sehen, wer da sprach. Das Herzle war verschwunden, jedenfalls durch die Treppentür hinaus, in das Freie. Jetzt saß Tatellah-Satah auf der Bank, dem Kreuz gegenüber. Bei ihm standen zwölf Apatschenhäuptlinge, jüngeren Alters, von denen ich keinen kannte. Der Älteste von ihnen war nicht über fünfzig Jahre alt. Der alte „Bewahrer der großen Medizin“ sprach mit sehr bewegter Stimme zu ihnen. Ich hörte die Fortsetzung des angefangenen Satzes:

„Unser guter Manitou ist größer, millionenmal größer, als die roten Männer bisher glaubten. Sie nahmen an, er sei nur ihr Gott, nicht aber auch der Gott aller anderen, die da leben. Falls dies auf Wahrheit beruhte, wie klein wäre er da, wie klein! Der Gott einiger armen Indianerscharen, die von den Bleichgesichtern zermalmt, zerquetscht und zertreten werden Wie groß und wie mächtig müßte dagegen der Gott der Weißen sein! Und wie sehr müßten wir da wünschen, daß dieser Gott der Weißen an Stelle des ohnmächtigen Manitou der Indianer trete! Doch dieser Wunsch wurde uns erfüllt, noch ehe wir ihn empfanden. Schaut hin auf das Kreuz! Es blüht, um uns zu Erlösen. Es nimmt uns Manitou, um Manitou uns zu geben. Es sagt uns, daß es nur einen einzigen gibt, den Allmächtigen, den Allweisen, den Allstarken, den Allgütigen, und daß wir ihn seiner Allstärke und seiner Alliebe berauben, indem wir ihn nur für uns haben wollen, für uns allein, die wir die unglücklichste aller Nationen sind und die schwächste aller Rassen. Das Kreuz ruht in der Erde und ragt zu Gott empor. Das ist das eine, was es bedeutet. Aber es breitet seine beiden Arme aus, um jedermann und alle Welt zu umfangen. Das ist das andere, was es bedeutet. Niemand von uns hat das gewußt. Old Shatterhand war es, der uns dieses Wissen brachte. Wir aber nahmen es nicht an. Ein einziger nur bewegte diese Kunde in seinem Herzen. Dieser einzige war Winnetou. Er beobachtete; er prüfte. Er begann zu glauben. Und je fester dieser sein Glaube wurde, desto öfter kam er zu mir, um mich zu bitten, diese Leidensblumen und dieses Kreuz an die Lieblingsstätte meiner Gebete pflanzen zu dürfen. Es war sein inniger Wunsch, Old Shatterhand zu mir zu bringen. Sein weißer Bruder sollte hier, an dieser Stelle, sehen, wie der Kreuzesgedanke und die Überzeugung von einem einzigen, großen Manitou im Herzen seines roten Bruders Wurzel gefaßt und sich zur Blüte und Frucht entwickelt habe. Ich aber war dagegen. Ich haßte Old Shatterhand. Da ging Winnetou, der Herrliche, der Unvergleichliche, hin und kam nicht wieder. Doch was in seinem Herzen lebte, das kehrte zurück. Das kam zu mir. Das trieb mich tagtäglich hierher, in diesen Raum. Das lehrte mich nachdenken. Das brachte mir Licht. Das lehrte mich beten, nicht zu dem schwachen, kleinen Manitou der roten Männer, sondern zu dem gewaltigen, unendlichen, erhabenen Manitou Old Shatterhands, der allein imstande ist, uns, seine roten Kinder, neu zu beseelen, damit wir endlich werden, was wir werden sollten, aber nicht geworden sind. Heut ist er da, Old Shatterhand, dem ich mein Haus und mein Herz versagte. Heut liebe ich ihn. Heut weiß ich es, daß ich nichts vermag ohne ihn, ganz ebenso, wie die rote Rasse ohne die weiße nichts vermag. Er wird das Bleichgesicht sein, welches die uns verlorengegangenen Medizinen zurückzubringen hat. Wißt ihr, was das bedeutet? Er wird es sein, der uns in Liebe vereint, obgleich wir uns im Haß zerstören wollen. Und während wir – –“

Er hielt mitten im Satz inne. Unsere Fackel, die wir noch nicht hatten auslöschen können, begann sehr laut zu knistern. Sie sprühte Funken. Sie gab Rauch, der neben mir aus der Oeffnung stieg und von den Indianern sofort gerochen und gesehen wurde. Sie schauten alle zu mir her. Tatellah-Satah stand überrascht von seinem Sitze auf. So blieb mir nichts anderes übrig, als, um mich sehen zu lassen, aus der Bodenöffnung zu steigen.

„Old Shatterhand!“ rief er aus. „Old Shatterhand, von dem ich spreche!“

„Old Shatterhand! Er ist’s? Er ist’s?“ wurde er von den Häuptlingen gefragt.

„Ja; er ist es!“ antwortete er. „Ein Loch im Boden! Wo führt es hin? Wo kommst du her?“

Diese letzteren Worte waren an mich gerichtet. ich ging auf ihn zu, zog die Karte, die ich dem Medizinmann der Komantschen abgenommen hatte, aus der Tasche, faltete sie auseinander, gab sie ihm und antwortete:

„Schau hier nach! So wirst du sehen, woher ich komme.“

Er sah die Ueberschrift, und er sah die Zahl, da rief er auch schon aus:

„Aus der geheimen Bibliothek! Die hochwichtige Karte, die einem meiner Ahnen gestohlen worden ist! Nach deren Dieb wir bisher vergeblich forschten! Im Verdacht stand der damalige Medizinmann der Komantschen, der mehrere Wochen lang hier Gast gewesen war und die Bibliothek sehr oft betreten hatte. Und jetzt bringt Old Shatterhand sie mir! Welch ein Wunder, welch ein großes Wunder! Von wem hast du sie?“

„Von dem Urenkel des Diebes. Ich zeige dir ihn.“

Es genügte ein Ruf von mir, so kamen Intschu-inta und der Fackelträger zu uns heraufgestiegen und brachten die beiden Gefangenen mit. Sie wurden von den Apatschenhäuptlingen sofort erkannt. Diese letzteren wollten in laute Ausrufe der Verwunderung ausbrechen, ich aber wehrte ihnen durch eine Handbewegung ab und sagte leise:

„Still! Sie dürfen nicht sehen und hören, wo sie sind! Ich erzähle nachher. Gibt es hier im Schlosse einen Ort, wo es möglich ist, Gefangene derart aufzubewahren, daß sie weder entfliehen noch von anderen Leuten gesehen werden können?“

„Wir haben sehr gute und sehr sichere Gefängnisse hier“, antwortete Tatellah-Satah.

„So mag Intschu-inta sie dort unterbringen und dann wiederkommen. Ich brauche ihn noch.“

Tatellah-Satah gab seinem riesigen Diener mit unterdrückter Stimme die nötigen Befehle, worauf dieser sich mit den beiden Medizinmännern und dem Fackelträger entfernte, um sie nach dem Verließ zu schaffen. Da wurde über den Treppenstufen die Tür geöffnet, die ins Freie führte, und das Herzle ließ sich sehen. Es war ihr gelungen, sich rechtzeitig zurückzuziehen. Nun, da sie durch die angelehnte Tür sah, daß ich wieder da war, glaubte sie, sich auch mit sehen lassen zu dürfen. Man kann sich denken, daß dies das Erstaunen der Häuptlinge nicht verringerte.

Ich erzählte ihnen, so viel ich zu erzählen für nötig hielt, denn zum vollständigen Mitwisser meiner Ansichten und Pläne wollte ich keinen von ihnen machen. Grad als ich fertig war, kehrte Intschu-inta zurück. Er meldete, daß die Gefangenen fest eingeschlossen und daß Pappermann und seine Begleiter vom Wasserfall her auf dem Schloß eingetroffen seien. Ich teilte ihm mit, daß er mich jetzt noch einmal hinunter in die Höhle zu begleiten und zu diesem Zweck zwei neue Fackeln zu besorgen habe. Das Herzle fragte, ob auch sie dabei sein rnüsse. Als ich das verneinte, bat mich TatelIah-Satah, ihm meine Squaw anzuvertrauen. Er erwarte den Besuch von Kolma Putschi und werde sich sehr freuen, die beiden Frauen miteinander bekannt zu machen. Ich hatte natürlich nicht das geringste dagegen und stieg, als Intschu-inta mit den Fackeln kam, mit ihm wieder in die Höhle hinunter. Es sei bemerkt, daß die zwölf Apatschenhäuptlinge erst heut während unserer Abwesenheit hier angekommen waren und ihre Zelte in der Oberstadt aufgeschlagen hatten. Sie bildeten den Stab sämtlicher Apatschenstämme, auf welche Tatellah-Satah sich verlassen konnte.

Ich hatte meinen ganz besonderen Grund, noch einmal hinunter in die Höhle zu steigen. Da ich einmal darüber war, sie kennenzulernen, wollte ich sie auch gleich ganz kennenlernen; denn es gab einen kleinen Teil, den ich noch nicht kannte. Ich erinnere daran, daß der breite, reitbare Weg, der vom „Tal der Höhle“ aus durch die letztere führte, droben hinter dem Schleierfall in das Freie mündete. An der Stelle, wo er mit Stalaktiten versetzt worden war, die wir entfernt hatten, zweigte von ihm ein schmaler Weg nach rechts, der nur für Fußgänger zur Höhe führte. Sein eigentliches Ende fand dieser schmale Weg ganz oben im Passiflorenraum. Bis dorthin waren wir ihn gegangen. Aber schon unten in der Höhle zweigte von ihm ein zweiter, schmaler Weg ab, an dem wir vorbeigekommen waren, ohne daß meine Begleiter etwas von ihm bemerkten. Nur mir allein war die Stelle aufgefallen, an welcher die als Stalagmiten verwendeten Stalaktiten andeuteten, daß auch hier ein früher gangbarer Weg mit Steinen versetzt und maskiert worden sei. Nach dieser Stelle kehrten wir jetzt zurück. Ich hatte nur Intschu-inta mitgenommen, weil er der Vertraute des Medizinmannes war, denn um eine sehr vertrauliche Sache handelte es sich jetzt bei der neuen Entdeckung, die ich machen wollte. Nämlich wenn ich die oberirdischen und die unterirdischen Oertlichkeiten miteinander in Verbindung brachte, so ergab sich für mich folgendes: Der breite Weg mündete im Bergtal, hinter dem Wasserfalle. Der schmale Weg mündete in seinem letzten, höchsten Ende droben im Schlosse. Die zwischen beiden liegende Abzweigung dieses schmalen Weges, die ich jetzt suchte, mußte also zwischen dem Wasserfall und dem Schloß münden. Und wenn ich mich da fragte, welcher Ort hierzu wohl am geeignetsten sei, so stieß meine Vermutung immer nur auf die Teufelskanzel, oder, wie sie hier genannt wurde, auf das „Ohr des Teufels“, an dem wir vorbeigekommen waren, als der Medizinmann uns den Schleierfall zeigte. Es stimmte in jeder Beziehung, daß dieser Ort mit der geheimnisvollen, großen Höhle in Verbindung stand. Wer weiß, was für wichtige Zusammenhänge vor Jahrtausenden hier oben und da unten stattgefunden hatten. Darum war es jetzt für mich, der ich diesen Zusammenhängen nachspürte, sehr wohl geraten, dies so diskret wie möglich zu tun und keinen Menschen in das Vertrauen zu ziehen, der dieses Vertrauen nicht verdiente. Dies war der Grund, weshalb ich nur den altbewährten, treuen Intschu-inta mitgenommen hatte.

Als wir die betreffende Stelle erreichten, an der ich eine Abzweigung des schmalen Weges vermutete, blieben wir stehen, um die am Boden liegenden Steine zu untersuchen. Auch sie waren nicht Stalagmiten, sondern Stalaktiten, also nicht hier an Ort und Stelle entstanden, sondern zu irgendeinem Zweck hergeschafft. Wir beseitigten so viele von ihnen, wie nötig war, um Einsicht zu gewinnen, und entdeckten da nun allerdings sehr bald den offenen Pfad, der hinter ihnen aufwärts führte. Meine Vermutung hatte mich also nicht getäuscht. Es fragte sich nur noch, wo er oben mündete. Wir mußten ihm folgen.

Wir ruhten zunächst einige Augenblicke von der Anstrengung aus, welche uns das Beiseiteschaffen der schweren Steine verursacht hatte. Es war für diese kurze Zeit still, vollständig still um uns, und so hörten wir ein eigenartiges, prasselndes Geräusch, welches aus der Ferne zu uns drang, wahrscheinlich aus der Gegend, in welcher unser schmaler Weg vom breiten abzweigte. Was war das, oder wer war das? Befand sich jemand dort? Unsere Sicherheit erforderte, dies schleunigst zu erfahren. Wir nahmen also die Fackeln hoch und eilten nach der Richtung, aus welcher der Schall zu uns gedrungen war. Dort sahen wir, daß es sich nicht um die Anwesenheit von Menschen handelte, sondern um ein Herabbröckeln des Deckengesteines, und zwar genau an derselben Stelle, an welcher ich gesessen und den beginnenden Spalt über mir bemerkt hatte. Dieser Spalt war jetzt breiter und größer als vorher. Es waren ganz beträchtliche Sinterstücke herabgefallen. Jedenfalls lockerte sich etwas da oben. Wer hier vorüber wollte, der hatte von jetzt an vorsichtig zu sein. Doch nahm ich diesen Gedanken sehr gleichgültig auf, denn ich hatte nicht die geringste Ahnung von der eigentlichen Ursache dieses Phänomens.

Wir kehrten zu der Stelle zurück, an der wir beschäftigt gewesen waren, und folgten von da aus dem neu entdeckten, schmalen Seitengang, dessen Mündung wir noch nicht kannten. Der riesige lntschu-inta war erstaunt.

„Es ist, als ob du Winnetou seist“, sagte er. „Alles hörst du; alles siehst du; alles findest du! Wir aber, die wir schon ewig hier wohnen, hören nichts, sehen nichts und finden nichts! Du bist wie er, und er war wie du!“

Auch dieser Pfad führte von Höhle zu Höhle empor, aber viel steiler als der andere. Dann gab es künstliche Stufen, die in hartem Stein gehauen waren. Schließlich standen wir vor dem Ende. Aber dieses Ende bestand nicht aus einer Tür, einer Mauer, einem Stein, sondern aus unzähligen Wurzeln und Wurzelfasern, die aus dem Boden traten, der hier nicht aus Stein, sondern aus Erde gebildet war, und die schier undurchdringlich vorwärts strebten. Da mußten wir unsere Messer zu Hilfe nehmen. Und sie halfen. Indem wir alles, was uns im Wege war, wegschnitten und hinter uns schafften, drangen wir Schritt für Schritt vor und standen schließlich nicht mehr vor Wurzeln und lichtscheuen Ranken, sondern hinter einem dichten Gebüsch, durch dessen Gezweig hindurch das Tageslicht uns grüßte. Wir löschten die Fackeln aus.

Das Gebüsch wuchs mit noch anderem Gesträuch aus einem Steinhaufen heraus, der jedenfalls nicht natürlich entstanden, sondern künstlich hierhergebracht worden war, um den Gang, aus der wir kamen, zu verbergen. Indem wir hindurchkrochen, gaben wir uns Mühe, die Aeste und Zweige so wenig wie möglich zu verletzten. Dann standen wir – – – wo? Am linken „Ohr des Teufels“, also ganz so, wie ich vermutet hatte; das rechte Ohr lag jenseits des Fahrweges grad gegenüber.

„Uff, uff!“ sagte Intschu-inta. „Es geschehen Wunder!“

„Die Neuentdeckung von etwas so sehr Altem ist kein Wunder“ antwortete ich. „Wir befinden uns an eurer Devils pulpit.

„Deren Geheimnis kein Mensch entdecken kann!“

„Nicht? Wirklich nicht!“

„Nein. Nicht einmal Winnetou hat es gekonnt!“

„So warte! Vielleicht bist du es, der es kann!“

„Ich?“ fragte er erstaunt.

„Ja, du!“

„Unmöglich!“

„Ganz und gar nicht unmöglich, sondern sogar sehr wahrscheinlich. Willst du schweigen, sogar gegen Tatellah-Satah, wenigstens einstweilen?“

„Ich will!“ versicherte er, mich erwartungsvoll anschauend.

„Gut! Sehen wir uns erst um! Steigen wir hinauf, auf das Ohr des Teufels, um seine Verhältnisse kennen zu lernen!“

Wir stiegen hinauf. Als wir oben waren, befand ich mich fast ganz genau in derselben Lage und in denselben Verhältnissen, wie auf der ersten Devils pulpit, wo der „junge Adler“ den Bär erlegte und ich mich dann mit dem Herzle von Kanzel zu Kanzel unterhielt. Es gab auch hier zwei Kanzeln, genau wie dort. Und drüben über der Straße gab es wieder zwei, die in ganz derselben Ausmessung zueinander standen. Für einen oberflächlichen Denker schien es hier also nicht nur eine, sondern zwei Ellipsen zu geben, in deren Brennpunkten man das leise Gesprochene laut hören konnte, nämlich die eine diesseits und die andere jenseits des Fahrweges. Der schärfer Denkende aber mußte gleich bei dem ersten Blick sehen, daß es weder hüben noch drüben eine besondere, wirkliche Ellipse gab, sondern daß diese Figur erst dann zustande kam, wenn man beide Abteilungen durch Verbindungslinien über den Fahrweg herüber vereinigte. Dann gab es allerdings eine große Doppelellipse mit vier Brennpunkten, hüben zwei und drüben zwei, bei deren richtiger Benutzung sich verschiedene Schallexperimente ermöglichten, die dem nicht Eingeweihten als Wunder erscheinen mußten.

Das sah man, wie gesagt, schon bei dem ersten Blicke, doch wurde dieser Blick schnell wieder von seinem Gegenstand abgezogen, und zwar durch eine höchst augenfällige Veränderung, die sich seit unserm letzten Hiersein in der umgebenden Szenerie vollzogen hatte. Nämlich die angefangene Winnetoustatue war inzwischen gewachsen, und zwar in einer Weise, die mir nur dann begreiflich wurde, wenn ich sah, wie groß heut die Zahl der Lastgeschirre war, auf denen die fix und fertig zubereiteten Quader von den Steinbrüchen herbeigeschleppt wurden, und wie groß die Zahl der Arbeiter, welche damit beschäftigt waren, diese Quader zur Figur zusammenzusetzen und mit schon vorgebohrten eisernen Spindeln, Klammern und Bolzen zu befestigten. Die Figur war bereits bis zum Unterleib gediehen; der künstliche Felsen, an den sie sich anzulehnen hatte, war im Entstehen, und die Gerüste, auf denen die Monteure zu arbeiten hatten, waren zwar erst heut entstanden, ließen aber Dimensionen vermuten, die in das Riesenhafte gingen. Als Intschu-inta sah, daß ich meine Aufmerksamkeit jetzt darauf richtete, sagte er:

„Sie arbeiten wie im Fieber. Sie sind ihrer Sache nicht mehr sicher. Sie sehen jetzt täglich mehr und mehr, daß nicht alle Welt ihrer Meinung ist. Darum soll diese Figur schleunigst fertiggestellt werden, um auf die Tausende von Festgenossen, welche man erwartet, den Eindruck zu machen, den man sich von ihr verspricht. Als ich vorhin die Fackeln holte, erfuhr ich, daß man entschlossen ist, jetzt Tag und Nacht an der Figur zu arbeiten, weil man gehört hat, daß auch du dagegen bist. Man hatte geglaubt, dich leicht auf die Seite schieben zu können.“

„Ah! Besonders wohl Mr. Okih-tschin-tscha, genannt Antonius Paper? Laß ihn schieben, laß ihn schieben! Wir aber wollen zu unsern jetzigen Pflichten zurückkehren. Es war doch unsere Absicht, zu versuchen, ob du es nicht vielleicht bist, der imstande ist, da Geheimnis eurer Devils pulpit zu entdecken. Wir haben hier zwei Kanzeln. Drüben sind auch zwei. Wir befinden uns hier auf der ersten; da bleibe ich jetzt; du aber gehst hinüber, auch auf die erste. Da stellst du dich hin und nennst in ganz gewöhnlichem Tone zehn Zahlen. Ich kann das hier hüben nicht hören, werde dir aber so dieselben Zahlen sagen.“

„Mir sagen?“ fragte er. „Höre ich es denn?“

„Ja.“

„Unmöglich!“

„Warte es ab! jetzt geh‘! Aber tue geheim! Sag‘ niemand, w n du gehst und was du dort willst!“

Er machte ein sehr ungläubiges Gesicht und entfernte sich. Ich schaute ihm nach, ohne mich aber von den Arbeitern und Fuhrleuten, welche auf dem Fahrweg verkehrten, sehen zu lassen. Sie beachteten ihn nicht. Er ging über den Weg hinüber und stieg auf die erste Kanzel. Man kann sich wohl denken, wie gespannt ich darauf war, ob das Experiment gelingen werde. Ich lauschte. Da, Gott sei Dank, da kamen sie, die zehn Zahlen, nämlich alle geraden der Reihe nach von zwei bis zwanzig. Ich wartete nur einen Augenblick, dann wiederholte ich sie ebenso langsam und deutlich, wie er sie ausgesprochen hatte.

„Uff, uff!“ hörte ich ihn dann verwundert rufen. „Bist du das wirklich, oder bist du es nicht?“

„Ich bin es“, antwortete ich.

„Und du hast mich gehört?“

„So genau wie du jetzt mich. Nun gehst du jetzt auf die andere Kanzel, auf die zweite, und sagst etwas anderes.“

„Was?“

„Irgend etwas. Du sprichst eine Frage aus, und ich antworte dir. Also, jetzt!“

„Gut, ich geh‘!“

Auch ich stieg von meiner Kanzel herab und ging nach der anderen. Da gab es kein Gebüsch; ich war also schnell oben. Da hörte ich ihn drüben kommen. Büsche raschelten, Zweige knackten. Dann war er oben und fragte:

„Bist du noch dort? Hörst du mich?“

„Ja, ich höre dich“, antwortete ich ihm, ohne ihm aber zu sagen, daß ich inzwischen auch meinen Platz gewechselt hatte.

„Soll ich vielleicht wieder zählen?“

„Ja. Zehn andere Zahlen.“

Er sagte die ungeraden Zahlen von einunddreißig bis neunundvierzig auf, und ich wiederholte sie ihm. Dann ließ ich ihn wieder nach der ersten Kanzel zurückkehren, um noch weitere zehn Zahlen auszusprechen. Ich sah ihn drüben kommen. Er stieg hinauf. Jedenfalls zählte er jetzt; ich hörte aber nichts. Nun wußte ich alles. Es handelte sich wirklich um eine Doppelellipse. Man konnte hören oder nicht hören, gehört werden oder nicht gehört werden, ganz wie es einem beliebte. Es kam nur auf die Orte an, die man wählte. Ich stieg von meiner Kanzel herab und ging nach dem Fahrweg zu. Da sah er mich und kam auch.

„Du hast beim letztenmal nicht geantwortet“, sagte er. „Oder habe ich dich überhört? Welch ein Wunder, welch ein Wunder! Uff, uff! Auf so weit kann kein Mensch das gewöhnliche Wort verstehen, und doch habe ich dich verstanden! Wie ist das zu erklären?“

„Denke darüber nach! Du bist es doch, der das Geheimnis erraten soll!“

„Du scherzest! Warum soll ich mühsam erraten, was du genau schon weißt! Denn wüßtest du es nicht, so hättest du mir nicht die richtigen Plätze anweisen können. Werde ich es erfahren?“

„Wenn Tatellah-Satah es erlaubt, ja.“

„Aber jetzt darf ich ihm nichts davon sagen?“

„Keinem Menschen! Du könntest großes Unheil anrichten, wenn du es auch nur einem einzigen verrietest. Jetzt komm‘ hinauf nach dem Schloß; die Sonne geht schon unter!“

Der Himmel war, so weit man ihn hier im Tal sehen konnte, von golddurchsichtigen Wölkchen überhaucht. Ein diamantenes Flammenzucken ging von Westen aus. Das blitzte und flimmerte im herrlichen Spiegel des Schleierfalles wider. Wie schade, wie jammerschade, daß die grad vor dem Fall sich erhebende tote steinerne Figur den Genuß dieser Schönheit fast unmöglich machte! Wir standen an der Krümmung der Straße und des Tales, an welcher man, von der oberen Stadt kommend, den Schleierfall zum erstenmal erblickte. Wir waren da stehen geblieben, um seinen Anblick zu genießen. Und nun störte uns diese fatale Figur, die, dem leichten duftigen Schleier entgegengesetzt, so schwer, so belastend, so bedruckend wirkte. Die Holzgerüste, welche sich vor diesem Schleier erhoben, taten dem Auge förmlich wehe, zumal man sie ohne Lot errichtet zu haben schien. Sie standen schief. Es gab nur einen einzigen Träger, der wirklich senkrecht stand. Diese Beobachtung machte ich nur so nebenbei. Sie erschien mir völlig unwichtig. Aber im Verlauf der irdischen Ereignisse gibt es nichts wirklich Bedeutungsloses; das sollte ich auch hier bald sehen.

Wir gingen nun nach dem Schlosse. Intschu-inta war unterwegs sehr still. Das Ergebnis unserer Nachforschung beschäftigte ihn innerlich. Oben angekommen, trennten wir uns. Er ging zu Tatellah-Satah, ich aber nach meiner Wohnung, wo ich das Herzle vermutete. Sie war auch da, und zwar nicht allein. Kolma Putschi war bei ihr. Beide saßen nebeneinander, Hand in Hand. Als ich eintrat, standen sie auf und kamen mir entgegen. Ihre Gesichter hatten den Ausdruck tiefer, ernster Rührung. Der Name Kolma Putschi ist dem Moquidialekt entnommen. Er bedeutet so viel wie Schwarzauge oder Dunkelauge. An diesem Auge, welches seinen Glanz noch immer besaß, erkannte ich sie sogleich wieder, obwohl sie sich übrigens se verändert hatte. Sie war bedeutend älter als ich. Ihre früher elastische Gestalt hatte sich gebeugt. Ihr grauglänzendes Haar war dünn gewordenen Zöpfen um den unbedecktem Kopf gelegt. Ihr sehr gealtertes Gesicht bestand aus lauter kleinen, winzigen, eng aneinander liegenden Fältchen. Und doch war es schön, dieses Gesicht. besaß jene von innen heraussprechende Schönheit, welche man Altersschönheit bezeichnet. Sie pflegt das Produkt vielen Leidens und Denkens zu sein. Ganz selbstverständlich war Kolma Putschi nicht mehr männlich, sondern weiblich gekleidet. Sie blieb vor mir stehe schaute mich lange, lange prüfend an und sagte dann, in ernstes Gesicht zu lächeln begann:

„Ja, das ist er! Noch ganz wie früher! Trotz der vielen, vielen Jahre, welche vergangen sind, seit wir uns nicht mehr sahen! Darf Shatterhand begrüßen?“

Sie fragte das, ohne mir die Hand entgegenzustrecken. Ich antwortete:

„Was gäbe es für einen Grund, dies nicht zu dürfen?“

„Die Feindschaft!“

„Welche Feindschaft? Ich kenne keine.“

„Auch ich kannte sie nicht; nun aber habe ich sie kennengelernt. Old Shatterhand ist in Beziehung auf das Denkmal unser Gegner!“

„Vielleicht Gegner, keineswegs aber Feind. Ich habe Kolma Putschi geachtet, geliebt und bewundert, so lange ich sie kenne, und werde ihr diese Freundschaft bewahren, so lange ich lebe. Ich bitte um ihre Hand, die so kühn und tapfer sein konnte und doch so mild und so edel zu gleicher Zeit.“

Da wurde ihr Gesicht wie heller, warmer Sonnenschein, der aus jedem Fältchen zu mir ausstrahlte. Wir reichten uns die Hände. Ich zog sie fest an mich heran und küßte sie auf die lieben, guten, einst so tieftraurigen Augen. Dann nahmen wir beieinander Platz, um das durch mein Kommen unterbrochene Gespräch fortzusetzen. Da sah und hörte ich denn, daß Kolma Putschi im Verlauf der letzten Jahrzehnte viel, sehr viel gelernt hatte. Sie war mit Young Surehand und Young Apanatschka, ihren Enkeln, geistig emporgewachsen, aber leider nicht über die Anschauungen und Ansichten dieser Enkel hinaus. Sie schwärmte für die geplante, rein äußerliche Winnetou-Apotheose, und sie war überzeugt gewesen, daß ich und das Herzle ganz ebenso schwärmen würden. Als Meinungsverschiedenheiten und Spaltungen entstanden, hatte sie geglaubt, daß es nur unseres Kommens bedürfe, um diese Konflikte zu lösen. Sie war in den letzten Tagen nicht hier gewesen und erst mit Old Surehand und Apanatschka zurückgekehrt. Da hatte sie dann alles erfahren, daß wir angekommen seien, daß man uns abstoßend und geringschätzig behandelt habe und daß uns aber von Tatellah-Satah die große Genugtuung bereitet worden sei, von ihm persönlich nach dem Schlosse abgeholt zu werden, um dort als seine besonderen Gäste in seiner Nähe zu wohnen. Das hatte die Spaltung zwischen Oberstadt und Unterstadt erweitert. Man befürchtete in der Unterstadt, daß nun grad Old Shatterhand, den man hatte auf die Seite schieben wollen, sich in der Denkmalsfrage das entscheidende Wort anmaßen werde, und das hatte Old Surehand und Apanatschka veranlaßt, zu erklären, daß sie fest entschlossen seien, mich in meiner Wohnung bei Tatellah-Satah nicht aufzusuchen. Kolma Putschi aber hatte es nicht über das Herz gebracht, in derselben Weise schroff zu sein. Sie hatte sich bei dem „Bewahrer der großen Medizin“ anmelden lassen, um ihn um die Erlaubnis zu bitten, uns bei ihm besuchen zu dürfen, und er hatte sehr gern eingewilligt. Nun hatten die beiden Frauen während meiner Abwesenheit schon stundenlang beisammen gesessen und inniges Wohlgefallen aneinander gefunden. Das war zwar nur eine kurze Zeit, aber dem Herzle schien es trotzdem schon gelungen zu sein, ihrer Gastin das zu geben, was diese von ihr erwartete. Der Brief, den Kolma Putschi zu uns hinübergeschrieben hatte, schloß bekanntlich mit den Worten: „So komm also, und bring mir Deine Menschenliebe, Deine Herzensgüte und – – – Deinen Glauben an den großen, gerechten Manitou, den ich gern ebenso deutlich fühlen möchte, wie Du, meine Schwester, ihn fühlst.“ Diese Liebe, diese Güte und dieser Glaube, sie waren jetzt da. Was ich als Mann in scharfem Tone hätte sagen müssen, das hatte das Herzle in freundlicher Eindringlichkeit gesagt. Als ich jetzt kam, war Kolma Putschi schon mehr als halb zu unserer Ansicht herüberbekehrt, und es bedurfte nur noch weniger Worte, um ihr meine Ansichten und Entschlüsse zu präzisieren. Als sie mich bat, doch nach der Unterstadt zu kommen und Old Surehand und Apanatschka aufzusuchen, antwortete ich:

„Das darf ich nicht. Ich bin Gast Tatellah-Satahs, und wer ihn meidet, den habe auch ich zu meiden.“

„Steht es so, wirklich so?“ fragte sie besorgt.

„Ja, so!“ bestätigte ich. „Nach den Gesetzen der roten Männer ist das Haus meines Wirtes auch mein Haus. Wer es verachtet verachtet auch mich!“

„Verzeih! Wenn du von Verachtung sprichst, so irrst du dich. Niemand wird es wagen, dich zu verachten!“

„Falsch! Nicht ich bin es, der sich irrt. Ich wurde eingeladen, dem Mount Winnetou zu kommen. Ich kam. Man hatte mich zu empfangen, mich zu begrüßen, mich willkommen zu heißen. Wer das getan? Niemand kam zu mir. Ich wurde aufgefordert, zu euch kommen, euch nachzulaufen. Nun sollst du die Antwort hören, ich euch hierauf erteile.“

Das Herzle gab mir einen heimlichen Wink, doch nicht in energischen Ton zu sprechen; es war ja doch eine Frau, die ich vor mir hatte. Ich aber wußte gar wohl, was ich wollte, und fuhr in der Weise fort:

„Ich bitte Kolma Putschi, zu Old Surehand und Apanats gehen und ihnen zu sagen, daß ich sie für morgen zum Mittagessen zu mir einlade, hierher, in meine Wohnung. Es werden auch noch Personen geladen sein, doch wer sie sind, das weiß ich jetzt nicht.“

Da wurde ihr Gesicht noch ernster, als es so schon war.

„Du meinst, daß meine Söhne kommen werden?“ fragte sie.

„Ich hoffe es!“

„Zu Mittag?“

„Genau zu Mittag, keine Minute später.“

„Und wenn sie nicht kommen?“

Bei dieser Frage waren ihre Augen in größter Spannung auf mich gerichtet. Ich antwortete:

„So nehme ich das als die größte Beleidigung, die mir widerfahren ist; der Kampfplatz wird sofort abgesteckt, und die Kugeln werden sprechen!“

„Zwischen solchen Freunden, wie ihr gewesen seid?“

„Ein Freund, der mich beleidigt, ist schlimmer als ein Feind! Sag ihnen das! Teile ihnen mit, daß ich zwar grau geworden, aber noch immer der Alte bin! Wenn sie nicht kommen, schießen wir uns. Und dann wird euer ganzes Komitee zum Teufel gejagt und ein anderes, würdigeres gewählt. Winnetou war Häuptling der Apatschen. In welcher Weise er zu ehren ist, darüber haben nur Apatschen zu bestimmen!“

„Wenn Old Shatterhand droht, so ist das, was er droht, so sicher und gewiß, als sei es bereits geschehen. Du sprichst im Ernst?“

„Im vollsten Ernst! Weshalb hat Winnetou gelebt? Weshalb ist er gestorben? Etwa um einen jungen Maler und einen jungen Bildhauer berühmt zu machen? Und wie haben diese beiden unerfahrenen Leute ihn dargestellt? Wo ist sein Geist, wo seine Seele? Jeder Cowboy, Runner, Loafer oder Tramp kann genau in derselben Rowdy-Pose stehen wie die tönerne Figur da unten, von der man uns sagte, daß sie Winnetou bedeute! Bitte, liebes Herzle, zeige ihr einmal einen anderen Winnetou, nämlich den unseren!“

Meine Frau ging, den betreffenden Koffer zu öffnen, und brachte die photographischen Abzüge, welche sie daheim gemacht hatte. Als ich zu ihr trat, um den betreffenden herauszusuchen, benutzte sie diese Gelegenheit, mir leise zuzuraunen:

„Sei doch gut! Nicht so grob! Sie weint ja beinahe! Sie ist doch nicht schuld daran!“

„Mehr als du denkst!“ antwortete ich ebenso leise. „Sie versteht nichts von Kunst und vergöttert ihre Enkel. Laß mich nur!“

.Ich habe schon früher gesagt, daß ich den Sascha Schneiderschen, zum Himmel strebenden Winnetou mitgebracht hatte. Wir besaßen mehrere Abzüge davon. Ich nahm einen und befestigte ihn mit vier Nadeln an die Wand; dann brannte ich die Lampe an, denn es war inzwischen fast dunkel geworden. Das Licht fiel von beiden Seiten auf das Bild. Das Kreuz, welchem Winnetou entgegenschwebt, begann zu leuchten.

„Das ist unser Winnetou“, sagte ich, „nicht der eurige. Schau dir ihn an!“

Sie hob die Augen und sagte nichts. Sie trat näher hinzu und sagte nichts. Sie trat wieder zurück, Schritt um Schritt, und sagte nichts. Dann, an der gegenüberliegenden Wand angekommen, ließ sie sich in sitzende Stellung nieder, hielt ihre Augen unablässig auf das Bild gerichtet und sagte noch immer nichts. Aber in ihrem Gesichte glänzte der Schein einer höheren Freude. Es war etwas seelisch Schönes und seelisch Glückliches über sie gekommen, was sie nicht verstand und nicht zu deuten wußte. Da bewegte sich der Türvorhang neben ihr, und es trat jemand herein, dessen Kommen wir am allerwenigsten erwartet hatten, nämlich Tatellah-Satah. Er hatte mir vollständige Freiheit gewährt und sich vorgenommen, mich so wenig wie möglich zu stören; nach der heutigen Entdeckung aber und nach dem Bericht, den Intschu-inta ihm höchstwahrscheinlich erstattet hatte, war es ihm Bedürfnis gewesen, mich aufzusuchen, um Näheres zu erfahren. Er sah das Bild, blieb unter der Türe stehen und beobachtete es mit immer größer werdenden Augen. Dann trat er herein in das Zimmer, schritt langsam näher und näher, wich wieder zurück, tat einige Schritte vorwärts, während in seinem Gesicht die Gedanken kamen und gingen. Seine Augen leuchteten mehr und mehr. Es kam ein frohes Erkennen über ihn.

„Uff, uff!“ rief er endlich aus. „Das ist Winnetou? Der wirkliche Winnetou? Also unser Winnetou?“

Ich nickte.

„Aber nicht sein Körper, sondern seine Seele!“ fuhr er fort. „Sie schwebt zum Himmel! Ueber ihm das Kreuz! ähnlich dem Passiflorenkreuz, welches er in meinem Haus und in meinem Herzen pflanzte! Seinem Haar entfällt die Häuptlingsfeder! Das letzte Irdische, was noch an ihm haftete! Nun ist er erlöst! Nun ist er frei! Wie schön, wie schön!“

Er stand wie verzückt. Seine Lippen bewegten sich, doch hörte man die Worte nicht, die ihnen entschlüpfen wollten. Erst nach einiger Zeit sprach er laut:

„Das ist er; ja, das ist er! Könnten wir ihn unsern Völkern doch so zeigen, wie wir hier ihn sehen! Könnten wir ihm doch ein Denkmal setzen, welches ihn genauso gibt, wie ich ihn in diesem Augenblick empfinde – als Seele!“

„Das können wir!“ antwortete ich.

„Wirklich?“ fragte er.

„Ja! Das können wir, und das werden wir!“

„Unmöglich!“

„Warum unmöglich?“

„ihn als Seele zu zeigen? In Erz, in Marmor oder in sonstigem Gestein?“

„Nicht in Erz und nicht in Stein! Und doch höher und herrlicher ragend als die steinerne Gestalt, welche sich auf dem Mount Winnetou erheben soll!“

„Ich verstehe dich nicht!“

„Du wirst mich verstehen. Vielleicht schon morgen. Komm! Setz dich! Ich habe dir noch mehr zu zeigen.“

Er folgte dieser Aufforderung. Da erhob Kolma Putschi sich von ihrem Platz. Sie hatte ihr erstauntes Schweigen bis jetzt beibehalten; nun aber sagte sie, sich an mich wendend:

„Old Shatterhand hat gesiegt, wie immer. Doch nicht allein. Sondern mit seinem Freund und Bruder Winnetou.“

Bei diesen Worten deutete sie auf das Bild und fuhr dann fort:

„Freilich, einen solchen Winnetou bringt weder Young Surehand noch Apanatschka fertig! Ich gehe jetzt. Ich werde deine Einladung zum Mittagessen überbringen, und ich hoffe, sie stellen sich ein, die du zu sehen wünschest. Würdest du ihnen deinen Winnetou zeigen?“

„Wenn sie ihn zu sehen wünschen, ja.“

„So lebt wohl! Ich wußte bisher nicht, daß es Bilder gibt, die mächtiger und eindringlicher predigen, als Worte predigen können!“

Sie ging.

Ja, sie hatte bisher nicht geahnt, welche eine Sprache die wahre Kunst besitzt. Ich aber wußte es. Und darum hatte ich ihr dieses Bild gezeigt, für dessen Stimme in ihrem Herzen die tiefste Resonanz zu hoffen war. Sie hatte ihn ja persönlich gekannt, den es darstellte. Sie hatte ihn verehrt und geliebt. Und sie hatte es ihm zu verdanken, daß ihr einst so freudeloses Leben eine so unerwartete Wendung zum Glück genommen hatte. Da konnte sein Bild ja ganz unmöglich ohne Wirkung auf sie sein. Und diese Wirkung nahm sie jetzt mit sich heim. Meine Strenge war berechnet, und ich erwartete, daß diese Rechnung stimmen werde. Als sie sich entfernt hatte, begann Tatellah-Satah:

„Ich komme, um dich über deine Höhlenforschung zu hören und dir sodann die Bibliothek zu zeigen, aus welcher die Karte gestohlen worden ist. Doch sprechen wir vorher erst über dieses Bild. Hast du vielleicht nur dieses eine? Dann darf ich den Wunsch nicht aussprechen, den ich hege.“

„Ich besitze mehrere.“

„So bitte ich dich, mir eines davon zu schenken!“

„Nimm dieses hier! Es ist dein!“

„Ich danke dir! Ist es nicht sonderbar, daß Old Shatterhand immer der Gebende ist, so oft er zu seinen roten Brüdern kommt? Was er von ihnen bekommt, ist wenig, denn sie sind arm. Was aber er gibt, das sind innere Reichtümer, für die es keine äußere Bezahlung gibt. Wenn ich in dieser Weise von Old Shatterhand spreche, so meine ich nicht ihn allein, sondern das Bleichgesicht überhaupt, dem wir von jetzt an nur noch Gutes zu verdanken haben werden. Glaubst du, mit diesem Bild die Gegner zu besiegen?“

„Nicht mit Winnetous Bild, sondern durch Winnetou selbst. Das Bild soll nur der Schlüssel sein, der mir die Herzen und das Verständnis öffnet. Während die da unten am Schleiersee am Monument bauen, lasse auch ich bauen.“

„Was?“

„Auch eine Figur, eine Winnetoufigur. Aber unendlich größer, schöner und edler, als sie je ein Künstler herstellen könnte.“

„Und wer baut sie? Du?“

„Ich? O nein! Wenn kein Künstler das vermag, so vermag ich es doch noch viel weniger! Der Baumeister, der Bildhauer ist Winnetou selbst! Und sein Werk ist ein Meisterwerk. Es ist schon vollendet. Ich brauche es nur aufzustellen.“

„Wo hast du es?“

„Hier, im Nebenzimmer. Ich grub es aus. Am Nugget-tsil. Es ist sein Vermächtnis. Es sind die Manuskripte, welche er schrieb. Laß also die Surehands und die Apanatschkas da unten am Wasserfall bauen! Wir bauen auch! Hier oben, bei dir, im Schlosse. Wessen Bau eher fertig wird und welcher der wertvollere ist, das wird sich finden! Ich bitte dich um die Erlaubnis, morgen ein Mittagessen zu geben. Punkt zwölf. Ich ließ Old Surehand und Apanatschka durch Kolma Putschi laden.“

„Uff! Die kommen nicht!“

„Sie kommen! Denn ich ließ ihnen sagen, daß ich, falls sie mich durch Absage beleidigen, die Kugeln sprechen lassen werde.“

„So kommen sie!“

„Ich lade alle deine Häuptlinge dazu. Auch Athabaska und Algongka, Wagare-Tey, Avaht-Niah, Schako Matto und andere. Nur dich nicht. Denn du hast höher zu stehen, als alle die, welche ich nannte.“

„Tue, was dir beliebt: du weißt, daß du Herr hier bist. Sag‘ Intschu-inta alles, was du brauchst, besonders die Speisen, welche du wählst. Er wird dir alles besorgen. Darf ich fragen: Wozu dieses Mittagessen?“

„Erstens, um Old Surehand und Apanatschka herbeizuzwingen. Zweitens und hauptsächlich aber, um mit diesen Häuptlingen allen das zu bilden, was die Bleichgesichter als einen Lesezirkel bezeichnen. Sie haben täglich des Abends hier oben im Schloß zu erscheinen. Du übernimmst den Vorsitz, und ich lese vor, was Winnetou geschrieben und allen roten, weißen und anderen Menschen hinterlassen hat.“

„Uff, uff! Vortrefflich, vortrefflich!“ rief der „Bewahrer der großen Medizin“ aus.

„In diesen Papieren ist sein Geist und ist seine Seele enthalten. Während ich lese, tritt aus ihnen seine klare, reine, edle und wahrhaft große Persönlichkeit hervor. Im Innern des Zuhörers bildet sich die seelische, also die wirkliche, die wahrheitstreue Figur meines und deines Winnetou. Und wer diese in sich fühlt, wer sie geistig gesehen und begriffen hat, der ist für das Komitee und für Mr. Okih-tschin-tscha alias Antonius Paper verloren. Stimmst du mir bei?“

Er reichte mir die Hand und sprach:

„Ich bin von ganzem Herzen einverstanden! Zwar kenne ich das, was unser Winnetou geschrieben hat, nicht wörtlich, aber er hat mich oft einen Blick in diese Gedanken tun lassen, und so vermute ich, daß der von dir vorgeschlagene Weg wahrscheinlich ohne häßlichen Kampf zum Frieden führt. Also, ich bin einverstanden.“

„So nimm dein Bild, und erlaube mir, dir noch ein zweites zu zeigen.“

Ich gab ihm das erstere und steckte einen großen Abzug von Marah Durimeh an dessen Stelle. Kaum sah er diesen, so erhob er sich von seinem Sitz und rief aus:

„Wer ist das? Bin das ich? Ist das meine Schwester? Ist es meine Mutter? Oder eine Ahne von mir?“

„Es ist Marah Durimeh, von der ich dir noch viel erzählen werde.“

„Du sagst Marah Durimeh. Ist das gleichbedeutend mit unserer Königstochter Marimeh?“

„Ja; doch davon später. Da wir einmal hier bei den Bildern sind, zeige ich dir noch ein drittes.“

Ich steckte neben Marah Durimeh einen Abzug von Abu Kital an die Wand. Es war ein ganz eigentümlicher Eindruck, den dieses Porträt auf Tatellah-Satah machte. Er sah es starr an, schloß hierauf die Augen, dachte nach und sagte dann, ohne die Augen zu öffnen:

„Den kenne ich! Den hat mir Winnetou beschrieben. Und dabei sagte er mir, er habe diese Beschreibung von dir! Das kann nur der Gewaltmensch sein, dessen bloßer Anblick schon dem Herzen weh tut! Du hast ihn Abukal genannt.“

„Richtig! Nur der Name ist falsch. Er heißt Abu Kital, nicht Abukal. Ich habe mit Winnetou oft über ihn gesprochen.“

„Ich kann ihn nicht ersehen, bitte dich aber doch, ihn später einmal genau betrachten zu dürfen.“

„Nimm ihn mit. Nimm auch Marah Durimeh mit. Du kannst sie beide behalten; ich habe mehrere Exemplare.“

„So schlage sie mir ein, und gib sie mir!“

Ich tat dies. Erst als er sie in der Hand hatte, öffnete er die wieder und sprach:

„Ich gehe; ich nehme sie mit, alle drei. Sie halten mich in Gedanken fest. Ich bin ihr Gefangener. Nun fehlt mir für heut die Zeit, dir die Bibliothek zu zeigen. Ich werde es morgen tun oder später. Also, sprich mit Intschu-inta über alles, was du zum Mittagessen brauchst! Ich gehe.“

Es war ein eigentümliches Gefühl, welches er uns zurückließ Unsere Photographien hatten gar nicht den Zweck gehabt, in dem Mount Winnetou genommen zu werden, und nun schien uns hier von Wichtigkeit zu sein. Für das Herzle aber gab es zunächst noch viel größere Wichtigkeiten, und es versteht sich ganz von selbst daß sich diese alle auf das morgige Mittagessen bezogen. Die Einladung war von mir ausgegangen; darum fühlte sie sich als Wirtin. Sie war der Ansicht, daß sie mit Intschu-inta den Speisezettel besprechen habe. Sie ließ also den riesigen Diener kommen. Das machte mir Spaß. Als er sich einstellte, gab er uns vor allen Dingen die Versicherung, daß von allem, was wir brauchten, Fleisch, Mehl und anderes, mehr als genug vorhanden sei. Das klang so tröstlich, daß das Herzle Mut bekam. Sie stellte ein Menü auf. Eine Suppe Schaumklößchen, Huhn, Fisch, Braten, Kochfleisch, Salat, süße Speise, Käse usw. Vor allen Dingen lag ihr sehr viel an einem Ragout von Wildbret und einem Flammeri von Gries mit Beerensaue. Intschu-inta hörte andächtig zu und nickte zu allem. Er hatte alles; er wußte alles; er kannte alles; und er versprach alles. In Wahrheit ab wurde sein Gesicht immer länger und länger. Als sie die verschiedenen Gewürze erwähnte und dabei nach einer Peppermill fragte versicherte er, daß mehr als zwanzig Stück vorhanden seien. Da strahlte sie vor Vergnügen.

„Hörst du, es ist alles, alles da!“ jubelte sie. „Das wird ein Essen, mit dem ich Ehre einlege!“

„Liebes Herzle, willst du dir diese schönen Sachen nicht vielleicht erst einmal zeigen lassen?“ fragte ich.

„Ja, das werde ich!“ antwortete sie. „Aber du darfst nicht dabei sein!“

„Warum nicht?“

„Ich brauche dich nicht! Topfgucker verderben den Brei?“

„So gehe hin und koche! Meine Wünsche begleiten dich bis in die Küche!“

„Ich danke dir! Leb‘ wohl! Ich komme bald wieder.“

Sie entfernte sich froh-elastischen Schrittes. Intschu-inta folgte ihr. Aber ehe er ganz hinaus war, drehte er sich noch einmal um und warf mir einen derart hilflosen und verlegenen Blick zu, daß ich mir Mühe geben mußte, nicht laut aufzulachen. Nach einer Stunde brachte man mir das Abendbrot. Das Herzle ließ mir sagen, ich solle allein essen; sie käme noch nicht. Nach wieder einer Stunde schickte sie Intschu-inta und gab mir durch ihn die Nachricht, daß sie noch zwei Stunden brauche, um fertigzu werden. Ich wollte ihn fragen, um Näheres zu erfahren; aber er verschwand so schnell, daß ich gar nicht zu Wort kam. Ich las in Winnetous Manuskripten. Als die zwei Stunden vorüber waren, erklang hinter mir von der Tür her die Stimme meiner Frau:

„Geh‘ immer schlafen, wenn du müde bist! Ich habe noch längere Zeit zu tun!“

Ich drehte mich schnell nach ihr um, sah aber nur noch den Vorhang wackeln; sie selbst war schon wieder fort. Ich wartete noch eine Stunde; dann ging ich nach Winnetous Schlafzimmer und legte mich nieder. Wie lange ich geschlafen hatte, das weiß ich nicht. Da wachte ich auf. Ich fühlte ihre frische, gesunde Körperatmosphäre. Sie war da. Sie stand unter der Tür, die von meinem Zimmer nach der Wohnung von Winnetous Schwester führte, die jetzt die ihrige war. Ich räusperte mich. Da fragte sie:

„Bist du wach?“

„Ja; soeben erst aufgewacht“, antwortete ich. „Wieviel Uhr ist es?“

„Gleich drei Uhr.“

„Und so lange warst du in der Küche?“

„Ja; aber das ist gar keine Küche, sondern etwas ganz anderes, was ich dir am Tag zeigen muß. Es ist hier alles kolossal –.“

„Wie steht es mit der Schaumklößchensuppe?“

„Die gibt es natürlich nicht.“

„Mit dem Wildbretragout?“

„Auch nicht.“

„Mit dem Griesflammeri in Beerensauce?“

„Höre, ich glaube gar, du willst mich hänseln!“

„Und mit den zwanzig Peppermills?“

„Bitte, sei still! Du bist ein höhnischer Charakter! Ein abstoßender, unsympathischer Mensch, vor dem man sich in acht zu nehmen hat! Ist das der Lohn dafür, daß ich mich so redlich plage, um deinem Mittagessen Ehre zu machen? Bedenke doch: Neun Indianerinnen und vier Indianer in dem großen, riesigen Gewölbe, welches man hier als Küche zeigt! Was haben die rennen, laufen und arbeiten müssen! Und was werden sie noch zu arbeiten haben, bis das Essen beginnen kann! Es wird großartig! Ich backe sogar Pfannkuchen. Es ist alles dazu da! Nun aber gute Nacht!“

„Auf wie lange?“

„Auf nur zwei Stunden. Bis fünf Uhr. Dann muß ich wieder fort Alle dreizehn Personen sind wieder bestellt.“

„Mein armes Herzle!“

„O bitte! Hier gibt es gar nichts zu klagen! Ich fühle mich unendlich glücklich, für so viele und so berühmte Indianerhäuptlinge kochen, braten und backen zu dürfen! Niemals hätte ich mir das träumen lassen! Also, gute Nacht!“

Sie zog sich in ihre Wohnung zurück, und ich schlief wieder ein Als ich erwachte, war es schon später Morgen, und auf meiner Decke lag ein vom Herzle geschriebener Zettel, dessen Zeilen folgendermaßen lauteten: „Ich bin seit 5 Uhr munter. Es geht alles prächtig. Das Essen wird großartig. Du kannst schlafen bis halb 12. Da komm ich, dich zu wecken. Mit dem Speisesaal bin ich fertig; er steht bereit. Solltest du eher aufwachen, so inspiziere ihn, ob vielleicht etwas fehlt. Ueber die Gäste haben wir nichts Bestimmtes besprochen; darum hat ich an deiner Stelle alles eingeladen, was Häuptling heißt. Ist das ein Fehler? Zu essen haben wir genug. Es gibt sogar chinesischen Tee aus gerösteten Erdbeerblättern und einen ganzen Haufen Corn-Salad aus wildgewachsenen Rapunzeln. Dein Herzle.“

Das war so echt Klara! Alle Sorge nimmt sie mir ab. Ich soll womöglich nichts weiter tun als essen, trinken und schlafen, damit ich so lange wie möglich lebe. Ich stand schnell auf und rief Intschu-inta. Als er kam, teilte er mir mit, daß zwei Weiße da seien, die seit einer Stunde auf mich warteten.

„Zwei Weiße?“ fragte ich. „Ich denke, es ist Weißen verboten, hierher zu kommen!“

„Sie sind Freunde von Okih-tschin-tscha. Der hat es ihnen erlaubt.“

„Ah so! Haben sie ihre Namen genannt?“

„Ja; sie sind Brüder und heißen Enters.“

„Die kenne ich. Wo sind sie?“

„Noch im Hof. Soll ich sie heraufbringen?“

„Nein. Ich gehe hinunter. Was tut meine Frau? Wo steckt sie jetzt?“

„Noch immer in der Küche; da gebietet sie wie eine Königin; da strahlt sie wie eine Sonne, und da arbeitet sie wie das ärmste Weib eines Coyoteindianers. Sie hat heute früh eine Gehilfin bekommen, über die sie sehr glücklich ist.“

„Wen?“

„Aschta, die unvergleichliche Frau Wakons, des berühmten Medizinmannes der Sioux. Diese hatte unten im Lager gehört, daß Old Shatterhands Squaw es übernommen habe, die Wirtin unserer heutigen Gäste zu sein, und ging sofort herauf zu ihr, um sie zu bitten, ihr helfen zu dürfen. Nun werden es zwei Wirtinnen sein, eine europäische und eine indianische, die sich vorgenommen haben, die Bedienung der Häuptlinge selbst zu überwachen. Doch schau, wer kommt da unten?“

Wir standen am Fenster. Er zeigte nach der Unterstadt. Dort war ein Zug von vielleicht hundert Indianern angekommen, in Leder gekleidet und wie es schien, sehr gut beritten. Welchem Stamm sie angehörten, konnten wir nicht erkennen. Sie hielten sich dort nicht auf, sondern wendeten sich nach der oberen Stadt. Eine hochgewachsene, stolz zu Pferde sitzende Gestalt ritt ihnen voran. Ich hatte keine Zeit, sie weiter zu beobachten, denn die Brüder Enters warteten auf mich. Als ich in den Hof kam, hatten sie sich um möglichst wenig beachtet zu werden, in einen abgelegenen Winkel zurückgezogen. Hariman freute sich, mich zu sehen; das war ihm anzumerken. Sebulon war zurückhaltender wie immer.

„Ihr seid gewiß überrascht, uns hier zu sehen, Mr. Burton“, sagte der erstere. „Wir können keine langen Reden halten, denn niemand da unten soll wissen, daß wir mit Euch verkehren. Warum habt ihr Euch am dunklen Wasser nicht von uns sehen lassen?“

„Weil wir schneller fort mußten, als wir gedacht hatten“, antwortete ich. „Sind die vier Stämme noch dort?“

„Heut‘ nicht mehr; sie sind unterwegs. Sie kommen in drei Tagen hier an.“

„Wie stark?“

„Ueber viertausend Reiter.“

„Wo verstecken sie sich?“

„In einem fern von hier liegenden Tal, welches das Tal der Höhle heißt.“

„Kennt Ihr es?“

„Nein. Wir werden es aber heut schon aufsuchen, um später zu wissen, woran wir sind. Die Hauptsache war, uns bei Euch anzumelden.“

„Wie kommt es, daß man Euch zugelassen hat? Man wollte doch keine Weißen hier dulden!“

„Wir waren an Mister Antonius Paper empfohlen.“

„Von wem?“

„Von Kiktahan Schonka. Da ließ man uns passieren.“

„Wo haltet ihr euch jetzt auf?“

„Eben bei Antonius Paper, dem Schurken!“

„Was? Wie? Schurke? Wie kommt ihr dazu, ihn so zu nennen?“

„Weil er einer ist! Wir kamen hierher, um ehrlich gegen ihn zu sein. Wir richteten alles an ihn aus, was uns von Kiktahan Schonka anvertraut worden war. Er tat, als sei er unser allerbester Freund. Er veranlaßte uns sogar, bei ihm zu bleiben. Dann aber belauschten wir ihn im Gespräch mit dem Agenten Evening, und da erfuhren wir, daß er der größte Schuft ist, den es geben kann. Denkt Euch, Mister Burton, wir beide sollen von Kiktahan Schonka, Paper und Evening ausgenutzt werden, ohne etwas dafür zu bekommen. Ja, noch schlimmer: Wenn man uns nicht mehr braucht, sollen wir auf die Seite geschafft werden und verschwinden. Ist so etwas zu denken?“

„Ich denke es mir nicht nur, sondern ich weiß es schon längst. Ich weiß sogar noch mehr. Nämlich Paper und Evening werden von dem alten Kiktahan Schonka ebenso betrogen wie ihr. Auch sie sollen verschwinden, wenn der große Streich gelungen ist. Die verbündeten Häuptlinge wollen nichts geben, sondern alles für sich behalten.“

All devils! Da seid Ihr ja der einzige ehrliche Mensch, den es hier gibt! Wir stecken mitten zwischen Lügnern und Verrätern! Gebt uns guten Rat, Mister Burton; wir brauchen ihn!“

Was ich ihnen riet, versteht sich ganz von selbst. Sie sollten bei Paper bleiben, die Augen offen halten und mir alles mitteilen, was sie beobachteten. Das weitere würde sich dann finden. Als sie fortgingen, war ich ihrer bedeutend sicherer als vorher. Doch ehe sie sich entfernten, fragte Sebulon in etwas zaghafter Weise:

„Darf ich erfahren, wie es Mistreß Burton geht?“

„Ich danke“, antwortete ich. „Sie befindet sich sehr wohl. Sie spricht oft von Euch.“

„Wirklich, wirklich?“

„Ja. Ich glaube sogar, sie hat Euch gern.“

Da nahm sein Gesicht einen ganz eigentümlichen, glücklichen Ausdruck an, der alles Schlimme, was sonst von ihm zu denken war, vergessen ließ. Seine Lippen bewegten sich, als ob er noch etwas sagen wollte, doch wurde es nicht laut.

Als sie zum Tor hinaus wollten, mußten sie zur Seite treten. Ein Reiter kam herein. Ich erkannte den hohen stolzen Mann, der den vorhin angekommenen Indianern vorangeritten war. Er beachtete die Brüder nicht, kam bis zu mir herangeritten, schaute mich an und sagte in kurzer, bestimmter Weise:

„Noch sah ich dich nie! Aber du bist Old Shatterhand?“

„Der bin ich“, antwortete ich.

„Ich komme direkt zu dir, zu keinem andern. Ich hörte, daß du hier oben wohnst. Daß meine Squaw bei der deinen sei. Ich kam soeben an. Ich bin Wakon. Ich bringe euch die auserlesene Jugend meines Stammes.“

In seinem Gesicht strahlte die Freude des Erkennens. Er schwang sich vom Pferd und begrüßte und umarmte mich wie einen alten, sehr lieben und sehr werten Bekannten.

„Ich bin dein Freund“, fügte er hinzu. „Laß mich dein Bruder werden. Zeig‘ mir deine Squaw und auch die meine, damit ich beide begrüße!“

Ich hatte keine Ahnung, wo die sogenannte Küche zu suchen war. Zum Glück erschien in diesem Augenblick unser riesiger Intschu-inta, der uns nach der richtigen Stelle brachte. Das war im Parterre, hinter einer großen, offenen Halle. Man sah uns kommen. Da traten sie heraus, die beiden, die wir suchten: das Herzle, die Ärmel aufgeschlagen und die beiden Arme bis an die Ellbogen mit Teig beklebt, und Aschta, die Mutter, auch beide Ärmel aufgeschlagen, die Arme aber glänzend von Backfett, Salat und ähnlichen guten Dingen. Wir lachten alle vier. Eine gegenseitige Berührung war unmöglich. Darum nahm die Begrüßung einen weniger intimen Verlauf, worauf wir beiden Männer unsere Frauen ihrem schmackhaften Beruf zurückgaben.

Intschu-inta nahm das Pferd des Medizinmannes in Verwahrung. Ich aber hielt mich für verpflichtet, Wakon zunächst zu Tatellah-Satah zu führen. In seinem Haus angekommen, hörten wir, daß er sich in der Bibliothek befinde. Diese lag im zweiten Haus. Ich übergehe die Begrüßung dieser hochbedeutenden Männer, auch die sehr wichtige Konferenz und Aussprache, welche hierauf folgte. Dann geleitete Tatellah-Satah uns durch die sämtlichen Räume der Bibliothek und nach dem dritten und vierten Haus, wo wir den Tempel und die weit ausgedehnten Räume fanden, in denen die geheimnisvollen Zeugen vergangener Jahrhunderte und Jahrtausende untergebracht waren. Eigentlich betrachten konnten wir nichts;, dazu war die Zeit zu kurz. Es handelte sich nur um einen schnellen, allgemeinen und nur orientierenden Blick auf all die Reichtümer und Herrlichkeiten, von deren Vorhandensein die Angehörigen der außeramerikanischen Rassen gar nichts ahnten. Wenn ich „Winnetous Testament“ veröffentliche, werde ich auf diese Räume zurückkommen und habe dann Zeit, ihrer so ausführlich zu gedenken, wie sie es verdienen. Eins nur will ich erwähnen. Nämlich wir sahen im Tempel die Riesenhaut des „längst ausgestorbenen Silberlöwen“, von welcher der Medizinmann der Komantschen im „Haus des Todes“ gesprochen hat. Dieser Löwe war allerdings ganz bedeutend größer gewesen, als die jetzigen Pumas sind. Die Schrift war noch vorhanden. Daneben hing die Haut des großen Kriegsadlers, die von dem Medizinmann der Kiowas erwähnt worden war.

Wir waren mit diesem unserem Rundgange noch lange nicht zu Ende, so mußte ich Tatellah-Satah bitten, uns für heute zu entlassen. Es waren nur noch Minuten, so mußten unsere Gäste erscheinen. Es gab da zwei Punkte, an die ich mit großer Spannung dachte. Der eine war, ob Old Surehand und Apanatschka erscheinen würden oder nicht. Hierauf kam sehr viel an. Der andere Punkt betraf das Mahl und das ganze Arrangement dieses sehr wichtigen, festlichen Empfanges. In letzterer Beziehung hatte ich mich auf Intschu-inta verlassen, der von Tatellah-Satah mehr als genügend instruiert worden war. Und in ersterer Beziehung war abzuwarten, ob wir uns mit den Künsten der roten und der weißen Küchenfee blamieren würden oder nicht. Ich bat Wakon, mir beim Empfange der Gäste ebenso beizustehen, wie seine Aschta meinem Herzle im Backen und Braten Hilfe leistete. Er war gern einverstanden.

Der Empfang fand nicht in demselben Raum statt, in dem später gegessen werden sollte, sondern in dem, wo die Platte mit den Friedenspfeifen stand. Kaum hatten wir uns da eingestellt, so kamen die ersten Gäste; die anderen folgten schnell hinterher. Die beiden letzten waren – – Old Surehand und Apanatschka. Als sie eintraten, suchten sie mit den Augen nach mir. Sie sahen mich, und da brach alles, alles, was früher gewesen war, durch, und all der gegenwärtige Zwist war verschwunden. Sie eilten jubelnd auf mich zu, drückten mich wieder und wieder an sich und baten, sich zu meiner Rechten und Linken niedersetzen zu dürfen. Wie froh ich war! Ich wußte nun mit einem Mal, daß ich gewonnen hatte.

Die Pfeifen wurden gefüllt. Ich hatte die Gäste zu begrüßen. Ich tat dies in kurzer, doch herzlicher Weise. Die Zeremonie des Rauchens braucht nicht beschrieben zu werden. Ein jeder antwortete. Als das vorüber war, galt es, den Hauptgegenstand des heutigen Tages in das Auge zu fassen. Eben wollte ich aufstehen und eine hierauf bezügliche Ansprache halten, da ging die Tür auf, und wer trat herein? Tatellah-Satah, der „Bewahrer der großen Medizin“. Sobald sie ihn sahen, erhoben sich alle Anwesenden ehrerbietig von ihren Plätzen. Ich brannte schnell eine Pfeife an und gab sie ihm. Er tat die vorgeschriebenen sechs Züge der Begrüßung, gab sie mir wieder und sprach so kurz und prägnant, wie nur jemand spricht, der zu gebieten versteht:

„Ich bin Tatellah-Satah. Ihr seid die Stimmen meines über alles geliebten Volkes. Ihr sollt erklingen, und ich will hören. Der edelste aller Männer dieses Volkes war Winnetou, der Häuptling der Apatschen. Ihm soll ein Denkmal werden. Was heißt das? Der Gedanke Winnetou soll äußerlich Gestalt gewinnen. Einige von euch denken sich diese Gestalt von Erz oder Stein. Sie soll auf der kalten, einsamen Höhe des Berges stehen. Wir andern denken uns diese Gestalt von Fleisch und Blut, nicht tot, sondern lebend. Ein jeder, der zur roten Rasse gehört, soll ein Tropfen dieses warmen, edlen Blutes sein. Der Winnetou der erstgenannten wird gehämmert, gemeißelt oder gegossen. Unser Winnetou aber soll sich von innen heraus entwickeln, aus dem Herzen heraus. Die ganze rote Rasse soll sich zu einem einigen Winnetou gestalten, der hoch über allem, was niedrig ist, auf den lichten Höhen des Lebens steht. Ein Stolz für uns und eine Freude für Manitou, den Allergrößten und Allerreinsten!“

Sich nun an Old Surehand und Apanatschka wendend, fuhr er fort:

„Ihr und eure Söhne seid für den steinernen Winnetou. Ob das richtig ist oder falsch, will ich nicht allein bestimmen. Ihr selbst sollt auch mit entscheiden. Ihr laßt euern Winnetou am Wasserfall stehen, damit wir ihn sehen und bewundern mögen. Wohlan, so bitten wir euch, dasselbe tun zu dürfen. Er soll nicht nur vor euern Augen, sondern in euch selbst entstehen. Ihr sollt ihn nicht nur sehen, sondern auch fühlen und empfinden. Dann sollt ihr sie beide vergleichen, den eurigen und den unsrigen. Und ist dies geschehen, so werden wir wissen, für welchen wir uns entscheiden. Wer stimmt mir bei?“

„Howgh!“ antwortete ich.

„Howgh!“ fielen alle diejenigen ein, die bisher gleicher Meinung mit mir gewesen waren.

„Howgh!“ riefen sogar auch Old Surehand und Apanatschka, teils hingerissen von der Erscheinung und der Beredsamkeit des Alten, teils aber auch, weil sie ihn nicht ganz verstanden und darum ihr Projekt noch immer als siegreich betrachteten. Hierauf sprach Tatellah-Satah weiter:

„Ich lade euch alle ein, zu mir zu kommen, heute abend, sobald es dunkel geworden ist. Bringt auch Young Surehand und Young, Apanatschka mit, die beiden Künstler, die nur ihren steinernen Winnetou kennen, den andern, den lebendigen, aber nicht. Sie sollen die wahre Kunst kennenlernen, welche nicht darin besteht, das Irdische abzukonterfeien, sondern das Himmlische im Irdischen nachzuweisen. Sie sollen heut abend bei mir den sprechen hören, den sie daoben auf dem Berg versteinern wollen. Sie sollen erfahr er von ihnen verlangt. Und haben sie das von ihm gehört, so wollen wir sie fragen, ob sie noch darauf bestehen, uns ein totes Bild zu geben, anstatt Leben, Fleisch und Blut. Also, ich erwarte euch alle, alle. Ich habe gesprochen!“

Er winkte mit der Hand, drehte sich um und verschwand aus dem Zimmer. Niemand sprach ein Wort, so tief war der Eindruck, den er hervorgebracht hatte. Da erschien Intschu-inta und meldete, daß das Mahl bereitet sei. Das brachte wieder Bewegung in die Versammlung, welche sofort aufbrach, dem Ruf der roten und der weißen Köchin zu folgen.

Das gute Herzle überraschte mich durch zweierlei. Erstens hatte sie ihr indianisches Frauengewand angelegt, aus seidenweicher gefertigt und mit uralten Perlen und Fransen verziert. Und zweitens war das von ihr und Aschta getroffene Arrangement ein so frappantes und gelungenes, wie ich es nicht hatte erwarten können. Es waren, ohne daß ich es gemerkt hatte, sehr viele Hände tätig gewesen, den Raum zu einem indianisch festlichen zu gestalten, und das Mahl war geradezu raffiniert bereitet und zusammengestellt, wenn es auch dabei Genüsse gab, über die ein englischer oder französischer Koch die Hände über den Kopf zusammengeschlagen hätte. Aber grad das, was ich für am gewagtesten hielt, das aßen die Häuptlinge am liebsten. Wenn mir angst über ein neues Gericht wurde, über dessen Unbefangenheit ich sehr im Zweifel war, da griffen sie am schnellsten zu. Sie fanden alles wunderbar. Was vorgelegt wurde, verschwand, als sei es nie dagewesen. Aber es wurde ergänzt. Es kam immer mehr und mehr. Es wollte gar kein Ende nehmen, bis schließlich doch der eine und der andere das Messer beiseite legte und ernstlich erklärte, daß es ihm am Atem fehle. Der rote Mann ißt gern und ißt viel. Und grad da, wo alles aufhören wollte, wurden noch ganze Berge von Pfannkuchen gebracht, mit allen möglichen und unmöglichen Dingen gefüllt. Das kam von diesem nichtsnutzigen Wesen, dem Herzle, dem es ganz gleichgültig ist, ob man an zu viel Pfannkuchen stirbt oder nicht, wenn sie einem nur gut bekommen. Und sie wurden alle! Und sie bekamen! Dann aber saßen die würdigen Häuptlinge sehr still und sehr satt nebeneinannder, und es war beiden, sowohl der roten als auch der weißen Köchin sehr deutlich anzusehen, daß sie sich in diesem Augenblick als Siegerinnen fühlten; wir aber waren die Geschlagenen.

Natürlich war die Unterhaltung während des Essens eine außerordentlich lebhafte gewesen. Kein Wunder, wenn man bedenkt, aus was für Personen und Charakteren sich die Gesellschaft zusammensetzte. Ich saß, wie bereits erwähnt, zwischen Old Surehand und Apanatschka. Was während der Zeit, in der wir einander nicht gesehen hatten, mit uns geschehen war, das hatten wir uns sehr bald in großen, allgemeinen Zügen mitgeteilt. Auch über die Frage, ob ich in Old Surehands Landhaus vorgesprochen habe und wie ich zu seinen Pferden und Maultieren gekommen sei, wurde verhältnismäßig schnell hinweggegangen. Jetzt lag ihnen vor allen Dingen daran, mich womöglich für ihr Denkmalsprojekt zu gewinnen, und so bildete dies das einzige Thema für den ganzen weiteren Verlauf des Essens. Ich aber ließ mich in nichts ein. Ich stritt mich nicht. Aber indem ich ihnen erzählte, was wir am Nugget-tsil ausgegraben hatten, bereitete ich, ohne daß sie etwas davon bemerkten, die Wirkung des heutigen Abends vor. Old Surehand und Apanatschka waren kürzlich an der Pazific gewesen, von welcher aus die Umgebung des Mount Winnetou zu verproviantieren und mit allen erforderlichen Lebensbedürfnissen zu versehen war. Auch das war ein Geschäft, bei dem man viel Geld zu verdienen hoffte. Die Verbindung mit der Bahn mußte durch einen regen Wagen- und Packtierverkehr unterhalten werden. Diesen einzurichten, war die höchste Zeit, weil die Menschenflut, die man erwartete, hier nun bald einzutreffen hatte.

Nach dem Festmahl kehrten alle in ihre Zelte heim. Nur Wakon blieb mit seiner Squaw bei uns. Wir vier hatten uns gegenseitig schnell liebgewonnen. Ihre Tochter war oben im Wachtturm bei den Arbeiterinnen, die von dem „jungen Adler“ beschäftigt wurden. Ich schlug vor, zu ihm hinaufzuspazieren. Aschta war schnell einverstanden und bat, auch den alten, guten Pappermann mitzunehmen. Wakon aber hatte den Wunsch, in Winnetous Zimmer bleiben und dessen „Testament“ durchsehen zu dürfen. Das gestattete ich ganz selbstverständlich sehr gern. Pappermann wurde gerufen; dann stiegen wir durch den Wald zu dem „Adler“ empor.

Dieser f reute sich auf richtig, als er uns sah, und führte uns auf das platte Dach seiner Wohnung. Dort gab es große Heimlichkeiten, von denen ich jetzt noch nichts erzählen möchte. Es handelte sich, soviel sah ich sogleich, um einen Flugapparat, aber um keine der bis jetzt bekannten Konstruktionen. Ich sah für heute nur zwei eigenartige flordünne Flügel im Entstehen und zwei hohle Körper, oder sagen wir, zwei enganliegende Gewänder, welche außerordentlich kunstreich aus stahlharten aber federleichten Binsen geflochten waren. Es gab hierzu einen kleinen, nicht sehr schweren aber sehr wirkungsvoll len Motor, den er sich aus dem Osten mitgebracht hatte. Das war das Paket gewesen, welches er trug, als er in Trinidad zu uns kam. Die Körper waren noch nicht fertig. Es wurde noch an ihnen gearbeitet, und zwar schien Aschta, die jüngere, sich vorgenommen zu haben, sie gänzlich fertig zu stellen.

Es war eine wunderbare Aussicht hier oben. Darum blieben wir so lange da, bis wir nicht länger warten konnten. Dann stiegen wir wieder hinab nach unserer Wohnung, wo wir Wakon so vertieft in seine Lektüre fanden, daß er es fast überhörte, daß wir bei ihm eintraten. Er legte das Heft, in dem er soeben gelesen hatte, beiseite, stand auf und sprach:

„Ja, das ist Winnetou, Winnetou selbst! Wenn wir heute abend den vorlesen, wird er sich riesengroß und riesenstark in uns erheben und alle Gegner aus dem Feld schlagen. Ich fühle ihn schon in mir, mild, ernst, rein, keusch und edel, nur aufwärts strebend zur irdisch möglichsten Vollkommenheit. Das wird ein herrliches, ein schöpferisches Entstehen in uns selbst. Davon soll meine Squaw nicht ausgeschlossen sein. Ich nehme Aschta mit!“

„Und auch mich!“ bat das Herzle. „Oder ist es uns Frauen verboten, mit anwesend zu sein?“

„Eigentlich ja“, antwortete ich. „Aber niemand wird wagen, euch zurückzuweisen. Es handelt sich nicht um eine Häuptlingsversammlung, denn Young Surehand und Young Apanatschka sind auch geladen. Wo diese sein dürfen, dürft auch ihr erscheinen.“

Eben als ich dies sagte, kam Kolma Putschi. Sie sagte uns, daß Old Surehand, Apanatschka und ihre Söhne schon bei Tatellah-Satah seien. Sie habe sich mit ihnen eingestellt, um bei uns anzufragen, ob Aschta und das Herzle gesonnen seien, sich zu beteiligen. Da wünsche sie, sich ihnen anzuschließen. Das wurde ihr ganz selbstverständlich gewährt. Ich nahm, als wir nun gingen, nur die ersten beiden der Hefte mit, die Winnetou für mich geschrieben hatte.

Als wir bei Tatellah-Satah ankamen, waren schon alle anderen Eingeladenen anwesend. Er hatte sich nach dem herrlichen Passiflorenraum bringen lassen, nach welchem er nun auch uns geleitete. Da waren aus Fellen zahlreiche Sitze bereitet. Hohe, aus dem Wachse wilder Bienen bereitete Kerzen brannten. Damit die köstliche Blütenluft nicht durch die vielen Lichterflammen verunreinigt werde, stand die in das Freie führende Treppentür offen. Für den Vorleser, der war ich, gab es einen erhöhten Sitz, zu dessen Seiten, um mir das nötige Licht zu geben, die Kerzen vervielfacht waren. Als wir eintraten, standen die Anwesenden alle auf. Daß wir unsere Frauen mitbrachten, schien ihnen ganz verständlich zu sein. Tatellah-Satah forderte sie durch einen Wink auf, ihre Sitze wieder einzunehmen. Er selbst blieb stehen, um einige Worte des Grußes und der Einleitung zu sprechen. Er erklärte den Zweck unserer heutigen Zusammenkunft und Vorlesung und forderte die Versammelten auf, ihre Augen nach innen zu richten, um die Ankunft dessen, dem dieser Abend gewidmet war, ja nicht zu übersehen. Dann begann die Vorlesung. Die ersten Zeilen lauteten:

„Ich bin Winnetou. Man nennt mich den Häuptling der Apatschen. Ich schreibe für mein Volk. Und ich schreibe für alle, die da Menschen sind auf Erden. Manitou, der Große, der Allgütige, breite seine Hände aus über dies mein Volk und über alle, die es ehrlich mit ihm meinen!“

Als diese Worte erklangen, ging eine tiefe, fast möchte ich sagen, eine heilige Bewegung durch die Versammlung.

„Winnetou!“ „Winnetou!“ „Winnetou!“ hauchte es rundum.

Ich las weiter. Ein voller, inhaltsreicher Lapidarstil war meinem unvergleichlichen roten Bruder eigen gewesen, wie stets im Sprechen, so auch hier im Schreiben. Das wuchtete. Das hob empor! Und das riß hin! Den Inhalt dessen, was ich vorlas, wird man kennenlernen, wenn das Testament im Druck erscheint. Es entstand die Seele des Knaben Winnetou, die Seele der einstmals jungen, roten Rasse. Sie entwickelte sich; sie wuchs. Die Schicksale Winnetous waren die Schicksale seiner Nation. In dem ersten Heft, aus dem ich vorlas, beschrieb er seine Kindheit, in dem zweiten sein Knabenalter. Ich saß der offenen Tür grad gegenüber. Als ich zwischen den Zeilen einmal aufblickte, sah ich eine Gestalt, welche draußen vor der Tür, im Freien, erschien. Sie kam nicht herein. Sie setzte sich draußen nieder, um zuzuhören. Die Gestalt war jung. Ich konnte ihr Gesicht nicht erkennen. Das Haar hing ihr lang und voll über den Rücken herab. War es Winnetou? Hatte er sich aus jener anderen Welt herniedergelassen, um dabei zu sein, wenn sein Vermächtnis laut zu sprechen begann?

Die Zuhörer waren bis tief in ihr Innerstes gefesselt. Ihre Augen hingen an meinem Mund. Sehr häufig erklang ein leises oder auch ein lauteres „Uff!“ Die Spannung war groß. Sie ließ nicht nach, sondern sie wuchs. Die sitzende Gestalt draußen vor der Tür regte sich nicht, so gefangen war sie von dem, was sie hörte. Ich las bis Mitternacht; da wollte ich aufhören; aber kein einziger der Anwesenden war damit einverstanden.

„Weiter, weiter!“ bat man von allen Seiten.

Wakon erbot sich, an meiner Stelle fortzufahren. Ich willigte ein. Er las und las, noch stundenlang, bis draußen der Morgen tagte und man sehen konnte, daß der vor der Tür Sitzende und so aufmerksam Zuhörende der „junge Adler“ war. Da stand ich auf und bat, Schluß zu machen; heute abend sei bessere Zeit als jetzt, in der Vorlesung fortzufahren. Nur in der Hoffnung auf dieses letztere war man einverstanden. Man erhob sich von den Sitzen. Kein einziger sprach ein Wort. Es erschien wie eine Entweihung, jetzt anderes zu sagen. Da deutete Tatellah-Satah hinaus nach dem östlichen Horizont und sprach:

„Meine Brüder mögen sehen, daß der Tag im Erscheinen ist, der junge Tag, den die Sprache der Menschen den Morgen nennt. Zur selben Zeit ist in mir und, wenn Manitou es will, in ihnen auch ein Tag erschienen, ein neuer, junger, schöner Tag, schöner als alle die Tage, die vergangen sind. Ich meine den neuen, großen, herrlichen Tag der roten Nation. Er wurde in diesen unserm Winnetou geweihten Stunden in euch geboren. Fühlt ihr ihn? Und fühlt ihr tief in euch die Seele dessen, um dessen Testament wir uns versammelten, zu erfüllen, was er uns in ihm erläutert und verheißen hat! Fühlt ihr sein Bild, welches in euch wachsen will?“

„Es ist da!“ antwortete Athabaska.

„Ja, es ist da!“ rief Aschta, die Begeisterte.

„Es ist da; es ist da!“ stimmten auch die anderen bei.

Sogar Old Surehand und Apanatschka bestätigten es. Nur ihre Söhne sagten noch nichts. Auch sie fühlten die tiefe Wirkung des Manuskriptes. Aber sie wußten, daß ihr Plan um so unausführbarer wurde, je mehr diese Wirkung sich vertiefte. Darum drängten sie das, was über ihre Lippen wollte, jetzt noch zurück.

„Und kommen meine Brüder heute abend wieder?“ erkundigte sich Tatellah-Satah. „Ich erwarte sie zu ganz derselben Zeit.“

„Wir kommen“, versicherte Algongka.

„Ja, wir kommen“, sagte Kolma Putschi, die ganz gewonnen war.

„Wir kommen; wir kommen!“ riefen alle anderen. Und dieses Mal waren auch die Stimmen der zwei jungen Künstler dabei.

So brachen wir auf und gingen heim. Bei uns angekommen, gestand das Herzle, ehe wir zur Ruhe gingen:

„Glaubst du, daß ich wirklich ein neues Wesen, eine seelische Gestalt in mir fühle, die vorher nicht vorhanden war?“

„Ich glaube es. Doch bitte, sprechen wir ja nicht in Rätseln. Es ist die Gedankenwelt Winnetous, die uns ergriffen hat und uns erobern wird, ob wir mögen wollen oder nicht. Gute Nacht, Herzle!“

„Gute Nacht! Ich glaube, wir siegen!“ – –

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