Am Mount Winnetou.

Es war ungefähr eine Woche später. Wir hatten während der letzten Nacht am unteren Klekih Toli gelagert und ritten nun am frühen Morgen an seinem Ufer aufwärts. Klekih Toli ist ein Apatschewort. Es heißt so viel wie „weißer Fluß“. Dieser Fluß hat ein bedeutendes Gefälle. Er kommt in zahlreichen Kaskaden vom Mount Winnetou herab. Der weiße Schaum dieser Kaskaden ist es, der ihm seinen Namen gegeben hat. Er ist tief eingeschnitten. Darum sind seine Ufer hoch und steil, oben mit Wald und unten mit Buschholz bewachsen. Da, wo er aus dem gewaltigen Massiv des Mount Winnetou tritt, bildet er mehrere Wasserfälle, welche ihrer Umgebung ein höchst energisches Aussehen erteilen.

Wir waren vier Personen; das Herzle, der „junge Adler“, Papperrnann und ich. Die beiden Enters hatten wir am „Dunkeln Wasser“ nicht wieder zu sehen bekommen, zumal kein besonderer Grund für uns vorhanden war, ein solches Wiedersehen herbeizuführen. Daß wir ihnen irgendwo und irgendwann wieder begegnen würden, verstand sich ganz von selbst. Kakho-Oto war am Morgen nach der Beratung im „Haus des Todes“ zu uns gekommen und hatte uns berichtet, daß im Lager der Roten nichts Besonderes geschehen sei. Sie fragte uns nicht, was wir erlauscht hätten; darum schwiegen auch wir darüber, um sie nicht mit sich selbst und ihren Stammespflichten in Konflikt zu bringen. Vor allen Dingen wurde ihr verheimlicht, daß wir uns in den Besitz der Medizinen gesetzt hatten. Je weniger Personen das wußten, um so besser war es für uns. Als wir ihr unsern Entschluß kundgaben, sofort weiter zu reiten, tat ihr diese schnelle Trennung wehe. Sie hätte uns gern begleitet, sah aber wohl ein, daß dies mehr eine Belästigung als eine Erleichterung für uns gewesen wäre und daß sie mehr und besser für uns wirken konnte, wenn sie bei den Kiowa blieb. Doch wurde verabredet, uns unter allen Umständen am Mount Winnetou wiederzusehen.

Diesem Berg waren wir jetzt nun nahe, obgleich wir ihn noch nicht sahen, der tiefen Flußrinne wegen, in der wir ritten. Es gab vom „Dunkeln Wasser“ aus einen anderen, bequemeren Weg nach dem Mount Winnetou, den wir aber vermieden hatten, weil wir annahmen, daß er unter den jetzigen Verhältnissen belebter sein werde, als wir wünschtet. Wir wollten unnütze Begegnungen vermeiden und am liebsten dort plötzlich eintreffen, ohne vorher gesehen und beachtet worden zu sein. Darum kamen wir von einer nicht gerade übermäßig wegsamen Seite her und waren nun aber doch gezwungen gewesen, nach dem Ydekih Toli einzubiegen, um nicht an unserem Ziel vorüberzugehen. Daß wir dadurch auf einen jetzt viel betretenen Weg geraten waren, bemerkten wir an den Spuren von Menschenfüßen und Pferdehufen, die uns in die Augen fielen. Und gar bald sahen wir auch einige Indianer, welche an einer Stelle, an der wir vorüber mußten, zwischen den Büschen hockten. Es waren ihrer vier. Ihre Pferde weideten am Wasser. Sie waren unbemalt und nur mit der Lanze bewaffnet, trotzdem aber sofort als Kanean-Komantschen zu erkennen. Als sie uns erblickten, richteten sie sich aus ihrer hockenden Stellung auf und schauten uns entgegen. Sie bildeten einen Posten, den man hier aufgestellt hatte, um alle, die hier vorbeikamen, zu kontrollieren. Der „junge Adler“ ritt uns voran und still grüßend an ihnen vorbei. Ihn ließen sie passieren, uns aber hielten sie an.

„Wohin wollen meine weißen Brüder?“ fragte der Älteste von ihnen.

„Nach dem Mount Winnetou“, antwortete ich.

„Was wollen sie dort?“

„Wir wollen zu Old Surehand.“

„Der ist heut nicht dort.“

„Und zu Apanatschka, dem Häuptling der Kanean-Komantschen.“

„Auch der ist nicht dort. Sie sind beide miteinander fortgeritten.“

„So werde ich dort warten, bis sie wiederkommen.“

„Das ist unmöglich.“

„Warum?“

„Es dürfen jetzt keine Bleichgesichter nach dem Mount Winnetou.“

„Wer hat es verboten?“

„Das Komitee.“

„Wem gehört der Mount Winnetou? Gehört er dem Komitee?“

„Nein“, antwortete er verlegen.

„So hat dieses Komitee auch nichts zu befehlen und nichts zu verbieten!“

Ich trieb mein Pferd zum Weitergehen an. Da griff er mir in die Zügel und sagte:

„Ich muß Euch anhalten. Ich darf Euch nicht vorüberlassen. Ihr habt umzukehren!“

„Versuche es!“

Bei diesen Worten nahm ich mein Pferd vorn hoch und schüttelte ihn ab. Die drei andern wollten Pappermann und das Herzle zurückhalten. Mein Pferd tat einen Satz mitten zwischen sie hinein und trieb sie auseinander. Pappermann rief lachend aus:

„Mich zurückweisen! Den Maksch Pappermann festhalten! Hat man schon einmal so etwas erlebt? Wer es wagt, mich anzufassen, den steche ich auf der Stelle nieder!“

Er ließ sein Maultier einige Sprünge dorthin tun, wo die vier Lanzen in der Erde steckten. Im nächsten Augenblick war ich auch dort. Zwei rasche Griffe, und die Lanzen befanden sich in unseren Händen. Er nahm die eine durch die Lederschlinge an den Arm und senkte die andere zum Stoß. Ich tat ganz dasselbe.

„So!“ lachte er. „Wer nicht erstochen sein will, der mache sich aus dem Weg! Vorwärts!“

Wir ritten weiter.

Die Komantschen waren junge Leute. Der Älteste von ihnen zählte gewiß noch nicht dreißig Jahre. Sie stammten also nicht aus der alten kriegerischen Zeit. Sie wußten vor Verlegenheit nicht, was sie machen sollten. Sie schwangen sich auf ihre Pferde und kamen hinter uns her. Sie baten uns, ihnen ihre Lanzen wiederzugeben und ja nicht weiterzureisen, sondern zu warten, bis sie uns nach vorn gemeldet hätten. Dann würden wir erfahren, ob wir unsern Weg fortsetzen dürften oder nicht. Da es nicht in unserer Absicht liegen konnte, sie vor ihren Kameraden zu blamieren, so gaben wir ihnen ihre Lanzen wieder, setzten unseren Weg aber ununterbrochen fort. Sie getrauten sich nicht mehr, dies zu verhindern, und ritten hinter uns her, denn ohne Beaufsichtigung durften sie, wie es schien, uns nicht lassen.

Nach ungefähr einer Stunde kamen wir an einen zweiten Posten, der auch aus vier Personen bestand. Diese machten denselben Versuch, uns anzuhalten. Wir weigerten uns, zu gehorchen. Die ersten vier fühlten sich jetzt stärker als vorher. Da stieg ich vom Pferd, ging zu dem Maultier, welches meinen Koffer trug, öffnete ihn, nahm die beiden Revolver nebst Munition heraus, steckte die letztere zu mir, spannte die Revolver, ging fünfundzwanzig Schritte zur Seite, zielte und gab schnell hintereinander acht Schüsse ab. Jeder der Komantschen bekam einen Ruck in den Arm, in dem er die Lanze hielt. Ich hatte alle acht durchlöchert. Ich lud wieder, kehrte dann zu meinem Pferd zurück, stieg auf und sagte:

„Jetzt habe ich nur auf die Lanzen gezielt. Von jetzt an aber ziele ich auf die Männer. Merkt euch das!“

Wir ritten weiter. Sie blieben eine kleine Weile, leise miteinander sprechend, halten; dann kamen sie hinter uns her, alle acht, ohne es aber zu wagen, sich uns mehr, als wir wünschtet, zu nähern.

Nach wieder einer Stunde erreichten wir den nächsten Posten, der ebenso wie die vorigen aus vier Mann bestand, die nur Lanzen trugen. Auch sie wollten sich uns in den Weg stellen; als sie aber sahen, daß wir begleitet wurden, wichen sie zur Seite, ließen uns vorüber und schlossen sich ihren hinter uns reitenden acht Stammesgenossen an. Das machte dem Herzle Spaß.

„Nun ist es genau ein Dutzend!“ sagte sie. „Und wir sind nur drei Männer und eine Frau! Sind das jene kühnen Rothäute, von denen man liest und erzählt? Sind das jene Komantschen, die man als die verwegensten unter allen Indianern schildert?“

„Irre dich nicht“, antwortete ich. „Sie sind jung, sind ungeübt. Gib ihnen eine Handvoll Erfahrung, so wirst du sehen, daß sie ihren Vätern nichts nachgeben. Wir haben sie einfach verblüfft; das ist alles!“

Jetzt hatten wir anderthalb Stunden zu reiten, ehe wir den nächsten Posten erreichten. Da stand eine geräumige Blockhütte, bei der zahlreiche Holzklötze lagen, die als Sessel dienen sollten. Hier waren mehr Menschen als nur vier. Ich zählte zehn: acht Indianer und zwei Weiße. Der Pferde waren ebenso viele. Den beiden Weißen schienen die Roten nicht vornehm genug zu sein. Sie hatten sich abseits von ihnen gesetzt. Sie frühstückten aus ihren Satteltaschen und tranken Brandy dazu. Die Flasche stand zwischen ihnen. Das sahen wir von weitem. Als wir aber näher kamen, erkannten wir den Irrtum: die zwei waren nicht Weiße, sondern ein Indianer und ein Halbindianer, aber so wie Weiße gekleidet, während die Komantschen die Tracht ihres Stammes zeigten. Und diese beiden waren uns nicht einmal fremd, sondern Bekannte, sehr gute Bekannte von uns. Nämlich der Halbindianer war Herr Okih-tschintscha, genannt Antonius Paper, und der Ganzindianer hatte sich uns als Mr. Evening vorgestellt, Agent für alles mögliche. Neben ihnen lagen ihre Flinten und einige geschossene Vögel. Sie schienen sich also auf einer Jagdpartie zu befinden.

Sie sprangen beide auf, als sie uns erkannten.

„Halloo, Halloo!“ rief Paper aus. „Das ist ja dieser ekelhafte Burton mit seinem blauen Boy! Also darum ritt der junge Adler so schnell vorüber! Er will sie einschmuggeln! Haltet sie auf! Sie dürfen nicht weiter! Ergreift sie! Nehmt sie gefangen!“

Diese Aufforderung war an die Indianer gerichtet. Mr. Evening aber fügte warnend hinzu:

„Nehmt euch aber in acht! Gewalttätige Menschen! Dieser Burton ist gewohnt, augenblicklich zuzuschlagen!“

Wir achteten nicht auf diese Rufe, sondern lenkten unsere Tiere nach dem Wasser und stiegen ab, um sie trinken zu lassen. Es war die Zeit dazu. Indem wir das taten, erstatteten unsere zwölf bisherigen Begleiter Bericht über uns. Wir hörten zwar nicht, was sie sagten, konnten uns aber sehr wohl denken, daß sie sich nicht in Lob und Preis über uns ergingen.

„Dieser Paper wird doch nicht etwa so töricht sein, wieder mit dir anzubinden!“ meinte das Herzle besorgt.

„Er wird es sehr wahrscheinlich!“ antwortete ich. „Derartige Menschen werden niemals klug!“

„Schlägst du wieder?“

„Nein.“

„Gott sei Dank! Ich sehe das gar nicht gerne!“

„Hier ist ein anderer Ort. Da kann man sich auch anders wehren.“

Kaum hatte ich das gesagt, so kam der Genannte auf uns zugeschlingert, stellte sich grad vor mich hin und sagte:

„Heut rechnen wir ab, Mr. Burton, vollständig ab. Ihr seid mein Gefangener!“

Ich antwortete nicht.

„Habt Ihr es gehört?“ fragte er. „Gäbe es hier Handschellen, so würde ich sie Euch anlegen lassen. Denn solche Halunken – – –“

„Halunken?“ fragte ich schnell, ihn unterbrechend.

„Ja, Halunken! Denn nur ein Halunke kann – – –“

Er konnte den angefangenen Satz nicht vollenden, denn ich packte ihn mit beiden Händen oberhalb der Hüften, trat mit ihm ganz nahe an das Wasser heran und schleuderte ihn, soweit ich konnte, in den hier ziemlich tiefen Fluß hinein.

„Hilfe, Hilfe!“ brüllte er noch in der Luft.

Dann sank er unter, kam aber schnell wieder zum Vorschein, begann wie ein Hund zu paddeln und wurde von der reißenden Strömung fortgetragen.

„Hilfe, Hilfe!“ schrie er weiter.

„Holt ihn heraus! Holt ihn heraus!“ rief William Evening, der Agent für alles. „Laßt ihn nicht ertrinken, laßt ihn nicht ertrinken!“

Die Indianer beeilten sich, dem im Wasser Treibenden zu folgen und ihn mit Hilfe ihrer Lanzen an das Ufer zu ziehen. Ich aber ging auf den Agenten zu, lächelte ihn ebenso verbindlich an, wie er mich am Nugget-tsil angelächelt hatte, machte ganz so, wie er dort, eine noch verbindlichere Verbeugung und sagte mit seinen eigenen, dortigen Worten:

„Wir sind in einer wichtigen Angelegenheit an diesen Platz gekommen. Wir glaubten, niemand hier zu finden. Eure Gegenwart ist uns störend.“

Er sah mich groß an.

„Ihr versteht mich doch?“ fragte ich ihn genauso, wie er mich gefragt hatte.

Da kam ihm die Einsicht. Er erinnerte sich der Szene und begann zu ahnen, daß ich jetzt im Begriff stand, den Spieß herumzudrehen.

„Gewiß“, antwortete er. „Es ist ja deutlich genug.“

„Nun?“

„Ihr wünschet, daß wir uns entfernen?“

„Ja.“

„Wann?“

„Sofort! Sonst helfe ich nach!“

Ich zog den Revolver. Zugleich nahm Pappermann den seinen aus der Tasche.

„Wir gehen; wir gehen!“ versicherte der Agent für alles sehr eindringlich und sehr schnell. „Da bringen sie Mr. Paper. Hoffentlich hat ihm der Schreck nicht die Kraft geraubt, auf das Pferd zu steigen!“

„Sollte dies der Fall sein, so bin ich sehr gern bereit, ihn sofort wieder stark zu machen. Wem gehört der Hut, der dort am Aste hängt?“

„Mr. Paper.“

„So paßt auf, was ich tue!“

Die Indianer hatten Herrn Okih-tschin-tscha aus dem Wasser gezogen. Er triefte. Er hatte, wie es schien, genug. Er beeilte sich, in das Innere des Blockhauses zu kommen. Noch hatte er es nicht erreicht, so hob ich den Revolver und zielte nach dem Hute. Ich traf. Paper erschrak so über den Schuß, daß er stehen blieb. Ich deutete nach der durchlöcherten Kopfbedeckung und sagte:

„Das war der Hut! Nun kommt der Mann, der mich arretieren wollte! Ich gebe Mr. Antonius Paper nur fünf Minuten Zeit. Hat er sich dann nicht davongemacht, so bekommt er ein zweites Loch, aber nicht durch den Hut, sondern durch den Kopf. Fare well, Mr. Evening! Ich hoffe, Ihr macht Euch ebenso schnell von dannen!“

Da hob Pappermann auch seinen Revolver und rief mir zu:

„Also fünf Minuten, nicht mehr! Dann ich den einen und Ihr den andern!“

Da griff Herr Okih-tschin-tscha schnell nach seinem durchlöcherten Hut, stülpte ihn auf und rannte nach seinem Pferd. Der Agent für alles packte alles, was er aus der Satteltasche genommen hatte, auch die Brandyflasche, wieder hinein, raffte die beiden Gewehre auf, denn Antonius Paper hatte das seinige vor Angst vergessen, und noch waren die fünf Minuten nicht vorüber, so ritten beide, ohne sich umzusehen, in größter Eile davon.

Nichts imponiert dem Indianer mehr als Mut und Energie. Unser Verhalten flößte den Komantschen Achtung ein. Die Folge hiervon zeigte sich sofort. Der Aelteste von ihnen kam zu uns heran und fragte:

„Meine weißen Brüder kennen, wie man mir sagt, Old Surehand?“

„Ja“, antwortete ich.

„Und auch Apanatschka, unsern Häuptling?“

„Auch ihn. Ich kenne sogar Joung Surehand und Joung Apanatschka. Die beiden Väter und die beiden Söhne nennen mich ihren Freund.“

„Haben sie dir gesagt, was hier geschehen soll?“

„Ja. Sie haben mir Briefe darüber geschrieben. Sie haben mich eingeladen, nach dem Mount Winnetou zu kommen.“

„Hast du diese Briefe mit?“

„Ja.“

„Ich bitte dich, sie mir zu zeigen, damit ich sie lese!“

„Sehr gern, sehr gern!“

Ich mußte zwar den Koffer wieder öf fnen, zögerte aber gar nicht, es zu tun. Das Herzle half mir dabei. Es gibt Augenblicke, in denen ihr der Schalk im Nacken sitzt; dann hat man sich vor ihr in acht zu nehmen. Jetzt war ein solcher Augenblick. Sie öffnete nicht meinen, sondern ihren Koffer, nahm vier quittierte Hotelrechnungen aus Leipzig, Bremerhaven, New York und Albany heraus, reichte sie dem Komantschen hin und sagte:

„Hier! Von den beiden Vätern und von den beiden Söhnen!“

Er machte mit der Hand ein Zeichen der Hochachtung und griff nach den Papieren. Er betrachtete sie sehr eingebend. Sein Gesicht nahm dabei mehr und mehr den Ausdruck an, den man als Kennermiene bezeichnet. Er wendete sich an seine Leute und bestätigte, indem er die Rechnungen einzeln emporhob:

„Es stimmt; es ist wahr! Hier ist der Brief von Old Surehand und hier von Joung Surehand, hier von Apanatschka und hier von Joung Apanatschka. Auf allen diesen Briefen steht, daß diese Bleichgesichter Freunde sind und daß sie nach dem Mount Winnetou kommen sollen!“

Seine Kameraden wußten wahrscheinlich sehr genau, welche Künste ihm zuzutrauen seien und welche nicht, denn einer von ihnen fragte:

„Kannst du es denn lesen?“

„Nein“, antwortete er; „aber ich sehe es. Howgh!“

Er gab dem Frager die „Briefe“ hin. Dieser prüfte sie ebenso eingehend und rief dann, indem er sie weitergab:

„Auch ich sehe es. Howgh!“

So gingen die Rechnungen weiter von Hand zu Hand. Ein jeder gab sein entscheidendes: „Auch ich sehe es, Howgh!“ dazu, und dann bekamen wir sie zurück, wobei der Anführer unser Schicksal entschied:

„Also dürfen meine weißen Brüder mit ihrer Squaw getrost weiterreisen. Die Krieger der Kanean-Komantschen haben ihren Häuptlingen mehr zu gehorchen als dem Komitee!“

Wir steckten die Rechnungen wieder in den Koffer. Das Herzle reichte dem wackeren Schriftverständigen die Hand zum Abschied und sprach:

„Mein roter Bruder ist nicht nur klug und verständig, sondern auch in der Deutung unserer Totems und Wampums sehr wohl bewandert. Er hat ein sehr gutes Herz. Ich danke ihm und werde mich seiner stets gern erinnern.“

Das war ihm fast zu viel. Er war beinahe starr vor Glück. Seine Augen strahlten. Er hielt ihre Hand fest, als ob er sie nicht wieder hergeben wolle, und stammelte endlich:

„Meine weiße Schwester hat strahlende Worte, wie die Sonne klingende Strahlen hat. Ich danke ihr! Ich hoffe, wir sehen sie wieder!“

Auch wir gaben ihm die Hand; dann ritten wir weiter.

Meine Frau nahm an, daß der uns vorangeeilte „junge Adler“ an irgendeiner Stelle anhalten werde, um auf uns zu warten. Ich aber war anderer Meinung. Er hatte sich von uns getrennt, um uns bei den zu erwartenden interessanten Szenen nicht zu stören. Er wollte denen, die innerlich gegen uns standen, Gelegenheit geben, sich zu blamieren, und um das zu erreichen, durfte er nicht bei uns sein. Ich war also überzeugt, daß wir ihn erst an Ort und Stelle wiedersehen würden.

Wir kamen an noch mehreren anderen Wachtstationen vorüber. Die dort befindlichen Indianer hielten uns nicht an. Sie wichen vor uns zur Seite. Die argwöhnischen Blicke, die sie dabei auf uns warfen, sagten nur zu deutlich, daß sie eine Instruktion erhalten hatten, die für uns keine freundliche war. ich vermutete, daß uns durch Mr. Okih-tschin-tscha ein Empfang bevorstand, auf den uns zu freuen wir keine Veranlassung hatten.

Es gab Anzeichen, daß wir uns unserem Ziel näherten. Bei gewissen Krümmungen des Flusses erschien uns ein ganz eigenartig gebildeter Bergkoloß, der, je weiter wir vorrückten, immer höher und höher stieg und alle anderen Höhen, zwischen denen der Fluß sich hindurchzuwinden hatte, weit überragte. Schließlich lag ein Zelt oder ein Halbzelt an unserem Weg, bald wieder eins, hierauf wieder und wieder eins. Sie mehrten sich. Sie traten immer enger zusammen. Es sah ganz So aus, als ob wir durch die äußerste Gasse einer weit ausgedehnten Lagerstadt nach ihrem Mittelpunkt ritten. Vor diesen Zelten saßen Indianerinnen, die uns neugierig und mit ungewöhnlichem Interesse betrachteten. Man sah ihnen an, daß sie von unserm Kommen unterrichtet waren. Kinder gab es keine. Die hatte man nicht mit nach dem Mount Winnetou bringen dürfen. Auch Männer sahen wir nicht. Die waren uns schon voraus, um bei der Szene zugegen zu sein, die uns erwartete.

Nun verbreiterte sich das Tal des Flusses sehr schnell, bis die Uferhöhen plötzlich derart nach beiden Seiten zurückwichen, daß wir die ganze vor uns liegende Hochebene mit einem einzigen Blick zu überschauen vermochten. Der Eindruck, den das, was wir sahen, auf uns machte, war ein derartiger, daß wir wie mit einem gemeinsamen Ruck unsere Pferde und Maultiere anhielten.

„Herrlich! Herrlich!“ rief ich aus.

„Mein Gott, wie schön, wie schön!“ sagte das Herzle. „Gibt es denn wirklich so etwas auf Erden?“

Und der alte Pappermann stimmte ein:

„So eine Stelle habe ich freilich noch nicht gesehen, noch nie, noch nie!“

Man denke sich einen gigantischen weit über tausend Meter aufsteigenden Riesendom, vor dem sich ein ebenso riesiger, freier Platz ausbreitet, der durch mehrere Stufenreihen in eine obere und eine untere Hälfte geschieden ist. Der Dom steht auf der westlichen Seite dieses Platzes und geht nach und nach in viele andere Türme über, die in perspektivischer Verjüngung im geheimnisvollen Blaugrau des Westens verschwinden. Auf den anderen drei Seiten ist der Platz von niedrigeren Bergen rundum derart eingefaßt, daß es nur eine einzige Lücke gibt, nämlich das Flußtal im Osten, durch welches wir heraufgekommen sind. Dieser Riesendom ist der Mount Winnetou. Sein Hauptturm steigt wie eine von den kühnsten Naturgewalten improvisierte Gotik hoch über die Wolken empor. Seine Zackenspitze besteht aus nacktem Gestein, welches aus weichen, grünschimmernden Mattendächern emporwächst. Zwischen diesen Zacken liegt weißglänzender Schnee, den unaufhörlich die Sonne küßt, bis er sich, in Liebe aufgelöst, aus Wasserstaub in Wasserstrahl verwandelt und dann von Stein zu Stein, von Schlucht zu Schlucht zur Tiefe springt. Da, wo der Turm sich zum eigentlichen Domgebäude weitet, sammeln sich diese Wasser und bilden mit den von den Nachbarbergen strömenden Bächen einen See, aus dem zu beiden Seiten je ein Wasserfall wohl über sechzig Meter schroff hinunterstürzt und dann, der eine nach Süden, der andere nach Norden, fließt, um die Hochebene, also den freien Domplatz, zu umfassen und dann im Osten sich zu dem Klekih Toli-Flusse zu vereinen, an dem wir heut heraufgeritten sind. Unterhalb der grünen Matten hoch oben auf dem Riesenturm beginnt der erste lichte, dann aber immer dunkler und dichter werdende Wald, der den See geheimnisvoll umfaßt und dann am Dom herniedersteigt, bis er den freien Platz erreicht und hierauf, sich in Gebüsch verwandelnd, in die saftgrasige Prärie der Ebene übergeht. Dieser See heißt Nahtowapa-apu. Am östlichen Teil des dicht bewachsenen Domes liegt das Portal, ein breit geöffnetes Höhental, in welchem man zum hohen, langen First des eigentlichen Bergmassives und zu dem „See der Medizinen“ steigt. über diesem Portal erhebt sich der Nebenturm des Mount Winnetou, welcher zwar nicht so hoch und nicht so schwer wie der Hauptturm ist, aber z. B. in Tirol doch als eine Dolomitennadel allerersten Ranges gelten würde. Auch er ist dicht bewaldet. Aus dem dunklen Grün der Tannen und Fichten steigen die helleren Hochgebirgswiesen empor. Auf halber Höhe steht ein altindianischer Wartturm, von dem aus man die ganze Ebene und die oberen Windungen des Flusses zu überschauen vermag. Und einige Fuß weiter herab weichen Berg und Wald zurück, um ein weit hervorragendes Plateau zu bilden, auf welchem, einer uneinnehmbaren Festung ähnlich, eine nach beiden Seiten lang ausgestreckte Reihe von Gebäuden steht, deren Alter ganz gewiß noch über die Tolteken- und Aztekenzeit zurückweicht und auf jene graue Vergangenheit deutet, deren Reste jetzt so außerordentlich selten sind. Da oben wohnt Tatellah-Satahl der „Bewahrer der großen Medizin“. Man geht durch den vorderen Teil des Tales und dann durch ein Seitental hinauf zu ihm. Doch ist es keinem Menschen gestattet, ohne seine besondere Erlaubnis diesen Weg zu betreten.

Der Hauptturm des gigantischen Domes ist der eigentliche Mount Winnetou, der Nebenturm aber der „Berg der Medizinen“. Und dieser letztere ist es, von dem es heißt, daß der „junge Adler“ dreimal um ihn fliegen werde, um dem roten Mann die verlorengegangenen Medizinen zurückzubringen.

Die hochebene Prärie vor dem Mount Winnetou war so groß, daß ihr Durchmesser die Länge fast einer ganzen Reitstunde betrug. Sie war jetzt nicht leer, sondern mit Hütten und Zelten besetzt, welche in ihrer Gesamtheit eine ganze Stadt bildeten. Weil nun die eine Hälfte der Ebene höher lag als die andere, zerfiel diese Stadt in eine Ober- und eine Unterstadt. Dies nur der Lage nach. Ob auch in anderer Beziehung ein Unterschied zwischen beiden herrschte, war in der kurzen Zeit, die wir betrachtend auf sie hinblickten, nicht zu sehen. Die untere Stadt war dichter besetzt als die obere. Die letztere enthielt nur Zelte; in der ersteren gab es auch kleinere Blockhütten und weitläufige Holzbauten, deren Zweck wir nicht sogleich erkannten. Einige von ihnen schienen Lagerhäuser zu sein. Andere hatten das Aussehen von Hotels oder Restaurationen. Vielleicht waren es auch Versammlungshäuser. Vor den Zelten steckten die Lanzen ihrer Besitzer. Zwischen ihnen weideten die Pferde. Zahlreiche Feuer brannten, an denen gebacken und gebraten wurde, denn es war kurz über Mittagszeit. Es herrschte überhaupt ein reges Leben. Man sah keinen einzigen Weißen, nur lauter Rote. Die meisten von ihnen trugen indianische Kleidung. Ein großer Platz war zu Kampf- und Reiterspielen abgesteckt, ein anderer für Beratungen und andere öffentliche Angelegenheiten. Auf dem letzteren sah ich ungefähr zwanzig nebeneinanderliegende Sitzplätze, welche höher waren als der ebene Boden. Wahrscheinlich für das Komitee und andere hervorragende Personen. Es waren grad jetzt eine Menge Menschen dort, deren ganze Aufmerksamkeit auf uns gerichtet zu sein schien, denn sie deuteten, sobald wir erschienen, zu uns herüber und sprachen auch sehr laut dabei.

Grad vor uns ging eine uralte, steinerne Brücke über den Fluß, eine von der Art, daß man hüben hoch hinauf und drüben wieder tief hinunter muß. Solche Brücken eignen sich sehr gut zur Verteidigung des betreffenden Flußüberganges. Diese Stelle war also schon in uralter Zeit als eine geographisch und strategisch sehr wichtige betrachtet worden. Drüben auf der anderen Seite hielt eine Schar von Indianern zu Fuß. Sie sahen uns an, als ob sie auf uns warteten. Wir aber nahmen uns Zeit. Wir genossen den Anblick des grandiosen, unvergleichlichen Gebirgspanoramas und der hochinteressanten Staffage, welche sich innerhalb der gegebenen Riesenlinien klein und belanglos bewegte. Waren die Menschen früherer Jahrtausende vielleicht größer gewesen als die heutigen? Hierher gehörten doch eigentlich wohl Enakssöhne, die auf elefantengroßen Pferden reiten, und Fürsten, deren Throne bis in die Wolken reichen! Die Sonne stand hoch, scheinbar senkrecht über uns. Sie warf nur geringen Schatten um unsere Füße. Sie leuchtete in jeden Winkel, in jede Spalte und Ritze, in alles Verborgene. Kein Wölkchen stand am Himmel; kein Lüftchen ging vorüber. Die Erde war hier so bedeutend, so hoch, so stark, so kerngesund. Ein Duft von Kraft und Willensfreude erquickte Auge und Herz. Hier oben war der rechte Platz für neue, gute und glückliche Menschheitsgedanken!

Nun ritten wir weiter, die Brücke hinauf und hinunter. Drüben wurden wir sofort von den Roten umringt. Ja, sie hatten auf uns gewartet. Sie waren beauftragt, uns gefangen zu nehmen. Ein jeder von ihnen trug ein farbiges Band um den Arm; sie bildeten, wie wir dann erfuhren, die Ordnungspolizei des Komitees. Als sie uns zwischen sich genommen hatten, fragte der, welcher ihr Anführer war, in englischer Sprache:

„Ihr seid die Bleichgesichter, welche unsern Mister Antonius Paper in das Wasser geworfen haben?“

„Ja, die sind wir“, antwortete Pappermann in fröhlichem Ton.

„So werdet ihr bestraft!“

„Von wem?“

„Vom Komitee!“

Pshaw! Wo ist denn dieses famose Komitee?“

„Da drüben!“

Er deutete nach dem Beratungsplatz.

„So geht hinüber und sagt, wir kommen gleich! Solche Leute muß man sich einmal genau betrachten!“

„Wir tun, was uns beliebt! Wir gehen nicht voran, sondern wir gehen mit euch! Wir arretieren euch! Wir bringen euch hinüber!“

„Ihr uns?“ lachte er. „Versucht es einmal!“

Er ließ sein vortreffliches Maultier einen Kreis um sich selbst schlagen, und wir folgten seinem Beispiel. Die Roten flogen auseinander; mehrere wurden zur Erde gerissen. Wir aber jagten davon, direkt nach dem Platz hinüber. Sie sprangen schreiend hinter uns her. Dort angekommen, sprengten wir mitten in den Menschenhaufen hinein, jagten ihn auseinander und sprangen dann aus dem Sattel.

„Dieser Platz ist gut“, sagte ich, „hier bleiben wir. Herunter mit dem Gepäck!“

„Oho!“ rief da eine Stimme hinter mir, „der tut ja, als ob er gar nicht Gefangener sei, sondern hier zu befehlen hätte!“

Ich drehte mich nach ihm um. Es war Herr Okih-tschin-tscha, genannt Antonius Paper. Neben ihm stand William Evening, der Agent für alles.

„Gefangener?“ fragte ich, indem ich, die Hände nach ihnen ausstreckend, auf sie zuging.

Da verschwanden sie schnell hinter den anderen. Ihre Stelle wurde sofort von Simon Bell und Edward Summer, den beiden Professoren, eingenommen. Der erstere machte eine gebieterische Handbewegung und sprach:

„Zurück mit Euch! Ich bitte, das Verhältnis zwischen uns und Euch nicht zu verkennen! Ihr seid arretiert!“

„Von wem?“

„Von uns! Ihr habt schon am Nugget-tsil gehört, daß Eure Gegenwart uns störend ist. Sie ist es auch noch heute!“

„Ah, wirklich?“

„Ja, wirklich!“

„Hm! Das ist doch nicht zu glauben!“

„Glaubt, was Ihr wollt, doch was ich sage, gilt: Ihr seid arretiert!“

„Das heißt doch wohl, wir werden von euch festgenommen und festgehalten?“

„Allerdings; das heißt es!“

„Also, wenn jemand Euch störend ist, so arretiert Ihr ihn, so haltet Ihr ihn fest! Sonderbar! Diese Art der Logik konnte ich von einem Professor der Philosophie wohl kaum erwarten!“

Da fuhr er mich an:

„Schweigt! Wir arretieren Euch nicht, weil uns Eure Gegenwart unangenehm ist, sondern weil Ihr es gewagt habt, Euch an einer Person unseres Komitees zu vergreifen! Das muß bestraft werden!“

„Hiebe bekommt er, Hiebe!“ rief Antonius Paper.

Da ballte Pappermann die Faust und drängte auf ihn zu. Dadurch bildete sich eine Lücke zwischen den uns umringenden Anwesenden, welche uns erlaubte, zwei Personen zu sehen, die sich dem Versammlungsort genähert hatten und auf die sich da abspielende Szene aufmerksam geworden waren. Sie trugen jetzt nicht europäische Kleidungsstücke, sondern indianische Anzüge. Trotzdem oder vielmehr grad darum erkannte ich sie sofort, nämlich Athabaska und Algongka, die beiden Häuptlinge aus dem Hotel am Niagarafall.

„Was tut man hier?“ fragte der erstere, indem er sich an Professor Bell wendete.

„Wir arretieren zwei gefährliche Tramps mit ihrer Squaw, die sich an Okih-tschin-tscha vergriffen und ihn in das Wasser geworfen haben. Es wird ein Präriegericht abzuhalten sein, um sie zu bestrafen. Wir bitten, an dieser Sitzung teilzunehmen.“

Er hatte im Tone großer Hochachtung gesprochen.

„Zeigt sie uns!“ gebot Algongka.

Man machte ihnen Platz, so daß sie uns sahen. Ja, das waren noch Häuptlinge von altem Schrot und Korn! Ihre Gesichter zeigten nicht die geringste Spur von Überraschung. Ganz so, als ob wir erst gestern Abend auseinandergegangen seien, so küßten sie dem Herzle die Hand, drückten mir die meinige und wendeten sich dann an die Professoren.

„Von Tramps ist hier keine Rede“, versicherte Athabaska. „Das sind Mistres und Mister Burton, die wir sehr achten und lieben. Wer sie beleidigt, beleidigt auch mich! Howgh!“

„So richtig“, stimmte Algongka bei. „Wer sie beleidigt, beleidigt auch mich! Howgh!“

„Aber dieser Burton hat mich in das Wasser geworfen!“ begehrte Antonius auf.

Athabaska mochte ihn schon kennen. Er fragte ihn in halb ironischem und halb geringschätzendem Tone:

„Solltet Ihr etwa ertrinken?“

„Ja, gewiß!“ antwortete er.

„Seid Ihr denn ertrunken?“

„Nein!“

„Mr. Burton tut gewiß nichts ohne Grund. Geht also hin und springt wieder hinein, und wenn Ihr dann ertrinkt, so seid Ihr quitt mit ihm!“

Her Okih-tschin-tscha war also abgetan. Professor Summer aber fühlte sich in seiner Würde als stellvertretender Vorsitzender gekränkt. Er als jetziger Theoretiker konnte sich dem Eindruck der kraftvollen Persönlichkeiten dieser beiden durch die schwere, praktische Lebensschule gegangenen Häuptlinge nicht entziehen. Sie imponierten ihm, und das war ihm wohl ärgerlich. Darum versuchte er, ihnen gegenüber seine Autorität geltend zu machen, indem er sich mit den Worten an sie wendete:

„Ich mache euch darauf aufmerksam, Meschschurs, daß es nach unseren Satzungen jedem Weißen verboten ist, sich am Mount Winnetou sehen zu lassen. Und diese Personen hier sind ja Weiße!“

Er sagte das in ziemlich scharfem Ton. Es klang ganz so, als ob hier schon gewisse Reibungen stattgefunden hätten, von denen wir noch nichts wußten.

Athabaska richtete sich in seiner ganzen Länge auf. Um seine Lippen spielte ein stolz ironisches Lächeln, als er mit der Frage antwortete:

„Darf ich fragen, von wem die Satzungen stammen?“

„Von uns, dem Komitee! Wir haben sie aufgestellt, und zwar aus guten, wohlerwogenen Gründen!“

„Und von wem stammt dieses Komitee? Wer hat es eingesetzt? Wer hat ihm die Macht erteilt, Gesetze zu geben und gewaltsam auszuführen? Könnt ihr euch auf die Autorität Gottes oder der Vereinigten Staaten berufen? Ihr seid ein Komitee von Old Surehands und Apanatschkas Gnaden, weiter nichts? Ihr habt euch selbst gewählt. Nun aber kommen wir, um diese Wahl und eure Satzungen zu prüfen!“

Er sprach ernst und stolz, fast wie ein König. Die beiden Professoren stachen von dieser seiner Größe ganz entschieden ab. Er warf einen Blick rundum und fuhr dann fort:

„Dies ist der Beratungsort, an dem sich das Schicksal der roten Nation entscheiden soll. Wer sind die Männer, die diese Entscheidung treffen? Ich sehe hier zwanzig Sitze. Fünf von ihnen sind sehr hoch, die anderen etwas niedriger. Für wen sind diese fünf?“

„Für uns, das Komitee.“

„Und die anderen?“

„Für die Häuptlinge, welche zu den Beratungen eingeladen werden.“

„Wie heißen sie?“

Er nannte die Namen, Athabaska und Algongka waren auch mit dabei, auch alle, die mir geschrieben hatten. Athabaska fuhr fort:

„Ich vermisse einen Häuptling, und zwar gerade denjenigen, dessen Namen ich am allerliebsten hörte, nämlich Old Shatterhand.“

„Er ist ein Weißer!“

„Wohl gar nicht mit eingeladen?“

„Doch! Wir haben ihn angewiesen, sich die Nummermarke für seinen Platz beim Schriftführer zu holen.“

„Und ihr meint, daß er dies tu? Was für Menschen ihr seid? Und das nennt sich ein Komitee! Ich sage euch, falls Old Shatterhand wirklich kommt, wird er sich den Platz nehmen, der ihm beliebt, nicht aber den, den ihr ihm bietet! Und wir beide, Athabaska und Algongka, verzichten überhaupt auf diese, von euch bestimmten Sitze. Wie kommt das Komitee dazu, sich höher zu setzen als die alten, berühmten Häuptlinge der eingeladenen Nationen? Wer hat Sie befugt, über unsern Sitzen sich Throne zu errichten? Macht Platz! Wir gehen. Wir gehören nicht hierher!“

Er nahm mich und meine Frau bei der Hand und schritt vorwärts. Die Roten wichen vor uns zurück. Gleich aber blieb er wieder stehen, wendete sich an die Professoren zurück und sagte:

„Es ist der größte aller Fehler, grad Bleichgesichter, die unsere Rasse lieben, von den Beratungen am Mount Winnetou auszuschließen. Kein Mensch steigt ohne die Hilfe anderer Menschen empor. So auch die Völker, die Nationen, die Rassen. Streicht euren steinernen Winnetou und euch so rot an, wie ihr wollt, Ihr werdet durch alle diese Räte es doch nicht verhüten, daß ihr dann gezwungen seid, über euer törichtes Werk noch tiefer als tief zu erröten!“

Dann wendete er sich zu mir:

„Ich kenne Eure Gesinnungen und Gefühle für das arme Volk der Indianer. Und dennoch bin ich überrascht, Euch hier zu sehen. Wißt Ihr, um was es sich hier handelt?“

„Ich vermute, daß man Winnetou ein gigantisches, steinernes oder ehernes Denkmal setzen will.“

„So ist es. Diese Idee geht von Old Surehand und Apanatschka aus, die ihre Söhne gern berühmt wissen wollen. Denn diese sind es, welche das Denkmal zu fertigen haben. Es wurde ein Komitee eingesetzt, diese Sache zu leiten. Es ergingen Einladungen an alle Stämme der roten Nation. Diese Angelegenheit wurde mit derselben Smartneß behandelt, wie man eine Eisenbahn- oder Oelgesellschaft gründet. Man begann sehr zeitig und sehr still. Man legte vor allen Dingen Beschlag auf die herrliche Gotteswelt, in der Ihr Euch hier befindet. Der Berg wurde Mount Winnetou genannt. Man will hier eine Stadt gründen, die Winnetou-City heißen soll und nur von Indianern bewohnt werden darf. Man pumpt in der Nähe schon Öl. Man hat den einen Wasserfall schon in Ketten geschlagen, um Elektrizität zu gewinnen. Dadurch ist mit der Zerstörung des herrlichen Landschaftsbildes und der Entweihung und Beschmutzung aller Ideale unseres großen Tatellah-Satah begonnen. Man fällt den Wald. Man zerstört ihn durch Steinbrüche, die man in den Felsen schlägt, um Material für den Kollossalbau des Denkmales und der Häuser zu gewinnen. Man will sogar das Wunder dieser Gegend, den herrlichen Schleierfall, vernichten, um Platz für Profangebäude zu gewinnen. Das wißt Ihr wahrscheinlich noch nicht. Ihr werdet es aber sehr bald erfahren, dies und noch viel mehr dazu.“

Er machte eine Pause, welche Algongka benutzte, einzufallen:

„Man gibt vor, durch dieses Denkrnalsprojekt alle roten Stämme vereinen zu können. Es ist aber gerade das Gegenteil, welches man erreicht. Man entzweit uns mehr und mehr, innerlich und äußerlich. Ihr seht das schon an dem Platz, der vor Euch liegt: hier die Unterstadt und dort die Oberstadt. Hier unten haben sich die Anhänger des Denkmalplanes festgesetzt; droben wohnen die Gegner desselben, zu denen auch wir gehören. Und hoch oben über uns allen grollt Tatellah-Satah und läßt sich vor niemand sehen. Seit man hier baut, ist er kein einziges Mal herabgekommen und hat auch keinem einzigen Menschen erlaubt, zu ihm hinaufzukommen. Er verkehrt nur mit den Winnetous, durch welche er mit der Menschenwelt in Verbindung steht. Auch wir sahen ihn noch nicht. Wir ließen ihm unsere Ankunft melden; er aber forderte Geduld, bis Einer gekommen sei, den er mit Schmerzen erwarte. Dann sei es Zeit für ihn, sein Haus zu verlassen und sich denen zu zeigen, die gleichen Gefühles und gleichen Willens mit ihm sind.“

„Wer mag der Eine sein?“ fragte das Herzle.

„Das wissen wir ebensowenig wie der Winnetou, der uns diese Botschaft brachte. Aber wir warten, und wir wünschen, daß der Betreffende bald kommen werde. Euer Ziel, Mr. Burton, ist uns unbekannt. Seit Ihr nur aus Zufall hier?“

„Nein,“ antwortete ich.

„So war es Eure Absicht, nach dem Mount Winnetou zu kommen?“

„Ja.“

„Und hier zu bleiben?“

„Und hier zu bleiben, bis die Verwicklungen behoben sind.“

„Wo werdet ihr wohnen? In der Unter- oder in der Oberstadt?“

„Droben bei Euch.“

„So bitten wir Euch, Euer Zelt in unserer unmittelbaren Nähe aufzuschlagen. Vielleicht erfahren wir dann auch, wenn es euch beliebt, wer euch, den Weißen, veranlaßt hat, Eurer Reise grad und genau nur dieses Ziel zu geben.“

„O, was das betrifft, so könnt Ihr das schon jetzt erfahren. Ich wurde eingeladen, herzukommen. Und außerdem wäre ich auch ohnedies nach dem Mount Winnetou geritten, weil Ihr so viel und so interessant nicht nur von diesem Berge spracht, sondern auch von den Plänen, welche hier zur Ausführung kommen sollen.“

„Wir? Wir beide?“ fragte er.

„Ja, ihr beide.“

„Wann und wo?“

„Im Clifton-Hotel, am Niagarafall.“

„Dort? Ja, da haben wir Euch zwar kennen und sehr, sehr schätzen gelernt, aber doch nicht von dem Mount Winnetou gesprochen!“

„Ja, nicht mit mir, aber doch miteinander! Ich hörte zu, denn ich saß am nächsten Tisch.“

„Uff, uff!“ rief er aus.

„Uff, uff!“ rief auch Athabaska. „Wir unterhielten uns in der Sprache der Apatschen. Wir waren überzeugt, daß dort niemand sie versteht. Ihr aber verstandet uns doch?“

Ich wollte antworten; da aber ertönten von der Oberstadt her laute Rufe. Es ging durch die Zeltgassen eine Bewegung, die uns näher kam. Man eilte nach allen Seiten, um eine Botschaft zu verbreiten. Nicht mehr lange, so verstanden wir, was man sich sagte.

„Tatellah-Satah kommt! Tatellah-Satah kommt!“ rief man einander zu.

„Ist es möglich?“ fragte Algongka.

„Ist es wahr?“ erkundigte sich Athabaska. „Dann müßte ja der hier eingetroffen sein, auf den er wartet! Wer ist das? Wer hat ihn gesehen?“

Und da erschienen zwei Reiter oder vielmehr zwei Reiterinnen, die aus der Oberstadt im Galopp herabgeritten kamen. Sie überflogen mit ihren Blicken die Unterstadt, sahen den Menschenhaufen, den wir bildeten, und lenkten ihre Pferde auf uns zu. Es waren die beiden Aschtas, Mutter und Tochter.

Bei uns angekommen, sprangen sie von ihren Pferden, eilten, ohne eine andere Person anzusehen, auf uns zu und begrüßten uns mit rührender, mir beinahe unverständlicher Freude. Aber das Verständnis kam mir sofort, als die Mutter ihrem Gruß die Worte hinzufügte:

„Nun sind wir erlöst; nun sind wir erlöst! Und zwar durch Euch, Mr. Burton!“

„Erlöst? Durch mich?“ fragte ich.

„ja, durch Euch! Denn nun ist das Warten zu Ende, und Tatellah-Satah wird mit Taten beginnen, mit Taten! Der junge Adler kam hier an und ritt sofort zu ihm hinauf, um Euch zu melden. Vom Wachtturm aus wurde ausgeschaut und, als ihr kamt, das Zeichen herabgegeben. Nun verläßt der größte Medizinmann aller roten Völker zum erstenmal seit langer Zeit sein hohes Felsenschloß, um Euch entgegen zu kommen. Wir sind so froh, so froh!“

Sie drückte mir wieder und wieder die Hand und küßte dann das Herzle. Dann bekam auch unser alter, braver Pappermann den ihm gebührenden Teil des herzlichen Willkomms. So sehr Athabaska und Algongka ihre Gesichtszüge in der Gewalt hatten, jetzt konnten sie doch ihr Erstaunen nicht verbergen; aber sie fanden keine Zeit, es in Worten auszudrücken, denn es nahte sich von der Oberstadt her ein Reiterzug, der unsere ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.

Voran ritt der „junge Adler“. Dann folgte in zwei Abteilungen die Leibgarde des Medizinmannes, auf kohlschwarzen Rossen, deren Schabracken aus den Fellen von Silberlöwen bestanden. Die Reiter waren auserlesene junge Leute, alle genauso gekleidet wie einst Winnetou sich zu kleiden pflegte, nicht mit Lanzen und Flinten bewaffnet, sondern nur mit Messer und Revolver im Gürtel und den Lasso in Schlingen von der Schulter zur Hüfte herab. Ein jeder trug das Zeichen des Winnetou auf der Brust. Als sie in unsere Nähe gelangten, lenkte der „junge Adler“ zu uns herüber, deutete auf unsere Gruppe und hielt dann an. Auch alle anderen hielten. Ihre Reihen lösten sich, und aus ihrer Mitte ritt der Gebieter hervor, langsam auf uns zu, fast bis zu uns heran, parierte da sein Tier und überflog uns mit prüfendem Blick.

Er wurde von einem herrlichen, schneeweißen Maultier getragen, dessen Mähne in langgeflochtenen Zöpfen fast bis zur Erde niederhing. Die Schabracke bestand aus jenem unvergleichlichen altindianisehen Federgeflecht, von dem jeder Quadratdezimeter ein ganzes Vermögen kostet. Die Bügel waren von purem Gold, inkaperuanisch ziseliert. Ein Mantel hüllte ihn ein, so daß man den Anzug, den er darunter trug, nicht sah. Dieser Mantel war von blauer Farbe, aber von einem Blau, wie ich noch niemals eines gesehen habe und wahrscheinlich auch keines wieder sehen werde. Der Stoff war außerordentlich fein, wie allerfeinste, indische Seide, aber dennoch keine Seide, sondern von jenem längst verschwundenen sagenhaften Gewebe, von dem man erzählt, daß nur die Frauen der alten, südamerikanischen Herrscher es herzustellen verstanden. Sein Kopf war unbedeckt, und dennoch aber wohlbedeckt, und zwar von einem außerordentlich reichen, starken, silberglänzenden Haar, welches zu beiden Seiten in langen Zöpfen bis auf die Steigbügel niederfiel.

„Marah Durimeh!“ flüsterte das Herzle mir zu.

Sie hatte recht. Genauso trug auch meine alte, herrliche, meinen Lesern wohlbekannte Marah Durimeh ihr Haar. Auch seine Gesichtszüge waren den ihren derart ähnlich, daß es mich beinahe erstaunte. Vor allem die Augen, diese großen, weit offenen, unerforschlichen, selbst aber alles erforschenden Augen, in denen der Ausdruck einer unerbittlichen Strenge und doch auch wieder einer heiligen Güte lag, die alles verstehen und alles verzeihen konnte. Und als er zu sprechen begann, erschrak ich fast. Es überlief mich kalt. Seine Stimme war unbedingt die Marah Durimehs, so voll, so tief, so wirkungsstark, ein klein wenig männlicher gefärbt, aber doch genau dieselbe!

„Wer von euch ist Old Shatterhand?“ fragte er, indem sein Blick uns prüfte.

Bei seinem Erscheinen war jedermann verstummt, so tief wirkte seine geheimnisvolle, unwiderstehliche Persönlichkeit. Als er aber diesen Namen nannte, flüsterte es rund um mich her:

„Old Shatterhand? Old Shatterhand? Ist doch nicht hier! Kann unmöglich hier sein! Oder doch, oder doch?“

„Ich bin es“, antwortete ich, indem ich hervortrat und langsam auf ihn zuschnitt.

Eine Sekunde lang war es, als ob sein Blick mich umfassen und verbrennen wolle, dann schwang er sich mit jugendlicher Leichtigkeit aus dem Sattel, um mir einige Schritte entgegenzukommen und dann meine Hände zu fassen. So standen wir nun voreinander, ernst, unendlich ernst, und doch mit inniger Freude. Auge in Auge. Fest ineinandergetaucht. Uns beide der Wichtigkeit des gegenwärtigen Augenblickes voll und ganz bewußt. Da begann er wieder zu sprechen:

„Man sagte mir, du seist ein Greis geworden. Du bist keiner! Das Menschenleid kann zur Matrone werden, doch nie die Menschenliebe, die uns vereint, obgleich ich dich seit kurzem erst verstehe. Ich heiße dich willkommen!“

Er küßte mich, drückte mich an sich und küßte mich wieder und wieder. Dann ergriff er meine Hand und wendete sich an die Schar der Anwesenden:

„Ich kenne euch nicht. Ich bin Tatellah-Satah, und hier an meiner Seite steht Old Shatterhand. Aber irrt euch nicht in uns! Wir sind nicht nur das, sondern wir sind mehr. Ich bin die Sehnsucht der roten Völker, welche, nach Osten schauend, auf Erlösung warten. Und er ist der anbrechende Tag, der über Länder und Meere wandert, um uns die Zukunft zu bringen. So soll ein jeder Mensch zugleich auch die Menschheit bedeuten, und was ihr hier an meinem Berg tut, mag es recht oder unrecht sein, das tut ihr nicht für euch und nicht für den heutigen Tag, sondern für Jahrhunderte und Jahrtausende und für die Völker aller Erdenländer!“

Und das Wort nun wieder an mich richtend, fuhr er fort:

„Steig auf dein Pferd und folge mir! Du bist mein Gast! Der liebste, den ich kenne! Was mein ist, sei auch dein!“

„Ich bin nicht allein,“ antwortete ich.

„Ich weiß es. Es wurde mir vom Nugget-tsil gemeldet. Bring mir die Squaw, von der meine Späher sagen, sie sei wie Sonnenschein! Bring mir ihr Pferd! Und bring mir auch den alten, treuen Jäger!“

Ich holte das Herzle. Es war ihr, als müsse sie vor ihm niederknien und ihm die Hände küssen. Er aber zog sie an sich und sprach:

„Noch nie berührten meine Lippen ein Weib. Du sollst die erste sein, die erste und die letzte, die einzige!“

Er küßte sie auf die Stirn und auf die Wangen. Dann bat er:

„Steig auf! Ich hebe dich!“

Pappermann hatte ihr Pferd gebracht. Der „Bewahrer der großen Medizin“ faltete seine Hände zum Bügel. Das Herzle trat hinein und wurde von ihm in den Sattel geschwungen. Hierauf bekam auch Pappermann einen gütigen Händedruck und den Befehl, sich mit dem Gepäck uns anzuschließen. Bevor Tatellah-Satah selbst wieder aufstieg, hielt ich es für geraten, ihm zunächst unsere Freundinnen, die beiden Aschtas, und dann auch Athabaska und Algongka vorzustellen. Er gewann sich ihre Herzen sofort durch die Art und Weise, in der er das entgegennahm. Dann schwang er sich wieder auf sein Maultier und geleitete uns zu seinen Trabanten, welche mit uns in derselben Ordnung davonritten, in der sie gekommen waren: Voran der „junge Adler“, dann die Hälfte der Winnetous, hierauf Tatellah-Satah mit dem Herzle und mir, hinter uns Pappermann mit den Gepäckmaultieren und dann die andere Hälfte der Leibgarde. So ging es aus der Unterstadt hinauf in die Oberstadt und dann dem Innental zu, welches ich als Portal des Mount Winnetou bezeichnet habe. überall, wo wir vorüberkamen, standen rechts und links die Indianer, um ihrem größten und berühmtesten Forscher und Gelehrten in ihrer stillen und doch so laut sprechenden Art und Weise ihre Hochachtung und Huldigung darzubringen. Es war als ob ein König oder ein Heiliger an ihnen vorüberziehe, nach ihrer Anschauung vielleicht beides zugleich. Das Herzle war sehr bleich, war tief ergriffen, und mir ging es nicht anders.

Als wir die von Zelten besetzte Vorebene des Mount Winnetou hinter uns hatten, öffnete sich die kompakte Masse des Vorderberges zu einem hohen, breiten Felsentor, durch welches wir das in das Innere des Berges führende Tal betraten. Die Wände dieses Tales stiegen hoch an; sie waren bewaldet.

„Bevor wir hinauf zum Schlosse reiten, führe ich euch zu meinem Wunder“, sagte Tatellah-Satah. „Ich meine den Schleierfall, den es nur hier, sonst nirgends gibt. Ihr werdet vorher noch anderes sehen, nämlich das berühmte Ohr des Teufels, dessen Zweck man nicht mehr kennt, und das Modell zur Winnetoustatue, an welchem Young Surehand und Young Apanatschka arbeiten.“

Ich antwortete nicht; ich blieb still. Ich tat, als ob mich dieses Ohr des Teufels gar nicht interessiere. Bekanntlich hatten wir den alten Kiktahan Schonka und seinen Verbündeten Ttisahga Saritsch in der Bergellipse kennengelernt, welche den Namen Tscha Manitou, Ohr Gottes, führt. Wir erfuhren dort, daß es eine zweite, derartige Ellipse gibt, die man Tscha Kehtikeh, das Ohr des Teufels, nennt. War damit der Ort gemeint, von dem der Medizinmann jetzt sprach? Das Herzle schaut mich an. Sie war der Meinung, daß es meine Pflicht sei, mich über diesen Gegenstand zu äußern. Ich aber schüttelte leise den Kopf. Als der Junge Adler an der Devils pulpit von dem Ohr Gottes und dem Ohr des Teufels sprach, hatte er gesagt, daß er das Geheimnis dieser beiden Orte von Tatellah-Satah zu erfahren hoffe; ich aber war der Meinung gewesen, daß der Medizinmann selbst noch nicht alles wisse. Darum hielt ich es für richtiger, nicht eher hierüber zu sprechen, als bis ich erfahren hatte, wie weit seine Kenntnis dieses Gegenstandes reiche.

Der Boden, auf dem wir ritten, glich keineswegs einem Wildnispfad, sondern einer alten, jämmerlich ab- und ausgefahrenen deutschen Dorf straße, auf welcher schwere Lastwagen verkehren. Es gab tief eingeschnittene Wagengeleise und Pferdespuren, die darauf schließen ließen, daß die hier transportierten Lasten nicht ohne Tierquälerei bewegt worden waren. Das Herzle konnte nicht umhin, eine bedauernde Bemerkung hierüber zu machen. Ich antwortete. Tatellah-Satah war still. Aber seine Brauen zogen sich zusammen, und sein Gesicht legte sich in strenge Züge.

Dieser Fahrweg führte bergan, doch so langsam, daß man es kaum bemerkte. Bald zweigte links ein breiter Reitweg ab, der schneller zur Höhe stieg.

„Unser Weg hinauf zum Schlosse“, erklärt der Alte. „Wir aber bleiben jetzt noch unten; wir reiten weiter.“

Nach vielleicht einer Viertelstunde mündete das Tal ganz plötzlich auf einen freien Platz, der schmal begann, aber nach und nach immer breiter und breiter wurde. Mit dieser Breite wuchs die Steilheit der Felsen. Diese letzteren zeigten zu beiden Seiten unseres Weges je einen nicht genau kreisförmigen Einschnitt. Beide Einschnitte lagen einander gegenüber. Sie bildeten riesige Felsennischen, zur rechten und linken Seite des Platzes gelegen. Es fiel mir auf, daß die eine so tief und breit und auch genauso abgerundet wie die andere war. Ich gewann den Eindruck, daß zwar die Natur die Bildnerin gewesen war, daß aber die Menschenhand nachgeholfen hatte, und zwar vor mehreren Tausenden von Jahren. Daß diese Menschenarbeit nicht nur einen besonderen Zweck, sondern auch einen tieferen Sinn gehabt hatte, verstand sich ganz von selbst. Ich hatte sogleich meine eigenen Gedanken hierüber, zumal mir ein Umstand in die Augen fiel, der mich sofort an die Devils pulpit erinnerte, wo wir die Beratung der Utahs und der Sioux belauscht hatten. Nämlich im vorderen Teil der beiden Nischen bestand der Boden aus sehr fest zusammengefügten Steinplatten, die keine Vegetation aufkommen ließen. Und über diese Platten erhob sich in beiden Nischen ein kanzelartiger Felsen, der einer kleinen, früheren Insel glich und Stufen hatte. Das gemahnte direkt an jene Beratungskanzel, auf deren Stufen ich die kleinen Hundepfötchen gefunden hatte, welche einen Teil der Medizin des alten Kiktahan Schonka bildeten. Der hintere Teil beider Nischen aber war derart mit Gestrüpp, Gesträuch und Bäumen besetzt, daß man sich hinter diesen Büschen leicht eine zweite Kanzel denken konnte, ähnlich derjenigen, auf welcher der Bär sein Lager aufgeschlagen hatte und von uns erlegt worden war. Wenn man nicht tiefer dachte, konnte man also sehr wohl auf den Gedanken kommen, daß jede dieser Nischen eine Wiederholung des ellipsenförmigen Talkessels bedeute, der uns als die Devils pulpit bekannt geworden war. Ich sage mit Absicht, „wenn man nicht tiefer dachte“, denn ich hatte große Lust, diesen Vergleich nicht für einen tief sinnigen, sondern für einen oberflächlichen zu halten, fand aber keine Zeit, weiter nachzudenken, weil Tatellah-Satah jetzt das Schweigen unterbrach, indem er, nach rechts und links deutend, sagte:

„Das sind die Ohren des Teufels, auf dieser Seite eines und auf der anderen Seite eines. Hast du schon einmal von ihnen gehört?“

„Nicht von zweien, sondern nur von einem“, antwortete ich.

„In Wirklichkeit ist auch nur ein einziges da; denn das eine ist richtig, und das andere ist falsch. Aber welches das richtige und welches das falsche ist, das weiß man bis heute noch nicht.“

„Aber früher hat man es gewußt?“

„Ja. Dieses Wissen ist aber wieder verlorengegangen. Ich gab mir alle Mühe, es zurückzufinden, doch leider ohne Erfolg. Es gibt zwei Teufelskanzeln, die eine hier, die andere droben in Colorado. Die dortige ist das Ohr Gottes; die hiesige ist das Ohr des Teufels. Ich werde dir erzählen, was diese Namen bedeuten, doch nicht jetzt, sondern später.“

Wir ritten weiter.

Der Platz, auf dem wir uns befanden, war bis jetzt noch von über tausendjährigen, breitwipfeligen Laubbäumen besetzt gewesen, die uns die Aussicht benahmen, doch als wir an ihnen vorüber waren, wurde der Blick in die Ferne frei, und wir hielten unsere Pferde an, denn das, was wir sahen, fesselte uns sofort und derartig, daß es uns innerlich und äußerlich ganz in Anspruch nahm.

„Das ist das Wunder; von dem ich sprach, der Schleierfall“, sagte der Medizinmann, indem er vorwärts deutete.

Wir konnten den hohen, hinteren Teil des breiten Platzes übersehen. Da oben, aber für uns unsichtbar, weil wir uns in der Tiefe befanden, lag der bereits erwähnte „Geheimnis- oder Medizinensee“. Von ihm aus warf sich die Höhe so steil zu uns herab, daß ihre Bewegung eine genau senkrechte war, und zwar in ihrer ganzen Breite. Ich habe schon erwähnt, daß dieser See zwei Wasserfälle speiste, welche zu beiden Seiten des Mount Winnetou niederfielen, um den „Weißen Fluß“ zu bilden. Aber in diesen Katarakten entfernte er nicht das ganze Wasser, welches ihm überflüssig war, sondern es gab noch einen dritten Weg, sich von ihm zu befreien, nämlich eben durch den Schleierfall. Während der See nach außen die beiden schmalen Fälle speiste, lief er nach innen in breitester Weise über, von einer bis zur anderen Seite des Platzes, auf dem wir uns unten befanden. Die Linie, auf der er dies tat, war vollständig gerad und vollständig horizontal, so daß das Wasser gleichmäßig verteilt, glatt und eben, wie ein polierter Spiegel, in das Tal herniederstürzte.

Dieser Spiegel war gewiß fünfzig Meter hoch. Seine Glätte wurde keinem einzigen Punkt getrübt und sein Zusammenhang um keinen Zentimeter unterbrochen. Und da er die ganze Breite des Innentales einnahm, so kann man sich wohl denken, was für einen tiefen, tiefen Eindruck er machte! Es war jetzt kurz nach Mittag. Die Sonne stand hoch. Ihre Strahlen fielen schräg auf den Wasserspiegel und wurden von ihm derart gebrochen und zurückgegeben, daß es schien, als ob er nicht aus Wasser, sondern aus flüssigem Gold, Silber und Kupfer und aus fallenden Strömen von Diamanten, Rubinen, Saphiren, Smaragden, Topasen und anderen Edelsteinen bestehe. Das erschien allerdings wie ein Wunder! Noch wunderbarer aber war, daß dieser Fall unten nicht etwa einen See oder eine andere, derartige Wasseransammlung bildete, sondern sofort und restlos in der Erde verschwand.

„Wo sieht man dieses Wasser wieder?“ fragte ich Tatellah-Satah.

„Im Tal der Höhle, fünf Reitstunden weit von hier“, antwortete er.

Das war mir sehr interessant, denn dieses Tal der Höhle war ja der Ort, an dem Kiktahan Schonka mit seinen Verbündeten sich verstecken wollte. Tatellah-Satah fuhr fort:

„Um diese Tageszeit ist der Fall wie von Gold und Edelsteinen gewebt, nicht aber ein Schleierfall. Doch schaut ihn Euch später an! Des Abends oder des Nachts, im Dunkel, im Halbdunkel, im Mondschein, im Sternenschein, im vereinigten Mond- und Sternenschein! Da ist es, als ob man sich auf einem anderen Stern, in einer anderen Welt befinde, nicht aber auf dieser Erde, der nichts mehr heilig gilt!“

Er deutete dabei auf ein im Entstehen begriffenes Bauwerk, welches in kurzer Entfernung vor dem Wasserfall aus der Erde und derart zum Himmel strebte, als ob ihm die Aufgabe gestellt sei, dieses Wunder zu entweihen. Es bestand jetzt aus einem ungeheuer schweren, massigen Postamente von zehn übereinander liegenden Riesenstufen, die so breit und so hoch waren, daß ihr Gewicht viele Tausende von Zentnern betrug und jedenfalls darauf berechnet war, ungeheure Lasten zu tragen. Auf diesem Piedestal erhoben sich zwei Balkengerüste, mit deren Hilfe an dem unteren Teil einer Kolossalstatue gearbeitet worden war. Das eine Bein war bis zum Knie, das andere bereits bis zur Hälfte des Oberschenkels entwickelt. Man sah deutlich, daß die Figur eine indianische Reithose und Mokassins tragen sollte.

„Welch eine Sünde!“ klagte das Herzle. „So ein formloses Menschenwerk grad vor so ein Gotteswunder zu stellen! Wer ist der Mann, der das ersonnen hat?“

„Es ist nicht einer, sondern es sind vier!“ antwortete Tatellah-Satah. „Old Surehand, Apanatschka und ihre Söhne!“

„Was? Wie?“ rief ich aus. „Soll diese Figur hier etwa Winnetou werden?“

Der Medizinmann nickte nur.

„Unmöglich! Hierher!? Ich denke, man will ihn auf die Höhe des Berges stellen!“

Seit wir uns in diesem Tal befanden, waren wir nicht mehr in der Mitte, sondern an der Spitze der Trabanten geritten. Der „junge Adler“ befand sich also bei uns. Er antwortete:

„Das ist richtig. Die endgültige Figur soll auf den hohen Bergesvorsprung, den ich Euch noch zeigen werde. Das Modell steht in der Unterstadt- in einem besonderen Gebäude. Dieses hier soll der Probeversuch sein. Von ihrem Gelingen hängt es ab, ob der Plan auszufahren ist oder nicht. Zu so einem Kolossalwerk sind auch kolossale Mittel nötig. Um diese Mittel zusammenzubekommen, muß man die Geber für das Werk begeistern. Darum hat man gerade diesen Platz für die Probestatue gewählt. Old Surehand und Apanatschka bauen sie aus ihren eigenen Mitteln. Die Mittel zur Ausführung des eigentlichen Werkes erwartet man von der roten Nation. Um diese zu begeistern, ist der Platz hier am Schleierfall am geeignetsten. Da soll die Statue vorgeführt werden. Da soll sie beleuchtet werden, des Nachts, mit Elektrizität, mit Lampions und künstlichem Feuerwerk. Man rechnet dabei auf die jedenfalls großartige, überwältigende Mitwirkung des Schleierfalles.“

„Und das duldet Ihr?“ fragte das Herzle, das außerordentlich kunstempfindlich ist und sich durch diesen Plan wie innerlich verwundet fühlte.

„Ich nicht!“ antwortete Tatellah-Satah, indem er wie schwörend die Hand erhob. „Doch stand ich allein. Ich konnte nur vorbereiten und mußte warten. Nun aber der gekommen ist, auf den ich hoffte, gebe ich ihm dieselbe Frage: Und das duldest du?“

Er richtete sie an mich. Da stieg etwas ganz Eigentümliches, etwas Unbeschreibliches in mir auf.

„Habe ich Einfluß auf dein Volk, auf deine Rasse?“ fragte ich ihn. „Nein!“

„Nein?“ fragte er. „Und hättest du ihn nicht, so bist du doch, der du bist. Ich brauche dein Auge; ich brauche dein Ohr; ich brauche deine Hand; ich brauche dein Herz. Wenn du mir das gibst, so werde ich siegen!“

Da reichte ich ihm die Hand und antwortete:

„Hier Auge und Ohr, hier Hand und Herz. Ich bin dein!“

Da drückte er mir die Hand, daß es mich fast schmerzte, und sprach:

„So heiße ich dich zum zweiten und zum höchsten Male willkommen! Du sollst mein Gast sein, wie noch niemand mein Gast gewesen ist – – –“

Schnell unterbrach ich ihn:

„Laß mich dein Gast sein, wie ich es wünsche, anders nicht!“

„Und was wünschest du?“

„Ein freier Mann zu sein, kommen und gehen zu dürfen, ohne gehindert zu werden. Vertrauen bei dir zu finden, so wie du dir selbst vertraust!“

„So sei es! Du bist dein eigener Herr, und alles, was ich habe, ist dein!“

Da kam es wieder über mich wie vorhin. Ich deutete auf das schwer lastende Bauwerk und sprach:

„So sage ich dir: Eher werden diese Quadern von selbst in der Erde verschwinden, auf die man sie gegründet hat, als daß man meinen Winnetou mit Lampions und Feuerwerk beschimpft! Doch versuchen wir es zunächst in Liebe!“

„Ja, zunächst in Liebe“, stimmte er bei. „Kommt, kehren wir um; wir sind hier fertig!“

Wir ritten den Weg, den wir gekommen waren, zurück, bis wir die Stelle erreichten, an welcher der Reitpfad zur Seite ab hinauf nach dem Schloß führte. Dem folgten wir. Unterwegs erfuhren wir von dem „jungen Adler“, daß der Platz am Schleierfall jetzt regelmäßig von Arbeitern wimmelte und heute nur deshalb so leer und einsam gewesen sei, weil alle Kräfte nach den Steinbrüchen mußten, um neue Quadern zu holen. Das Herzle war sehr ernst und nachdenklich geworden. Sie sah, daß ich sie daraufhin beobachtete und wohl gern den Grund erfahren hätte; darum sagte sie, ohne diese meine Frage abzuwarten:

„Dein Wort, daß diese Quadern wohl eher in die Erde verschwinden werden, als daß du Lampions und Feuerwerk duldest, hat sich wie ein Gewicht auf mich gelegt. Es kommt bei dir so häufig vor, daß das, was du sagst, in Erfüllung geht, selbst wenn andere es für vollständig unmöglich halten. Zuweilen ist diese Erfüllung eine geradezu wörtliche. Und als du vorhin sprachst, hatte ich das Gefühl, als ob das, was du sagtest, eine solche Prophezeiung sei, aus dir selbst herausgestiegen, ohne alle Ahnung, woher es kommt.“

„Und das bedrückt dich nun?“ fragte ich.

„Bedrücken? Nein! Es hebt mich ganz im Gegenteil innerlich empor. Es macht mich fest. Es ist mir, als ob ich ein unerbittliches Schicksal nahen höre, welches uns zu Hilfe kommt. Das macht mich still und sinnend.“

Während dieses kurzen Redewechsels hatten wir eine Stelle des Weges erreicht, von welcher aus man frei nach der Spitze des Vorberges zu schauen vermochte. Da hielt Tatellah-Satah sein Maultier an, deutete empor und fragte:

„Seht ihr innerhalb der südlichsten Felsennadel das riesige Adlernest, welches für Menschen nicht erreichbar scheint?“

Wir sahen es. Der Medizinmann fuhr fort:

„Da hinauf stieg der junge Adler, als er noch Knabe war. Er wollte sich aus dem Horst des großen Kriegsadlers seinen Namen und seine Medizin holen. Aber der Riemen zerriß, an dem er hing. Er stürzte in das Nest und konnte nicht wieder hinauf. Er tötete die zwei jungen. Da kam die Alte. Er kämpfte mit ihr und zwang sie, ihn aus jener fürchterlichen Höhe herunter in das Tal zu tragen. Nun sind ihre Federn, ihre Krallen und ihr Schnabel sein Schmuck, die Krallen und Schnäbel der jungen aber seine Medizin. Er wird seitdem der junge Adler genannt. Ich aber bin sein Pate, denn als er mit der Adlern geflogen kam, saß ich vor meiner Tür, und er landete gerade vor meinen Füßen.“

Das klang wie ein Märchen oder gar wie eine Münchhauseniade, und doch war es wahr; das verstand sich ganz von selbst, Der „junge Adler“ hatte es nicht gehört; er war weiter fortgeritten und wir folgten ihm, ohne daß ich den Alten bat, uns den Vorgang ausführlicher zu erzählen. Dem Herzle aber sah ich es an, daß sie entschlossen war, es sobald wie möglich zu hören und sich zu diesem Zweck an den jungen Mann selbst zu wenden.

Der Reitweg führte in zahlreichen Windungen so weit an der Innenseite des Berges empor, bis die Höhe des „Schlosses“ erreicht worden war. Dann wendete er sich nach der vorderen, also nach der östlichen Seite des Mount Winnetou, von welcher aus, als wir sie erreichten, wir die Ober- und die Unterstadt in der Tiefe vor uns liegen sahen. Von da unten war der „junge Adler“ hier heraufgeritten, um Tatellah-Satah unsere Ankunft zu melden. Hoch über uns sahen wir den Wachtturm ragen. Der „Bewahrer der großen Medizin“ deutete da hinauf und sagte zu dem „jungen Adler“:

„Da oben wirst du wohnen. Jetzt aber kommst du mit uns, die Pfeife des Friedens und der Gastlichkeit zu rauchen.“

Das „Schloß“ bestand nicht etwa aus nur einem oder nur einigen Gebäuden. Es bildete eine Felsenstadt für sich. Die Jahrhunderte und Jahrtausende hatten an ihr gebaut. Darum waren alle amerikanischen Bauarten und Baustile hier vertreten, von dem erstbewohnten Felsenloch und der ersten Kordillerenhütte bis zur altperuanischen Festung, zum altmexikanischen Versammlungshaus und zum steinernen Wigwam nördlicher Gegenden. Es gab da gewaltige Felsen- und Adobeswerke nach Art der Pueblostämme. Die wurden, wie ich dann später sah, als Vorratshäuser benutzt, in denen seit undenklichen Zeiten große Mengen von Getreide und getrockneten Nahrungsmitteln aufbewahrt wurden, ohne verderben zu können. Da ragten Mauern, die aus noch größeren Riesensteinen bestanden, als ich z. B. in Baalbek und anderen berühmten orientalischen Orten gesehen hatte. Wir ritten an allen möglichen indianischen Zelten, Hütten, Häusern, Palästen, Balkonen, Veranden, Dächern, Tennen, Scheunen und Schuppen vorüber, die sich wie ein langgestrecktes, festes Mauerband um die Höhe des Berges legten und als steinerne Größe aus uralter Zeit hinunter in die Tiefe schauten, wo in der Ober- und Unterstadt das kleine Volk der Gegenwart sich mit allen Kräften dagegen wehrte, endlich einmal größer werden zu sollen. Aber so aufrichtig ich die rote Rasse liebe und so gern ich nur Gutes, Edles und Großes von ihr berichten möchte, so muß ich doch der Wahrheit die Ehre geben und darum offen bekennen, daß alle diese Bauwerke trotz ihrer teilweisen Riesenhaftigkeit mir doch so niedrig und so geistesabwesend vorkamen, daß sie mir weder imponieren noch mich erfreuen konnten. Sie machten alle einen so – so – – indianischen Eindruck auf mich. Es war nichts an ihnen, was zum Himmel strebte. Wir sahen so wenig Fenster. Es gab kein Verlangen nach freier, gesunder Luft, nach Licht und Tageshelle. Und es gab unter allen diesen Gebäuden kein einziges, welches gleich einer Kirche oder einer Moschee empor zur Höhe strebte. Hiervon bildete der Wachtturm die einzige Ausnahme; aber sein Zweck wies doch auch nur nach unten, nicht nach oben. Er war zur Beherrschung der Tiefe da, nicht aber als Fingerzeig für ein geistiges Aufwärtsstreben.

Diese Beobachtung tat mir weh. Und dem Herzle auch; das sah ich ihr an. Sie empfindet viel zarter, viel feiner als ich. Ihre Seele steht dem Leid des Erden- und des Menschenlebens viel offener als die meine. Und hier lag das ungeheure Leid einer ganzen, großen, fast untergegangenen Rasse in untrüglichen, steinernen Beweisen vor unsern Augen! Selbst der Wachtturm hatte nicht eigentlich Turmesgestalt, sondern er bildete ein niedriges, vierseitiges Prisma mit vollständig ebener Dachfläche. Die Indianer haben keine Türme, keine Minareh. Sie haben die Winke ihrer Riesenbäume nicht verstanden; sie haben keine Dome gebaut. So sind sie auch geistig an der Erde geblieben. Sie sahen den Vogel fliegen. Der Adler stand ihnen hoch. Ihr stolzester Schmuck bestand aus seinen Federn. Aber es ihm nachzutun und sich über den Boden zu erheben, dieser Gedanke bewegte sie nicht. Fliegen lernen! Fliegen lernen! Wer das nicht will, bleibt unten, sei er Volk oder sei er Person. Die andern überholen ihn. Er aber kriecht auf der Erde weiter und wird in ihr so ganz und gar verschwinden, daß von ihm kaum ein Gedächtnis übrigbleibt. Das ist das Schicksal des Indianers, wenn er nicht im letzten Augenblick noch fliegen lernt.

Dieser Eindruck des Felsenschlosses wurde dadurch gemildert, das es wohlbevölkert war. überall standen Leute, auf den Zinnen, auf den Dächern, an den Luken, vor den Taren, auf den Gassen; Männer, Frauen und Kinder. Die Männer genau wie Winnetou gekleidet, mit dem Sterne auf der Brust, auch die Frauen außerordentlich sauber und intelligenten Auges, die Kinder ebenso. Nirgends die indolenten Papusengesichter, denen man anderwärts begegnet. Und auch nirgends auf den Gesichtern der Ausdruck der stummen Klage oder jenes nationalen Trübsinns, der auf jede Freude und auf alles Glück verzichtet zu haben scheint. Ich sah nur intelligente Züge, nur heitere Mienen. Man freute sich. Man lachte. Tatellah-Satah wurde mit tiefen Verneigungen und respektvollen Handbewegungen begrüßt. Man widmete ihm die größte, die aufrichtigste Ehrfurcht, und – man liebte ihn. Mit größter Wißbegier waren die Augen auf mich und das Herzle gerichtet. Man wußte, wer es war, den der „Bewahrer der großen Medizin“ in eigener Person abgeholt hatte. Man nannte meinen Namen; man rief ihn mir jubelnd zu; denn man wußte, daß nun die so lange hinausgeschobene Aktion beginnen werde.

„Und das ist seine Squaw – – seine Squaw – – – seine Squaw!“ hörte ich sagen.

Ich erwähne, daß das Wort „Squaw“ nicht etwa einen unterschätzenden Beigeschmack besitzt. Es gibt Romanschriftsteller, welche die Indianerfrauen als rechtlos, als die Sklavinnen ihrer Männer schildern. Das ist grundfalsch. In Wahrheit hat es schon Indianerfrauen gegeben, welche Häuptlinge gewesen sind. Die Stellung der Frau wird besonders auch dadurch erhöht, daß die Erbfolge sich gewöhnlich in weiblicher Linie vollzieht. Dem Verstorbenen folgt nicht sein eigener Sohn, sondern der Sohn seiner Schwester. Es war also keineswegs etwas Ungewöhnliches, daß man dem Herzle dieselbe Aufmerksamkeit schenkte wie mir.

Wir ritten durch das breite, sehr tiefe Tor eines sich lang ausstreckenden Gebäudes, dessen Außenmauer durch schmale, schießschartenförmige, aber sehr hohe Oeffnungen unterbrochen wurde. Jede dieser Oeffnungen führte auf einen steinernen Balkon, von welchem aus man die ganze Vorebene des Mount Winnetou überblicken konnte. Durch dieses Tor gelangten wir in einen sehr geräumigen Hof, in welchem uns ein zweites, ähnliches Gebäude gegenüberstand. Auch dieses hatte ein Tor, welches in einen zweiten Hof, zu einem dritten Gebäude führte. So stieg eine ganze Folge von miteinander abwechselnden Höfen und Gebäuden in einer Felsspalte empor, die unten sehr breit war und nach oben immer enger wurde. Demgemäß waren auch die Gebäude und Höfe unten sehr breit und wurden dann um so schmaler, je höher sie stiegen. Die Seiten der Höfe wurden von den beiden Wänden der Felsenspalte gebildet, und an allen diesen Seiten führten tief eingehauene Pfade rechts und links nach dem Wald empor, auf dessen Wiesen der kostbare Pferdebestand des berühmten Medizinmannes weidete.

Im untersten, größten Hofe stiegen wir ab. Tatellah-Satah führte uns in das Haus, mich, das Herzle und den „Jungen Adler“. Niemand durfte uns folgen. Er leitete uns über Stufen zur Etage empor, nach einem ziemlich großen und ziemlich hohen Raum, in dessen Mitte eine von sechs ungeheuren Grizzlybären getragene Platte stand. Auf ihr lagen wohl über ein Dutzend Friedenspfeifen mit allem Zubehör. Hier wurden die gewöhnlichen Gäste empfangen; uns aber führte er weiter, durch eine ganze Reihe der verschiedensten Räume, bis wir an einen ledernen, köstlich gegerbten und bemalten Vorhang gelangten, den er mit der Aufforderung zurückschlug:

„Tretet ein, und setzet euch nieder; ich kehre schnell zurück.“

Wir taten es und sahen gleich mit dem ersten Blick, daß wir uns in einem kleinen, mit großer Liebe behüteten Heiligtum befanden. Zwei mit Glas verschlossene Luken spendeten helles Licht. Das Ganze war als Zelt eingerichtet, doch nicht als Kriegs-, sondern als Friedenszelt, dessen Bahnen abwechselnd aus höchst seltenen weisen Biber- und weißen Präriehuhnfellen bestanden. Vier schlohweiße Büffelfelle lagen am Boden, derart arrangiert, daß sie weiche Sitze bildeten, während die Köpfe mit den starken Hörnern als Ellbogen- und Rückenstütze dienten. Zwischen ihnen trugen vier Jaguarköpfe eine große, polierte Schale, die aus dem heiligen Pfeifenton des Nordens geschnitten war. Auf ihr lag ein Kalumet. Es war nicht groß, nicht kostspielig, sondern weit eher klein und ganz gewöhnlich. Es zog durch nichts, durch gar nichts den Blick auf sich, und doch erkannte ich es sofort als die wertvollste und unschätzbarste Friedenspfeife, die es hier gab und überhaupt geben konnte.

„Winnetous Pfeife!“ rief ich aus. „Die Pfeife, die er trug, als ich ihn kennenlernte! Welch eine Überraschung, welche Freude!“

„Irrst du dich nicht vielleicht?“ fragte das Herzle.

„Unmöglich!“

„So muß ich sie betrachten.“

Sie wollte hintreten und zugreifen.

„Halt!“ bat ich. „Rühre ja nichts an! Ich sehe, hier ist ein heiliger Ort; den haben selbst Freunde, wie wir sind, heilig zu halten!“

Ich führte sie zu den Fenstern. Wir hatten die Ebene mit ihren Zelten und Blockhäusern unter uns liegen. Es schienen soeben wichtige Personen angekommen zu sein; das ersahen wir aus der Bewegung, die es gab. Wir fanden aber keine Zeit zur Beobachtung, denn Tatellah-Satah kam jetzt. Er hatte den Mantel abgelegt, und nun sahen wir, was für ein Gewand er darunter getragen hatte, nämlich einen ganz gewöhnlichen indianischen Anzug von weichgegerbtem, naturfarbenem Leder, ohne eine Spur von verschonender Stickerei oder sonstigem Schmuck.

Er nahm zunächst das Herzle bei der Hand und führte sie dahin, wo sie sich setzen sollte. Sein Sitz war ihr gegenüber. Ihm zur Rechten war mein Platz und zur Linken der des „jungen Adlers“. Der alte Pappermann war unten bei den Pferden geblieben. Tatellah-Satah setzte sich zunächst nicht. Er blieb stehen und sprach:

„Mein Herz ist tief bewegt, und meine Seele kämpft mit dem Leid vergangener Zeiten. Als zum letzten Mal hier an dieser Stelle das Kalumet geraucht wurde, war es ein Rauch des Abschiedes. Hier, wo jetzt unsere weiße Schwester sitzt, saß Nscho-tschi, die schönste Tochter der Apatschen, die Hoffnung unseres Stammes; hier wo jetzt Old Shatterhand sitzt, saß Winnetou, mein Liebling, den keiner so kannte wie ich; hier, an Stelle des jungen Adlers, saß Intschu-tschuna, der kluge und tapfere Vater dieser beiden. Sie waren gekommen, um Abschied von mir zu nehmen. Nscho-tschi wollte nach dem Osten, in die Städte der Bleichgesichter, um ein Bleichgesicht zu werden. Im Innern meines Auges standen Tränen. Die Trägerin aller unserer Wünsche und Hoffnungen verließ uns, weil ihre Liebe uns nicht mehr gehörte. Es war ein trüber Tag; draußen heulte der Sturm, und in meiner Seele war es dunkel. Sie gingen. Nscho-tschi kehrte nicht zurück. Sie wurde mit ihrem Vater ermordet. Nur Winnetou kam. Ich haderte mit ihm. Ich zürnte dem, um dessentwillen die Tochter unseres Stammes sich von uns gewendet hatte. Da legte Winnetou sein Kalumet in diese Schale und schwor, daß er diese Pfeife nicht eher wieder berühren werde, als bis ich erlaube, daß sein Bruder Shatterhand sich hier zu uns setze und den Gruß des Friedens mit uns rauche. Er war noch oft, noch oft bei mir. Er wohnte und übte und arbeitete monatelang am Mount Winnetou, nie aber hat er dieses Zelt wieder betreten, und nie hat es ein anderer betreten dürfen. Nur sein Schwur saß hier und wartete, wartete lange, lange Zeit. Winnetou starb. Er starb am Herzen Old Shatterhands. Ich zürnte mehr als vorher. Mir schien, als sei die Zukunft der Apatschen mit ihm gestorben. Ich war der Bewahrer der Medizinen. Ich ahnte die Geschichte und die Geheimnisse unserer Rasse. Ich hatte diese Rasse vom Untergang, vom Tod retten wollen. Ihre Seele sollte erwachen in Winnetou, dem gedankentiefsten, dem edelsten der Indianer. Nun war er tot, und die Seele seiner Rasse war gestorben. So glaubte ich, ich Tor!“

Er hielt inne, schaute eine kleine Weile durch das Fenster, welches ich geöffnet hatte, und fuhr dann fort:

„Es kamen helle, sonnige Tage. Die Stimme des Lebens drang wieder zu mir herein. Und wo ich sprechen hörte, sprach man von Winnetou. Er lebte. Er kam vom Hancockberg, wo er erschossen wurde, über Prärien, Täler und Berge in seine Heimat zurück. Immer näher und näher. Er war nicht tot. War er überhaupt gestorben? Seine Taten wachten auf. Seine Worte wanderten von Zelt zu Zelt. Seine Seele wurde laut. Sie begann zu sprechen, zu predigen. Sie schritt durch die Täler. Sie stieg auf die Berge. Sie kam zu uns herauf, zum Berg der Medizinen. Sie kam zu mir herein, und als ich sie erkannte, da war es zwar die Seele Winnetous, zugleich aber auch die Seele seines Stammes, seines Volkes, seiner Rasse. Sie ließ sich bei mir nieder. Ich hörte sie täglich und stündlich. Zu allen Türen, zu allen Luken, zu allen Oeffnungen drang der Name Winnetou zu mir herein. Er war im Munde aller roten Nationen. Er wurde zur Turmesflamme, die über die Savannen und über die Berge leuchtet. Wer Gutes, Reines und Edles wollte, der sprach von Winnetou. Wer nach Hohem, nach Erhabenem trachtete, der redete von ihm. Winnetou wuchs zum Ideal. Er ist die erste geistige Liebe seiner Rasse! Ich lernte viel begreifen, was ich früher nicht begreifen konnte. Ich lernte, still und ruhig sein, wenn ich oft und oft Old Shatterhand neben Winnetou nennen hörte. Ich stieg zu der Erkenntnis empor, daß diese beiden unzertrennlich sind im großen Menschheitsgedanken. Trat ich dann in Stunden inneren Kampfes in dieses Zelt, in dem ich jetzt zu euch spreche, so sah ich Winnetou seelisch vor mir stehen, wie er das Kalumet in die Schale legte und seine Hand zum Schwur erhob, sie ohne seinen Bruder Shatterhand nicht wieder zu berühren.“

Wieder machte er eine Pause. Wir hörten ferne Stimmen durch das offene Fenster klingen. Sie stiegen von der Stadt herauf. Es waren Begrüßungsrufe. Tatellah-Satah ging hin, schaute hinab und sagte:

„Es sind Häuptlinge angelangt; sie tragen den Federschmuck. Wer sie sind, werden wir bald erfahren.“

Dann kehrte er zu uns zurück und fuhr fort:

„Nie habe ich so deutlich wie jetzt, in diesem Augenblick, gefühlt, daß Winnetou noch lebt. Old Shatterhand kam über Land und Meer herüber, und es geht von ihm eine geheimnisvolle Bestätigung aus, daß es für seinen roten Bruder nicht die alten lügenhaften ewigen Jagdgründe gibt, die nur für die Herdenmenge erfunden waren. Ich habe Old Shatterhand geschrieben. Ich habe ihn gebeten, zu kommen, um seinen Bruder Winnetou zu retten. Aber ich bin überzeugt, daß Old Shatterhand sehr wohl weiß, von wem diese Bitte ausgegangen ist: nicht von Tatellah-Satah, sondern von Winnetou, von der Seele der roten Nation, die von ihren eigenen Söhnen niedergerungen und erstickt werden soll. Sie will empor! Sie will fliegen lernen! Sie will nicht nur essen und trinken und daran verhungern, sondern sie will mehr. Sie will teilhaben an allem, was Manitou der ganzen Menschheit gab, nicht nur einzelnen Nationen. Sie will nicht länger Kind bleiben, denn wehe dem Volk, welches sich sträubt, mündig zu werden! Sie will wachsen. Da aber eilt die Torheit der Unverständigen herbei, dem Kind vorzulegen, daß es ein Mann, ein Held, ein Riese sei, und diese Lüge in Erz und Marmor zu verewigen. Das ist ein Mord und, da er von Personen unserer eigenen Rasse ausgeht, eine Vernichtung unserer selbst. Das kann Tatellah-Satah nicht dulden, und das darf auch Old Shatterhand nicht dulden! Ich bin so froh, so glücklich, daß er gekommen ist, uns seine Hand zu bieten. Er sitzt zu meiner Rechten wie damals Winnetou. Es drängt mich, zu denken, er sei wirklich Winnetou. Und ebenso sei unsere weiße Schwester keine andere als Nscho-tschi, der Liebling unseres Volkes. Ich bin Tatellah-Satah, der Bewahrer der großen Medizin. Ich heiße euch willkommen. Ich fühle tief in mir die Nähe dessen, den ich liebte, wie ich keinen andern liebte. Er sehe und höre, daß heut sein Schwur in Erfüllung geht. Old Shatterhand ist hier. Ich habe ihn gehaßt; nun aber liebe ich ihn. Er sei mein Bruder, wie ich der seine bin. Das Kalumet unseres Winnetou soll es bezeugen!“

Er griff nach der Pfeife, füllte sie, setzte sie in Brand, tat die sechs ersten Züge, blies den Rauch nach oben, nach unten und nach den vier Himmelsrichtungen, sprach die gebräuchlichen Formeln dazu und reichte dann mir die Pfeife. Ich stand auf und sprach:

„Ich grüße meinen Winnetou, und ich lausche dem Erwachen seines Volkes. Ich war stets er, und er war stets ich. So sei es auch heut, und so bleibe es immerdar! Dies genug der Worte; lassen wir Taten sprechen! Die Zeit dazu ist schon heut!“

Hierauf tat ich dieselben sechs Züge und gab dem Medizinmann das Kalumet dann wieder. Er reichte es dem Herzle und sprach:

„Nimm du es hin, wie unsere Nscho-tschi! Sie spreche jetzt zu uns aus deinem Munde!“

Das war eine große Ehre. Ich freute mich darüber, doch nicht ohne eine kleine Bangigkeit. Sie sollte sprechen! Was würde sie sagen? Und sie sollte rauchen! Den scharfen, mit Sumach vermischten Tabak! Sie hatte nur ein einziges Mal in ihrem Leben geraucht, zum Scherz, eine halbe Zigarette. Sie schaute mich an und las in meinen Augen die Warnung: „Herzle, ich bitte dich um Gottes willen, blamiere mich nicht etwa!“ Sie aber lächelte zuversichtlich, nahm die Pfeife, stand auf und sprach:

„Ich liebe Nscho-tschi, die Tochter der Apatschen. Ich kam an ihr Grab und betete. Da fühlte ich, daß es kein Grab, kein Tod, keine Leiche sei. Nur Ueberflüssiges verwest; alles andere aber bleibt. So wie sie, schwand auch dein Volk; seine Seele aber blieb. Und seid ihr stark genug, so wird sie sich den neuen, herrlichen Körper schaffen, der ihr schon längst gebührte. Gib mir dein Herz, o Tatellah-Satah; das meinige ist schon dein eigen!“

Sie tat mutig alle sechs Züge und gab die Pfeife dann zurück. Als sie sich wieder niedersetzte, hatte sie feuchte Augen; aber es war nicht zu unterscheiden, ob es die Rührung oder eine Folge des Tabaks war.

Hierauf bekam auch der „junge Adler“ das Kalumet. Er erhob sich und sprach:

„So weit die Erde reicht, ist jetzt eine große Zeit. Doch ist diese Zeit nicht vollendet; sie steht nur erst im Werden. Sie ist noch jung; sie hat sich zu entwickeln und wir mit ihr. Die Menschheit steigt zu ihren Idealen auf. Steigen auch wir! Bleiben wir nicht unten, wie bisher! Schon regt der junge Adler seine Schwingen. Fliegt er dreimal um den Berg, so fährt der rote Mann aus dem Scheintod auf, und der Tag, der ihm gehört, bricht heran!“

Auch er tat die vorgeschriebenen sechs Züge und gab das Kalumet dann an den „Bewahrer der großen Medizin“ zurück.

Dieser hatte es langsam auszurauchen, ohne daß weiteres dabei gesprochen wurde. Hierauf war die Zeremonie vollendet. TatellahSatah geleitete uns nach dem erstbeschriebenen, großen Raum mit den vielen Friedenspfeifen. Da zeigte er auf einen dort wartenden, riesenhaften Indianer und sagte:

„Das ist Intschu-inta, euer Diener. Er wird euch nach eurer Wohnung führen. Er sagt euch alles, was ihr wissen wollt. Er war der Liebling Winnetous. Sei er nun auch der eurige! Nur einmal bitte ich euch, meine Gäste auch beim Essen zu sein, nur heut am ersten Tage, in einer Stunde; dann aber seid ihr stets und in allem frei, könnt aber zu mir kommen, so oft es euch beliebt.“

Er reichte uns die Hand und zog sich dann zurück. Wir gingen zunächst nach dem Hof hinab, wo wir unsere Pferde gelassen hatten. Da stand aber nur der Hengst des „jungen Adlers“ und das Maultier, welches sein Paket trug. Er stieg auf und ritt davon, hinauf nach dem Wachtturm, der ihm zur Wohnung angewiesen war. Unsere Pferde und Maultiere waren, wie wir von Intschu-inta erfuhren, von Pappermann nach unserm Quartier geführt worden, wohin wir ihnen jetzt nachfolgten.

Intschu-inta war, wie bereits gesagt, ein wahrer Hüne von Gestalt, gewiß schon über 6o Jahre alt, doch von noch jugendlicher Rüstigkeit. Ein wahrheitsliebender, treuer, stolzer Charakter. Wenn er als unser „Diener“ bezeichnet worden war, so war er das freiwillig. Es hatte nichts mit dem Begriff der Unterordnung, der Gehorsamleistung zu tun. Er war trotzdem in jeder Beziehung sein eigener, selbständiger Herr. Er führte uns durch die schon erwähnten Tore nach dem zweiten, dritten, vierten, fünften und sechsten Innenhof. Das dort stehende Gebäude war für uns bestimmt, ganz allein nur für uns.

„Es ist Winnetous Haus,“ erklärte uns das „Gute Auge“.

„Wohnte er da?“ fragte ich.

„Stets, so oft er kam“, antwortete der Diener. „Die Räume, in denen Old Shatterhand wohnen wird, sind noch ganz genauso, wie sie von Winnetou verlassen wurden, als er zum letzten Male hier war. Wenn Intschu-tschuna kam, wohnte er bei seinem berühmten Sohn. Und ebenso Nscho-tschi. Unsere weiße Schwester wohnt in den Stuben, welche von der schönen, gütigen Schwester Winnetous bewohnt worden sind.“

Auch dieses Gebäude hatte Balkone vor den schmalen Schartenöffnungen der Mauerfronten. Infolge der hohen Lage mußte es da einen noch weiteren Fernblick geben als unten bei Tatellah-Satah. Unsere Pferde und Maultiere waren in einem stall- oder schuppenartigen Nebengebäude untergebracht. Wir aber stiegen die Treppe zu den Wohnräumen empor und gelangten da zunächst in eine große, indianisch ausgestattete Stube, in welcher hohe Tongefäße zum Waschen standen. Es gab da zahlreiche Sitze verschiedener Art und auch eine Platte mit Friedenspfeifen.

„Das ist der Empfangssalon“, lächelte das Herzle.

Die Wände waren mit allerlei Waffen ausgestattet. Ich sah einige Messer, Pistolen und Flinten, die ich kannte. Sie hatten Jagdgenossen von uns gehört. Der Diener führte uns durch das ganze Gebäude. Es hätte bequemen Raum für 30-40 Gäste gehabt, und ich müßte mehrere Druckbogen füllen, um die Einrichtung und Ausstattung auch nur einigermaßen zu beschreiben. Darum unterlasse ich das jetzt, zumal ich später, wenn ich „Winnetous Testament“ veröffentliche, auf dieses Haus und seine Räume zurückzukommen habe.

Mit welchen Gefühlen ich die drei nebeneinanderliegenden Stuben betrat, welche den Zweck gehabt hatten, Winnetou zum eigentlichen Gebrauch zu dienen, kann man sich wohl denken. Links lag die Schlafstube. Hieran stieß die bedeutend größere Wohnstube. Hierauf folgte die ebenso große Arbeitsstube. Aus jedem dieser drei Räume konnte man hinaus auf den Balkon treten, um die herrliche Aussicht, die sich da bot, zu genießen. In der Schlafstube gab es ein sehr weiches, sehr hohes und außerordentlich sauberes Lager von Fellen und Decken. Hierzu einige Wassergefäße zum Waschen und Trinken, weiter nichts. Die Wohnstube war halb europäisch, halb indianisch eingerichtet. Es gab niedrige und hohe Sitze, niedrige und hohe Tische. Auf diesen Tischen lag und an den Wänden hing gar mancher Gegenstand, den ich kannte, weil er von mir stammte. Darunter zwei Photographien, die ich für gut getroffen gehalten hatte. Jetzt waren sie ziemlich verblichen. An der einen Wand hingen wohl gegen 20 Blätter mit Versuchen, diese Photographien nachzuzeichnen.

„Er muß dich doch sehr, sehr lieb gehabt haben!“ sagte das Herzle, indem sie diese Blätter eingehend betrachtete. „Seine Hand ist nicht talentlos gewesen. Er traf, war aber ungeübt, noch nicht einmal Schüler! Es ist das so außerordentlich rührend!“

In der Arbeitsstube stand – – ein Schreibtisch, ja, wirklich ein Schreibtisch, mit Kästen, Federn, Tinte und vielem Papier. Die Tinte war eingetrocknet. Hier hatte er, der Herrliche, sich im Schreiben geübt. Hier war er, der Bändiger der wildesten Pferde, der Meister im Gebrauche einer jeden Waffe, auf die Jagd nach orthographischen Schnitzern gegangen! Mein lieber, lieber, mein einziger Winnetou! Und hier hatte er die bedeutsamsten Kapitel seines „Testaments“ geschrieben, dessen Veröffentlichung mir übertragen worden ist!

Auch anderes hatte er hier gearbeitet, mit Messer und Zange, mit Hammer und Feile, sogar mit Nadel und Zwirn! Nichts war ihm zu niedrig und zu klein gewesen. Sogar eine Ledermappe zu machen, hatte er versucht. Als ich sie öffnete, lag ein einziges Blatt darin. Darauf stand in großen Buchstaben geschrieben: „Charly, mein Charly, wie liebe ich Dich!“ Und als ich es umwendete, war auch die andere Seite beschrieben, doch klein und wie mit zitternder Hand: „Charly, ich sterbe für Dich. Ich weiß es, ich weiß es! Dein Winnetou.“

Intschu-inta stand dabei und sah, daß das Herzle, als wir das lasen, weinte. Auch mir stand ein Tropfen im Auge. Er, der starke Mann, drehte sich um und fuhr sich mit der Hand ins Gesicht.

„Es ist hier alles so sauber! Grad als ob er erst vor einer Stunde hier gewesen sei!“ sagte sie. „Wer hat hier auf Ordnung gehalten? Wer hat gewischt?“

„Ich,“ antwortete er.

„Wann?“

„Jeden Tag.“

„Seit wann?“

„Seit er zum letzten Male hier war.“

„Diese lange, lange Zeit? Jeden Tag? Trotzdem er nicht mehr kommen konnte? Trotzdem er nicht mehr lebte?“

Da schüttelte er leise den Kopf, lächelte ebenso leise und antwortete:

„Er sagte stets, es gäbe keinen Tod, das habe ihm sein Bruder Shatterhand versichert. Und ich glaubte ihnen beiden. Ich glaube es auch noch heut.“

Er strich mit der Hand über den Lederanzug, der da an der Wand hing, und fuhr fort:

„Diese Leggins und diese Jacke trug er stets, wenn er die Absicht hatte, die Wohnung nicht zu verlassen. Bin ich hier allein, so ist es mir oft, als höre ich die Lederfalten dieses Anzuges rauschen. War das Winnetou? Ging er unsichtbar hinter mir vorüber? Wenn ich hier eintrete, ist es mir oft, als stehe er da draußen auf dem Altane, die Hände gefaltet, um zu beten, wie er zu tun pflegte, wenn ihn eine Sehnsucht oder ein Leid bewegte. Er nannte mich seinen Freund; ich aber war stolz darauf, mich seinen Diener nennen zu dürfen. Ich legte ihm die Hände unter die Füße und wäre tausendmal gern für ihn gestorben. Aber er hat sterben müssen. Denn nicht sein Leben, sondern sein Tod hat alle Stämme der Apatschen und alle roten Völker aufgeschreckt, doch endlich die Augen zu öffnen und einzusehen, wie köstlich das Leben eines einzelnen Menschen ist, um wieviel köstlicher und unersetzlicher also das Leben einer ganzen Nation, einer ganzen Rasse! Wir waren blind. Wir sind nun sehend geworden! Wie habe ich ihn lieb gehabt, wie lieb, wie unendlich lieb!“

Und plötzlich stand er vor mir, faßte meine Hand und bat:

„Nimm seine Stelle ein! Nimm sie ein! Nicht nur hier im Hause, sondern auch hier bei mir!“

Er klopfte sich an die Brust. Dann nahm er auch das Herzle an der Hand und fuhr fort:

„Und dich flehe ich an, sei uns Nscho-tschi! Sprich zu den Frauen, die sich hier versammeln wollen! Führe sie nicht zu Worten, sondern zur Tat! Tatellah-Satah ist Priester, aber nicht Krieger. Bedenkt das wohl! Darum war es die Sehnsucht unseres großen Winnetou, seinen weißen Bruder in dieses Haus zu leiten. Die Seele, die hier erwacht, braucht Schutz und Schirm vor ihrem eigenen Volk. Sie hofft auf euch, auf euch!“

EPUB

Download als ePub

 

Downloaden sie das eBook als EPUB. Geeignet für alle SmartPhones, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit EPUB zurechtkommen.

PDF

Download als PDF

 

Downloaden sie das eBook als PDF.
Geeignet für alle PC, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit PDF zurechtkommen.

Gratis + Sicher

  • Viren- und Trojanergeprüft
  • ohne eMailadresse
  • ohne Anmeldung
  • ohne Wartezeit
  • Werbefreie Downloads