Schluß

Der Tag verging, und die Dämmerung sank tiefer. Der Abend war schön; die Sterne standen am Himmel, und die dünne Sichel des jungen Mondes, der im Beginne des ersten Viertels stand, neigte sich bereits dem Horizonte zu. Die gute Luna war bescheidenerweise, um nicht so lange gesehen zu werden, schon am Tage aufgegangen. Die nächtliche Helle war mir eigentlich nicht angenehm, doch stand im Osten eine Wolke vor, und da der Abendwind aus derselben Richtung kam, durfte ich hoffen, daß sie sich nach und nach ausbreiten und die Sterne verdunkeln werde.

Wir jagten, ohne ein Wort zu sprechen, über den weiten Plan dahin. Der Nijora hielt sich bescheiden hinter mir; an meiner Seite zu reiten, wagte er nicht. Nur einmal wurden wenige Worte gewechselt. Er kannte als Nijora die Gegend, in welcher wir uns befanden, genau, ich aber nicht, weil wir gestern nicht von dem tiefen Wasser, sondern von dem weißen Felsen nach dem Quell des Schattens gekommen und also weiter westlich geritten waren. Darum fragte ich ihn, als ich glaubte, das Stelldichein bald erreicht zu haben:

„Mein Bruder läßt mich den Weg finden. Sind wir auf der geraden, richtigen Linie nach der Quelle des Schattens?“

„Old Shatterhand findet jeden Weg, auch wenn er ihn noch nicht kennt,“ antwortete er.

„Ich glaube, daß wir nur noch eine Viertelstunde zu reiten haben, um dort anzukommen. Ist das richtig?“

„Es ist genau so, wie mein weißer Bruder sagt.“

Infolgedessen ritten wir noch eine kleine Strecke weiter; dann hielten wir an, und ich gab einen Schuß aus dem Bärentöter ab. Ich erwartete nun, den Schuß Winnetous zu hören; anstatt dessen ertönte eine Stimme aus nicht zu großer Ferne:

„Hier bin ich. Ich habe die Stimme des Gewehres meines Freundes Scharlieh erkannt.“

Dann sah ich Winnetou auf uns zugeritten kommen. Er gab mir seine Hand und sagte dabei:

„Du hast den Ort so genau abgeschätzt, daß du ganz nahe bei mir hieltest. Ich konnte dir mit meinem Munde anstatt mit einem Schusse antworten.“

„Bist du schon lange hier?“ erkundigte ich mich.

„Nein, denn ich konnte die Mogollons erst dann umschleichen, als es dunkel geworden war.“

„Aber gesehen hast du sie früher?“

„Ja. Ich war immer so nahe hinter ihnen, wie ich es wagen konnte.“

„Sie lagern an der Quelle des Schattens?“

„Ja. Mein Bruder weiß, daß so viele Krieger nicht da, wo die Quelle aus der Erde kommt, Platz haben. Dort sitzt nur der Häuptling mit drei alten, hervorragenden Kriegern. Die andern alle haben sich am Wasser weiter abwärts gelagert.“

„Haben sie Posten ausgestellt?“

„Nein. Die Mogollons sind sehr unvorsichtige Menschen. Sie scheinen zu glauben, daß sich niemand als nur sie in der Gegend befinden kann.“

„Weißt du, wo der Wagen steht?“

„Ich bin zweimal um das ganze Lager geschlichen und habe ihn deutlich gesehen. Er steht nicht weit von dem Häuptlinge im Wasser.“

„Und wo befinden sich die beiden Gefangenen?“

„Sie sitzen in dem Wagen. Nur ein einziger Wächter steht dabei.“

„Auch ich möchte ihn und überhaupt das ganze Lager sehen.“

„Das ist nicht schwer, und wenn du noch einige Zeit warten willst, wird es noch leichter sein. Die Wolke, welche jetzt fast gerade über uns steht, hing noch vor kurzem über dem östlichen Horizonte; in einer halben Stunde wird sie auch den jetzt noch hellen Teil des Himmels bedeckt haben. Willst du so lange warten?“

„Ja, denn obgleich keine Gefahr dabei ist, ziehe ich es doch vor, vorsichtig zu sein.“

Er hatte in Beziehung auf die Wolke recht. Sie hatte sich immer mehr ausgearbeitet und bedeckte nach der von ihm angegebenen Zeit den ganzen Himmel. Da sagte er:

„Jetzt können wir aufbrechen. Die Pferde bleiben hier, der Krieger der Nijoras wird sie bewachen.“

„So lasse ich auch die beiden Gewehre bei ihm zurück. Sie sind mir bei dem Beschleichen im Wege.“

„Gieb ihm nur den Bärentöter; den Henrystutzen aber will ich nehmen.“

„Warum?“

„Während du die Mogollons beschleichest, bleibe ich in der Nähe und lausche. Solltest du Unglück haben, so wird ein Lärm entstehen, den ich sicher höre. Dann schieße ich den Stutzen so viele Male rasch hintereinander ab, daß sie erschrecken und vor Überraschung von dir lassen.“

„Gut! Wenn ich ergriffen werden sollte und du ziehst ihre Aufmerksamkeit nur so lange auf dich, daß sie einige Augenblicke nicht auf mich achten, wird das genügen, mich wieder frei zu machen.“

Ich gab also dem Nijora die schwere Büchse; Winnetou nahm meinen Stutzen, und dann entfernten wir uns nach Süden, wo die Quelle des Schattens lag.

Es war jetzt infolge der Wolke so düster, daß man nicht ein Zehntel soweit und so scharf sehen konnte wie vorhin, als die Sterne schienen. Nach etwas über zehn Minuten hielt Winnetou an und erklärte mir mit leiser Stimme:

„Wenn du noch hundert Schritte weiter gehst, wirst du dich bei den ersten Büschen befinden, welche du genau kennst, da wir dort gewesen sind. Geradeaus von dort kommt das Wasser, an dem der Häuptling sitzt, aus der Erde. Es fließt nach links; dort sitzen die andern Krieger. Zwischen ihnen und dem Häuptlinge steht der Wagen.“

„Und wo sind die Pferde?“

„Die weiden jenseits des Gebüsches im freien Grase.“

„So will ich versuchen, mich an den Häuptling zu machen.“

„Da muß mein Bruder aber außerordentlich vorsichtig sein.“

„Warum giebt mir Winnetou diesen Rat? Ist er bei mir nötig? Der Häuptling sitzt nahe am Quell; dort steht viel Gesträuch, hinter dem ich mich verstecken kann, wenn nicht rechts davon auch noch Krieger liegen.“

„Vorhin gab es dort keine.“

„So glaube ich auch nicht, daß sich später welche dort gelagert haben, denn dort giebt es kein Wasser.“

„Willst du etwa auch mit den Gefangenen sprechen?“

„Ja, wenn es möglich ist.“

„Da muß ich dich aber doch warnen, obgleich du vorhin meine Worte übelgenommen hast. Es ist sehr gefährlich, zu ihnen zu gelangen, und noch gefährlicher ist es, gar mit ihnen zu sprechen.“

„Ich werde keine Vorsicht außer acht lassen und meinen Vorsatz nur dann ausführen, wenn ich mich vorher überzeugt habe, daß ich es wagen darf. Also, wenn mir etwas passieren sollte, wirst du schießen, aber nicht eher, als bis du zwei oder drei Schüsse aus meinem Revolver gehört hast.“

„Ich werde das thun, doch ist es besser, wenn ich es nicht zu thun brauche.“

Jetzt verließ ich den Apatschen und schritt langsam und leise weiter. Mein Fuß stieß an einen Stein. Da kam mir ein Gedanke. Der Stein konnte mir von Vorteil sein. Er hatte die Größe einer halben Hand; ich hob ihn auf und steckte ihn ein. Darauf bückte ich mich nieder und tastete rings umher; es gab da noch fünf oder sechs Steine von ähnlicher Größe, welche ich auch zu mir steckte. Dann ging ich weiter.

Als ich vielleicht sechzig Schritte vorwärts gekommen war, legte ich mich nieder, um mich nun kriechend zu bewegen. Bald kam ich an die ersten Büsche. Es war ganz dunkel. Die Mogollons brannten keine Feuer. Darnach hatte ich Winnetou gar nicht gefragt, eine Unterlassungssünde, welche eigentlich unbegreiflich war. Daß die Feinde im Dunkeln saßen, war mir unlieb und doch auch wieder lieb: ich konnte sie nicht sehen, aber desto schwerer konnten sie auch mich bemerken. Daß sie es unterlassen hatten, Feuer anzuzünden, schien ihrerseits doch die Folge von Vorsicht zu sein, denn sie verhielten sich so ruhig, daß ich kein Geräusch vernahm, obgleich ich mich bereits sehr nahe bei ihnen befand.

Immer nur Zoll um Zoll geradeaus kriechend, schob ich mich von einem Busche zum andern und hörte endlich Stimmen. Zugleich drang mir der Geruch von Tabak in die Nase, von Tabak, wie ihn die Indianer zu rauchen pflegen, nämlich eine Mischung von sehr viel wildem Hanf und sehr wenig Tabak. Und nun sah ich doch ein Feuer, aber ein so kleines, daß es von weitem schwer zu bemerken war. Es brannte in einer kleinen Vertiefung des Bodens, damit der Schein nicht weit dringen solle und wurde nur von einigen dünnen Zweigen genährt. Es hatte also nur den Zweck, mit Hilfe desselben die Pfeifen in Gang zu erhalten.

So klein es war, es verbreitete doch in seiner nächsten Nähe soviel Licht, daß ich den Häuptling und die drei alten Krieger, welche an der Quelle saßen, erkennen konnte. Es gab dort zwei nahe beisammenstehende Büsche; ich schob mich hin zu ihnen und schmiegte mich so eng an ihre Wurzelstöcke, daß selbst jemand, der vorüberging, mich nur dann sehen konnte, wenn er sich zufällig niederbückte. Jetzt befand ich mich so nahe bei den vier Roten, daß ich jedes ihrer Worte verstehen konnte.

Ja, jedes ihrer Worte – wenn sie nämlich gesprochen hätten; leider aber thaten sie das nicht. Sie rauchten und rauchten, ohne auch nur eine Silbe gegenseitig auszutauschen. Ich wartete fünf Minuten, zehn Minuten, eine Viertelstunde und noch eine Viertelstunde – sie sprachen kein Wort! Das war nicht nur eine Geduldprobe, sondern weit mehr als das. Der starke, fatale Geruch des wilden Hanfes schien es nur auf mich abgesehen zu haben; er drang mir in die Nase und reizte mich zum Niesen. Glücklicherweise war ich geübt im Unterdrücken des Reizes zum Husten und Niesen, doch allzulange darf man sich dem auch nicht aussetzen. Schon wollte ich mich zurückziehen, da erschallte draußen vor den Büschen ein lauter Ruf:

„Uff!“ sagte da der Häuptling. „Die Kundschaften“

Also Kundschafter kamen. Die mußten ihre Meldung machen, wobei es jedenfalls etwas zu erlauschen gab. Ich blieb also liegen und fühlte keine Spur mehr von dem vorigen Reize zum Niesen. Der Geist hat also auch die Nase in seiner Gewalt.

Jetzt hörte man den Hufschlag von Pferden und den dumpfen Stoß von Füßen, welche aus dem Sattel sprangen und die Erde berührten. Zwei Männer erschienen; der eine kam nahe heran, und der andere blieb weiter zurück stehen. Der erstere war der Sprecher, sagte aber noch nichts, weil er aus Ehrerbietung auf die Anrede des Häuptlings warten mußte. Dieser verharrte im Gefühle seiner Würde eine ganze Weile in tiefem Schweigen und unterbrach es endlich mit den Worten:

„Meine jungen Brüder kehren spät zurück; sie müssen weit nach Süden gekommen sein. Bis wohin sind sie gewesen?“

„Bis über das dunkle Thal hinaus.“

„Haben sie den Weideplatz der Nijoras gesehen?“

„Nein; so weit sind wir nicht gekommen.“

„Aber den Weg, welchen wir zu reiten haben, habt ihr euch eingeprägt?“

„Wir kennen ihn so gut, als ob wir ihn hundertmal geritten wären.“

„Ist er beschwerlich?“

„Nein. Nur auf die Platte des Cañons und dann wieder hinab zu kommen, wird für den Wagen schwer sein.“

„Habt ihr keinen von den Hunden der Nijoras gesehen?“

„Einen einzigen zwischen der Platte des Cañons und dem dunklen Thale.“

„Woher kam er?“

„Von Nord und ging nach Süd.“

„Er kam also von hier und ritt heimwärts?“

„Er ritt heimwärts; ob er aber von hier kam, das konnten wir nicht erfahren.“

„Hat er euch bemerkt?“

„Nein. Wir erblickten ihn eher, als er uns sehen konnte, und hatten Zeit, ihm auszuweichen.“

„Warum habt ihr ihn nicht gefangen genommen?“

„Wir glaubten, es sei besser, ihn vorüberreiten zu lassen.“

„Trug er Kriegsfarben?“

„Nein.“

„Also der Weg nach der Platte des Cañons und von dieser wieder hinab ist für den Wagen zu schwer?“

„Er ist so steil und eng, daß es große Mühe machen wird, ihn mit nach dem dunklen Thale zu nehmen.“

„Uff! Ich habe euch gehört; ihr könnt euch zu den andern lagern.“

Die beiden entfernten sich. Ich glaubte, die vier würden sich nun über das Gehörte besprechen, aber sie schwiegen wieder wie vorher. Es verging eine Viertelstunde, bis ich endlich erkannte, daß das Sprichwort: „Gut Ding will Weile haben“ ein sehr richtiges ist, denn da ließ der Häuptling die Frage hören:

„Was sagen meine drei Brüder zu den Worten dieser Kundschafter?“

„Uff!“ antwortete der erste.

„Uff!“ meinte nach einer Weile der zweite.

„Uff!“ erwiderte der dritte. Und dieser war doch so redselig, hinzuzufügen: „Der Häuptling mag zuerst sagen, was seine Meinung ist.“

Der also Aufgeforderte wartete fünf oder sechs Minuten und sagte dann:

„Glauben meine Brüder, daß der Hund, dem unsere zwei Krieger begegnet sind, ein Kundschafter gewesen ist?“

„Nein,“ antwortete der Älteste von ihnen. „Er müßte hier gewesen sein, wenn er ein Kundschafter wäre. Wir haben aber, als wir ankamen, keine Spur gesehen. Also kam er aus einer andern Richtung und ist kein Kundschaften“

„Mein Bruder hat richtig gesprochen. Aber haben unsere Späher gut gehandelt, indem sie ihn vorüberließen?“

„Ja. Wenn er unbehelligt in sein Lager kommt, wird man nicht denken, daß Feinde so nahe sind.“

„Wenn er aber doch ein Späher gewesen wäre! Wir werden später sehen, ob es gut gewesen ist, daß sie ihn haben entkommen lassen.“

Der Häuptling befand sich ganz auf der richtigen Fährte, denn der Nijora, den die beiden Mogollons gesehen hatten, war derjenige, den ich heute früh vom tiefen Wasser fortgeschickt hatte. Doch wenn sie ihn auch ergriffen hätten, wäre das wohl nicht von Nachteil für uns gewesen, weil er jedenfalls nichts gestanden haben würde. Der Häuptling fuhr fort:

„Und was sagen meine Brüder zu dem Wagen?“

„Wir hätten ihn im Lager zurücklassen sollen,“ antwortete wieder der Älteste.

„Die Gefangenen können aber doch nicht reiten!“

„So hätten auch sie zurückbleiben müssen; sie waren uns dort sicher. Wir konnten einige erfahrene Krieger bei ihnen lassen!“

„Die hätten sie nicht verteidigen können.“

„Gegen Winnetou und Old Shatterhand?“

„Ja. Mein Bruder hat ja gehört, daß die beiden berühmten Männer mit ihren Gefährten auf dem Pueblo gewesen sind, um den Weißen zu fangen, welcher sich Melton nennt. Dieser ist ihnen entflohen, und sie werden ihm nachkommen.“

„Wenn sie seine Spur entdecken!“

„Diese zwei Krieger finden jede Fährte; sie werden auch die Spur Meltons finden und ihr folgen. Sie haben die Hunde der Nijoras gegen uns aufgehetzt; darum sandte ich ihnen Melton mit fünfzig Kriegern entgegen. Treffen diese auf sie, so werden sie gefangen genommen. Treffen unsere Krieger aber nicht auf sie, so wird Winnetou mit Old Shatterhand und den andern nach unserm Lager am weißen Felsen reiten, dort umkehren und uns nachkommen.“

„Dann haben wir eine große Gefahr in unserm Rücken!“

„Sie bilden keine Gefahr für uns, denn wenn sie uns einholen werden, haben wir die Nijoras längst besiegt und werden auch sie so in Empfang nehmen, daß sie uns nicht entkommen können. Es ist also gut, daß wir die Gefangenen mitgenommen haben, denn wenn wir sie an dem weißen Felsen zurückgelassen hätten, so wären selbst zwanzig oder dreißig Krieger nicht im stande, sie gegen die List Old Shatterhands und Winnetous festzuhalten.“

Der gute Häuptling der Mogollons hatte wirklich eine ganz vortreffliche Meinung von uns. Leider waren alle seine Voraussetzungen und Berechnungen falsch. Hätte er das geahnt und dazu gewußt, daß ich hier in seiner Nähe lag und seine Worte hörte, so wäre er wohl nicht so ruhig in seiner Rede fortgefahren, wie er es jetzt that:

„Den Wagen mußten wir nehmen, weil die Gefangenen nicht reiten können und zu Pferde unsern Zug verlangsamt hätten.“

„Aber wenn wir ihn nicht durch die Hohlwege bringen, so müssen sie doch noch reiten!“ meinte der Älteste.

„Es wird sich finden, ob die Hohlwege zu schmal sind. Wenn wir morgen früh mit dem ersten Grauen des Tages aufbrechen, so lassen wir die Gefangenen unter einer genügenden Bedeckung zurück; sie können uns in einigen Stunden nachfolgen. Wir erreichen also die Hohlwege eher als sie und können Stellen, welche zu eng sind, vielleicht weiter machen.“

„Haben wir Zeit genug, uns solange aufzuhalten?“

„Es bedarf jedenfalls nicht langer Zeit. Mit Hilfe der Tomahawks ist bald ein Stückchen Felsen losgeschlagen. Howgh!“

Dies Wort war das Zeichen, daß er die Angelegenheit als abgethan betrachtete, und da er nun nicht weiter sprach, so schwiegen die andern drei auch. Ich wußte, daß, wenn sie wieder ein Gespräch beginnen würden, dies erst nach einer langen Pause geschehen werde, und solange zu warten, konnte mir nicht einfallen. Ich kroch also unter den Büschen zurück und wendete mich nach links, wo, wie Winnetou gesagt hatte, der Wagen stand. Ich sah ihn am diesseitigen Ufer des Quellbächleins stehen, welches hier nur anderthalb Fuß breit war. Jenseits, doch ganz in der Nähe, saß ein Indianer im Grase, der sein Gewehr neben sich liegen hatte. Das war der Wächter.

Zunächst kroch ich noch weiter, denn ich mußte wissen, in welcher Entfernung sich die nächsten Mogollon befanden. Es waren vielleicht zwölf bis vierzehn Schritte bis zu ihnen. Als ich das erfahren hatte, kroch ich wieder zurück zum Wagen. Es war eine alte, hoch und breit gebaute Überlandpostkusche, ein wahres Ungetüm, wie es jetzt keins mehr giebt.

Wie bereits wiederholt erwähnt, hatte die Wolke die Sterne verfinstert, sodaß man nicht weit sehen konnte. Unter dem alten Karren aber war es noch finsterer als rund umher, und da ich im tiefen Schatten lag, konnte die Wache mich nicht erkennen, während ich sie ziemlich deutlich sitzen sah.

Zu meinem großen Erstaunen bemerkte ich, daß das nach meiner Seite gerichtete Fenster des Wagens offen war, eine große Unvorsichtigkeit der Mogollons, wenn die Gefangenen sich drin befanden. Vielleicht waren sie nicht drin, sondern anderswo, und Winnetou hatte sich geirrt. Vielleicht aber – hm, das wäre dumm! vielleicht saß ein zweiter Wächter drin bei ihnen, und dann war es allerdings zu erklären, daß ein Fenster offen stand.

Ich hatte mir vorgenommen, mit ihnen zu reden, und wollte nun, da ich einmal da war, nicht gern darauf verzichten. Wie das aber nun anfangen? Ich hielt nur zwei Fälle für annehmbar: entweder sie waren nicht drin, oder sie saßen drin, und dann befand sich jedenfalls ein Mogollon bei ihnen. Wie nun erfahren, welcher von den Fällen der richtige war, aber ohne mich dabei in Gefahr zu bringen? Ich erhob mich halb, doch beim Rade, sodaß zwei Räder zwischen mir und dem drüben sitzenden Wächter waren und er mich unmöglich sehen konnte, klopfte an die Thür und ließ mich dann sofort niederfallen. Ich hatte so geklopft, daß die Insassen es hören mußten, jener Wächter es aber nicht hören konnte. Saß ein Mogollon drin, so blickte er jetzt ganz gewiß zum offenen Fenster heraus. Ich sah empor. Mit gegen den Himmel gerichteten Augen konnte ich alles deutlich erkennen – es erschien kein Kopf. Ich klopfte noch einmal, doch mit demselben Erfolge. Mehr als Fortsetzung dieser Versuche, als weil ich mir einen Erfolg davon versprach, klopfte ich zum drittenmal, und da antwortete mir ein vorsichtig leises Klopfen am Boden des Wagens. Ah, sie waren also dennoch drin! Und zwar ohne Aufsicht! Aber wahrscheinlich gefesselt, sonst hätte man das Fenster nicht offen gelassen und ihnen einen Wächter hineingegeben. Ich richtete mich also ganz auf, hielt den Kopf an den offenen Schlag und fragte leise hinein:

„Mr. Murphy, seid Ihr da?“

Yes,“ antwortete es ebenso leise.

„Habt Ihr drin Platz auf dieser Seite?“

„Ja. Wollt Ihr etwa herein, Sir?“

„Ja.“

„Um Gottes willen, da gebt Ihr Euch ja augenblicklich gefangen!“

„Fällt mir nicht ein! Drin bin ich viel sicherer als hier außen. Schreit die Wagenthür, wenn sie geöffnet wird?“

„Nein. Die metallenen Angeln sind verloren gegangen und durch lederne Bänder ersetzt worden.“

„Gut, ich komme also hinein!“

Diese Fragen und Antworten waren, wie die Situation es mit sich brachte, in hastiger Weise gegeben worden. Ich ließ mich wieder in das Gras nieder und blickte zwischen den Vorder- und Hinterrädern zu dem Wächter hinüber. Er saß noch genau so dort wie vorher. Ich zog einen Stein heraus, zielte gut und warf ihn so, daß er mehrere Schritte jenseits des Wächters in das Gras fiel. Der letztere hörte das Geräusch; er stand schnell auf und horchte. Ich nahm einen zweiten Stein aus der Tasche und warf ihn weiter, als ich den ersten geworfen hatte. Der Mogollon ließ sich betrügen und entfernte sich in der Richtung des Schalles, den er gehört hatte; er sah und hörte also nicht nach uns herüber. Im Nu war ich wieder auf, öffnete die Thür, stieg ein und zog sie hinter mir wieder zu; sie gab dabei nicht das leiseste Geräusch von sich. Als ich nun mit den Händen tastete, fühlte ich links die beiden, welche nebeneinander saßen; der Sitz zu meiner rechten Hand war leer, und ich ließ mich darauf nieder. Zu meiner abermaligen Verwunderung sah ich, daß das jenseitige Fenster auch offen stand.

„Ihr seid es also doch, Sir!“ flüsterte der Advokat mir hastig zu. „Welche Verwegenheit von Euch! Ihr wagt –“

„Still!“ unterbrach ich ihn. „Jetzt kein Wort! Ich muß zunächst den Wächter beobachten.“

Als ich hinausblickte, sah ich diesen zurückkehren. Er war wohl mißtrauisch geworden, denn er trat drüben an den Wagenschlag und fragte in das Innere herein:

„Sind die beiden Bleichgesichter noch drin?“

Er hatte sich in einem ganz schlechten Englisch ausgedrückt.

Yes!“ antworteten beide zugleich.

Ich glaubte, dies werde genug für den Roten sein, hatte mich aber geirrt, denn er sagte, und zwar nun in seinem spanisch-indianischen Mischmasch:

„Es gab ein Geräusch. Sind die Fesseln noch fest? Ich werde sie untersuchen.“

Er setzte den Fuß auf den Wagentritt und langte mit den Armen durch das Fenster, um die drüben sitzende Sängerin zu betasten. Als er sich überzeugt hatte, daß ihre Fesseln in Ordnung waren, sprang er drüben ab und kam um den Wagen herum auf die andere Seite. Schnell rückte ich hinüber und drückte mich soviel wie möglich zusammen. Er erschien am andern Fenster, griff herein und untersuchte die Banden des Rechtsgelehrten. Als er auch diese im besten Zustande fand, verschwand er mit einem unverständlichen Murmeln. Ich rückte auf die Mitte meines Sitzes, und als ich von da aus hinauslauschte, sah ich, daß er sich auf seiner frühern Stelle wieder niedersetzte.

„Jetzt könnten wir sprechen,“ sagte ich. „Nur hütet Euch, daß s und andere Zischlaute zu laut auszusprechen! Er hat sich beruhigt.“

„Mein Himmel, in welcher Gefahr habt Ihr Euch befunden!“ meinte Murphy. „Er brauchte nur hinüber zu greifen, so hatte er Euch!“

„Oder ich ihn! Habt keine Sorge um mich! Es ist ganz so, wie ich sagte: ich bin hier viel sicherer als draußen. Ich werde hier in dem Wagen bleiben, so lange es mir gefällt, und ihn verlassen, wenn es mir beliebt.“

„Aber es handelt sich nicht nur um die Freiheit, sondern auch um das Leben!“ hörte ich Martha mit zitternder Stimme sagen.

„Um keins von beiden; ich bin vollständig sicher! Welcher Art sind eure Fesseln?“

„Zunächst sind wir aneinander gebunden, durch ein Lasso, welches man um uns gewunden hat. Sodann hat man uns die Hände auf den Rücken befestigt. Und drittens tragen wir eine Schlinge um den Hals, deren Ende unten am Sitze befestigt ist. Wir können also gar nicht aufstehen, ohne uns zu erwürgen.“

„Das ist freilich eine sehr komplizierte Art, sich eurer Personen zu versichern. Da ist eigentlich gar kein Wächter nötig, und nun wundere ich mich nicht mehr darüber, daß man die Fenster geöffnet hat, um euch wenigstens Luft zu gönnen.“

„Die Fenster? Das ist hier eine höchst imaginäre Sache. Fenster giebt es ja nicht; der liebenswürdige Häuptling hat sie herausgemacht. Ihr werdet wissen, welchen ungeheuren Wert zwei Glasscheiben für einen solchen Kerl haben.“

„Allerdings. Also darum standen die Fenster offen! Schön! Nun handelt es sich vor allen Dingen darum, euch zu sagen, was ihr zu thun habt, falls ich hier bei euch entdeckt werden sollte.“

„Was?“

„Wartet noch! Erst muß ich eure Fesseln untersuchen; dann kann ich es euch sagen.“

Ich fand die Banden so, wie Murphy sie mir beschrieben hatte.

„So,“ sagte ich dann, „Jetzt weiß ich, wohin ich mein Messer zu führen habe.“

„Euer Messer?“

„Ja. Hört wohl auf meine Worte! Bleibe ich jetzt unentdeckt, so wird eure Gefangenschaft bis morgen früh dauern; entdeckt man mich aber, so seid ihr sofort frei. Paßt auf! Wenn ich hier bemerkt werde, so ist es mein erstes, eure Fesseln zu zerschneiden. Dazu bedarf es nicht mehr als zehn Sekunden. Dann halte ich die Roten uns mit meinen zwei Revolvern vom Halse, während ihr die Thür hier zu meiner linken Hand öffnet, hinausspringt und in gerader Richtung durch die Büsche lauft. Dort werdet ihr Schüsse hören. Es ist Winnetou, den ihr bei seinem Namen ruft. Wenn ihr ihn erreicht habt, seid ihr sicher, denn alle diese drei- oder vierhundert Mogollons werden, wenn sie den Namen Winnetou rufen hören, es nicht wagen, euch in die Dunkelheit hinein zu verfolgen.“

„Gut, aber Ihr? Wollt Ihr etwa hier zurückbleiben?“

„Fällt mir nicht ein! Sobald ich bemerke, daß ihr fort und in Sicherheit seid, komme ich nach.“

„Wenn Ihr könnt! Man wird Euch umringen, Euch erstechen, erschießen!“

Pshaw! Denkt doch nicht solche Sachen! Ihr kennt den Westen nicht; ich aber kenne ihn und weiß, wie es kommen wird. Vielleicht wird der Häuptling nach euch sehen, oder wenn der Wächter abgelöst wird, überzeugt sich der neue Posten, daß ihr noch da seid. Nur bei diesen beiden Gelegenheiten ist es möglich, daß man mich entdeckt. Wir haben es auf alle Fälle mit zwei, höchstens drei oder vier Personen zu thun, und diese schieße ich in nicht mehr und nicht weniger Augenblicken nieder. Das wird freilich Lärm, aber auch tüchtige Verwirrung geben, und niemand wird sich dahin wagen, wo geschossen wird, also hierher nach dem Wagen. Inzwischen seid ihr lange fort, und es bedarf höchstens noch einiger Schüsse, um auch mich in Sicherheit zu bringen. Wahrscheinlich aber kann ich gleich mit euch die Flucht ergreifen.“

„Tod und Wetter!“ meinte der Advokat. „Es handelt sich hier um nicht weniger als um alles, und da redet Ihr in einer Weise, so kalt und so ruhig, als ob Ihr einem kleinen Kinde zu erklären hättet, daß zweimal acht nicht fünfzehn, sondern sechzehn giebt!“

„Wie anders soll ich sprechen? Es droht mir jetzt nicht die allerkleinste Gefahr. Also jetzt wißt ihr, was ihr zu thun habt für den Fall, daß irgend ein Neugieriger mich erwischt. Geschieht dies nicht, so werdet ihr morgen früh befreit werden.“

„Gebe der Himmel, daß Eure zuversichtlichen Worte sich bewahrheiten, daß wir frei werden! Dann aber sind wir noch lange nicht fertig. Es giebt noch mehr zu thun. Wir müssen Jonathan Melton haben.“

„Den habe ich.“

„Was – wie – Sir –!“

„Still, still!“ warnte ich, ihn unterbrechend. „Nennt Ihr das flüstern? Wenn der Rote es hört!“

„Ist es wahr! Soll ich das glauben? Sir, ich möchte laut Hurra und Viktoria schreien!“

„Das laßt bleiben! Später könnt Ihr meinetwegen schreien, daß Euch der Atem ausgeht.“

„Wo habt Ihr ihn denn ergriffen?“

„Am tiefen Wasser, an welchem auch Euer Wagen gehalten hat. Die Millionen habe ich auch.“

„Wo, wo?“ fragte er begierig.

„Hier in meiner Brusttasche.“

„Wie! Was? Ihr tragt die ungeheure Summe bei Euch!“

„Natürlich! Soll ich sie etwa an einen Baum hängen oder in die Erde vergraben?“

„Und wagt Euch damit hierher, mitten zwischen vierhundert Feinde und in diese Überlandpostkutsche hinein? Wenn man Euch erwischt, ist das Geld wieder verloren.“

„Man wird mich eben nicht erwischen! Ich bin der festen Überzeugung, daß hier meine Tasche ein besserer Aufbewahrungsort für dieses Geld ist, als es Euer Geldschrank in New Orleans war. Übrigens mag Euch der Umstand, daß ich es bei mir trage, beweisen, wie sicher ich mich hier in der alten Kutsche fühle, und ich wünsche sehr, daß es, wenn ich es den rechtmäßigen Eigentümern übergeben habe, bei diesen keinen größeren Gefahren ausgesetzt ist als jetzt bei mir! Doch, wir sind von unserem eigentlichen Thema abgekommen. Wir wollen von Jonathan Melton reden.“

„Ja, wie er in Eure Hände gekommen ist. Ich wünsche, Ihr hättet sehen und hören können, wie er sich gegen mich benommen hat, als er zu den Mogollons kam und mich als deren Gefangenen vorfand!“

„Gab er sich noch immer für den wirklichen Small Hunter aus?“

„Das fiel ihm gar nicht ein. Ich hätte ihn mit meinen Händen erwürgen können!“

„Sein Geständnis wird uns später sehr nützlich sein.“

„Er teilte mir sogar mit teuflischer Schadenfreude mit, daß ich den Osten niemals wieder sehen würde und daß auch Mrs. Werner hier verschwinden müsse.“

„Dafür wird er ihn selbst wiedersehen, und zwar in Eurer und in unserer Gesellschaft. Er ist endlich unschädlich gemacht worden, obgleich er die Hoffnung hegt, sich wieder befreien zu können.“

„So! Hegt er die wirklich?“

„Er hat es mir in das Gesicht gesagt.“

„Der Schurke! Erzählt, erzählt, Sir! Ich muß wissen, wie er in Eure Hände geraten ist und wie er sich dabei benommen hat!“

Es braucht wohl kaum erwähnt zu werden, daß wir uns während der Unterredung mit der äußersten Vorsicht benahmen, und daß der draußen sitzende Wächter während derselben oft und scharf beobachtet wurde. Dem Advokaten, der sich wohl in seinen Gesetzesparagraphen aber nicht in der Wildnis heimisch fühlte, war es um sich selbst bange und um mich erst recht himmelangst zu Mute, und daß sich die Sängerin in nicht geringerer Angst befand, verstand sich von selbst. Ich aber hatte wirklich keine Sorge, weder um die beiden, noch um mich selbst. Der Innenraum der alten Kutsche war in Wirklichkeit für mich ein besserer Aufenthalt, als jeder andere Ort in der Nähe. So konnte ich denn mit beinahe vollständiger Unbefangenheit erzählen, was ich zu erzählen hatte, nur daß ich öfters einen Blick hinaus auf den Wächter warf, um zu sehen, daß er noch an seinem Platze saß. Aber so ganz ohne gefährliche Unterbrechung sollte mein Bericht denn doch nicht zu Ende gehen. Ich war damit noch nicht ganz fertig, als ich gezwungen war, zu schweigen. Ich hörte Schritte, und als ich hinausblickte, sah ich einen Roten kommen, der unsern Posten voraussichtlich abzulösen hatte. Der letztere stand auf; der erstere aber kam an den Wagen, stellte sich auf das Trittbrett und führte die Untersuchung der Fesseln ganz in der Weise, wie sein Vorgänger aus, erst auf der rechten dann auf der linken Seite der Kutsche. Es verstand sich ganz von selbst, daß ich mich beidemal in die entgegengesetzte Ecke meines Sitzes drückte, welchem Umstande ich es zu verdanken hatte, daß die Gefahr glücklich vorüberging.

Der vorige Wächter war fortgegangen, und der jetzige hatte sich fast genau an dieselbe Stelle gesetzt. Als die beiden Gefangenen nun kurz erfahren hatten, was ihnen über Jonathan Melton zu wissen nötig war, fuhr ich fort:

„Die Mogollons werden früh, sobald der Tag zu grauen beginnt, aufbrechen. Ihr sollt mit dem Wagen unter Bedeckung noch für einige Zeit zurückbleiben. Diese Bedeckung werden wir Überfallen, und dann seid ihr frei.“

„Wie das klingt!“ meinte der Advokat. „Die Bedeckung werden wir überfallen, und dann seid ihr frei! Als ob das nur so glatt abgehen müßte, wie beim Papierschneiden! Meint Ihr denn, daß die Bedeckung sich nicht wehren wird?“

„Vielleicht, oder sogar wahrscheinlich thut sie es.“

„Schrecklich! Und das sagt dieser Mann so ruhig! Sir, ich bitte Euch, bringt mich nur dieses Mal glücklich heim! Es soll mir nie im Leben wieder einfallen, nach dem wilden Westen zu gehen! Was meint Ihr wohl, wird die Bedeckung, die bei uns zurückzubleiben hat, stark sein?“

„Schwerlich. Der Häuptling wird sicher nur soviel Reiter bei euch lassen, wie unumgänglich nötig sind, ungefähr zehn.“

„Die können doch nichts gegen Euch und Eure hundert Nijoras machen!“

„Volle hundert haben wir nicht, da wir eine Anzahl zur Bewachung der heute gefangenen Mollogons verwenden müssen, dennoch werden wir aber eurer Bedeckung sechs- oder siebenmal überlegen sein. Dazu kommt der Schreck, den die Leute haben werden, wenn wir so unerwartet über sie herfallen. Ich denke, daß wir die Sache ganz ohne Blutvergießen abmachen werden. So, nun will ich gehen.“

„Nehmt Euch in acht, daß Euch nicht doch noch schließlich der Posten bemerkt!“

„Den schicke ich fort, wie den vorigen. Paßt auf!“

Ich zog zwei Steine aus der Tasche; da sagte Martha, und zwar in deutscher Sprache, während wir uns bis jetzt der englischen bedient hatten:

„Sie haben so viel, so außerordentlich viel für uns gethan und gewagt; fügen Sie jetzt noch die Erfüllung einer großen Bitte hinzu!“

„Gern, wenn ich kann.“

„Sie können. Schonen Sie sich! Warum müssen nur Sie immer voran sein! Überlassen Sie den Überfall morgen doch andern!“

„Ich danke Ihnen für die Freundlichkeit, welche für mich in Ihrer Bitte liegt. Daß ich mich schone, versteht sich ganz von selbst; doch will ich Ihnen gern versprechen, daß ich mich morgen ganz besonders in acht nehmen werde.“

Ich mußte ihre Bitte doch beantworten, und konnte dies nicht gut in einer andern Weise thun. Nun warf ich einen Stein hinaus. Wir paßten auf und sahen, daß der Posten aufmerksam wurde; beim zweiten Steine stand er auf, und als ich dann noch einen dritten, den letzten, weiter hinüberwarf, entfernte er sich in der Richtung des Geräusches, welches dadurch verursacht worden war.

„Gute Nacht! sagte ich. „Es wird alles gut ablaufen; habt also keine Sorge! Auf Wiedersehen morgen früh!“

Durch das Fenster greifend, öffnete ich die Thür, stieg hinaus und machte sie leise wieder zu, um mich dann gleich auf den Boden niederzuwerfen, denn ich sah, daß der Posten schon zurückkehrte. Auch ihn hatte der Fall der Steine mißtrauisch gemacht. Er setzte sich nicht nieder, sondern trat, ganz wie sein Vorgänger, zum Wagen, um das Innere zu untersuchen, glücklicherweise auf der mir entgegengesetzten Seite. Es war als wahrscheinlich anzunehmen, daß er dann auch diesseits kommen werde; darum rollte ich mich so schnell und so weit wie möglich fort und blieb dann liegen, um nicht etwa seine Aufmerksamkeit durch irgend eine Bewegung auf mich zu ziehen. Er kam aber nicht herüber, sondern blieb drüben und setzte sich wieder nieder. Nun kroch ich weiter. Da ich jetzt wußte, wo die Feinde sich befanden und daß ich keinen von ihnen vor mir hatte, konnte ich mich bald vom Boden erheben und den Weg zu Winnetou gehend zurücklegen.

Er stand noch genau da, wo ich ihn verlassen hatte. Ich fragte ihn: „Ist dir die Zeit lang geworden?“

„Nein,“ antwortete er. „Mein Bruder ist zwar länger, als ich dachte, fortgeblieben, aber da kein Lärm zu hören war, wußte ich, daß er eine Gelegenheit zum Lauschen gefunden habe, und war also ohne Sorge um ihn.“

„Ja, ich habe gelauscht; doch komme fort zu unsern Pferden! Wir haben keine Veranlassung, hier stehen zu bleiben, und es ist für alle Fälle besser, wenn wir uns nicht so sehr in der Nähe des feindlichen Lagers befinden.“

Der Nijora saß bei den drei Pferden. Als er uns kommen sah, stand er ehrerbietig auf. Wir setzten uns und forderten ihn auf, dies auch zu thun. Er gehorchte, doch so, daß zwischen uns und ihm die bei den Roten gebräuchliche Respektentfernung lag.

Wir saßen eine Weile stumm. Ich wußte, daß Winnetou mich nicht fragen oder zum Sprechen aufforden werde, darum begann ich:

„Mein Bruder mag einmal raten, wo ich gesessen habe!“

Er warf mir einen prüfenden Blick zu, senkte das Auge nachdenklich zu Boden und antwortete dann:

„Waren die beiden Gefangenen noch in dem Wagen?“

„Ja.“

„So hast du bei ihnen gesessen. Weiß mein Bruder, was er da gethan hat?“

„Was?“

„Er hat den großen Geist versucht, welcher seine guten Menschen nur dann beschützt, wenn sie sich nicht ohne Ursache in Gefahr begeben. Wer sich ohne Grund in ein reißendes Wasser stürzt, kann, selbst wenn er ein guter Schwimmer ist, leicht darin umkommen. Ich muß meinen Bruder ob seiner Verwegenheit tadeln!“

„O, im Inneren des Wagens war ich weit sicherer, als anderswo!“

Ich erzählte ihm, was ich gesehen und gehört hatte. Am wichtigsten war für uns der Umstand, daß der Wagen nach dem Aufbruche der Mollogons zurückbleiben und erst später nachkommen sollte.

„Wir werden die Bedeckung überfallen und die beiden Gefangenen befreien,“ sagte der Apatsche.

„Das ist auch meine Ansicht; es fragt sich aber, ob sie die richtige ist. Es gibt einen sehr triftigen Grund, den Wagen und seine Bedeckung unbelästigt fortzulassen, nämlich die Enge der beiden Hohlwege. Findet der Häuptling der Mogollons, daß sie so breit sind, daß der Wagen hindurch kann, so wird er unbesorgt weiterreiten und annehmen, daß derselbe ihm folgen werde. In diesem Falle können wir die Gefangenen befreien, ohne daß er es zu früh bemerkt.“

„Und wenn aber die Wege zu eng sind?“

„So wird er halten bleiben, um die schmalen Stellen mit Hilfe der Tomahawks erweitern zu lassen. Ist dann der Wagen zur bestimmten Zeit nicht da, so wird er Verdacht schöpfen und Boten zurücksenden. In diesem Falle ist es notwendig, von der Befreiung der beiden Gefangenen zunächst noch abzusehen.“

„Mein Bruder hat recht.“

Nach diesen Worten fiel er in ein längeres Nachdenken. Ich konnte leicht erraten, womit er sich beschäftigte, und hatte mich da nicht geirrt, denn als er zu einem Resultate gekommen war, sagte er:

„Wir können die Bedeckung des Wagens getrost überfallen, denn die Wege sind so breit, daß er hindurch kann.“

„Weißt du das genau?“

„Ja, ich habe den Wagen gesehen und kenne seine Breite. Da wir die Mogollons oben auf der Platte überfallen wollen, so handelt es sich nur um den einen Weg, welcher hinauf-, nicht aber auch um den andern, der jenseits wieder hinabführt; der erstere aber bietet kein Hindernis. Ich bin jetzt im Geiste dort gewesen, und habe mit den Augen meiner Seele jede Stelle ausgemessen. Der Wagen kann hindurch.“

„So werden sich die Mogollons also nicht unten aufhalten, sondern ohne Verzögerung hinauf zur Platte reiten.“

„So ist es. Wir können also die zurückgebliebene Bedeckung des Wagens getrost überfallen.“

„Wie meinst du, daß das am besten geschehen könnte?“

„Mein Bruder hat die Örtlichkeit gesehen und mag mir seine Meinung sagen!“

„Ich möchte dabei keinen Menschen töten oder verwunden. Um das zu erreichen, muß der Überfall eine Überrumpelung sein; er muß ganz plötzlich geschehen.“

„Hält mein Bruder dies für möglich? Jeder Mogollon, welcher hier zufällig außerhalb der Büsche steht, muß uns doch kommen sehen und wird Lärm machen.“

„So müssen wir nicht hier auf dem Wege, also von Norden her, sondern von Süden kommen, weil die Mogollons von dort her am allerwenigsten einen Feind erwarten können. Der Häuptling reitet mit über dreihundert Mann nach Süden. Wenn wir eine halbe Stunde später aus dieser Gegend kommen, können die Zurückgebliebenen uns unmöglich für Feinde halten. Ja, sie werden höchstwahrscheinlich denken, wir seien eine Schar der Ihrigen, welche aus irgend einem Grunde zurückkehren mußte, und erst dann, wenn sie unsere Gesichter erkennen, werden sie ihren Irrtum einsehen. Dann aber ist es schon zu spät für sie.“

„Mein Bruder hat das Richtige getroffen, wie immer; sein Plan wird ausgeführt. Was dann aber weiter?“

„Von der Quelle des Schattens bis auf die Platte des Cañons, auf welcher der Kampf stattfinden soll, sind drei Stunden zu reiten. Ich möchte die Gefangenen, welche wir heute gemacht haben und morgen früh noch machen werden, nicht mit nach der Platte nehmen. Sie hindern uns, und können uns sogar gefährlich werden.“

„Was soll denn mit ihnen geschehen?“

„Sie mögen unter hinreichender Aufsicht an der Schattenquelle zurückbleiben. Da sie sich nur drei Stunden von uns befinden, sind sie uns jedenfalls sicher genug. Lassen wir vierzig Nijoras bei ihnen, welche wir unter den Befehl Emerys stellen, so ist’s gerade so gut, als ob sie sich unter unsern Augen befänden.“

„Auch darin stimme ich meinem Bruder bei, denn wenn wir sie mitnehmen, müssen wir kämpfen und sie zugleich beaufsichtigen, wobei ihnen irgend ein unerwarteter Umstand die Freiheit verschaffen kann. Sie mögen also zurückbleiben. Hat mein Bruder die Absicht, sich direkt am Kampfe zu beteiligen?“

„Das kommt auf die Umstände an. Ich töte nicht gern einen Menschen; aber die Nijoras sind unsere Freunde und Brüder geworden, und wir müssen ihnen also gegen die Mogollons beistehen, welche nicht nur ihre Feinde, sondern auch die unserigen sind. Wir haben die Aufgabe, den Mogollons zu folgen, sie durch den Hohlweg hinauf auf die Platte und den dort wartenden Nijoras in die Hände zu treiben. Das müssen wir auf jeden Fall thun. Was dann noch zu geschehen hat, werden die Umstände ergeben. Am liebsten wäre es mir freilich, wenn die Mogollons ihre Waffen streckten, ohne den Kampf zu beginnen.“

„Das werden sie nicht thun oder höchstens nur dann, wenn ihnen kein Zweifel bleibt, daß der Widerstand sie in den sichern Tod treiben würde.“

„So muß man ihnen das zu beweisen suchen! Der Plan, den wir dem Häuptlinge der Nijoras mitgeteilt haben, will ja diesen Erfolg erreichen.“

„Denkt mein Bruder, daß der Häuptling nach diesem Plane handeln wird?“

„Ich meine es; wenigstens wäre er ein großer Thor, wenn er es nicht thäte; und wie ein Thor ist er, den ich zwar nur erst einmal gesehen habe, mir nicht vorgekommen.“

„Dennoch wäre es nützlich, ja sogar notwendig, Gewißheit darüber zu erlangen, ob er unsern Vorschlägen Folge geleistet hat. Willst du ihm einen Boten senden, um ihn fragen zu lassen?“

„Nein, denn dazu ist die Zeit zu kurz. Ehe der Bote ihn erreicht und wieder zu uns zurückkehrt, ist es zu spät; auch würde er sicher den Mogollons begegnen und von ihnen weggefangen werden. Auch genügt es nicht, nur zu erfahren, ob der Häuptling nach unsern Weisungen handeln will, sondern es ist notwendig, zu wissen, daß er wirklich nach denselben handeln wird.“

„Du meinst also eine Beaufsichtigung. Dann müßte einer von uns beiden hin. Das ist’s doch, was du sagen willst?“

„Das ist es. Und nur dann, wenn du bei ihm bist oder ich bei ihm bin, kann er bestimmt werden, von unnützem Blutvergießen abzusehen. Ich kenne die beiden Gefangenen, weiche hier zu befreien sind, und habe es mehr wie du mit der Erbschaftsangelegenheit, also mit der Bewachung Jonathan Meltons, zu thun, gehöre also mehr hierher. Du bist viel länger als ich ein Freund der Nijoras; also reite du zu ihrem Häuptlinge.“

„Du sagst es, und ich bin einverstanden; ich werde sofort aufbrechen.“

„Nimmst du den jungen Krieger mit, der sich bei uns befindet?“

„Ja.“

„So bitte ich dich, ja darauf zu sehen, daß auf der Platte der Wald dicht besetzt wird und hinter dem Felsenzuge sich genug Krieger aufstellen. Geschieht das, so giebt es für die Mogollons keinen Ausweg. Wenn sie sich nicht ergeben, so werden sie entweder wie zusammengetriebenes Wild niedergeschossen oder in den tiefen Cañon getrieben, dessen Grund sich mit ihren zerschmetterten Gliedern füllen würde.“

„Du kannst überzeugt sein, daß ich nichts unterlassen werde, was einen friedlichen Ausgang herbeizuführen vermag; gehen aber die Mogollons nicht darauf ein, so kann ich nicht verhindern, daß sie in den sichern Tod rennen. Bringe du sie nur den Hohlweg heraufgetrieben!“

Nachdem noch einige andere Bemerkungen ausgetauscht worden waren, setzte er sich zu Pferde; der Nijora stieg auch auf; dann ritten sie davon, natürlich zunächst einen Bogen schlagend, um das feindliche Lager zu umgehen. Die Entscheidung nahte.

Nun befand ich mich allein. Ich ritt noch ein Stück zurück, um beim Anbruche des Morgens nicht von den MogolIons gesehen zu werden, pflockte mein Pferd an und legte mich nieder. Zum Schlafen etwa? Ich hätte schlafen dürfen, denn ich befand mich an einer Stelle, an welcher kein Un- oder Überfall zu erwarten war; aber ich hatte am Tage genugsam ausgeruht, und mußte daran denken, daß wir jetzt, in der heutigen Nacht, an dem Schlusse unserer vielen und schweren Bemühungen standen. Die Hände unter dem Kopfe und die Augen gen Himmel gerichtet, an welchem die Sterne jetzt wieder erschienen, da das Gewölk im Westen verschwunden war, dachte ich an all die Ereignisse von jenem Tage an, an welchem ich Harry Melton, den Ermordeten, in Guaymas zum erstenmal gesehen hatte. Welche Ereignisse, welche Sorgen, Mühen, Enttäuschungen und Gefahren lagen zwischen jenem Tage und dem heutigen Abend! Die Lehre aus allem, allem, was ich in dieser Zeit erfahren und erlebt hatte, bestand in den wenigen und doch so schwerwiegenden Worten: Bewahre dir allezeit ein gutes Gewissen!

So sann und sann ich, bis meine Gedanken weniger scharf wurden; dann träumte ich halb, halb wachte ich, und endlich schlief ich doch ein. Da ich mich nicht in meine Decke gehüllt hatte, wurde ich von der empfindlich kühlen Luft geweckt. Der Stand der Sterne sagte mir, daß es ungefähr eine Stunde vor Morgen war.

Bald darauf hörte ich Pferdegetrappel von Norden her. Ich ging dem Schalle entgegen, und legte mich auf die Erde. Ein Zug von Reitern kam, eine Strecke voran zwei; der eine war ein Weißer, der andere ein Roter, welcher wohl den Führer machte. Ich stand auf und rief sie an, und zwar mit verstellter Stimme:

„Halloo, Mesch’schurs! Wohin der Ritt?“

Die beiden parierten sofort ihre Pferde und griffen zu ihren Gewehren. Der Weiße antwortete:

„Wen geht es etwas an, wohin wir reiten? Komm näher, Bursche, und lasse dich sehen, wenn du keine Kugel kosten willst!“

„Versteht Ihr denn, einen Menschen zu treffen, Mister Emery?“

„Emery? Der Kerl kennt mich! Wer mag – – Alle Wetter, bin ich dumm!“ unterbrach er sich. „Das ist doch jedenfalls kein anderer als der alte Charley, den sie Shatterhand nennen! Komm her, mein Kind, und sage uns, wo der Apatsche steckt!“

„Steigt ab; dann sollst du es erfahren. Wir müssen hier halten. Ist alles in Ordnung, Emery?“

„Alles.“

„Und Jonathan?“

„Kommt da hinten mit seiner lieben Judith geritten. Dunker hat sich sein erbarmt, und mag nun keinen Augenblick mehr von ihm lassen.“

Der Zug hielt an, und alle stiegen ab. Ich ging vor allen Dingen zu Melton. Eben war er vom Pferde genommen, und neben Judith auf die Erde gelegt worden. Dunker stand bei ihnen.

Dann sah ich nach den gefangenen Mogollons. Sie lagen auf der Erde, zwei und zwei mit den Rücken gegeneinander zusammengebunden. Die waren uns sicher; die konnten nicht entfliehen. Dann erzählte ich Emery, Dunker und dem Unterhäuptlinge, was ich mit dem Apatschen beobachtet und besprochen hatte, und fragte hierauf den letzteren:

„Kennt mein roter Bruder vielleicht eine nahe, an der Schattenquelle liegende Stelle, von welcher aus wir die abziehenden Mogollons beobachten können, ohne von ihnen bemerkt zu werden?“

„Es giebt eine solche,“ antwortete er. „Sobald mein Bruder es wünscht, werde ich ihn zu derselben führen.“

„Gut! Wir müssen sehr bald aufbrechen, da der Morgen nahe ist. Fünfzig deiner Krieger mögen uns begleiten, um die zurückbleibenden Feinde zu überfallen. Die andern fünfzig bleiben zur Bewachung der Gefangenen hier.“

„Und ich?“ fragte Dunker.

„Ihr müßt unbedingt bei Melton bleiben, den ich Euch anvertraut habe.“

Well! Ich bin also sein Kerkermeister. Da mag er den Gedanken an eine Flucht nur immer fallen lassen!“

„Aber ich darf doch mit?“ erkundigte sich Emery.

„Ich möchte dich bitten, auch hier zu bleiben.“

„Warum? Möchte gar zu gern dabei sein.“

„Um zu sehen, wie wir zehn oder zwölf Indianer fangen? Das ist nichts. Bedenke, daß wir außer Melton noch fünfzig Gefangene zu bewachen haben. Die muß ich unter ganz sicherer Obhut wissen. Es ist ein Vertrauensposten für dich, Emery.“

„Gut! Wenn du es mir von dieser Seite klar und fein machst, kann ich es nicht gut grob nehmen. Wann sollen wir nach der Quelle kommen?“

„Ich schicke euch einen Boten.“

Nach kurzer Zeit stiegen fünfzig Nijoras wieder auf. Ihr Unterhäuptling setzte sich mit mir an ihre Spitze, und führte uns nicht süd-, sondern westwärts, um die Quelle des Schattens nach dieser Richtung zu umgehen. Später lenkten wir nach Süden, und dann nach Osten ein; der Bogen war geschlagen, und wir hielten vor einer langgestreckten, nicht bedeutenden und schmalen Anhöhe, auf welcher Gebüsch zu stehen schien.

„Wir befinden uns an Ort und Stelle,“ sagte der Unterhäuptling.

„Wie weit von der Quelle?“ erkundigte ich mich.

„Fünf Minuten. Wer auf diese kleine Höhe steigt und sich da hinter das Gebüsch legt, kann die ganze Gegend der Quelle des Schattens überblicken und wird doch selbst nicht gesehen.“

„Das ist gut. Warten wir, bis es Tag geworden ist. Aber gebt gut auf die Pferde acht, damit nicht etwa eines davonläuft und uns verrät!“

Die Warnung war eigentlich unnütz, denn niemals wird ein Indianerpferd sich weit von seinesgleichen entfernen. Wir lagen am Fuße der Anhöhe, bis die Sterne nach und nach erblichen und ein leiser Dämmerschein im Osten zu bemerken war. Dann stieg ich mit dem Unterhäuptlinge hinauf. Wir legten uns hinter die Büsche und warteten, bis es hell genug war, die unter und vor uns liegende Gegend zu überblicken. Das dauerte nicht lange.

Das Gebüsch, welches uns Deckung gab, lief auf dem Rücken der Anhöhe hin, stieg jenseits derselben hinab, verbreiterte sich nach und nach, wurde da, wo die Quelle aus der Erde trat, wieder schmäler und hörte nachher ganz auf, um in die grasige Prairie überzugehen.

„Das ist ja herrlich!“ sagte ich zu dem Indsman. „Wir können uns das Terrain ja gar nicht besser wünschen!“

„So ist mein weißer Bruder mit mir zufrieden?“

„Vollständig, vollständig! Die Stelle ist die allerbeste für unsere Absichten. Wir können die ganze Gegend überblicken und den Abzug der Mogollons beobachten. Dann brauchen wir gar keine Pferde, um die zurückgebliebenen Feinde durch die Schnelligkeit unseres Kommens zu überraschen; wir lassen sie vielmehr hier. Wir können ja ganz heimlich im Gebüsch hier hinuntersteigen, und uns bis an die Quelle schleichen. Besser konnten wir es wirklich nicht treffen.“

Der Indianer wollte es sich nicht merken lassen, doch sah ich es ihm sehr wohl an, daß er stolz auf das Lob war.

Wir sahen das Lager der Mogollons vor uns; sogar die Decke der Postkutsche war zu sehen; sie ragte aus den Büschen heraus. Die Roten waren vom Schlafe erwacht und bereiteten sich zum heutigen Ritte vor. Viele aßen; einige wuschen sich erst; andere hatten mit ihren Pferden zu thun. Nach einiger Zeit ertönte ein schriller Schrei, das Zeichen zum Aufbruche. Jeder eilte zu seinem Pferde, um es zu besteigen; dann bildete sich der Zug, immer ein Reiter hinter dem andern, sodaß wir sie leicht zählen konnten; es waren ihrer dreihundert und vier; ihre lange Linie bewegte sich nach Süden, wo, wie wir überzeugt waren, das Verderben ihrer wartete.

Die Zurückgebliebenen sahen den Davonziehenden nach; sie standen vor dem Gebüsch, ihrer zehn Mann. Daß es nicht mehr waren und vielleicht einer, oder einige noch hinter den Büschen steckten, ergab der Umstand, daß wir nur vierzehn Pferde weiden sahen, zehn Reitpferde und vier für den Wagen.

Als die Fortziehenden im Süden verschwunden waren, konnten wir an das Werk gehen. Zehn Mann zu überwinden, brauchten wir nicht mehr als eben so viele. Dennoch ordnete ich an, daß dreißig Mann mitgehen und die übrigen dann mit den Pferden nachkommen sollten; besser ist doch immer besser.

Durch die Büsche gedeckt, gingen wir auf der Anhöhe hin, stiegen jenseits hinab und folgten dann dem Gebüsch weiter, bis wir in der Nähe der Quelle ankamen. Ich kroch vor, um zu rekognoszieren. Die zehn armen Teufel saßen am Wasser, und machten Frühstück. Ich schämte mich fast, mit der dreifachen Übermacht über sie herzufallen. Sie waren, als die Nijoras über sie kamen, so erschrocken, daß keiner von ihnen sich wehrte oder zu entfliehen suchte; in einem Nu hatte man sie gebunden. Ich aber war an die alte Postkutsche getreten, öffnete den einen Schlag derselben und rief hinein:

„Guten Morgen, Mrs. Werner und Mr. Murphy! Hier bin ich, um mein Wort zu halten.“

Martha stieß einen Jubelruf aus, und schloß dann die Augen. Sie war zwar nicht ohnmächtig geworden, aber die Freude übermannte sie. Ich zog das Messer, schnitt ihre Fesseln entzwei, hob sie heraus und setzte sie in das Gras, da sie zu schwach zum Stehen war. Da rief der Advokat ungeduldig-

„Nun auch mich, Sir! Wie lange soll ich warten!“

„Nur Geduld, Mr. Murphy! Man kann nicht mehreren auf einmal dienen. Auch Ihr sollt frei sein.“

Als ich ihn losgeschnitten hatte, kam er herausgestiegen, reckte und renkte seine Glieder und sagte:

„Gott sei Dank! Das Elend ist zu Ende. Das war eine fürchterliche Situation da drin in dem alten Karren!“

Für mich hatte er ein Wort des Dankes nicht, dafür aber eines von anderer Art. Er legte seine Linke auf meine Schulter und fragte:

„Sir, ist bei Euch noch alles in Ordnung?“ Dabei klopfte er mir mit der Rechten auf die Brust. „Habt Ihr die Brieftasche noch?“

„Ja. Sonderbare Frage!“

„Weil ich wissen muß, wieviel es noch ist.“

„Warum müßt, hört Ihr, müßt denn gerade Ihr es wissen?“

„Weil ich – alle Wetter, das versteht sich doch ganz von selbst!“

„Nein, das versteht sich nicht so ganz von selbst.“

„Ich bin doch der Erbschaftsverwalter und habe zu bestimmen, was mit dem Gelde werden und wer es bekommen soll!“

„Bildet Euch das nicht ein! Erbschaftsverwalter waret Ihr, seid es aber nicht mehr. Und was aus dem Gelde werden und wer es bekommen soll, habt Ihr nicht mehr zu bestimmen, seit Ihr so pfiffig gewesen seid, die ganze Erbschaft einem Betrüger ohne alle genaue Prüfung nur so in die Tasche zu stecken.“

„So werde ich Euch eines andern belehren!“

Das sagte er in drohendem Tone; ich antwortete ruhig.

„Ich befürchte, daß Ihr da einen sehr unaufmerksamen Schüler an mir haben werdet.“

„O, Ihr werdet schon aufmerken müssen! Also gebt Ihr das Geld nicht heraus?“

„Nein.“

„Auch wenn ich es Euch befehle?“

„Befehlen? Laßt Euch doch nicht auslachen. Dieses Geld werde ich so lange behalten, bis der rechtmäßige Eigentümer gefunden ist.“

„Wollt Ihr etwa bestimmen, wer derselbe ist?“

„Das brauche ich nicht, denn er hat sich schon gefunden, und ich kenne ihn.“

„Ich kenne ihn auch. Er hat die Erbschaft auf amtlichem Wege aus meiner Hand zu erhalten. Also heraus damit! Wollt Ihr oder wollt Ihr nicht?“

„Nein! Übrigens ersuche ich Euch, Euern jetzigen Ton abzulegen; ich bin ihn nicht gewohnt! Es würde Euch ein ganz anderer ziemen!“

„So? Meint Ihr? Welcher denn?“

„Der des Dankes. Ich bin Euer Retter, sogar Euer Lebensretter. Wäre ich nicht, so würdet Ihr den Osten niemals wiedersehen. Ich schnitt Euch hier los. Habe ich ein einziges Wort des Dankes dafür erhalten? Der Bettler sagt Dank für einen Bissen Brot. Ich habe Euch die Freiheit und das Leben zurückgegeben, und bekomme Grobheiten dafür! Wenn Ihr glaubt, mir damit zu imponieren, so irrt Ihr Euch sehr!“

„Und Ihr imponiert mir noch viel weniger. Warum Ihr das Geld nicht herausgeben wollt, das weiß ich gar zu wohl! Ihr wollt das Geld nicht herausgeben, um so im stillen für Euch – –“

„Halt! Nicht weiter, kein Wort weiter!“ donnerte ich ihn an. „Es giebt Dinge, auf welche man nur mit der Faust antwortet!“

„Eure Faust? Phsaw! Vor der habe ich gar, gar keinen Respekt, obgleich Ihr Euch Old Shatterhand schimpfen laßt! Ihr wollt einen Teil des Geldes in Eure eigene Tasche verschwinden lassen, und – –“

Er sprach nicht weiter, denn er flog in einem weiten Boden durch die Luft, über den nächsten Strauch und jenseits desselben zur Erde nieder.

Martha war vor Angst emporgesprungen. Sie erfaßte meine beiden Hände, indem sie in flehendem Tone rief.

„Um Gottes willen, töten Sie ihn nicht! Er hat nicht eine Spur des Rechtes, so mit Ihnen zu reden; er hat Sie schwer beleidigt, ich fühle mich mit Ihnen gekränkt und werde nie wieder mit ihm reden, außer wenn ich muß; aber töten Sie ihn nicht!“

„Töten? Pah! Ich habe ihn nur auch ein wenig wegwerfend behandelt; das ist alles. Er wird sich wahrscheinlich hüten, mir jemals wieder so nahe zu kommen und so nahe zu treten wie jetzt, sonst werfe ich den Ehrentöter in die Luft, daß er an der Sichel des Mondes hängen bleibt!“

Da kamen die zwanzig Nijoras mit den Pferden. Ich gab einem von ihnen den Befehl, zurückzureiten und Emery und Dunker mit ihrer Truppe zu holen. Die Pferde thaten sich zunächst am Wasser gütlich, und verbreiteten sich sodann über die saftige Grasfläche. Murphy war aufgestanden, und hatte sich auf die Seite gedrückt. Er saß hinter einem Busche, und rieb sich verschiedene Teile seines Körpers. Martha hatte sich wieder erholt. Sie wollte von Dankesworten überfließen; ich bat sie aber, zu schweigen, und sie that mir den Gefallen, die Bitte zu erfüllen.

Dann kamen unsere zurückgebliebenen Krieger mit den Gefangenen geritten. Die zehn Mogollons stießen Ausrufe des Schreckens aus, als sie ihre fünfzig gefangenen Kameraden erblickten. Ich wollte eben einen Befehl geben, welcher die Überbringung der Leute betraf, als meine Aufmerksamkeit durch ein lautes Brüllen in Anspruch genommen wurde. Der Advokat stieß es aus. Er hatte Jonathan Melton gesehen, war aufgesprungen, warf sich auf diesen, den man schon vom Pferde genommen hatte, riß ihn zu Boden und bearbeitete mit beiden Fäusten und unter wütendem Geschrei das Gesicht des Betrügers, der sich gegen den Angriff nicht zu wehren vermochte.

Emery und Dunker warfen mir fragende Blicke zu. Sie wußten nicht, sollten sie Murphy wegreißen oder ihn gewähren lassen.

„Bindet schnell Melton los!“ rief ich Dunker zu.

Da Jonathan soeben von dem Pferde gehoben worden war, hatte man ihm die Beine noch nicht wieder gefesselt, und nur seine Hände waren gebunden. Es genügte ein Augenblick, ihm dieselben frei zu geben, und kaum war dies geschehen, so gebrauchte er sie zur Abwehr gegen den Angreifer, der noch immer nicht von ihm lassen wollte. Es entstand ein Prügelei, welcher alle Indianer, Freie und Gefangene, mit unendlichem Behagen zuschauten. Bald war der eine oben, bald der andere; es dauerte lange, ehe es zur Entscheidung kam, wer der Sieger war, und als dieser Moment endlich eintrat, zeigte es sich, daß sie beide unterlegen waren, denn sie hatten einander so mitgespielt, daß sie beide nebeneinander vollständig ermattet liegen blieben.

Emery war zu mir getreten, hatte mich ganz verwundert angesehen und gefragt:

„Warum giebst du zu, daß Murphy solche Hiebe bekommt? Du hast Melton ja geradezu gegen ihn losgelassen!“

„Weil er sich nichts anmaßen soll. Wer giebt ihm das Recht, Melton zu maltraitieren? Vorhin verlangte er unter Drohungen das Geld von mir und sagte mir, anstatt sich für seine Befreiung zu bedanken, ich gäbe es nicht heraus, um mir einen Teil davon heimlich anzueignen.“

„Pfui! Du hast ihm doch dafür beide Fäuste in die Augen gegeben?“

„Nein. Ich habe die Züchtigung dem lieben Jonathan überlassen.“

Well, auch kein übler Gedanke! Bist doch ein origineller Kerl, alter Scout! Nun liegen sie da und schnappen nach Atem. Ist beiden recht geschehen; kann weder dem einen noch dem andern etwas schaden. Aber den Melton sollen wir doch wieder fesseln?“

„Ja; doch Judith wird frei gegeben.“

„Die! Warum?“

„Damit sie Mrs. Werner bedienen kann.“

„Ganz richtig! Diesen Gedanken hätte ich nicht gehabt. Aber ob sie sich dazu hergeben wird?“

„Werde es ihr schon plausibel machen!“

Die Jüdin erstaunte nicht wenig darüber, daß man ihr die Fesseln abnahm; ich stand bei der Sängerin und rief sie zu mir her.

„Mamsell Silberberg, es liegt in Ihrer Hand, sich Ihre Lage zu erleichtern,“ sagte ich.

„Wie – wie – wie nennen Sie mich?“ fragte sie, indem sie mir frech in die Augen blickte. „Was haben Sie mit mir vor?“

„Sie werden dahin gebracht, wohin wir Melton bringen.“

„Ich gehe nicht mit! Ich habe andere und heiligere Pflichten.“

„Welche denn?“

„Ich muß zu meinem Vater, der mich braucht.“

„Wo ist denn der liebe Mann zu finden?“

„Das geht Sie nichts an!“

„Dann gehen mich auch die Rücksichten nichts an, welche Sie so plötzlich gegen ihn vorgeben. Sie haben ihn nie genannt, sich wahrscheinlich gar nicht um ihn gekümmert, und nun schützen Sie auf einmal diese heiligen Pflichten vor. Leider aber dürfen wir dieselben nicht beachten. Sie sind Meltons Mitschuldige; Sie können vollen Aufschluß über ihn und seine Verbrechen geben, und wir haben dafür zu sorgen, daß dies am richtigen Ort geschehen wird.“

„So wollen Sie mich weiter mit sich schleppen?“

„Nicht schleppen, sondern mitnehmen! Wir dürfen Sie doch nicht hier im wildesten Westen verkommen lassen und werden Sie in schönere und civilisiertere Gegenden bringen.“

„Ich will aber nicht!“ rief sie aus, indem sie mit dem Fuße stampfte.

„Um Ihren Willen werden wir uns wohl nicht viel bekümmern. Also hören Sie: Mrs. Werner braucht eine Dienerin. Wollen Sie die Stelle annehmen, so wird Ihnen soviel wie möglich Erleichterung werden

„Dienerin, Dienstbote, Dienstmädchen?“ lachte sie höhnisch auf. „Fällt mir nicht ein, mich so weit wegzuwerfen! Niemals!“

„Wie Sie wollen! Aber dann werden Sie wieder gefesselt!“

„Ist mir gleich; thun Sie es! Ich bin Lady; ich bin Dame; und gerade für diese Frau hier würde ich erst recht keinen Finger regen. Ich bin die Witwe eines Häuptlings, also eines Mannes, der ein Herrscher war!“

„Gut! Ich werde Ihnen also die ledernen Witwenschleier wieder um die Hände und Füße legen lassen“

Ein Wink von mir genügte; sie wurde wieder gebunden. Es war auch besser so, denn wenn sie die Erlaubnis gehabt hätte, sich frei zu bewegen, wäre es ihr doch vielleicht gelungen, heimlich mit Melton zu paktieren und ihm zur Flucht zu verhelfen.

Seit dem Abzuge der Mogollons waren nun beinahe drei Viertelstunden vergangen. Emery machte mich auf diesen Umstand aufmerksam. „Wir müssen fort,“ sagte er, „sonst kommen wir nicht zur rechten Zeit an den Hohlweg.“

„Du sagst wir?“

„Natürlich! Oder ist das falsch? Heißt das etwa, daß ich nicht mitgehen soll?“

„Ja.“

„Das bilde dir nicht ein; ich bleibe auf keinen Fall hier zurück!“

„Ich denke, du wirst nicht nur bleiben, sondern dich sogar freiwillig dazu erklären.“

„Den Kuckuck werde ich! Während andere kämpfen, will ich nicht als Faulpelz oder gar als Feigling hier auf der Bärenhaut liegen bleiben!“

„Es kann weder von Faulheit noch gar von Feigheit die Rede sein. Du weißt, daß Winnetou fort ist, um darauf zu sehen, daß unser Plan strikte ausgeführt wird. Er mußte fort, sonst hätten uns die Nijoras vielleicht alles verdorben. Wenn alles klappen soll, muß einer von uns unten am Hohlwege stehen; er hat mit wenigen Leuten die ganze Gewalt des Rückstoßes, welcher die Mogollons wieder den Hohlweg herabdrängen wird, auszuhalten. Wer soll das sein?“

„Du natürlich. Das ist eine heikle Aufgabe und ich habe nicht Lust, mir später wegen irgend eines Fehlers die Schuld am Mißlingen zuschieben zu lassen. Wer da unten postiert ist, muß mit dem Apatschen, der oben kommandiert, im innern Zusammenhange stehen; das ist bei dir der Fall, bei mir aber nicht.“

„Gut! Also Winnetou oben auf der Platte und ich unten am Hohlwege; das siehst du ein, und das ist abgemacht. Nun giebt es noch einen dritten Posten, welcher zwar anderer Art, aber ebenso wichtig ist wie die beiden vorhergehenden.“

„Der hier an der Quelle?“

„Ja. Es handelt sich um die Gefangenen, von denen Melton der wichtigste ist. Entkommt er, so weißt du, was das heißt. Dabei sind sechzig Mogollons zu bewachen, die Yumas der Jüdin gar nicht mitgerechnet. Ein kleiner, ganz unbedachter Umstand kann die Kerls zur Rebellion bringen und zur Freiheit führen,“

„Sie sind ja alle gefesselt!“

„Dies gibt uns eben nur dann Sicherheit, wenn ein zuverlässiger Mann hier gebietet; ist dies aber nicht der Fall, so kann das kleinste Versehen zum Verderben führen. Denke dir den Schreck, wenn ich mit fünfzig oder sechzig Mann hier fortritte, um über dreihundert Mogollons in den Hohlweg zu treiben, und es erschienen plötzlich hinter uns die sechzig oder siebzig Gefangenen, welche sich losgemacht hätten!“

„Alle Wetter! Das wäre allerdings eine fatale Geschichte. Ihr würdet zwischen den beiden Haufen erdrückt, und mit euerm ganzen schönen Plane wäre es zu Ende!“

„Das siehst du also ein? Wir brauchen hier einen tüchtigen Kerl. Soll ich den Posten etwa Dunker anvertrauen?“

„Dunker? Hm! Er ist ein guter Pfadfinder und auch sonst ein ganz passabler Mensch, aber ihm Wichtiges oder gar sehr Wichtiges anvertrauen, das möchte ich doch nicht.“

„Ganz meine Meinung. Dann bleibt von uns nur einer übrig.“

„‚ Well! So muß ich es also übernehmen. Du hast mich richtig breitgeschlagen.“

„Habe ich dir nicht gesagt, daß du dich selbst anbieten würdest? Ich wußte es.“

„Hm, eigentlich wußte ich es auch; aber es wäre mir lieb gewesen, wenn ich da oben auf der Platte hätte mit zuschlagen dürfen.“

„Es fragt sich noch, ob es überhaupt zum Zuschlagen kommt. Also du wirst hier kommandieren. Wie viel Leute brauchst du, um die Gefangenen in Schach zu halten?“

„Zehn werden genügen, da alle gefesselt sind. Denkst du nicht?“

„Ich denke es. Siebzig eng gefesselte Menschen sind sogar mit noch weniger Kräften in Schach zu halten, nämlich wenn nichts passiert. Da man aber nicht eine Stunde weit in die Zukunft blicken kann, ist es besser, man sieht sich vor. Nimm dreißig! Mir bleiben da noch immer siebzig.“

„Dafür hast du aber auch die schwerste Partie eures Planes auszuführen, und zwar mit noch nicht ganz einmal dem vierten Teile der Leute, welche Winnetou oben auf der Platte hat.“

„Es genügt. Was mir an Leuten mangelt, muß ich durch die Taktik zu ersetzen suchen.“

„Taktik! Ganz militärwissenschaftlich!“

„Allerdings,“ lachte ich. „Hundertundsiebzig Leute brauche ich; siebzig habe ich; folglich fehlen gerade hundert. An die Stelle der hundert muß hier die alte Überlandpostkutsche treten. Ist das nicht Taktik?“

„Sprichst du im Ernste? Willst du sie etwa als Kanone gebrauchen? Dann bin ich neugierig, womit du sie laden wirst!“

„Nicht als Kanone, sondern als Sturmbock.“

„Sturmbock? Das ist ja eine ganz und gar mittelalterliche Maschine!“

„Die ich aber in die Neuzeit übersetze, denn mein Sturmbock wird lebendig und nicht von totem Holz und Eisen sein.“

„Begreife ich nicht!“

„Und ist doch so ungeheuer einfach! Du siehst doch ein, daß wir den Wagen mitnehmen müssen?“

„Nein, das sehe ich vielmehr ganz und gar nicht ein. Wie wollt ihr euch frei bewegen können, wenn ihr den alten Kasten mit euch schleppt!“

„So höre! Wir dürfen den Mogollons, wenn sie in den Hohlweg eingedrungen sind, keine Zeit und auch keinen Raum lassen, umzukehren. Wir müssen uns also hart hinter ihnen befinden; das ist aber gefährlich, weil sie sich umdrehen und auf uns werfen können. Da dient uns denn die Kutsche als Maske. Wenn diese hinter den Mogollons erscheint, werden die letzteren uns für ihre eigenen Krieger halten.“

„Ah, richtig! Fein ausgedacht! Aber die Sache hat einen Haken. Bei der Kutsche waren zehn Krieger; du aber kommst mit siebzig, das muß doch verdächtig erscheinen.“

„O nein. Du hast die fünfzig vergessen, die bei Melton waren und hier gefangen liegen. Man wird denken, daß es diese sind.“

„Richtig, richtig! Die fünfzig haben die zehn mit der Kutsche hier getroffen und sich mit ihnen vereinigt. Da beträgt der Unterschied nur zehn, was wohl nicht auffallen wird. Und dann? Was geschieht dann?“

„Das wirst du sofort hören.“

Ich rief den Unterhäuptling zu mir und bat ihn:

„Rufe deine Leute zusammen und sage ihnen, daß ich sechs gute Reiter brauche, welche sich mit mir zu einem gefährlichen Unternehmen freiwillig vereinigen sollen!“

Er folgte der Aufforderung und da meldeten sich denn nicht mehr und nicht weniger als – alle. Nun erklärte ich ihm und den Seinen, sodaß sie alle es hörten:

„Wir müssen den Mogollons mit dem Wagen folgen, sodaß sie uns für die Ihrigen halten und wir gleich nach ihnen in den Hohlweg eindringen können. Wenn sie die Platte oben erreicht haben und da sehen, daß sie eure tapfern Brüder in einer unangreifbaren Stellung vor sich haben, werden sie umkehren wollen. Das müssen wir verhüten. Ich will ihnen durch den Wagen den Rückweg versperren. Um den steilen Hohlweg hinanzukommen, muß ich wenigstens acht Pferde anspannen. Keiner von euch kann fahren; ich werde mich also selbst auf den Bock setzen, um die hintersten zwei Pferde an der Deichsel zu lenken. Auf jedem der sechs vorderen Pferde soll einer von euch sitzen, um sie anzutreiben. Wenn wir hinter den Mogollons anlangen, werden sie die sechs zunächst für Brüder ihres Stammes halten. Später aber, wenn wir ihnen näher kommen, steht zu befürchten, daß sie uns erkennen und auf uns schießen. Also haben die sechs Reiter vor dem Wagen eine sehr gefährliche Aufgabe zu erfüllen. Darum wünsche ich, daß die Leute sich freiwillig melden möchten. Wer jetzt noch Lust hat, mag seinen rechten Arm erheben!“

Da flogen alle Arme empor.

„Du siehst, daß es keinen Feigling unter uns giebt,“ sagte der Häuptling mit stolzem Lächeln. „Wenn Old Shatterhand sich vorn auf den Wagen setzt und sein Leben wagt, wird kein einziger dieser Krieger zurückbleiben.“

„Gut, machen wir es also noch anders! Die sechs Krieger, welche ich haben will, müssen ausgezeichnete Reiter sein, denn es gilt, den Wagen im Galopp den Hohlweg emporzureißen und unter den voranreitenden Mogollons eine möglichst große Verwirrung anzurichten. Ich kenne euch nicht; ihr selbst müßt euch kennen. Sucht mir die sechs besten und sichersten Reiter aus!“

Das nahm der Unterhäuptling in die Hand. Es war auch nicht leicht, da es galt, keinen zurückzusetzen und keinen zu beleidigen, doch brachte er in kurzer Zeit die sechs zusammen, ohne daß die andern murrten. Wie ich zu meiner Beruhigung hörte, waren die Stangenpferde noch da, welche den Wagen bis an den weißen Felsen gezogen hatten. Hätte ich zwei halbwilde Indianerpferde an die Deichsel nehmen müssen, so wäre diese mir ganz sicher abgebrochen worden. Es war auch schon ohnedies anzunehmen, daß die Fahrt eine gefährliche sein werde. Glücklicherweise befand sich das Riemenzeug in leidlichem Zustande. Die sechs Vorderpferde brauchten kein Geschirr; es reichte für jedes ein Lasso hin, welcher an die Deichsel und an den Bauchgurt befestigt wurde. Die Vorbereitungen wurden schnell getroffen, und bald stand der Wagen mit acht Pferden bereit zur Fahrt. Emery kam zu mir und sagte in ungewöhnlich ernstem Tone:

„Konnte sich kein anderer auf den Bock setzen? Mußt gerade du dich den feindlichen Kugeln bieten?“

„Wahrscheinlich wird nicht viel geschossen werden,“ antwortete ich, „und es trifft, wie du weißt, nicht jede Kugel. Aber ich will nicht leichtsinnig sein. Ich könnte doch eine Kugel bekommen oder stürzen oder sonstwie verletzt oder gar von den Pferden fortgerissen werden. Da gilt es, unser Geld in Sicherheit zu bringen. Willst du die Brieftasche aufbewahren, bis ich wiederkomme?“

„Gern, wenn du es wünschest. Wann aber denkst du, daß du wiederkommst?“

„Ich denke, daß in vier Stunden alles entschieden sein wird. Kann ich dann aus irgend einem Grunde nicht zurückkehren, so werde ich dir wenigstens einen Boten senden.“

„Thue das, Charley! Ich werde die Ankunft desselben mit der größten Spannung erwarten.“

„Und laß dir Melton nochmals an das Herz gelegt sein. Mag geschehen, was nur immer geschehe, er darf nicht wieder loskommen. Jage ihm lieber eine Kugel in den Kopf, als daß du ihn entwischen läßt!“

„Hab‘ kein Sorge! Dunker läßt ihn keinen Augenblick aus der Beobachtung. Der schneidet sich eher die rechte Hand ab, als daß er ihn entfliehen läßt. Um eins bitte ich dich, wenn du es mir nicht übel nimmst!“

„Was?“

„Wage nicht zu viel, alter Charley! Du weißt, es giebt Leute in dieser Gegend, die lieber selbst dem leibhaftigen Tode entgegenblicken als dir in die erstarrten Augen sehen möchten. Versprich mir das, he, ja?“

Wahrhaftig, dem braven Englishman standen die Thränen im Auge, so sehr hing er an mir! Er stellte sich die Gefahr, welcher ich entgegenging, viel größer vor, als sie war. Ich reichte ihm gerührt die Hand und antwortete:

„Hab‘ Dank, guter Emery, für deine Sorge! Du darfst versichert sein, daß ich mich nicht blind ins Verderben stürze. Es giebt noch andere Leute, welche auch wünschen, daß ich noch lange lebe. Denke daran, daß ich Eltern daheim habe, die ich bald wiedersehen will! Freilich, dem Mutigen lacht der Erfolg, und wenn ich ihn durch ein kleines Wagnis leichter und schneller erringen kann als sonst, so stehe ich nicht gern hintenan. Hier ist die Brieftasche mit dem Gelde; komm mit hinter den Wagen, damit niemand sieht, daß du sie einsteckst!“

Als wir miteinander fertig waren, kam auch noch Martha und sagte:

„Es giebt so auffällige Vorbereitungen, und ich höre hier und da ein Wort, aus dem ich schließe, daß Sie beabsichtigen, sich in eine Gefahr zu stürzen. Bitte dringend, mir zu sagen, ob dies wirklich so ist!“

„Es ist nicht so,“ antwortete ich. „Ich unternehme mit Ihrem Wagen eine Fahrt nach der Platte des Cañons; das ist alles.“

„Nach der Platte, auf welcher der Kampf stattfinden soll! Also wohl gar eine Fahrt in den Tod?“

Ihre Augen hatten sich erweitert und waren mit einem großen, ängstlich starren Blicke auf mich gerichtet.

„In den Tod?“ lachte ich heiter auf. „Das lassen Sie sich von einer Befürchtung sagen, welche gar keinen Grund hat. Aller Wahrscheinlichkeit nach werde ich die sehr ungefährliche Rolle eine Friedensvermittlers auf mich zu nehmen haben.“

„So gehen Sie mit Gott! Es bleibt hier jemand zurück, dessen beste Wünsche Sie begleiten.“

Noch war ich damit beschäftigt, zur Anfeuerung der Pferde aus Riemen und dem mehrfach zusammengelegten Lasso, welcher den elastischen Stiel bilden sollte, einen Kantschu zusammenzusetzen, da schickte Jonathan Melton zu mir, um mir zu sagen, daß er notwendig mit mir zu sprechen habe. Als ich zu ihm kam und ihn nach seinem Begehr fragte, antwortete er, mich finster anblickend:

„Ich sehe, daß Ihr fort wollt. Wohl in den Kampf?“

„Ja.“

„Habt Ihr das Geld einstecken?“

„Warum fragt ihr?“

„Weil Ihr es nicht der Vernichtung aussetzen dürft!“

„Wenn ich es bei mir habe, wird es nicht vernichtet.“

„Doch! Ich sage Euch, daß Ihr nicht zurückkehren werdet. Ihr geht dem sichern Tode entgegen. Aber wenn Ihr versprecht, mich frei zu lassen, werde ich Euch retten, indem ich Euch den Plan der Mogollons verrate.“

„So! Also Eure Freunde und Bundesgenossen wollt Ihr verraten! Das sieht Euch ähnlich, wird Euch aber nichts nützen, denn ich kenne den Plan schon lange.“

„Woher?“

„Weil ich, wie Ihr schon wißt, die Beratung der Mogollons am weißen Felsen und dann auch vorgestern abend Euer Gespräch mit der Jüdin am Bache des Schlangenberges belauscht habe. Die Mogollons wollen nach dem dunkeln Thale; wir aber haben uns darauf vorbereitet, sie schon vorher in der Weise zwischen uns zu nehmen, daß wohl keiner von ihnen entkommen wird. In einigen Stunden schon werde ich Euch die Siegesbotschaft senden.“

„So setzt Euch in den Wagen, fahrt zum Teufel und bleibt in der Hölle in alle Ewigkeit!“

Er drehte sich von mir ab, und ich ging. Dieser Wunsch aus dem Munde eines solchen Mannes konnte mir nur Glück bringen. Ihm die Freiheit für die Enthüllung einer Thatsache geben, die mir schon längst bekannt war, lächerlich!

Der Kantschu wurde fertig gemacht; dann konnte die Fahrt beginnen. Da mir zwei Gewehre dabei zu viel waren, ließ ich den Bärentöter bei Emery zurück. Den Stutzen hing ich um und bestieg dann den hohen Bock der Kutsche; Dunker gab mir die Zügel herauf; die sechs Vorreiter schwangen sich auf ihre Pferde, und der alte Postkasten setzte sich in Bewegung. Ich mußte unwillkürlich denken: „In welchem Zustande wird er mit uns oben auf der Platte des Cañons ankommen!“

Die Stangen- oder Deichselpferde waren das Ziehen am Wagen gewohnt, die andern aber nicht. Letztere sprangen bald vorwärts, bald herüber oder hinüber; sie machten die ersteren irre, und so wurde die Kutsche zunächst nicht fortgezogen, sondern fortgeschleudert. Erst als die sechs Roten ihre Zügel und Schenkel in der richtigen Weise gebrauchten, hörte das Schleudern auf, und die Bewegung des Wagens wurde weniger gefährlich. Da es aber hier nicht das gab, was man einen Weg zu nennen pflegt, und die Vorreiter nicht die Hindernisse, welche der Boden uns bot, zu vermeiden verstanden, war die Fahrt trotzdem keine bequeme, und wir kamen über Stellen, an denen ich meine ganze Aufmerksamkeit aufbieten mußte, um das Umwerfen zu vermeiden.

Die Nijoras, welche unter Emerys Aufsicht die Gefangenen an der Quelle des Schattens zu bewachen hatten, blieben natürlich zurück; die andern folgten uns, indem sie einer hinter dem andern hinter dem Wagen herritten.

Es war nicht nötig, den Weg nach der Platte des Cañons zu kennen; wir brauchten nur den Spuren zu folgen, welche die Mogollons hinterlassen hatten. Die Entfernung dorthin betrug drei Stunden. Ich mußte so fahren, daß wir die Mogollons kurz vor dem Hohlwege einholten. Eher uns sehen zu lassen, war nicht geraten, weil da die Gefahr nahe lag, daß sie uns als Feinde erkennen und, anstatt weiter zu reiten, sich gegen uns wenden würden. Wir hatten auch in dieser Beziehung den gefährlichsten Teil unserer kriegerischen Aufgabe auf uns genommen. Um nicht etwa vor der Zeit an einer dazu geeigneten stelle, welche uns der Aussicht beraubte, auf sie zu stoßen, schickte ich einen Reiter voran, welcher ihren Nachtrab beobachten und uns benachrichtigen sollte, falls wir demselben früher, als ich es beabsichtigte, nahe kamen.

Zunächst ritten und fuhren wir rasch, um den Vorsprung, welchen die Mogollons hatten, einzuholen; später war das nicht so gut möglich, weil, wie ich hörte, das Terrain immer schwieriger wurde. Nach fast zwei Stunden trafen wir auf den Kundschafter, welcher uns benachrichtigte, daß die Mogollons ungefähr zehn Minuten weit vor uns seien. Wir durften nun nur noch gleichen Schritt mit ihnen halten. Wäre die Gegend eben gewesen, so hätten sie uns sehen müssen; so aber gab es jetzt Berge, Thäler und Wegeswindungen, in und hinter denen wir verborgen bleiben konnten.

Nach abermals einer Viertelstunde brachte uns der Kundschafter einen Nijoraindianer, auf den er gestoßen war. Der erstere meldete mir:

„Dieser Krieger hat hinter einem Felsen gesteckt, um nicht von den Feinden gesehen zu werden. Er will dir eine Botschaft von Winnetou bringen.“

„Was läßt er mir sagen?“

„Daß alles so geschehen ist, wie du angeordnet hast.“

„So stecken eure Krieger hinter der Felsenhöhe verborgen?“

„Ja und auch im Walde, bis fast heran an die Stelle, wo der Hohlweg auf die Platte des Cañons mündet.“

„Wo habt ihr eure Pferde?“

„Hinter der Höhe, wo sie so verborgen sind, daß sie von den Mogollons nicht gesehen werden können.“

„Das ist gut. Wo aber hast du denn das deinige?“

„Ich habe es zurückgelassen. Winnetou gebot es mir, weil ich da keine sichtbaren Spuren mache und mich auch leichter verbergen kann.“

„Du dachtest also, daß wir gleich hinter den Mogollons kommen würden?“

„Der Häuptling der Apatschen sagte es. Ich bin im Hohlweg herab und dann euch vorsichtig entgegengegangen. Als ich die Mogollons erblickte, versteckte ich mich, und als sie vorüber waren, ging ich weiter, bis ich auf deinen Kundschafter traf, den ich als einen Freund erkannte.“

„Wie reitet der Häuptling der Mogollons?“

„An der Spitze seiner Leute.“

„Und wie lange haben wir noch zu reiten, bis wir an den Anfang des Hohlweges kommen?“

„Die Hälfte der Zeit, welche die Bleichgesichter eine Stunde nennen.“

„Es ist gut. Schließ dich unsern Kriegern an. Du wirst auch zu Fuße leicht mit ihnen fortkommen, weil sie jetzt langsam reiten müssen.“

Unser Zug setzte sich wieder in Bewegung. Die Bodengestaltung war uns jetzt so günstig, daß wir den Mogollons noch näher rücken konnten. Der Kundschafter war wieder vorausgeritten. Als wir das nächste Mal auf ihn trafen, meldete er, daß der Feind nur noch fünf Minuten von uns entfernt sei. Es ging immer in Windungen zwischen Bergen dahin, und wir hatten endlich die Mogollons in der nächsten Krümmung vor uns. Wir gelangten in diese. Als wir ihr Ende erreichten, traten die Bergwände auseinander, indem sie sich auf einen freien Platz öffneten.

Dieser war nicht groß. Rechts und links gab es hohe Felsen, und jenseits lag eine sehr steile, mit dichtem Walde bewachsene Höhe. Am Fuße, ganz rechts unten, wo der Wald aufhörte, sah ich die Mündung des Hohlwegs, in welchen die Mogollons soeben eindrangen. Wir warteten, bis die letzten von ihnen verschwunden waren, und jagten dann über den freien Platz hinweg, um dann unten am Wege für einige Augenblicke halten zu bleiben.

Jetzt befand sich der Feind in der Falle. Droben auf der Platte erwarteten ihn unsere Genossen, und unten befanden wir uns. Wir waren stark genug, ihm die Rückkehr unmöglich zu machen.

Bisher war das Gelingen noch zweifelhaft gewesen. Hätten die Mogollons uns hinter sich bemerkt und sich gegen uns gewendet, so wären wir nicht stark genug gewesen, sie zurückzuwerfen. Und selbst wenn uns dies gelungen wäre, hätte der größte Teil von ihnen nach den Seiten hin entkommen können, allerdings nur unter Zurücklassung ihrer Pferde, da die Flucht nur durch das Überklettern der Bergwände zu bewerkstelligen möglich gewesen wäre. Nun aber steckten sie im Hohlwege, dessen hohe und steile Seiten nicht zu erklettern waren; sie mußten also vorwärts, weil sie weder zurück noch seitwärts konnten.

Das Plateau, auf welchem sie eingeschlossen werden sollten, hatte folgende Gestalt:

[Bild eines Dreiecks]

Es bildete ein Dreieck, dessen Fläche aus Felsen bestand. Die hintere Seite a ist die langgestreckte, felsige Höhe, hinter welcher ein Teil unserer Krieger versteckt lag. Die vordere Seite b deutet den Wald an, in welchem sich der andere Teil der Nijoras verborgen hatte; er fiel von der Platte sehr steil nach unten. Das c bezeichnete den tiefen Cañon, auf dessen Grund niemand, ohne zerschmettert zu werden, gelangen konnte. Bei e ist die Öffnung des Hohlweges auf die Platte, und bei d führt der Weg jenseits wieder hinab.

Das hochgelegene Dreieck, welches für die Mogollons verhängnisvoll werden sollte, war von dreihundert Nijoras besetzt. Hunderfünfzig steckten hinter der Höhe a; sie wurden von ihrem Häuptlinge kommandiert. Die andern hundertfünfzig lauerten im Walde, und Winnetou war es, der hier befehligte. Der Plan war nun, die Mogollons bei e heraufkommen und längs des Cañons c ruhig bis beinahe nach dem Auswege d weiterreiten zu lassen. Ehe sie diesen erreichten, mußte ich mit meinen Nijoras bei e erschienen sein. Dann waren die Mogollons so fest eingeschlossen, daß sie sich, wenn sie vernünftig handeln wollten, ergeben mußten. Sie befanden sich frei und schutzlos auf der oberen Platte, während die Nijoras durch den Wald und die Felsenhöhe gedeckt waren. Um sie da zu vertreiben, hätten beide gestürmt werden müssen, wobei der Untergang der Mogollons unausbleiblich gewesen wäre. Und hierbei muß berücksichtigt werden, daß es Indianern niemals einfällt, einen solchen Sturmangriff zu unternehmen.

Der Häuptling der Mogollons langte als der Voranreitende zuerst auf der Platte an. Er blieb einige Augenblicke halten, um sich umzusehen. Als er nichts Verdächtiges bemerkte, ritt er weiter, und seine Leute folgten ihm. Dieser Mann war von einer so unvorsichtigen Sicherheit, daß er nicht einen einzigen seiner Leute vorausgesandt hatte, um die Gegend nach Feinden abzusuchen. Als der letzte der Mogollons auf der Platte erschien, war die Spitze ihres Zuges auf dem Halbierungspunkte der Länge des Cañons angelangt. Man mußte sie nun noch zwei Minuten reiten lassen und sich ihnen dann zeigen. Leider aber war der Häuptling der Nijoras zu ungeduldig, diesen Zeitpunkt abzuwarten. Er lag auf der Höhe a hinter einem großen Steine, legte sein Gewehr auf den Anführer der Mogollons an und schoß, doch ohne zu treffen. Sofort erhoben sich seine Leute hinter ihren Verstecken, ließen ihr Kriegsgeheul erschallen und schossen ihre Gewehre auch ab, freilich mit demselben Mißerfolge, weil die Entfernung jetzt noch zu groß war. Winnetou sagte sich, daß die mit ihm im Walde versteckten Nijoras dem schlechten Beispiele folgen würden, und rief mit seiner weithin schallenden Stimme:

„Noch nicht schießen! Bleibt im Walde stecken!“

Es lag ihm dabei nicht nur daran, einen übereilten Angriff zu verhindern, sondern noch vielmehr wünschte er, unnützes Blutvergießen zu verhüten. Das war ja die Hauptforderung, welche wir gestellt hatten und auf die der Häuptling der Nijoras eingegangen war. Leider aber hatte Winnetou seinen Befehl in den Wind gerufen. Seine hunderfünfzig Nijoras erschienen unter den vordersten Bäumen und schossen unter Ausstoßung ihres Kampfgeheules auch auf die MogolIons. Viele der letzteren wurden getroffen.

Starker Wind, der Häuptling derselben, hatte sein Pferd erschrocken angehalten. Er sah die Höhe vor sich mit Feinden besetzt; zu seiner Linken wimmelte der Wald ebenso von ihnen; rechts gähnte der tiefe Cañon; ritt man vorwärts, so kam man der Felsenhöhe näher, von welcher aus die Kugeln jetzt noch nicht hatten treffen können; übrigens war es viel weiter dorthin, als nach dem Hohlwege zurück, wo sich noch jetzt das Ende seines Zuges befand. Darum warf er sein Pferd herum, richtete sich hoch im Sattel auf, winkte mit dem erhobenen Arme zurück und schrie seinen Leuten zu:

„Umkehren, umkehren! Wir sind eingeschlossen. Schnell wieder den Hohlweg hinab!“

Winnetou oder ich an seiner Stelle hätte freilich anders gehandelt; ihm aber hatte der Schreck über den so ganz unerwarteten Angriff auf dem gefährlichen Terrain die Überlegung geraubt. Er sprengte zurück, und seine Leute folgten seinem Beispiele. Dabei wurden die einen von den andern aufgerollt, und es bildete sich ein wirrer Knäuel von Reitern, deren jeder danach trachtete, so rasch wie möglich den Hohlweg zu erreichen. Und in diesen Knäuel wurde Kugel um Kugel von den Nijoras aus dem Walde gesandt. Das war das reine Morden. Darum sprang der Apatsche aus dem Walde in das Freie heraus, schwang sein Gewehr abwehrend in der Luft und rief:

„Nicht schießen, nicht schießen! Winnetou befiehlt es euch!“

Glücklicherweise hatte sein Anblick eine größere Wirkung auf seine Untergebenen als vorhin seine Worte; das Schießen hörte auf. Aber die Folgen des vorzeitigen Angriffes schienen nicht verhindert werden zu können, denn die Mogollons hatten den Hohlweg wieder erreicht und drangen hinein.

Was nun thun? War ich denn noch nicht da? Als Winnetou sich dieses fragte, sah er, daß die Flucht der Feinde stockte; sie konnten nicht weiter, nicht zurück, und das hatte seinen guten Grund.

Als ich mit meinen Nijoras unten am Waldessaume angekommen war, hatte ich nur für einige Minuten halten lassen. Ich horchte nach oben. Nichts ließ sich hören. Da lenkten die sechs Vorreiter auf meinen Zuruf in den Hohlweg ein, und hinter dem Wagen folgten die Krieger. Die Entscheidung war da. Wie würden wir oben ankommen?

Die beiden Seiten des Hohlweges bestanden aus Glimmerschiefergestein; sie traten so nahe zusammen, daß allerdings stellenweise nur zwei Reiter nebeneinander Platz fanden. Das waren aber auch die engsten Stellen; der Wagen hatte also den nötigen Raum. Dafür aber machte uns das Geröll zu schaffen, mit welchem der Boden bedeckt war. Es gab oft auch größere Steine, an denen die Räder zerbrechen konnten. Da galt es, auszuweichen. Wir fuhren in raschem Schritte bergauf und hatten, wie ich nachher merkte, die Hälfte des Weges zurückgelegt, als ich oben Schüsse fallen hörte.

„Habt ihr es gehört? Man schießt!“ rief ich den Vorreitern zu. „Man hat den Kampf begonnen, ohne auf uns zu warten. Treibt die Pferde an! jetzt muß es im Galoppe gehen!“

Sie trieben ihre Tiere mit den Sporen an, und ich schlug mit dem Kantschu auf die Deichselpferde; sie griffen aus, und rissen den Wagen im raschen Laufe vorwärts. Da gab es freilich kein vorsichtiges Lenken und kein Ausweichen mehr. Die alte Kutsche neigte sich bald nach rechts, bald nach links; sie machte Sätze wie ein Tier, welches über Steine springt. Ich hielt mich mit der linken Hand auf meinem hohen Sitze fest und mußte mir alle Mühe geben, nicht herabgeschleudert zu werden, zumal ich mit derselben Hand auch die Zügel zu halten hatte; mit der Rechten schwang ich den Kantschu.

Da ertönte vor uns ein mehrstimmiger Schrei. Ich blickte auf, und sah zusammengedrängte Reiter vor uns im Hohlwege halten. Das waren die zurückfliehenden Mogollons.

„Weiter, weiter!“ schrie ich den Vorreitern zu. „Ja nicht halten! Reitet und fahrt sie über den Haufen!“

Die braven, verwegenen Kerls gehorchten. Laut aufbrüllend trieben sie ihre Pferde weiter. Die letzteren hatten noch nie einen Wagen gezogen; auf besserem Wege vorhin hatten sie doch gehorcht; jetzt aber hörten sie hinter sich das Rattern und Krachen der alten Kutsche, dazu die Hiebe, die sie bekamen, die Sporen, das Geheul – sie wurden scheu und stürmten vorwärts, unaufhaltsam, ohne auf das Hindernis, welches ihnen entgegenstand, zu achten. Der Zusammenprall erfolgte. Wird er gelingen? Wer wird zurückgedrängt werden, wir, die wir von unten kommen, oder die Mogollons, welche von oben kommen, also größere Stoßkraft besitzen?

Ein Augenblick des Stockens trat ein; die vordern Pferde der beiden Parteien waren zusammengestoßen; unser Wagen stand.

„Vorwärts, vorwärts!“ schrie ich. „Haut mit den Flintenkolben auf ihre Pferde ein!“

Die Mogollons brauchten nur unsere Vorderpferde niederzuschießen; daran dachten sie aber nicht. Hinter sich den Feind, und vor sich jetzt den eigenen Wagen mit fremden Reitern und einen weißen Kutscher, der sich wie toll gebärdete; sie verloren einige kostbare Sekunden. Meine sechs Nijoras folgten meinem Rufe; sie rissen ihre Gewehre von den Schultern und schlugen mit ihnen nach vorn, auf alles, was sie erreichen konnten; ihre eigenen Pferde drängten schäumend vorwärts; ich hieb mit aller Kraft auf die Deichselpferde ein; der Wagen bewegte sich wieder; die Mogollons drehten sich um, und drängten heulend zurück. Wir folgten, keine Spanne Raum zwischen ihnen und uns lassend – wir hatten gewonnen; der lebendige Sturmbock that seine Schuldigkeit. Hinter dem Wagen folgten meine Nijoras; sie schrieen und brüllten aus Leibeskräften; es war wirklich kein Wunder, wenn die Feinde schon allein durch diesen Spektakel zurückgetrieben wurden.

Jetzt erreichte der Wagen die Stelle, an welcher der Hohlweg auf die Platte mündete. Mit einem Blicke übersah ich die ganze Situation. Links die Abteilung des Apatschen unter den Bäumen, er selbst außerhalb des Waldes, mit der Silberbüchse in der Hand nach uns herüberblickend – jenseits der Platte die andere Abteilung der Nijoras auf dem Felsen -nahe bei und vor mir die Feinde, dicht zusammengedrängt, alle mit dem Blicke des Schreckens nach dem Wagen starrend. Das mußte ausgenutzt werden.

„Nicht weiter! Setzt euch hier fest, und laßt keinen durch!“ rief ich zurück, und im nächsten Augenblicke hörten die sechs Vorreiter meinen Befehl:

„Immer weiter, weiter! Geradeaus, mitten unter sie hinein!“

Und vorwärts ging es! Wir drangen in den wirren Haufen der Mogollons ein; wir zerteilten ihn; wir brachen uns Bahn. Ich hatte freilich auf die Bestürzung dieser Indianer gerechnet, aber daß sie ihre Waffen nicht gegen uns erheben würden, das hatte ich nicht für möglich gehalten. Sie wichen heulend und schreiend rechts und links zurück und ließen den Wagen vorüber, ohne zu versuchen, ihn auf irgend eine Weise anzuhalten. Dies geschah ganz nahe am Cañon. Wie leicht konnten unsere scheugewordenen Pferde uns nach dem Rande, und dann hinabreißen! Aber die sechs Nijoras waren so gute Reiter, daß sie selbst jetzt noch ihre Tiere in der Gewalt hatten.

So drangen wir durch den Haufen der Feinde, welcher sich hinter uns immer wieder schloß, hindurch, indem ich mich um keinen von ihnen kümmerte, sondern nur immer auf meine beiden Pferde einhieb. Es war – – ah, da hielt, als fast der hinterste von ihnen, einer auf seinem Pferde und starrte mir mit weitgeöffneten Augen entgegen. Auch er war von der Überraschung wie gelähmt. Ich kannte ihn, denn ich hatte ihn gesehen, als ich am weißem Felsen, im Wasser steckend, die Versammlung der Mogollons belauschte; es war der starke Wind, ihr Häuptling.

„Links über die Ebene; haltet drüben an den Felsen!“ rief ich meinen sechs Vorreitern zu.

Mit der Rechten die Zügel schnell über den dazu angebrachten Eisenhaken werfend, griff ich mit der Linken nach meinem Stutzen und sprang, gerade als der Wagen nach links gerissen wurde, von dem hohen Bocke herab. Ich kam nicht nur mit den Füßen, sondern auch mit den Händen auf der Erde an, richtete mich aber schnell auf, stand mit einem schnellen Sprunge bei dem Häuptlinge, griff in die Zügel seines Pferdes und riß es vorn empor. Es knickte hinten zusammen – ein rascher Schwung, und als es vorn wieder niederkam, saß ich hinter dem Häuptlinge auf der Kruppe seines Pferdes, welches mit uns beiden davonschoß, hinter dem Wagen her, über die Platte nach links hinüber.

Einen solchen Überfall hatte er nicht erwarten können; aber er besaß Geistesgegenwart genug, nach seinem Messer zu greifen; das Gewehr war ihm entfallen. Er wollte von vorn nach hinten auf mich stechen, kam aber nicht dazu, denn ich warf, um die Hände frei zu bekommen, mein Gewehr über und legte ihm alle zehn Finger so nachdrücklich um den Hals, daß er die Hand mit dem Messer sinken ließ und dann mit den beiden Armen machtlos in der Luft herumfuhr. Der Atem ging ihm aus.

Von dem Augenblicke an, in welchem ich mit dem Wagen die Platte erreicht hatte, bis jetzt war gewiß nicht mehr als kaum eine Minute vergangen. Man glaubt nicht, was in solcher Lage alles in einer Minute geschehen kann. Hinter mir heulten die Mogollons vor Wut über die Entführung ihres Häuptlings; am Walde und von der Felsenhöhe herab brüllten die Nijoras vor Entzücken, und ich, o ich selbst war gar nicht etwa sehr entzückt. Ich hatte den Häuptling am Halse festzuhalten; mein Gewehr hing locker und schlug mir um die Ohren; das Pferd war ganz konfus geworden, was ich ihm übrigens gar nicht verdenken konnte; es rannte bald nach rechts, bald nach links; es bockte; es wollte uns herunter haben, und ich hatte doch keine Macht darüber, denn der Häuptling hatte die Zügel fallen lassen; sie schleiften nach, und ich saß soweit hinten, daß ich nicht mit den Füßen in die Bügel konnte; es war das reine Kunst-Jokey-Reiten, nur schwerer und gefährlicher, als man es im Zirkus zu sehen bekommt. Es ging nicht anders, ich mußte den Häuptling abwerfen; hoffentlich brach er nicht den Hals. Er hatte die Bügel ebenso wie die Zügel verloren; ich zog ihn auf die Seite und gab mir Mühe, das eine seiner Beine auf die andere Seite zu bringen, denn ich wollte ihn herabgleiten lassen, wobei er nicht so leicht verunglücken konnte, als wenn er herabgeschleudert wurde. Aber diese menschenfreundliche Absicht hatte einen weniger freundlichen Erfolg. Er war ohnmächtig geworden, lag schwer in meinem rechten Arme, und als ich mich vorbog, um mit der andern Hand sein linkes Bein zu heben, machte das Pferd, durch diese ungewöhnliche Bewegung noch mehr beunruhigt, einen mächtigen Seitensprung und wir flogen beide auf die hier leider steinharte Mutter Erde herab.

Einige Augenblicke lag ich da, gerade so bewegungslos wie er; dann versuchte ich, mich aufzurichten. Es war mir, als ob ich von einem Windmühlenflügel über ganz Elberfeld und Barmen hinweggeschleudert worden wäre; im Kopfe hatte ich wenigstens zwanzig summende Bienenstöcke, und vor meinen Augen flimmerten so viele Nordlichter, wie man droben in Lappland binnen zehn Jahren zu sehen bekommt. Ich mußte manches und verschiedenes gebrochen haben.

Da hörte ich Schüsse. Dadurch aufmerksam gemacht, blickte ich zurück und sah mehrere Mogollons, welche auf mich zujagten, um ihren Häuptling wiederzuholen; es war von den Nijoras auf sie geschossen worden. Wenn sie mich erreichten, war ich verloren, und sie befanden sich schon so nahe, daß sie mich haben mußten, ehe jemand mir zu Hilfe kommen konnte. In dieser Gefahr erfuhr ich, wie schon so oft, wieder einmal, was der Geist über den Körper vermag: Ich sprang auf; die Bienenstöcke waren weg, die Nordlichter verschwanden, und von Schmerzen fühlte ich keine Spur mehr, wenigstens in diesem Augenblicke. Unweit von mir lag mein Stutzen, der glücklicherweise nicht zerbrochen war. Ich sprang hin, hob ihn auf und legte ihn auf die vier Kerls an – – vier Schüsse und vier Kugeln, jedem Pferde eine in die Brust; die Tiere brachen nach wenigen Schritten zusammen; die abgeworfenen Reiter rafften sich auf und hinkten eiligst von dannen, indem von rechts und links her Schüsse auf sie fielen, welche aber nicht so gut trafen, wie die meinigen getroffen hatten.

Kaum hatten die vier sich zur Flucht gewendet, so fühlte ich die Schmerzen wieder, der Kopf brummte wie vorher und die brillanten Nordlichter flammten abermals vor den Augen. Da kam der Häuptling der Nijoras auf die gute Idee, mir eine Anzahl seiner Leute zu senden. Er konnte das eher und leichter thun als Winnetou, da ich mich mehr in der Nähe der Felsenhöhe, als in der des Waldes befand. Diese Leute fingen das Pferd des starken Windes ein, fesselten letzteren und trugen ihn fort, während ich, auf zwei von ihnen gestützt, mit nach der Höhe humpelte.

Dabei bemerkte ich, daß ich nichts gebrochen hatte; aber tüchtige Quetschungen waren vorhanden, und man weiß, daß Quetschungen weit schmerzhafter als Brüche sind. Bei der Felsenhöhe angelangt, legte man den gefangenen Häuptling nieder und setzte mich neben ihn. Der Mann war uns so wichtig, daß ich ihn selbst bewachen wollte, da ich in meinem Zustande jetzt doch nichts anderes und besseres zu thun vermochte.

Das Flimmern vor den Augen und das Summen um die Ohren ließen auf Blutandrang nach dem Kopfe schließen; da waren kalte Umschläge angezeigt. Diese wären gewiß zu haben gewesen, weil Wasser wahrscheinlich zu finden war. Der Wald lag in der Nähe, und wo Wald ist, pflegt es auch Wasser zu geben. Aber ich verzichtete doch auf die Umschläge, da ich mich mit denselben vor den Roten hätte schämen müssen.

Wie die Angelegenheit drüben am Cañon stand, konnte ich wegen des Flimmerns nicht sehen. Daß jemand dort laut sprach, das hörte ich, konnte aber wegen des Summens vor den Ohren die Stimme nicht unterscheiden. Da kam der schnelle Pfeil, der Häuptling der Nijoras, zu mir, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen.

„Ich bin gestürzt, habe aber nichts gebrochen,“ antwortete ich kurz. „Wer ist es, der da drüben redet?“

„Winnetou.“

Zu wem spricht er?“

„Zu den Feinden.“

„Was wird der Häuptling der Apatschen zu den MogolIons sagen?“

„Daß sie sich nicht wehren, sondern sich ergeben sollen.“

„Dürfen sie ohne ihren Häuptling darüber beschließen?“

„Warum nicht? Sie müssen, wenn sie nicht wollen. Er ist unser Gefangener, und kann ihnen also keinen Rat erteilen. Ja, er ist unser Gefangener, und das wird uns große Vorteile bringen. Wir haben es deiner Verwegenheit zu verdanken.“

„Es war keine Verwegenheit, sondern nur ein rasch entschlossenes Handeln. Ich sah den Schreck, welcher die Mogollons alle befangen hielt, und machte ihn mir zu nutze. Und wenn eine Gefahr dabei war, so war sie wenigstens nicht bedeutend.“

„Sie konnten auf dich schießen!“

„Sie haben es aber nicht gethan. Wer aber hat denn hier oben geschossen, ehe ich vorhin gekommen -war? Die Mogollons?“

„Nein,“ antwortete er verlegen. „Wir haben es gethan, ich glaubte, die Feinde sicher zu haben.“

„Du hättest nichts glauben, sondern dich genau nach unserm Plane richten sollen! Hätte ich mich noch nicht im Hohlwege befunden, so wären die Mogollons gewiß entkommen. Ich übergab dir einen Gefangenen. Hast du ihn gut bewachen lassen?“

„Ja. Wir haben ihn mitgebracht. Er ist bei den Pferden, welche hinter der Felsenhöhe weiden.“

„Warum brachtest du ihn mit?“

„Weil ich glaubte, du möchtest ihn möglichst bald sehen, und weil er bei den Kriegern besser aufgehoben ist, als im Dorfe bei den Squaws und Greisen.“

„Du hast recht gehandelt. Und das junge Bleichgesicht, welches ich dir auch mitgab?“

„Ist auch mit da. Er wollte nicht von dem Gefangenen weichen, sondern ihn bewachen. Soll ich beide holen lassen?“

„Später, doch jetzt noch nicht. Kommt dort nicht Winnetou mit zwei Indianern auf uns zu?“

„Ja.“

Daß ich die drei zu erkennen vermochte, bewies, daß es mit meinen Augen doch schon besser stand. Der Kopf war mir leichter geworden. Nicht so gut schien es mit dem gefangenen Häuptlinge zu stehen. Er lag noch immer mit geschlossenen Augen da. Das konnte nicht nur die Folge davon sein, daß ich ihn am Halse festgepackt hatte; der Sturz vom Pferde mußte ihm noch mehr geschadet haben.

Die beiden Indianer, welche Winnetou brachte, waren Mogollons, alte Krieger, welcher Umstand erraten ließ, daß sie zur Beratung gekommen seien. Sie blieben ernst und höflich in einiger Entfernung stehen; der Apatsche trat heran, und wendete sich zunächst in beinahe strengem Tone an den Häuptling der Nijoras mit den Worten:

„Wer war es, der bei euch den ersten Schuß abgegeben hat?“

„Ich. Ich glaubte, daß die richtige Zeit gekommen sei.“

„Wir hatten doch besprochen, daß ich zuerst schießen sollte, falls dies mir als notwendig erscheinen würde. Du bist ein Häuptling, und hättest dich mehr als jeder andere nach unsern Vereinbarungen halten sollen. Weißt du, wieviel Tote die Feinde haben?“

„Nein.“

„Acht, und verwundet sind weit mehr. Das hätte unterbleiben können.“

„Sie haben es verdient. Wenn ihnen ihr Vorhaben geglückt wäre, hätten sie viele meiner Krieger getötet und dann auch noch andere Greuelthaten begangen.“

„Das ist richtig; aber du hättest doch Wort halten sollen. Winnetou hat noch nie das seinige gebrochen.“

Nach diesem Verweise wendete er sich an mich:

„Mein Bruder hat eine große Heldenthat vollbracht. Man wird an allen Orten davon erzählen. Wie steht es an der Quelle des Schattens?“

„Gut. Wir haben die Bedeckung des Wagens ergriffen, und die Gefangenen sind gut bewacht.“

„Und wie steht es mit meinem lieben Bruder? Der Fall vom Pferde war schwer. Hat er dir Schaden gethan?“

„Meine Glieder sind ganz geblieben.“

„So schone dich! Die kleinste Verletzung kann die schlimmsten Folgen tragen. Du hast mehr als genug gethan; was noch zu thun ist, das mögen andere Leute thun.“

„Ich fühle mich beinahe wieder so wohl, wie vorher. Du hast zwei Krieger der Mogollons mitgebracht. Wahrscheinlich soll eine Beratung stattfinden?“

„Ja; sie wollen mit ihrem Häuptlinge sprechen.“

„Hier liegt er. Er hat sich noch nicht geregt. Hoffentlich hat er nicht den Hals gebrochen.“

„Ich werde ihn untersuchen.“

Er beugte sich zu ihm nieder, und meldete nach einer Weile:

„Es ist ihm weiter nichts geschehen, als daß er mit dem Kopfe auf den Felsen aufgeschlagen ist. Er wird nach einiger Zeit erwachen, und wir müssen also solange warten.“

„So werde ich inzwischen in den Hohlweg zu meinen Nijoras gehen. Ich muß einen zu Emery nach der Quelle des Schattens senden.“

„Um ihm unsern Sieg zu verkünden?“

„Ja, und auch um ihm mit allen, die sich bei ihm befinden, herbeizurufen.“

„Daran thut mein Bruder recht, denn sonst würde Emery den zurückkehrenden Mogollons begegnen.“

Ich stand auf und ging fort. Winnetou hatte gesagt: „Sonst würde Emery den zurückkehrenden Mogollons begegnen.“ Das war wieder einmal ein Beweis, wie innerlich wir miteinander einverstanden waren, ohne daß wir miteinander über den Gegenstand zu sprechen brauchten. Er wollte die Mogollons zurückkehren, sie also nicht als Gefangene der Nijoras gelten lassen, und das war auch meine Ansicht.

Die ersten Schritte, welche ich vorwärts that, verursachten mir ziemliche Schmerzen, welche ich aber ertragen mußte. Dann minderten sie sich ein wenig, doch nicht viel. Dennoch gab ich mir Mühe, gerade und mit erhobenem Haupte über die Platte zu gehen und dem Hohlwege zuzuschreiten. Als ich mich dem Walde näherte, riefen mir die dort befindlichen Nijoras frohlockend zu. Links, in der Nähe des Cañonrandes, hockten die Mogollons in drei langen Reihen am Boden, wobei jeder den Zügel seines hinter ihm stehenden Pferdes hielt. Sie sahen mich kommen und blieben, indem ich vorüberschritt, mit ihren Augen an mir hangen, ohne eine Miene zu verziehen; dabei aber flogen zwischen ihnen aus den halbgeöffneten Lippen leise Worte hin und her, und ich sah ihnen an, daß der Sturz vom Pferde mich bei ihnen doch nicht in Unehre gebracht hatte.

Als ich einen Nijora als Boten abgeschickt hatte, kehrte ich wieder zu Winnetou zurück. Die beiden Mogollons hatten sich auf der Stelle, an welcher sie vorhin gestanden hatten, niedergesetzt. Winnetou saß neben ihrem Häuptlinge; ich setzte mich an die andere Seite desselben, und der schnelle Pfeil hockte sich nach Indianerart uns gegenüber nieder.

Nach einiger Zeit begann der „starke Wind“ sich zu regen. Er wollte erst die Arme und dann die Beine bewegen, vermochte das aber nicht, weil er gefesselt war; dann schlug er die Augen auf. Sein erster Blick fiel auf mich. Er starrte mich eine Weile an, und fragte dann:

„Ein Bleichgesicht! Wer bist du?“

„Man nennt mich Old Shatterhand,“ antwortete ich.

„Old Shatterhand!“ wiederholte er mit sichtlichem Schreck. Dann schloß er die Augen. Er schien nachdenken zu wollen, aber seine Gedanken schwer sammeln zu können, wie ich aus dem Spiele seiner Mienen ersah. Dann hob er die Lider wieder empor und sagte:

„Ich bin gefesselt. Wer hat mich binden lassen?“

„Ich.“

Wieder schloß er die Augen; als er sie dann öffnete, hatten sie einen helleren Ganz. Die Besinnung war ihm jetzt vollständig zurückgekehrt. Er schien mich mit seinem Blicke durchbohren zu wollen, als er sagte:

„Ich besinne mich. Du kamst auf dem Wagen, sprangst herab zur Erde und dann auf mein Pferd. Weiter weiß ich nichts, denn du nahmst mich beim Halse, um mich zu erwürgen.“

„Du irrst. Ich wollte dich nicht erwürgen, nicht töten, sondern dich nur einstweilen unschädlich machen. Das ist mir gelungen.“

„Ja, es ist dir gelungen. Ein Bleichgesicht springt auf mein Pferd, reitet mit mir fort, betäubt mich und macht mich zum Gefangenen. Wer so kühn gewesen wäre, mir vorher zu sagen, daß dies möglich sei, dem hätte ich mit meinem Tomahawk den Kopf gespalten. Ich darf mich nie wieder vor meinen Kriegern sehen lassen. Es ist eine Schande, in dieser Weise gefangen zu werden.“

„Nein. Es ist nie eine Schande, von Winnetou oder Old Shatterhand besiegt zu werden.“

„Aber du wirst mir meine Medizin nehmen!“

„Nein. Ich lasse sie dir; du darfst sie behalten.“

„Oder meinen Skalp!“

„Auch den nicht. Hast du jemals gehört, daß einer der beiden, die ich nannte, einen Feind skalpiert hat?“

„Nein.“

„Du wirst also sowohl deinen Skalp, als auch deine Medizin behalten; glaubst du noch immer, daß du dich vor den deinen nicht mehr sehen lassen darfst?“

„Nein. Ich weiß jetzt, daß ich mich nicht zu schämen brauche. Old Shatterhand hat Häuptlinge geworfen, welche noch nie besiegt worden waren; sie waren vorher berühmt, und sind auch dann berühmt geblieben. Aber bist du nicht in dem Pueblo der Yumas gewesen?“

„Ich war dort mit Winnetou.“

„Wie seid ihr dann geritten?“

„Nach dem Berge der Schlangen, und von da aus hierher.“

Ich sagte ihm die Wahrheit, ohne ihm die näheren Einzelheiten mitzuteilen. Er betrachtete mich lange mit einem nachdenklich schlauen Blicke, und fragte dann:

„Bist du unterwegs nicht von einem Bleichgesichte angegriffen worden?“

„Ja.“

„Woher hast du den Wagen, auf dem du saßest, als du kamst?“

„Der Wagen gehört jetzt mir,“ antwortete ich ausweichend.

„Uff! Noch niemand hat gehört, daß Old Shatterhand und Winnetou im Wagen fahren! Wo ist Winnetou?“

„Hier an deiner andern Seite.“

Er hatte nach mir gewendet gelegen, und Winnetou noch nicht gesehen. Jetzt drehte er sich zu ihm und sagte:

„Der berühmte Häuptling der Apatschen hat meine Krieger geschont; er wollte nicht auf sie schießen lassen. Wie viele Krieger der Nijoras sind hier vorhanden?“

Ich antwortete an Winnetous Statt:

„So viele, daß ihr ihnen nicht entgehen könnet.“

„Weshalb hatten sie die Platte des Cañons umzingelt?“

„Um euch zu fangen.“

„Aber wußte er denn so gewiß, daß wir heute kommen würden?“

„Erst nicht. Er hat es später von mir erfahren.“

„Du?“ fragte er erstaunt, „Von wem hast denn du es erfahren?“

„Von dir. Ich habe dich am weißen Felsen belauscht, als ihr Beratung hieltet.“

„Uff! Am weißen Felsen? Die Beratung wurde mitten in unserm Lager gehalten!“

„Ich weiß es, denn ich war dort. Ihr redetet so laut, daß ich jedes Wort zu hören vermochte. Ich war den Fluß herabgeschwommen, und legte mich gerade hinter dir am Ufer hin. Als ich genug gehört hatte, schwamm ich weiter, bis ich aus dem Lager kam. Da die Nijoras meine Freunde sind, du mich aber fangen lassen wolltest, habe ich sie natürlich benachrichtigt und ihnen den Rat gegeben, euch hier auf der Platte des Cañons zu erwarten.“

„So bist also du es, dem wir unsere Niederlage zu verdanken haben?“

„Ja.“

Es war ein ganz eigentümlicher Blick, den er lange auf mir ruhen ließ; es lag nicht Haß, nicht Rache oder dergleichen darin. Dann fragte er:

„Hast du alle gesehen, welche an der Beratung dort am Wasser teilgenommen haben?“

„Ja. Es war auch ein Bleichgesicht dabei, welches Melton heißt.“

„Der Mann sagte uns, daß du unser Feind seist!“

„Er hat euch belogen. Old Shatterhand ist der Freund aller roten Männer, die sich nicht feindlich zu ihm verhalten.“

„Weißt du, wo sich Melton jetzt befindet?“

„Er wird seiner weißen Squaw entgegengeritten sein, mit welcher er in dem Pueblo wohnte.“

Diese diplomatische Antwort befriedigte ihn, wie ich aus seiner Miene ersah. Er nahm an, daß wir Melton mit seinen fünfzig Kriegern nicht begegnet seien, und mochte von diesem Rettung erhoffen. Dann fragte er weiter:

„Bist du an der Quelle des Schattens gewesen?“

„Ja, am Abende nach eurer Beratung, als ich mich unterwegs zu den Nijoras befand.“

Nach einem längeren Sinnen fuhr er fort:

„Warum sitzen die beiden alten Krieger meines Stammes hier?“

„Sie sind gekommen, sich mit dir zu beraten über die Bedingungen, unter denen du wieder frei werden kannst.“

„Welche Bedingungen sind das?“

Er hatte dem gerade vor ihm sitzenden Häuptlinge der Nijoras noch keinen Blick gegönnt; jetzt antwortete dieser:

„Danach muß du mich fragen.“

Der Mogollon antwortete, ohne ihn auch jetzt anzusehen:

„Ich spreche mit Old Shatterhand, und mit keinem andern. Also, welche Bedingungen sind dies?“

Ich erklärte ihm:

„Eigentlich wäre euer Leben verfallen, dazu eure Skalpe, eure Medizinen, eure Pferde und Waffen und alles, was ihr bei euch habt; wir aber, nämlich Winnetou und ich, werden mit dem Häuptlinge der Nijoras reden, daß er euch weniger strenge Forderungen stellt.“

„Warum dieser?“

„Weil er der Sieger ist.“

„Du irrst. Wir sind von Old Shatterhand und Winnetou besiegt worden, und die beiden sind es also, denen wir erlauben werden, uns Bedingungen zu stellen. Ich bin bereit, sie von dir zu hören.“

Er sah mich erwartungsvoll an, ich hingegen warf einen fragenden Blick auf Winnetou. Dieser antwortete mir:

„Was mein Bruder Charlieh sagt, ist gut; ich werde ihm beistimmen.“

Nun konnte ich dem „starken Wind“ meine Antwort geben:

„Ihr seid ausgezogen, die Nijoras zu überfallen. Ich weiß, daß du nicht nur ein tapferer, sondern auch ein wahrheitsliebender Krieger und Häuptling bist, der sich vor nichts und niemand fürchtet; du wirst mir also die Wahrheit nicht verschweigen?“

„Nein,“ antwortete er stolz.

„Was hättet ihr gethan, wenn die Nijoras sich verteidigt hätten?“

„Sie getötet, ihre Frauen und Jungfrauen mit uns fortgeführt, und alle ihre Habe mit uns genommen.“

„Ich höre, daß du die Wahrheit gesagt hast. Das Gesetz der Wildnis aber heißt: Gleiches mit Gleichem. Jetzt sind die Nijoras Sieger. Was habt ihr zu erwarten?“

„Dasselbe Schicksal.“

„Mit diesen Worten hättest du eigentlich euer Schicksal selbst entschieden, wenn ich mich nicht mit Winnetou hier befände. Wir haben den Nijoras unsere Hilfe angeboten, ihnen aber unsere Bedingungen gesagt, unter denen wir dies thun würden.“

„Welche waren das?“ fragte er, rasch aufblickend.

„Euer Leben soll geschont werden.“

„Wie steht es aber mit unsern Medizinen?“

„Die dürft ihr behalten.“

„Uff! Wir dürfen also heimkehren nach unserm Lager am weißen Felsen?“

„Ja.“

„So binde mich los! Ich gehe sofort darauf ein. Wir werden augenblicklich zurückreiten.“

„Halt! So schnell geht das nicht! Das Leben und die Medizinen haben wir beide euch erhalten; ob wir euch auch noch anderes erhalten können, ist eine andere Frage, welche der Häuptling der Nijoras zu entscheiden hat.“

Letzterer machte eine wegwerfende Handbewegung und sagte:

„Meine Brüder haben bemerkt, daß der gefangene Häuptling der Mogollons nicht mit mir reden will, ja er hat mich sogar noch nicht ein einzigesmal angeblickt. Wie soll ich da mit ihm reden? Wie kann er gute Bedingungen von mir erwarten!“

Da fiel der Mogollon schnell ein:

„Ich spreche mit dir. Schau her, ich sehe dich an! Also sprich, was du von uns verlangst!“

Der Nijora zögerte eine Weile; dann antwortete er:

„Winnetou, der berühmte Häuptling der Apatschen, und Shatterhand, der große Jäger und Krieger der Wildnis, sind meine Freunde und Brüder. Ihre Herzen sind mild und weich, obgleich ihre Arme die Stärke des Bären besitzen. Sie erblicken nicht gern Blut, und sehen nicht gern die Wolke der Betrübnis über ein Angesicht gehen. Ich möchte so handeln wie sie, um ihnen dankbar zu sein dafür, daß sie die Pfeife der Bruderschaft mit mir geraucht haben. Das ist das eine. Die MogolIons wollten uns überfallen, um uns zu töten und alle unsere Habe mit sich fortzunehmen; es ist ihnen nicht gelungen; anstatt dessen haben wir sie besiegt, und es ist kein Tropfen Blut von unserer Seite geflossen. Das ist das andere. Darum ist auch meine Seele zur Milde geneigt, und so will ich von den Mogollons nur ihre Pferde und ihre Waffen verlangen.“

„Uff!“ rief der „starke Wind“, „darauf gehen wir nicht ein!“

„So seid ihr meine Gefangenen und werdet das Schicksal erleiden, welches wir bei euch erlitten hätten.“

„Nur besiegte Krieger können in Gefangenschaft geraten. Sind die meinigen besiegt?“

„Ja.“

„Nein! Schau hin! Dort sitzen sie. Haben sie nicht alle ihre Waffen noch in den Händen? Sie werden sich verteidigen!“

„Um vom ersten bis zum letzten niedergeschossen zu werden. Und dann soll dir ein anderes Schicksal bereitet werden: du wirst am Marterpfahle sterben und mit dir alle deine Krieger, welche in unsere Hände geraten; das aber werden alle sein, welche nicht erschossen werden, denn keiner, kein einziger wird uns entkommen!“

„Versuche es doch! Ihr könnet und dürfet uns doch gar nicht töten, da ihr Winnetou und Old Shatterhand unser Leben und unsere Medizinen versprochen habt!“

Wenn er allein hierauf pochte, konnte es freilich zu keiner Einigung kommen; darum sagte ich ihm in ernstem Tone:

„Es war da vorausgesetzt, daß ihr euch ergebt; thut ihr das nicht, so können wir euch nicht retten. Ich kann dir nur raten, auf die Bedingungen des Häuptlings der Nijoras einzugehen.“

„Sie sind zu hart!“

„Nein, sondern sie sind zu mild. Du würdest ganz andere stellen, wie du ja selbst gesagt hast.“

„Darf ich mir diese schwere Sache überlegen?“

„Ja. Ist die Hälfte des Sonnenlaufes genug dafür?“

„Ja,“ antwortete er.

„Gut. Deine beiden alten Krieger mögen näher kommen, um sich mit dir zu besprechen. Vorher aber verlange ich, daß alle deine Leute ihre Waffen an uns abgeben.“

„Das werden sie nicht!“

„O, das werden sie! Denn wenn du nicht schnell den Befehl erteilst, laß ich den Kampf beginnen, der dann nur in einer Niedermetzelung eurer Leute bestehen wird.“

„Aber das darfst du doch nicht! Du hast mir ja soeben eine Frist gegeben und mir gesagt, daß ich mit den beiden Kriegern beraten soll! Die Waffen können wir ja erst dann abgeben, wenn die Frist zu Ende ist und wir uns in eure Forderungen fügen!“

„Das ist richtig. Dennoch verlange ich sie schon jetzt von euch, doch nur vorläufig, weil ich sicher sein will, daß deine Leute die Waffen nicht eher brauchen, als bis die Frist abgelaufen ist.“

„Bekommen sie sie wieder?“

„Wenn die Frist zu Ende ist, natürlich, und erst dann sollst du uns sagen, was du beschlossen hast.“

Da rief ihm einer der beiden Alten zu:

„Das ist eine schlimme Falle, o Häuptling! Wenn du in dieselbe gehst, sind wir alle verloren.“

„Schweigt“ herrschte er ihm zu. „Hast du schon einmal gehört, daß Old Shatterhand sein Wort gebrochen oder daß Winnetou eine Lüge gesagt hat? Wenn die beiden es versprechen, ist es so, als hätte es der große Manitou gesagt!“

Und sich wieder an mich wendend, fuhr er gelassen fort:

„Also du befürchtest Unruhen, und nur darum sollen wir die Waffen einstweilen übergeben.“

„Ja.“

„Und wir bekommen sie wieder, noch bevor ich meine Entscheidung sage?“

„Ich gebe dir mein Wort.“

„Und Winnetou verspricht es auch?“

„Auch ich gebe mein Wort,“ antwortete der Apatsche.

Da gebot der „starke Wind“ seinen beiden Alten:

„Die Worte der beiden großen Krieger sind wie zwei Eide. Geht hin zu unsern Kriegern; fordert ihnen die Waffen ab, und laßt sie auf einen Haufen in die Mitte der Platte tragen, den die Leute der Nijoras dann bewachen mögen! Das befehle ich; es soll sogleich geschehen! Dann kehrt ihr hierher zu mir zurück, um mit mir Beratung zu halten!“

Sie standen vom Boden auf, und entfernten sich. Ich und der Mogollon wußten recht wohl, was wir thaten, nur waren unsere Gründe verschieden.

Ich erwartete Emery mit den Gefangenen. Wenn er kam, und die hier auf der Platte befindlichen Mogollons sahen ihre Kameraden als Gefangene, dann war es sicher, daß sie, wenn sie ihre Waffen hatten, zu denselben griffen, um sie zu befreien. Aus diesem Grunde hatte ich mein Verlangen gestellt. Wenn die Mogollons unbewaffnet waren, so konnte Emery getrost erscheinen.

Und er, der Mogollon? Er rechnete eben auf jonathan Melton mit seinen fünfzig und auf die zehn, welche bei dem Advokaten und der Sängerin zurückgeblieben waren. Diese sechzig, zu denen übrigens noch die Yumas kamen, konnten schon etwas erreichen. Darum ging er auf meine Forderung ein, um uns einzuschläfern und sicher zu machen.

Die Mogollons gehorchten ihrem Häuptlinge ohne Widerstreben. Als wir einige Nijoras zu ihnen schickten, lieferten sie ihnen nach und nach alle ihre Flinten, Pfeile, Lanzen, Messer und Tomahawks aus. Diese Gegenstände wurden in die Mitte der Platte in einen Haufen zusammengetragen und dann auf meinen Befehl von nicht weniger als zwanzig wohlbewaffneten Nijoras bewacht. Darauf kehrten die beiden Alten zu ihrem Häuptlinge zurück. Sie setzten sich bei ihm nieder, denn wir hatten ihnen Platz gemacht. Es war nicht unsere Absicht, zu erfahren, was sie mit ihm sprachen; darum stellten wir ihnen zwar zwei Posten hin, welche aufpassen Sollten, daß die Fesseln des Häuptlings nicht gelockert oder gar gelöst würden, doch in solcher Entfernung, daß auch diese nichts hören oder gar verstehen konnten.

Es war gar nicht nötig, daß wir selbst bei ihm blieben; er war uns sicher. Selbst wenn die beiden Wächter nicht gut aufgepaßt hätten und er von seinen Banden befreit worden wäre, hätte er nach keiner Richtung entkommen können, weil rundum alles von den Nijoras besetzt war. Darum hatte ich nun Zeit, mich von dem Häuptlinge der letzteren hinter die Felsenhöhe zu Franz Vogel führen zu lassen. Winnetou ging nicht mit; er blieb auf der Platte zurück, um die Oberaufsicht zu führen. Dazu war kein Mensch so vortrefflich geeignet wie er mit seinen so außerordentlich scharfen und geübten Sinnen.

Es gab keinen Weg über die felsige Höhe. Wir mußten von Stein zu Stein klettern, wobei jeder einzelne Schritt mir Schmerzen bereitete. Ich bemerkte, daß ich die Folgen meines Sturzes vom Pferde doch längere Zeit mit mir tragen würde.

Jenseits der Höhe, um deren Fuß sich der so oft erwähnte Wald herumzog, gab es eine Art Prairie, auf welcher dichtes Gras zu finden war. Dort floß das Wasser, dessen Dasein ich vermutet hatte. Die Pferde der Nijoras weideten unter der Aufsicht einiger junger Krieger. An in die Erde gerammten Pflöcken war ein auf der Erde liegender Gefangener befestigt – Thomas Melton, und bei ihm saß Franz Vogel, der Geiger, der beste und zuverlässigste Wächter, dem man den alten Spitzbuben anvertrauen konnte. Franz sah uns kommen, sprang auf, kam mir entgegen und rief in der lieben, deutschen Sprache: „Endlich, endlich sehe ich Sie! Was für eine Angst habe ich ausgestanden! Wie leicht konnte etwas Unvorhergesehenes geschehen und Sie abhalten oder gar Sie ins Unglück bringen!“

„In diesem Falle wäre ich meiner Ansicht nach meines Wortes entbunden gewesen. Es ist aber nichts derartiges vorgekommen, und so sehen Sie mich bei Ihnen.“

„Zu meiner großen Freude! Nun geben Sie mir aber vor allen Dingen Auskunft. Ich hörte vor einiger Zeit jenseits der Höhe schießen; dann war es wieder still. Das war so unheimlich. Ein Kampf mit einem Feinde, welcher einige hundert Köpfe stark ist, muß doch wohl länger dauern!“

„Wenn gute Vorbereitungen getroffen sind, wie es hier geschehen ist, nein. Wir haben einstweilen Waffenstillstand.“

„Wie lange?“

„Gegen vier Stunden noch. Übrigens bin ich in der Lage, Ihnen einige außerordentlich freudige Botschaften zu bringen.“

„Welche, welche? Reden Sie doch!“

„Setzen wir uns ruhig nieder! Wer wird stehen bleiben, wenn er so schönen weichen Rasen unter sich hat!“

„Ja, setzen wir uns! Doch dann reden Sie! Welche Überraschungen sind es, von denen Sie sprechen?“

Als wir nun nebeneinander saßen, antwortete ich:

„Ich denke zunächst an zwei, obgleich es noch mehrere giebt. Sie werden Besuch bekommen von einem Herrn, der Sie eigentlich drüben in Frisco zu finden hoffte, Fred Murphy nämlich.“

„Murphy? Etwa der Advokat aus New Orleans?“

„Derselbe.“

„Was will er von mir?“

„Das wird er Ihnen selber sagen. Übrigens ist seine Reise vollständig unnütz gewesen. Aber Sie bekommen noch weiteren Besuch.“

„Mit diesem Murphy?“

„Ja.“

„Wen denn?“

„Eine Dame, Ihre Schwester.“

„Was ist das doch wunderbar, so außerordentlich wunderbar! Dazu gehört ein Mut, den ich weder meiner Schwester noch dem Advokaten zugetraut hätte!“

„Mut? Sagen wir lieber, wenn wir offen sein wollen, Leichtsinn, oder um es etwas milder auszudrücken, eine vollständige Unkenntnis der Gefahren und Beschwerden, welche hier zu bestehen sind. Vor diesen habe ich Ihre Schwester damals in Albuquerque gewarnt, als sie, wie Sie sich erinnern werden, die Absicht aussprach, uns zu begleiten.“

„Sie haben recht, Sie haben recht! Aber da sie nun einmal hier ist, wollen wir ihr keine Vorwürfe machen. Wie ist sie denn mit dem Advokaten zusammen- und mit ihm auf den Gedanken gekommen, uns hier aufzusuchen?“

Und ich erzählte ihm, was er wissen sollte. Er schlang die Arme um mich. Ich ließ es mir gefallen, wehrte aber, als er mich gar wiederholt küssen wollte, durch die Warnung ab:

„Mäßigen Sie sich, liebster Freund! Wenn Sie jetzt Ihr ganzes Entzücken ausgeben, haben Sie keine Freude für die zweite Überraschung übrig, welche Ihrer wartet.“

„Ach was! Mag es sein, was es will, es kann mich doch nicht so erfreuen wie die Nachricht, daß Sie meine Schwester aus den Händen der Mogollons befreit haben?“

„Oho! Beteuern Sie nicht zu viel! Ich möchte behaupten, daß die zweite Überraschung Sie noch weit mehr entzückt als die erste.“

„Wirklich? Dann heraus damit!“

„Heraus damit? Meinen Sie, daß ich die Sache in der Tasche habe?“

„Nein. Das war doch ein ganz zufälliger Ausdruck.“

„Der aber ebenso zufällig ganz gut paßt. Ich habe die Überraschung nämlich wirklich in der Tasche.“

„Dann bitte, bitte, zeigen Sie!“

„Hier!“ sagte ich, indem ich Jonathan Meltons Portefeuille herauszog.

„Eine Brieftasche?“ meinte er, einigermaßen enttäuscht.

Er nahm sie in die Hand und betrachtete sie von allen Seiten.

„Öffnen Sie doch,“ forderte ich ihn auf.

Nun war es ein Genuß für mich, sein Mienenspiel zu beobachten. Welche Augen machte er, als er die Aufschrift des ersten Ledercouvertes las und dann, dasselbe aufschlagend, die Wertpapiere erblickte. Seine Seele, sein Herz, alle seine Sinne, sein Leben trat in seine Augen. Er öffnete ein Couvert nach dem andern; seine Augen wurden größer und größer; er war aufgesprungen und stand vor mir; seine Hände zitterten, und seine Lippen bebten, aber sprechen konnte er nicht. Fast wollte es mir bange um ihn werden, denn auch die Freude kann schädigen, sogar töten; da ließ er die Tasche plötzlich in das Gras fallen, warf sich selbst nieder, grub das Gesicht in die Hände und weinte laut, fast überlaut und lange Zeit.

Ich sagte nichts; ich that die herausgefallenen Couverts in die Fächer der Tasche zurück, verschloß die letztere und legte sie neben ihn hin. Dann wartete ich, bis sein Weinen in ein immer leiser werdendes Schluchzen überging und dann erstarb. Er lag noch einige Minuten still da; dann richtete er sich auf, nahm die Tasche wieder in die Hand und fragte, noch immer thränenden Auges:

„Ist das – das – das von jonathan Melton?“

„Ja,“ antwortete ich und erzählte ganz kurz.

„Und ist es wirklich das Vermögen des alten Hunter?“ fragte er.

„Ich kann es getrost beschwören.“

„Und gehört mir oder vielmehr meiner Familie?“

„Natürlich!“

„Darf ich es dann einstecken?“

„Nein, weil ich es Ihnen vor den Augen derer überreichen möchte, welche sich darüber ärgern.“

„Gut, Sie haben recht. Hier ist die Brieftasche zurück. Meine Frage, ob ich sie einstecken darf, mußte Sie beleidigen.“

„Nicht im geringsten. Ich werde sie nur noch kurze Zeit behalten, dann bekommen Sie sie wieder. Was Sie nachher damit thun, kann mir nicht gleichgültig sein, doch werde ich –“

„Warum nicht gleichgültig?“ unterbrach er mich. „Sprechen Sie doch! Seien Sie aufrichtig!“

„Gern! Sie wissen, was es gekostet hat, dieses Geld endlich zu erwischen, oder vielmehr Sie wissen es noch nicht, wenigstens noch nicht alles. Jetzt haben wir es, Aber wir befinden uns im wilden Westen, und Sie sind ein hier ganz unerfahrener Mann. Meinen Sie, daß Ihre Tasche der richtige, der sicherste Ort für diese Millionen ist?“

Da rief er aus, als ob er über meine Frage und die Gefahren, welche dieselbe Aussicht stellte, außerordentlich erschrocken sei:

„Nein, nein! Ich mag das Geld nicht, jetzt noch nicht! Behalten Sie es! Bei Ihnen ist es sicherer als bei mir, weit, weit sicherer als auch bei jedem andern. Ich brächte es wahrscheinlich gar nicht nach Hause. Nein, nein, behalten Sie es, behalten Sie es!“

„Ihre Schwester hat auch darüber zu bestimmen. Wir werden sie also fragen, sobald sie hier angekommen ist. Und nun will ich Ihnen nochmals ausführlicher erzählen, worüber ich Ihnen nur Andeutungen gemacht habe, nämlich was seit dem Augenblicke, an welchem Sie mit dem Häuptlinge der Nijoras fortritten, geschehen ist.“

Ich hätte ihm dies auch später erzählen können, aber erstens hatte ich jetzt Zeit dazu und zweitens that ich es wegen der Aufregung, in welcher er sich befand. So plötzlich einige Millionen in die Hand zu bekommen, das kann nicht jedermann vertragen. Es war jedenfalls eine Wohlthat für seine Nerven, wenn ich ihn veranlaßte, seine Aufmerksamkeit auf meinen Bericht zu lenken.

Aus diesem Grunde erzählte ich möglichst umständlich, und zu meiner Genugthuung folgte er selbst dem Nebensächlichen mit ungeteiltem Interesse. Ich hörte erst auf, als ich mit meiner Erzählung bei dem gegenwärtigen Augenblicke angekommen war. Da holte er tief, tief Atem und sagte:

„Also unter solchen Umständen und mit solcher Lebensgefahr haben Sie die Tasche an sich gebracht! Sie müssen den Inhalt der Tasche mit mir teilen!“

„Oho! Sind Sie etwa der einzige Erbe?“

„Leider nein! Aber ich werde meinen Willen dennoch durchsetzen! Sie werden wenigstens gerade und genau soviel bekommen wie jeder einzelne Erbe!“

„Beleidigen Sie mich nicht! Schweigen wir darüber! Wenn Sie später Gutes thun wollen, so denken Sie an Ihr armes Heimatdörfchen und an dessen Bewohner, bei denen tausend Mark ein großes Vermögen sind! jetzt will ich einmal nach dem alten Melton sehen. Wie hat er sich verhalten, seit er sich bei den Nijoras befindet?“

„Er hat kein Wort gesprochen.“

„Auch mit Ihnen nicht?“

„Nein, obgleich ich mich immer bei ihm befunden habe. Nur wenn er schläft, da stöhnt, ächzt und murmelt er vor sich hin, als ob ihn große Schmerzen quälten. Ob dies das böse Gewissen ist?“

„Nein, sondern der Grimm über den Verlust seines Geldes. Er thut Ihnen nicht den Gefallen, denselben zu erwähnen, träumt aber des Nachts davon. Der Ärger, der sich nur im Traume äußert, aber des Tages jedenfalls wie ein Tiger an ihm frißt und säuft, ist ihm sehr gern zu gönnen. Er hat weit andern Lohn als das verdient und wird ihn auch bekommen.“

Ich ging zu Melton. Dieser hatte unsere Unterredung nicht gehört, weil Franz Vogel mir vorhin entgegengekommen war und wir uns also in guter Entfernung von ihm befunden hatten. Auch gesehen war ich nicht von ihm geworden, denn er lag mit dem Rücken auf der Erde, den Kopf uns zugewendet. Als ich nun ganz plötzlich zu ihm trat, starrte er mich wie ein Gespenst an, schloß die Augen, um sich zu besinnen, ob er wache oder träume, und stieß dann stöhnend hervor:

„Der Deutsche, der tausendmal verdammte Deutsche!“

„Ja, es ist der Deutsche,“ antwortete ich. „Ihr freut Euch doch, Master Melton, mich so gesund, frisch und wohl wieder vor Euch stehen zu sehen?“

Da öffnete er die Augen wieder, riß und zerrte wie ein Verrückter an seinen Fesseln und schrie dabei:

„Er ist’s; er ist’s wirklich! O wäre ich frei, o hätte ich meine Hände los! Umkrallen würde ich dich und dir das Fleisch von den Knochen reißen, du Hund! Haben dich die Mogollons denn nicht erwischt? Oder warst du so feig, vor ihnen davonzulaufen?“

„Nein, Mr. Melton, sie haben mich nicht erwischt, obgleich sie mich wohl gern gehabt hätten, zumal Euer lieber Jonathan mich ihnen sehr angelegentlich auf die Seele gebunden hatte.“

Da beherrschte er sich, nahm eine lauernde Miene an und fragte:

„Jonathan! Habt Ihr ihn etwa gesehen?“

„Es ist möglich; genau kann ich es Euch aber leider nicht sagen.“

„Wenn noch nicht, so werdet Ihr ihn ganz gewiß bald zu sehen bekommen!“

„Das ist’s ja, was ich wünsche!“

„Wünscht es nicht, wünscht es ja nicht!“ geiferte er. „Er wird mich befreien, wird mich rächen, wird wie eine Kugel über Euch kommen, die Euch den Kopf zerschmettert!“

„Das werde ich abwarten.“

„Lacht nicht über mich; lacht ja nicht über meine Drohung, denn sie wird sich erfüllen! Er kommt mit den MogolIons; sie werden ihre Feinde niederschmettern und Euch ergreifen. Dann wehe Euch, dreimal wehe, wehe, wehe!“

„Ihr seid ja, während wir uns nicht sahen, außerordentlich dramatisch geworden! Leider befinde ich mich gerade jetzt nicht in der Stimmung, Eure Drohungen so tragisch zu nehmen, wie Ihr es wünscht. Wir fürchten die Mogollons keineswegs, denn wir kennen ihre Absichten und sind eben, dabei, dieselben zu Schanden zu machen.“

Er sah mich forschend an, veränderte den Ausdruck seines Gesichtes abermals und fragte:

„Ihr kennt ihre Absichten? Ah, wirklich? Ihr glaubt, denselben begegnen zu können? Solltet Ihr Euch da nicht zu viel zutrauen, Sir?“

„Schwerlich! Ihr kennt mich doch, wenn auch noch nicht ganz genau. Ich pflege den Büffel stets bei den Hörnern, nicht aber bei dem Schwanze anzufassen. Geradeso werden wir es auch mit den Mogollons thun. Wir wissen alles. Euer Jonathan kommt mit den Mogollons; aber wir haben ihnen eine recht hübsche Falle gestellt, in welcher sie sich so leicht fangen werden, daß wir nur die Thür zuzuklappen brauchen.

Ich weiß genau, daß ich imstande bin, Euch schon nach einigen Stunden die Mogollons samt Euerm Jonathan als Gefangene zu zeigen.“

Er schien mich mit den Augen verschlingen zu wollen, als er auf meine Worte erwiderte:

„Gefangene? Auch Jonathan? Pshaw! Ihr wollt mich ängstigen, mich ärgern; aber das soll Euch nicht gelingen!“

„Ihr seid für immer kalt gestellt, Mr. Melton; ob Ihr Euch freut oder ärgert, ist mir unendlich gleichgültig. Ich spreche der Wahrheit gemäß, und wenn Ihr das nicht glaubt, werdet Ihr den Beweis sehr bald zu sehen bekommen.“

„Alle Wetter, Ihr scheint wirklich Eurer Sache sicher zu sein! Übrigens ist es mir sehr gleichgültig, ob die Mogollons die Nijoras ermorden oder diese jene umbringen. Mir ist es um etwas ganz anderes zu thun. Und wenn Ihr gescheit seid, könnt Ihr ein außerordentlich gutes Geschäft dabei machen. Wollt Ihr?“

„Warum nicht, wenn das Geschäft ein ehrliches ist,“ antwortete ich, sehr neugierig auf die Mitteilung, welche er für mich auf der Zunge hatte.

„Sehr ehrlich, außerordentlich ehrlich, wenn nämlich Ihr selbst es auch ehrlich dabei meint.“

„Ich bin kein Schuft; das könntet Ihr nun wohl endlich wissen.“

„Ich weiß es und eben darum glaube ich, daß die MogolIons in eine Falle gehen werden. Und darauf gründe ich das Geschäft, welches ich Euch vorzuschlagen beabsichtige.“

„So redet!“

„Ich verlange von Euch einen Gefallen, einen ganz kleinen, geringen Dienst, und ich verspreche Euch dafür einen Lohn, welcher unendlich größer ist, als dieser armselige Dienst.“

„Ja, Ihr werdet es versprechen, aber nicht halten!“

„Stellt Euch sicher, stellt Euch sicher, Sir! Ihr thut mir den Gefallen erst dann, wenn Ihr den Lohn erhalten habt.“

„Das ist ein Vorschlag, der sich hören läßt. Welchen Dienst verlangt Ihr?“

„Ihr laßt mich frei und gebt mir das Geld wieder, welches Ihr mir abgenommen habt.&

„Das ist allerdings ein außerordentlich geringer Dienst, den ich Euch erweisen soll. Also Ihr verlangt Eure Freiheit und dazu das Geld, welches ich Euch aus den Stiefeln genommen habe! Wunderbar!“

„Werdet nicht höhnisch, Sir, denn Ihr wißt noch gar nicht, was ich Euch dafür geben werde!“

„Ihr? Was habt Ihr denn noch? Was könntet Ihr mir geben?“

„Millionen!“

„Alle Wetter! Wo befinden sich denn Eure Millionen?“

„Das kann ich Euch erst sagen, wenn Ihr mir die Freiheit und mein Geld versprecht.“

„Und ich soll die Millionen eher bekommen, als ich mein Versprechen zu halten brauche?“

„Ja, zu Eurer Sicherheit. Ihr seht, daß ich es ehrlich mit Euch meine.“

„Allerdings. Mr. Melton, ich scheine mich in Euch geirrt, Euch vollständig falsch beurteilt zu haben!“

„Das ist wahr. Glücklicherweise biete ich Euch jetzt die vortreffliche Gelegenheit, diesen Fehler zu Eurem größten Nutzen gut zu machen.“

„Schön! Bei diesem gegenseitigen großen Vertrauen wird sich das Geschäft wohl machen lassen. Millionen, das hat etwas zu bedeuten! Also, wo habt Ihr sie?“

„Gebt mir vorher das verlangte Versprechen!“

„Sagt mir vorher, wieviel Millionen es sind!“

„Zwei bis drei Millionen Dollars; es kommt nicht so genau darauf an. Also, wollt Ihr?“

„Ja.“

„Ihr gebt mir Euer Wort, daß ich frei sein werde und mein Geld wiederbekomme?“

„Ja. Sobald ich die Millionen auf Eure Anweisung oder durch Eure Hilfe erhalten habe, laß ich Euch sofort frei und zahle Euch das Geld aus.“

„Ich kann dann gehen, wohin ich will?“

„Ja. Ich werde mich von dem Augenblicke an, in welchem ich Euch freilasse, nicht wieder um Euch bekümmern.“

„Gut! jetzt habe ich meine Forderung so verklausuliert, daß ich sicher bin.“

„Gewiß. Nun aber die Millionen!“

„Sogleich! Wir müssen aufrichtig miteinander sein. Sagt einmal, Sir, glaubt Ihr wirklich, daß Ihr die Mogollons besiegen werdet?“

„Mehr als das. Wir werden sie fangen, vom ersten bis zum letzten.“

„Auch meinen Sohn mit?“

„Auch ihn.“

„Gut! Er ist zwar mein Sohn, aber ein Schurke gegen mich gewesen. Er hat Hunters Geld so geteilt, daß er fast das ganze behielt, ich aber eine wahre Lappalie bekommen habe. Es geschieht ihm ganz recht, wenn ich ihn dafür verrate. Also, paßt auf! Er wird eine schwarzlederne Hängetasche bei sich haben – –“

„Schön!“

„In dieser Tasche befindet sich ein Portefeuille. Und in diesem Portefeuille stecken die Millionen.“

„Ist das gewiß?“

„Kein Zweifel! Ich weiß es genau. Seid Ihr jetzt zufrieden?“

„Eigentlich nicht.“

„Warum? Ihr bekommt doch die Millionen! Denkt nur, Millionen! Ich könnte verrückt werden darüber, daß ich sie Euch abtreten muß!“

„Aber Ihr habt mich doch an der Nase geführt. Ich hätte ja die Millionen bekommen, auch ohne Euch ein Versprechen gegeben zu haben. Jonathan wird auf alle Fälle mein Gefangener; ich würde die Tasche unbedingt bei ihm finden.“

„Meinetwegen. Aber ich hoffe, daß Ihr wegen dieser kleinen List nicht zornig auf mich seid?“

„O bitte, ganz und gar nicht. Doch ebenso hoffe ich, daß Eure Angabe sich als richtig erweist, daß er das Geld auch wirklich noch hat, denn ich habe, wohl gemerkt, die Bedingung gestellt, daß ich es auf Eure Anweisung, durch Eure Hilfe bekommen muß!“

„Das werdet Ihr auch!“

„Und was soll dann mit Jonathan geschehen? Vielleicht geht es ihm gar an das Leben!“

„Jeder ist seines Schicksales Fabrikant. Ich kann ihm nicht helfen. Er hat mir zu wenig gegeben, hat mich betrogen; ich sage mich von ihm los, und es ist mir ganz einerlei, was mit ihm geschieht. Stirbt er, so ist es mir ganz recht, denn ich habe dann später vor ihm Ruhe. Ihr aber macht das beste Geschäft dabei, viel, viel besser als das meinige!“

Das war ein Vater! Mir graute so vor ihm, daß es mir war, als ob mir ein Stück Eis auf den Rücken gelegt würde. Doch überwand ich mich und antwortete gelassen:

„Ja, mein Lohn ist sehr hoch, doch kann mich das nicht aus der Fassung bringen, denn ich bin schon reich. Die Millionen habe ich schon.“

Bei diesem Worte klopfte ich an die Tasche.

„Die möchte ich einmal sehen!“ lachte er.

„So will ich Euch diesen Gefallen thun. Ein bißchen Spaß ist Euch doch wohl zu gönnen. Seht also einmal her! Hier -hier – hier und hier!“

Ich zog die Brieftasche hervor, öffnete sie und hielt ihm bei jedem hier eines der Couverte vor die Augen. Ah, was machte er da für ein Gesicht! Wie schnell veränderte sich da der Ausdruck desselben! Es war, als ob es ihm die Augen aus ihren Höhlen treiben wolle. Er riß den Kopf so weit empor, wie seine Fesseln es zuließen, und brüllte mich an:

„Das – das – das ist doch – – woher habt Ihr diese Brieftasche! 0, Ihr Teufel, Teufel, Teufel!“ schrie er plötzlich und stierte mich dabei mit einem Blicke an, dessen Ausdruck gar nicht zu beschreiben ist.

„Regt Euch doch nicht so sehr auf!“ antwortete ich.“Was schadet es, daß ich Eurem Sohn einen heimlichen Besuch in seinem Zelte abgestattet habe? Nur thut es mir leid um Euch. Ihr könnt Euer Wort nicht halten, mir nicht zu den versprochenen Millionen verhelfen. Ich habe sie nicht auf Eure Anweisung, oder durch Eure Hilfe. Nun kann ich Euch nicht freilassen.“

„Ni-i-icht?“ dehnte er in einer Aufregung hervor, welche seinen ganzen Körper zittern ließ.

„Nein. Und das Geld könnt Ihr auch nicht bekommen.“

Er antwortete nicht. Sein Kopf sank hintenüber; seine Wangen fielen ein, und seine Augen schlossen sich. Ich glaubte, es sei infolge der allzu großen Enttäuschung ein Ohnmachtsanfall über ihn gekommen, und wendete mich schon ab, um fortzugehen, da kam beim Geräusch meines ersten oder zweiten Schrittes neues Leben über ihn. Er reckte die gefesselten Glieder, daß die Riemen krachten und die Pflöcke sich bogen und brüllte mich an:

„Du stammst aus der Hölle! Weißt du, wer du bist? Der Satanas, der leibhaftige Satanas!“

„Unsinn! Dein Bruder war der Teufel; ich habe ihn stets so genannt, vom ersten Augenblicke an, da ich ihn sah. Und du bist Ischariot, der Verräter. Du hast allen, die dir Gutes thaten, mit Bösem vergolten. Du nahmst deinem eigenen Bruder das Leben und das Geld, und soeben hast du deinen Sohn, deinen einzigen Sohn, dein Kind an mich verraten. Ja, du bist Ischariot und wirst sterben wie jener Verräter, welcher hinging und sich selbst aufhing. Du wirst nicht durch die Hand eines Henkers sterben, sondern dich selbst ermorden. Möge Gott gnädiger gegen dich sein, als du selbst!“

Ich wendete mich von ihm und ging zu Franz Vogel, welcher, von ihm ungesehen, in der Nähe gestanden und alles mit gesehen und gehört hatte.

„Ein entsetzlicher Mensch!“ sagte der junge Mann. „Glauben Sie nicht, daß er sich noch bessern kann?“

„Ich wünsche jedem Sünder eine reuige Umkehr, und im Himmel ist Freude über ein jedes verlorenes Schaf, welches sich wiederfinden läßt; dieser hier aber wird sich nicht finden lassen, sondern sich vor der Reue verstecken. Er ist noch schlimmer, noch viel gottloser als sein Bruder, der durch seine Hand den Tod gefunden hat. Man möchte weinen, wenn Thränen hier helfen könnten.“

„Ich fürchte mich jetzt vor ihm. Soll ich mit Ihnen gehen?“

„Nein. Bleiben Sie noch hier. Die jungen Kerls, welche die Pferde bewachen, sind noch unerfahren; sie könnten sich von ihm zu einer Unvorsichtigkeit verleiten lassen. Und drüben, jenseits der Höhe, ist es noch nicht sicher für Sie. Wir haben Waffenstillstand, aber keinen Frieden; es kann noch zum Kampfe kommen.“

„Halten Sie mich für feig?“

„Nein; aber Sie dürfen sich den Kugeln, welche vielleicht pfeifen werden, nicht aussetzen, denn Sie haben eine Schwester nach Hause zu begleiten und sich Ihren Eltern zu erhalten.“

Er gehorchte mir und blieb zurück. Der Häuptling, welcher mich herbeigeführt hatte, war längst fort, und nun stieg ich über die Höhe wieder hinüber nach der Platte. Ich konnte sie oben von dem Felsen aus überblicken; es war noch alles in dem Zustande, wie ich sie vorhin verlassen hatte. Winnetou befand sich bei den Waffen der Mogollons. Der gefesselte Häuptling lag noch unten bei seinen beiden ältesten Kriegern, und der Häuptling der Nijoras hatte soeben den Befehl gegeben, daß gegessen werden solle.

Infolgedessen stieg eine Anzahl Nijoras hinüber zu den Pferden, bei denen sich die Fleischvorräte befanden, und kamen bald zurück, sie auszuteilen. Nun sah man längs des Wildrandes, droben bei der Höhe und unten bei den Waffenhaufen zahlreiche kauernde und kauende Indianergestalten. Auch ich bekam, ebenso wie Winnetou, einige Stücke Fleisch; man hatte für ihn und mich das beste, was es gab, ausgesucht.

Als die Zeit kam, in welcher ich die Ankunft Emerys bald erwarten konnte, schickte ich ihm einen Nijora entgegen, der schnell zurückkehren sollte, um mir die Ankunft des Zuges zu melden. Es hatte das seinen guten Grund. Ich mußte wissen, wann man die sechzig Gefangenen brachte, um die nötigen Vorkehrungsmaßregeln gegen eine etwa unter den Mogollons ausbrechende Unruhe treffen zu können.

Es mochte zwei Stunden nach Mittag sein, als der Bote zurückkehrte und mir meldete, daß Emery in zehn Minuten da sein werde. Ich hatte Winnetou gesagt, was zu thun sei; er ging nach dem Walde, zu den dort postierten Nijoras, ich aber zu dem Häuptlinge derselben und sagte letzterem:

„Die Waffen dort werden von zwanzig deiner Leute bewacht, welche vielleicht nicht ausreichen dürften.“

„Warum nicht?“ fragte er.

„Man wird in kurzer Zeit die Mogollons bringen, welche ich am tiefen Wasser und an der Quelle des Schattens gefangen habe. Es ist möglich, daß ihre Brüder beim Anblicke derselben. wütend werden und nach ihren Waffen laufen, um die Gefangenen zu befreien. Halte noch zwanzig Mann bereit. Sobald ich dir mit der Hand ein Zeichen gebe, schickst du auch sie hinab zum Waffenhaufen, der dann von vierzig Mann bewacht ist.“

Nach dieser Weisung ging ich zu dem starken Winde und seinen beiden Ältesten, setzte mich zu ihm nieder und sagte:

„Die Bedenkzeit, welche ich dir gewährte, wird bald abgelaufen sein. Ihr habt euch besprochen. Seid ihr zu einem Beschlusse gekommen?“

„Noch nicht,“ antwortete er.

„So beeilt euch! Sobald die Zeit vorüber ist, muß ich eure Antwort haben.“

„Willst du uns die Zeit nicht verlängern?“

„Nein, das kann weder uns noch Euch Nutzen bringen.“

„Man erzählt sich, daß Old Shatterhand stets gütig sei; warum bist du es nicht auch gegen uns?“

„Ich bin es gewesen; ich habe euch Zeit genug gegeben.“

„Aber nicht soviel, wie wir brauchen!“

„Ihr hättet viel weniger gebraucht, als ihr bekommen habt, wenn nicht hinter deiner Stirn Gedanken der Rettung durch Leute wohnten, welche dich nicht retten können.“

„Von welchen Leuten redest du?“

„Von den zehn Kriegern, welche du heute früh am Quell des Schattens zurückgelassen hast.“

Er erschrak, beherrschte sich aber, und fragte ziemlich unbefangen:

„Du sprichst von zehn Kriegern? Meinst du vielleicht Mogollons, die an der Quelle des Schattens sind?“

„Ja; sie waren dort, zwei weiße Gefangene zu bewachen, einen Mann und eine Squaw. Ist es nicht so?“

„Ich weiß nichts davon.“

„Sagtest du nicht, daß dein Mund nie die Unwahrheit rede? Und jetzt belügst du mich! Du selbst hast in der letzten Nacht an der Quelle des Schattens gelagert. Du saßest bei einem kleinen Feuer, um Tabak zu rauchen, mit drei alten Kriegern am Wasser, und ich lag bei euch, um euch zu belauschen. Zwei Kundschafter kehrten zurück, und einer von ihnen meldete dir, daß sie einem Nijora begegnet seien. Giebst du das zu?

Er antwortete nicht; darum fuhr ich fort:

„Der Nijora, dem sie begegneten, war ein Bote, den ich dem schnellen Pfeile schickte, um ihm sagen zu lassen, wann ihr heute auf der Platte ankommen würdet. Dann kroch ich von euch fort und stieg trotz des Wächters, welcher dabei saß, zu den Gefangenen in den Wagen, um ihnen zu sagen, daß ich sie heute früh befreien würde.“

„Uff, uff!“ rief da der jetzt überzeugte Häuptling. „Nur dir oder Winnetou kann so etwas gelingen. Hast du das Wort gehalten, welches du den Gefangenen gabst?“

„Ja. Als du aufbrachst, war ich mit meinen Kriegern hinter der Höhe am Quell verborgen. Als ihr fort waret, brachen wir hervor, nahmen die zehn Krieger, welche du zurückgelassen hattest, gefangen, befreiten die beiden Bleichgesichter, bespannten den Wagen mit acht Pferden und fuhren und ritten euch nach.“

„Warum mit dem Wagen?“

„Eine Kriegslist, die uns gelungen ist. Es giebt übrigens noch mehr Krieger, von denen du denkst, daß sie zu den zehn stoßen würden.“

„Wo?“

„Bei Melton, dem du fünfzig Krieger anvertraut hast.“

„Uff, uff!“ rief der Häuptling, jetzt doppelt erschreckt. „Woher weiß du das?“

„Ich erfuhr es, als ihr es im Kriegsrate erwähntet. Die Männer sollten ausziehen, mich und Winnetou zu fangen.“

„Weißt du denn, ob sie dann auch wirklich ausgezogen sind?“

„Ja. Ich habe sie gesehen am Brunnen des Schlangenberges. Ich lag auch dort am Wasser und habe Melton belauscht.“

„Uff! Kann Old Shatterhand sich unsichtbar machen?“

„Nein. Aber wenn die roten Männer keine Augen und Ohren haben, so ist es leicht, sie zu behorchen. Melton sagte, daß er nach dem tiefen Wasser ziehen und von dort an dir folgen werde.“

„Hat er das gethan?“

„Ja. Aber als er mit seinen fünfzig Kriegern nach dem tiefen Wasser kam, lag ich schon mit fünfzig dort und nahm sie alle gefangen. Dann sind sie dir wirklich gefolgt, freilich aber als unsere Gefangenen.“

Er sah mir durchdringend in das Gesicht und fragte:

„Aber wo sind die Gefangenen? Du bist ja da!“

„Kann man gefangene Feinde während des Kampfes gebrauchen? Ich habe sie an der Quelle des Schattens zurückgelassen, aber sofort nach ihnen geschickt, als ich erriet, daß du Rettung von ihnen erhofftest. Du wirst sie sehen, denn sie werden bald erscheinen. Da schau! Dort kommen sie!“

Ich hatte gesehen, daß Winnetou unter den Bäumen hervortrat und den Arm empor hob. Auf dieses Zeichen kamen auch seine hundertfünfzig Nijoras hervor, knieten nieder und legten ihre Gewehre auf die entwaffneten Mogollons an.

„Was ist das? Was soll geschehen?“ fragte mich der Häuptling der letzteren erschrocken.

„Nichts wird geschehen, wenn deine Krieger sich ruhig verhalten,“ antwortete ich. „Horch!“

Winnetou ließ seine mächtige Stimme erschallen:

„Die Krieger der Mogollons mögen hören, was ich ihnen sage! Man wird jetzt ihre Brüder bringen, welche wir gefangen haben. Wer sich ruhig verhält, dem geschieht nichts; wer sich aber von seinem Platze entfernt, der wir erschossen.“

„Ist dies sein Ernst?“ fragte mich der Häuptling.

„Siehst du das nicht? Sind nicht die Läufe aller seiner Nijoras auf deine Mogollons gerichtet?“

„Ja. Und was sollen die Krieger, welche jetzt vom Felsen steigen?“

Vor dieser Frage hatte ich dem Häuptlinge der Nijoras einen Wink mit der Hand gegeben, und antwortete nun demjenigen der Mogollons:

„Das sind zwanzig Männer, welche auf meinen Befehl hin die Wächter dort bei euern Waffen verstärken sollen, weil es deinen Mogollons einfallen könnte, ihre Waffen zu holen, um ihre gefangenen Gefährten zu befreien.“

„Das wäre Thorheit, denn ihr würdet sie niederschießen, noch ehe sie ihre Waffen erlangt hätten.“

Er wendete sich an die beiden Alten und befahl ihnen:

„Eilt zu unsern Kriegern und sagt ihnen, daß sie sitzen bleiben sollen, es geschehe, was geschehe. Dann kommt ihr wieder zu mir herüber!“

Sie entfernten sich, um die Botschaft auszurichten, und kamen gerade zur richtigen Zeit, denn kaum waren sie drüben bei den Ihrigen angelangt, so sah ich Emery als den vordersten seines Zuges vorn an der Einmündung des Hohlweges erscheinen. Ich sprang auf, winkte ihm zu und rief:

„Hallo, Emery, alle zu mir herüber!“

Er sah und hörte mich, und nahm die Richtung auf uns zu. Ihm folgten seine Nijoras, in drei Gruppen geteilt, zwischen denen in zwei Gruppen die gefesselten Gefangenen ritten. Beim Anblicke derselben herrschte eine wahre Totenstille auf der Platte. Unsere Vorkehrungen waren also gut gewesen; sie hatten die gefürchteten Ausschreitungen verhindert.

Ich richtete den Häuptling der Mogollons in sitzende Stellung auf, lehnte ihn mit dem Rücken an einen Stein, sodaß er alles gut sehen konnte, und fragte ihn:

„Erkennst du dort die Gefangenen?“

„Melton,“ antwortete er. „Die weiße Squaw und der Mann und die Squaw, welche wir im Wagen bei uns hatten.“

„Zähle deine Leute!“

„Sechzig gefangene Krieger.“

„Die übrigen sind Yumas, welche sich bei der Squaw Meltons befanden. Auch sie haben wir gefangen genommen.“

Der Zug war jetzt bei uns angekommen, ritt an uns vorüber und hielt dann an. Die gefangenen Mogollons senkten ihre Köpfe, als sie ihren Häuptling auch gefesselt bei mir liegen sahen. Melton blickte mir frech ins Gesicht. Als sich der Zug aufgelöst hatte, und alle Gefangenen von den Pferden genommen und auf die Erde gelegt worden waren, kamen die beiden Ältesten zurück. Ich fragte ihren Häuptling:

„Willst du auch jetzt noch Bedenkzeit fordern?“

Er sah den beiden Alten in die Augen. Sie schüttelten stumm die Köpfe, und so antwortete er:

„Nein. Wir ergeben uns.“

„Gut! Eure Waffen haben wir schon; da habt ihr nur noch die Munition und die Pferde abzugeben. Erst kommen die daran, welche da drüben sitzen, dann die Gefangenen, welche jetzt gekommen sind, und die letzten drei werdet ihr machen. Winnetou wird euch entlassen, weil ich keine Zeit dazu habe. Jeder von Euch, der entlassen worden ist, hat sofort von der Platte zu verschwinden, natürlich zu Fuß, da er kein Pferd mehr besitzt, und in der Richtung nach der Quelle des Schatten zu. Eine stunde, nachdem der letzte von euch fort ist, werde ich Krieger aussenden, welche jeden Mogollon, der sich noch in der Umgegend treffen läßt, erschießen müssen. Das merke dir!“

Nach dieser ernsten Verwarnung suchte ich den Apatschen auf und bat ihn, die Entlassung der Gefangenen zu leiten. Er war bereit dazu und holte sich mehrere Nijoras, welche ihm behilflich sein sollten. Ich aber ging nun zu Martha, welche von fern stand und auf mich wartete.

„Gott sei Dank, daß ich Sie unverletzt finde!“ rief sie aus, indem sie mir beide Hände entgegenstreckte. „Sie haben sich also doch geschont?“

„So, daß ich vor lauter Ungeschick vom Pferde fiel.“

„Doch ohne sich Schaden zu thun?“

„Sonntagsreiter thun sich niemals Schaden.“

„Scherzen Sie nicht! Wenn Sie gestürzt sind, kann es nur in einer gefährlichen Situation gewesen sein. Darf ich erfahren, wie der Unfall erfolgt ist?“

„Später werde ich es Ihnen sagen. Jetzt habe ich Ihnen etwas zu zeigen. Kommen Sie.“

Ich stieg mit ihr über die Felsenhöhe. Jenseits angekommen, zeigte ich auf ihren Bruder, welcher unter Pferden und mit dem Rücken gegen uns gerichtet, im Grase saß.

„Da ist Ihr Bruder. Gehen Sie hin zu ihm; er will Ihnen etwas zeigen.“

„Was?“

„Etwas, was sich in dieser Brieftasche befindet. Nehmen Sie sie mit!“

„Gehen Sie nicht mit hin?“

„Nein; ich muß wieder nach der Platte, werde aber bald zurückkehren oder Sie holen lassen.“

Ich gab ihr die Brieftasche und kehrte um. Nach einigen Schritten hörte ich einen freudigen Doppelschrei; als ich mich umsah, bemerkte ich, daß die Geschwister sich in den Armen lagen.

Als ich jenseits wieder ankam, trat der Advokat auf mich zu. Er zeigte ein sehr finsteres Gesicht und fragte in einem Tone, als ob er ein Vorgesetzter von mir sei:

„Ich sah Euch mit Mrs. Werner fortgehen. Wohin habt Ihr sie gebracht?“

„Warum fragt Ihr?“

„Weil die Lady unter meinem Schutze steht und es mir nicht gleichgültig sein kann, mit wem sie über die Berge steigt.“

„Und wenn sie das mit Old Shatterhand thut, habt Ihr da vielleicht etwas dagegen?“

Er antwortete nicht.

„Sagt ja, so fliegt Ihr augenblicklich über die Platte hinüber und in den Cañon hinab! Ihr wäret mir der richtige Kerl, mir zu imponieren! Was Euer Schutz wert ist, hat Mrs. Werner zur Genüge erfahren. Ihr habt ja nicht einmal das Geschick, Euch ganz allein zu schützen! Aber da wir einmal bei einander stehen, will ich diesen Umstand, der sich wohl selten wiederholen wird, dazu benützen, eine Frage an Euch zu richten. Hatte der alte Mr. Hunter auch Immobilien hinterlassen?“

„Was versteht Ihr unter Immobilien?“ fragte er in wegwerfendem Tone.

„Liegende Gründe, Häuser, Baustellen, Hypotheken, Nutzungsrechte, Realgerechtsame, Staatsrenten und so weiter.“

„Das habe ich Euch nicht zu beantworten.“

„So sage ich Euch, daß wir hier im wilden Westen sind, wo es verschiedene sehr probate Mittel giebt, verweigerte Antworten dennoch zu erhalten. Ich werde Euch gleich eines zeigen.“

Ich nahm mein Lasso von der Hüfte. Als ich ihn um die Arme Murphys schlingen wollte, wehrte er sich dagegen.

„Haltet still, sonst schlage ich Euch nieder! Hier sind wir nicht in New Orleans, wo Ihr den großen Gesetzesmann gegen mich und Winnetou aufspielen könntet. Hier giebt es andere Gesetze, welche ich Euch kennen lehren werde!“

Ich hob ihn empor, schüttelte ihn in der Luft und steifte ihn so auf die Erde nieder, daß er laut aufschrie und nach Atem rang. Ich band ihm das eine Ende des Lasso um die an den Leib gedrückten Arme, befestigte das andere an den Sattel des nächststehenden Pferdes und stieg auf. Zunächst im Schritt fortreitend, zog ich ihn hinter mir her; er konnte folgen; als ich aber zu traben begann, stürzte er und wurde geschleift. Da brüllte er:

„Halt, halt! Ich will antworten!“

Ich hielt an, zog ihn am Lasso auf und sagte:

„Gut! Aber bei der nächsten Weigerung galoppiere ich. Merkt Euch das! Wenn dann Eure Knochen in Unordnung geraten, habt Ihr es Euch selbst zuzuschreiben.“

„Ich antworte,“ sagte er wütend. „Aber falls Ihr einmal nach New Orleans kommt, werde ich Euch zur Rechenschaft ziehen und bestrafen lassen!“

„Schön, Mr. Murphy! Ich werde Euch die Gelegenheit sobald wie möglich bieten, denn ich habe die Absicht, die Meltons dorthin zu bringen, und da ich in dieser Sache auch einiges mit Euch auszuklopfen habe, so möget Ihr dabei Eure Beschwerde anbringen. Ich meine aber, daß die dortigen Richter den Kuckuck darnach fragen werden, was hier in Neu Mexiko oder Arizona geschehen ist; sie haben in ihrem schönen Louisiana mehr als genug zu thun. Also Antwort jetzt! Hat Mr. Hunter auch Immobilien hinterlassen?“

„Ja.“

„Es giebt natürlich auch ein Verzeichnis darüber?“

Er schwieg. Sofort setzte ich das Pferd wieder in Bewegung.

„Halt, halt, es giebt Verzeichnisse!“ rief er. „Im Testamente und in den Nachlaßakten.“

„So sorgt ja nicht etwa dafür, daß die Verzeichnisse verloren gehen! Man kann Euch auch in Louisiana an den Lasso knüpfen, aber nicht um den Leib, sondern um den Hals. Jonathan Melton hat die Immobilien natürlich versilbert?“

„Ja.“

„Da dies so schnell wie möglich geschehen mußte, sind die Immobilien verschleudert worden. Wer waren die Käufer?“

Er wollte wieder nicht antworten, als ich aber schnell wieder in die Zügel griff, rief er:

„Ich und andere waren es.“

„Ah so! Bei den andern habt Ihr den Unterhändler gemacht?

„Ja.“

„Schöne Sachen das, Sir, sehr schöne Sachen! Kann Euch an den Kragen gehen. Also darum ist es Euch nachträglich so angst geworden, daß Ihr Euch zu den richtigen Erben nach Frisco aufgemacht habt! jetzt ist mir die Reise sehr erklärlich. Werde Euch auch ein wenig als Gefangenen betrachten. Übrigens muß ich Euch ohnedies fragen: Wer hat verkauft?“

„Melton.“

„War er der rechte Erbe?“

„Nein!“

„Gelten also diese Käufe?“

„Nein.“

„Seht, wie gut und schnell Ihr antworten könnt, wenn Ihr an meinem Pferde hängt! Die Kaufgegenstände müssen zurückgegeben werden, und zwar genau in dem Zustande, in welchem sie sich beim Verkaufe befanden.“

„Wer aber soll die Verluste tragen, Sir?“

„Die Käufer natürlich. Sie haben sich von einem Schwindler betrügen lassen.“

„Dann werde ich ein armer Mann!“

„Schadet nichts! Ihr werdet durch ähnliche Geschäfte sehr bald wieder reich. Übrigens kann Euch der Verlust gar nichts schaden, da Ihr es seid, der zu den Betrügereien Meltons sein amtliches ja und Amen gegeben hat. Für heute sind wir fertig. Später komme ich mit andern Erkundigungen, da ich mit Freuden die Begeisterung sehe, mit welcher Ihr dergleichen Auskünfte erteilt.“

Ich stieg ab und band ihn los. Er lief fort und versteckte sich, so fern von mir, als er konnte. Nun ging ich zu jonathan Melton, welcher gefesselt am Boden lag. Sein Gesicht war von dem Faustkampfe mit dem Advokaten derb angeschwollen. Als er mich vor sich sah, drehte er sich auf die Seite.

„Der Kriegszug ist zu Ende, Mr. Melton,“ sagte ich. „Eure guten Freunde sind fort; sie haben Euch im Stiche gelassen. Meint Ihr noch immer, daß Ihr mir entfliehen könnet?“

Da drehte er sich hastig wieder herum, und schrie mich an:

„Nicht nur entfliehen werde ich, sondern auch das Geld wieder bekommen.“

„Gratuliere Euch im voraus dazu! Habe übrigens eine freudige Überrraschung für Euch.“

Ich gab, ohne daß er es hörte, den Befehl, seinen Vater über die Höhe herüberzuschaffen. Als man ihn brachte, kamen

Franz Vogel und Martha mit. Der Alte wurde zu dem jungen geführt. Als der erstere den letzteren erblickte, schien er zunächst vor Schreck stumm geworden zu sein; dann rief er aus-

„Also doch, doch, doch! Du bist gefangen, auch gefangen! Wem hast du das zu verdanken?“

„Dem da!“ antwortete Jonathan, nach der Stelle nickend, an welcher ich stand.

„Dem deutschen Hunde, dem wir überhaupt alles schulden! Wo hast du dein Geld?“

„Es ist fort, der Deutsche hat es.“

„Nein, nicht mehr. Vorhin habe ich es bei ihm gesehen; jetzt aber hat es dieser Musikant, dem wir in Albuquerque zugehört haben.“

„Du irrst dich!“

„Nein. Ich habe die Brieftasche bei ihm gesehen. Die Sängerin hat sie ihm gebracht; dann zählte sie das Geld.“

„Ja, es ist so, Mr. Melton,“ sagte ich zu Jonathan. „Die Lady und der junge Master sind, wie Ihr bereits wißt, die rechtmäßigen Erben Mr. Hunters. Darum habe ich ihnen die Brieftasche übergeben.“

„Meinetwegen!“ lachte er höhnisch. „Sie werden sie nicht lange haben!“

„Dann kommt sie wieder in Eure Hände, wie Ihr meint? Ich habe schon einmal dazu gratuliert, und thue dies jetzt zum zweitenmale. Wenn Ihr sie dann habt, gratuliere ich zum dritten- und letztenmale. Dabei wollen wir es jetzt bewenden lassen.“

Während dieser kurzen Szene bemerkte ich, daß die Jüdin mit Jonathan Blicke des Einverständnisses wechselte. Sie schienen sich ausgesöhnt zu haben. Ich hatte sie in letzter Zeit nicht selbst beobachten können und mußte wissen, woran ich war; darum sagte ich kurze Zeit später, sodaß niemand es hören konnte, zu ihr:

„Sennora, Ihre Yumaindianer sind mit den Mogollons fort; jedenfalls haben sie sich nach dem Pueblo gewendet. Möchten Sie nicht gern auch dort sein?“

Sie sah mich fragend an. Sie sagte sich wohl, daß mich nicht eine freundliche Teilnahme zu dieser Frage treibe, konnte aber meine Absicht nicht erraten.

„Wollen Sie mich vielleicht freigeben, daß ich ihnen dorthin folgen kann?“ antwortete sie.

„Vielleicht.“

„So haben Sie Ihre Ansicht über mich geändert!“

„Das würde wohl nicht das Zeichen von Charakterschwäche sein.“

„Ein Mann soll nicht heute so, und morgen anders denken!“

„Auch wenn er sich heute irrt? Zum Eingeständnisse eines Irrtums gehört wohl mehr Mut oder Überwindung, als zum Festhalten einer irrigen Meinung. Ich habe mich in Ihnen geirrt.“

„Ah! Wieso?“

„Indem ich Sie für schlecht hielt. Sie sind aber nur leichtsinnig.“

„Das ist kein Kompliment!“

„Soll es auch nicht sein. Sie haben sich nicht aus Bosheit, sondern aus Lebe an Jonathan Melton gehängt; Ihre Schuld oder vielmehr Mitschuld ist also nicht so schwer, wie ich bisher angenommen habe. Sie sind jetzt schon bestraft genug; ich will Sie nicht noch unglücklicher machen und Sie mitnehmen, um Sie den Gerichten auszuliefern. Sie sind frei. Sie können gehen, wohin Sie wollen.“

Diese Worte hatten eine ganz andere Wirkung, als man, wenn man nicht meiner heimlichen Ansicht war, hätte erwarten sollen.

„Ich bleibe!“ antwortete sie kurz entschlossen.

„Welchen Grund haben Sie dazu?“

„Ich gehöre zu Jonathan. Wo er ist, da bin ich auch, und wo er hingeht, da gehe ich auch hin.“

„Die reine Ruth! Leider aber heißen Sie Judith. Gestern hätten sie einander beinahe umgebracht, und heute wollen Sie nicht von ihm lassen. Diese plötzliche neue Anhänglichkeit muß einen guten Grund haben. Darf ich ihn vielleicht erfahren?“

„Wenn Sie ihn wissen wollen, so raten Sie. Sie sind doch sonst so klug, warum nicht auch hier in diesem Falle?“

„Auch hier!“

„So? Nun, so sagen sie doch einmal!“

Sie sah mir dabei mit einem solchen Hohne in das Gesicht, daß ich beschloß, meinen Vorsatz auszuführen. Ich antwortete:

„Als Sie glaubten, das Geld sei im Wasser verschwunden, war es mit Ihrer Liebe aus. Jetzt wissen Sie, daß Mr. Vogel es besitzt, und jonathan behauptet, daß er es wiederbekommen werde; sofort ist die alte Liebe und eine neue, rührende Anhänglichkeit wieder da. Ich kann Sie unterwegs unmöglich so streng halten, wie die männlichen Gefangenen; vielleicht gelingt es Ihnen, sich in einem unbewachten Augenblicke von Ihren Fesseln zu befreien; dann ist es Ihnen leicht, auch jonathan freizumachen; das geschieht natürlich in der Nacht; Sie nehmen Mr. Vogel das Geld ab, und verschwinden beide damit. Was sagen Sie zu dieser meiner Gedankenleserei?“

„Daß – daß sie nichts wert ist.“

Sie antwortete stockend; ich hatte also wohl das Richtige getroffen. Darum fuhr ich fort:

„Wert oder nichts wert, ich werde darnach handeln. Ich gebe Sie frei.“

„Ich will aber nicht frei sein!“

„Schön! Das steigert meinen Verdacht. Ich sollte Sie allerdings mitnehmen, denn Sie haben Strafe verdient; aber ich müßte Sie doppelt beaufsichtigen lassen, und so ist es bequemer für uns, wenn wir uns Ihrer entledigen.“

„Das bringen Sie nicht fertig. Weisen Sie mich immer fort; ich bleibe hier!“

„Mr. Dunker!“

Der lange Dunker kam herbei.

„Mr. Dunker, getraut Ihr Euch, diese Lady, auch wenn sie sich dagegen wehren sollte, zu Euch auf das Pferd zu nehmen?“

„Mit Vergnügen!“ lachte er. „Je mehr sie sich wehrt, desto lieber ist es mir. Werde ein sehr stilles und ruhiges Tabaksbündel aus ihr machen. Soll ich?“

„Ja. Nehmt Euch zwei Nijoras mit, die Euch helfen können. Ihr reitet nach der Quelle des Schattens; dorthin sind die Mogollons und die Yumas gezogen. Sobald Ihr auf solche Rote trefft, übergebt Ihr ihnen die Lady und kehrt dann schnell zurück.“

Well, soll prompt besorgt werden.“

Da kam der Häuptling der Nijoras zu mir. Während ich mit ihm sprach, konnte ich beobachten, wie Judith sich gegen das Fortbringen wehrte. Dunker machte kurzen Prozeß mit ihr; sie wurde gebunden und in eine Schlafdecke gewickelt; die zwei Nijoras, welche ihm dabei halfen, hoben sie zu ihm aufs Pferd und ritten mit ihm davon.

Der Häuptling legte mir die Frage vor, wo wir heute lagern wollten. Ich stimmte nicht dafür, hier auf der Platte zu bleiben, denn man konnte den Mogollons, obgleich sie entwaffnet waren, doch nicht recht trauen. Wenn sie des Nachts in Masse zurückkehrten, war, wenn auch Keine Gefahr, aber doch große Störung zu erwarten. Dazu kam, daß es den Häuptling und alle seine Leute nach ihrem Dorfe zog, und so wurde einstimmig beschlosssen, dorthin aufzubrechen.

Nach Verlauf einer Stunde waren wir marschbereit. Die erbeuteten Waffen und Pferde waren einstweilen verteilt worden; die Gefangenen hatte man auf die Sättel festgebunden; Martha saß in dem Wagen und ich auf dem Bocke; es ging fort. Ein Roter aber blieb zurück, um den langen Dunker und seine beiden Begleiter nachzubringen.

Es wäre überflüssig, die Fahrt, welche sehr beschwerlich war, zu beschreiben. Nach zwei Stunden kamen wir durch das schon wiederholt erwähnte „dunkle Thal“; später wurden wir von Dunker eingeholt – er hatte sich, wie er lachend erklärte, der Lady mit Eleganz entledigt und sie einigen sehr roten Gentlemen anvertraut – und ungefähr eine Stunde vor Abend sahen wir die Bewohner des Lagerdorfes der Nijoras uns unter lautem Jubel entgegenkommen. Sie waren durch einen uns voranreitenden Boten von unserer Ankunft unterrichtet worden.

Es verstand sich ganz von selbst, daß der leichte Sieg heute und dann noch mehrere Tage gefeiert wurde. Winnetou, Emery, Dunker und ich waren hochangesehene Gäste. Wir wurden angestaunt und mit einer Aufmerksamkeit behandelt, als ob wir Abkömmlinge der Götter seien. Wir mußten fünf Tage bleiben, halb gezwungen und halb freiwillig, denn wir hatten uns wirklich einmal tüchtig auszuruhen, und vor uns lag noch ein weiter, weiter Weg.

Die alte Kutsche war so baufällig geworden, daß wir sie zurücklassen mußten. Dafür bauten die Nijoras aus Stangen, gegerbten Häuten und Riemen eine allerliebste Sänfte für Martha.

Am letzten Tage vor unserm Aufbruche ritt ein Trupp Nijoras auf die Antilopenjagd; wir blieben daheim. Als die Jäger zurückkehrten, erhob sich großer Lärm im Dorfe. Wir hatten im Zelte des Häuptlings gesessen und traten hinaus, um die Ursache zu erfahren. Die Jäger hatten einen sonderbaren Fang gemacht; sie brachten keine Antilopen, sondern zwei Gefangene mit, nämlich einen Mogollonindianer und –- eine weiße Squaw, Sennora Judith genannt.

Die Jäger waren eine Stunde von dem Dorfe auf sechs Mogollons und die Jüdin gestoßen; es hatte ein Scharmützel gegeben, bei welchem ein Mogollon und die „Squaw“ ergriffen worden waren; die andern fünf Gegner hatten das Weite gesucht. Am sonderbarsten kam mir der Umstand vor, daß alle sechs Mogollons mit Flinten bewaffnet gewesen waren. Woher hatten sie die?

Wir nahmen erst den Gefangenen vor. Er schwieg beharrlich; es war nichts aus ihm herauszubringen. Dann wurde Judith vorgeführt. Sie trat nicht etwa verlegen auf, sondern sah uns frech in die Gesichter.

„Was haben Sie in der Nähe des Dorfes zu suchen?“ fragte ich sie.

„Das können Sie sich denken!“ lachte sie mich an.

„Natürlich Ihren Jonathan?“

„Ich habe Ihnen gesagt, daß ich zu ihm gehöre!“

„Sogar sehr gehören Sie zum ihm, sehr! Aber Sie wissen, daß wir auf Ihre Gesellschaft verzichtet haben. Wissen Sie, daß Ihre Begleiter ihr Leben auf das Spiel gesetzt haben, indem sie sich so nahe an die Nijoras wagten?“

„Das ist mir gleich.“

„Wo haben die Kerls die Flinten her?“

„Das brauchen Sie nicht zu wissen.“

„Sind Sie etwa gekommen, mich noch einmal zu veranlassen, Sie mitzunehmen?“

„Welche Absicht sollte ich sonst haben?“

„Melton zu befreien.“

„Sie meinen, daß wir uns in dieses große Lager wagen wollten? So dumm waren wir nicht.“

„Des Nachts hätte man es immer wagen können. Ihre eigentliche Absicht aber war eine andere. Sie haben sich auf die Lauer gelegt, um unsere Abreise zu bemerken. Dann wollten Sie uns folgen und uns überfallen. Sie hätten Ihren Jonathan und das Geld bekommen, und nebenbei hätten die MogolIons sich für ihre Niederlage gerächt.“

„Wunderbar, wie klug Sie sind!“ rief sie lachend aus; aber es war ein erzwungenes Lachen; ich hatte wahrscheinlich das Richtige getroffen.

„Um so thörichter sind Sie. Ihr Leben war und ist ein trauriges, und ebenso traurig wird Ihr Ende sein!“

„Was geht das Sie an! Mein Leben und mein Ende ist meine Sache, aber nicht die Ihrige!“

„Doch auch mit die meinige! Wenn Sie sich stets in unsere Wege drängen, besitzen wir gar wohl das Recht, uns um Sie zu bekümmern. Aber wir werden dafür sorgen, daß Sie uns nicht sogleich wieder belästigen können. Der Häuptling der Nijoras, unser Bruder, wird Sie einige Wochen hier gefangen halten; das wird das einzige Ergebnis Ihres jetzigen, unweiblichen Abenteuers sein.“

Man sah deutlich, daß sie erschrak; sie nahm sich aber zusammen und sagte, jetzt in bittendem Tone:

„Sie fügen mir damit ein großes Unrecht zu. Ich will Melton nicht befreien, sondern bin nur in der Absicht gekommen, Sie zu bitten, mich mitzunehmen.“

„Bitten? Mit sechs Begleitern? Und in dieser Weise bewaffnet? Pah! das machen Sie einem andern weiß, aber mir doch nicht. Sie bleiben einige Wochen hier gefangen. Was dann aus Ihnen wird, das mag allerdings Ihre Sache und nicht die unserige sein. Fort mit Ihnen, hinaus! Wir mögen Sie nicht mehr sehen.“

Sie ging; aber unter dem Eingange drehte sie sich noch einmal um und fragte:

„Melton soll also wirklich fortgeschafft und bestraft werden?“

„Ja.“

„So reisen Sie! Aber Sie werden bald etwas erleben, wenn ich nun auch nicht dabei sein kann!“

Aus dieser Drohung war mit größter Deutlichkeit zu ersehen, daß wir unterwegs hatten überfallen werden sollen. Noch waren fünf Mogollons da; wir mußten also vorsichtig sein. Es stand zu erwarten, daß sie sich heute abend näherschleichen würden, um das Schicksal ihrer Anführerin und ihres Kameraden zu erfahren. Darum zogen wir, sobald es dunkel geworden war, einen Ring von Lauschern, welche sich in das hohe Gras legen und dort unbeweglich halten mußten, um das Dorf. Das hatte Erfolg. Vier Mogollons wurden erwischt; der fünfte entkam.

Nun konnten wir am andern Morgen unsere Reise ohne Sorge antreten. Wir wurden von einer Schar Nijoras mehrere Stunden weit begleitet und waren von da unsere eigenen Herren. Die Sänfte Marthas wurde von Pferden getragen; die Nijoras hatten dafür gesorgt, daß wir alle gut beritten waren, und so legten wir ganz stattliche Tagesmärsche zurück. Wir vermieden die Gegend des Schlangenberges und den Flujo blanco mit dem Pueblo, welches wir auf dem Herwege erobert hatten. Von da an aber lenkten wir genau dahin ein, woher wir gekommen waren.

Hatte jonathan Melton Hoffnung gehabt, befreit zu werden, so schien sie von Tag zu Tag mehr zu schwinden. Wir sorgten dafür, daß er kein Wort mit seinem Vater sprechen konnte. Dieser befand sich in einem eigenartigen Zustande. Er murmelte immer unverständliches Zeug vor sich hin, fuhr des Nachts angstheulend aus dem Schlafe auf und trieb allerhand Allotria, die uns um seinen Verstand bange machten.

So kamen wir jenseits des kleinen Colorado und vor Acoma gegen Abend in die Gegend, wo der alte Melton seinen Bruder ermordet hatte. Ohne daß etwas darüber gesprochen oder gar bestimmt worden war, hielten wir an der Stelle an, wo wir den Toten mit Steinen bedeckt hatten. Wir wollten die Nacht da lagern. Noch lag das Gerippe des gestürzten Pferdes da; die Geier hatten es rein abgenagt. Es war ein schauerlicher Ort, der Ort des Brudermordes. Hätte man uns gefragt, warum wir gerade ihn für die Nacht gewählt hatten, es wäre wohl keiner von uns imstande gewesen, eine befriedigende Antwort zu geben.

Wir aßen, der alte Melton aber nicht. Er lag mit emporgezogenen Knieen an der Erde und stöhnte vor sich hin. Plötzlich, der Mond war eben aufgegangen, bat er mich:

„Sir, bindet mir die Hände vom Rücken nach vorn!“

„Warum?“ fragte ich.

„Damit ich sie falten kann. Ich muß beten!“

Welch eine unerwartete Bitte! Durfte ich die Erfüllung verweigern? Gewiß nicht. Ich gab also dem langen Dunker die Genehmigung, weil dieser neben ihm saß. Er band die Hände hinten los. Noch ehe er sie vorn wieder zusammen gebunden hatte, fragte mich der Alte:

„Wo liegt mein Bruder, Sir?“

„Gleich neben Euch, unter dem Steinhaufen.“

„So begrabt mich bei ihm!“

Dunker stieß einen Schrei aus. Wir sahen, daß er Melton bei den Händen faßte.

„Was giebt’s denn, was ist los?“ fragte ich.

„Er hat mir mein Messer aus dem Gürtel gezogen,“ antwortete Dunker.

„So nehmt es ihm rasch!“

„Es geht nicht; er hält zu fest! Er ersticht sich – er ersticht sich – es ist zu spät!“

Ich sprang hin, riß Dunker weg und bückte mich auf den Alten nieder. Ein Röcheln drang aus seinem offenen Munde. Das Messer mit beiden Händen fest am Griffe haltend, hatte er sich die lange Klinge bis an das Heft ins Herz gestoßen; noch höchstens einige Sekunden, dann war er tot.

Was soll ich weiter sagen! Solche Augenblicke muß man erleben, aber darüber sprechen, darüber schreiben kann man nicht. Das ist das Gericht Gottes, welches schon hier auf Erden beginnt, und sich bis jenseits des jüngsten Tages in alle Ewigkeit erstreckt! Auf derselben Stelle auch ganz derselbe Tod! Erstochen! Ich hatte ihm gesagt, er werde sterben wie Ischariot – von seiner eigenen Hand. Wie schnell war das in Erfüllung gegangen!

Wir waren so ergriffen, daß wir zunächst nur stumm beten konnten. Und Jonathan, sein Sohn? Der lag da, sah in den Mond und sagte kein Wort, gab keinen Laut von sich.

„Mr. Melton,“ rief ich ihn nach einiger Zeit an, „habt ihr gehört, was geschehen ist?“

„Ja,“ antwortete er ruhig.

„Euer Vater ist tot!“

Well, er hat sich erstochen.“

„Reißt Euch das denn nicht das Herz aus der Brust?“

„Warum? Dem Alten ist wohl. Der Tod hier war das beste für ihn; er hätte sonst doch baumeln müssen!“

„Mensch, Mensch, so redet Ihr von Euerm Vater?“

„Meint Ihr, daß er anders über mich gesprochen hätte?“

Ich wußte zwar, daß er recht hatte, antwortete aber doch:

„Gewiß anders, ganz anders!“

„Nein, Sir. Er hätte mich ebenso wie jeden andern verraten und geopfert, wenn es für ihn von entsprechendem Nutzen gewesen wäre. Scharrt ihn zu seinem Bruder ein, den er umgebracht hat!“

Diese Gefühllosigkeit und Herzenshärte brachte mich noch weit mehr zum Grauen als der Selbstmord an sich. Kann es wirklich solche Menschen geben? Ja, es giebt welche! Sind sie aber dann noch Menschen zu nennen? Allerdings, und gerade weil sie Menschen sind, darf man bis zum letzten Augenblicke nicht an der Möglichkeit der Besserung zweifeln. Gott ist die Liebe, die Gnade, die Langmut und Barmherzigkeit! –

Wir begruben den Toten, ohne ihm das Messer aus der Brust zu ziehen, da, wo er es gewollt hatte, bei seinem Bruder. Hierauf ritten wir eine große Strecke weiter, um erst dann anzuhalten und wieder zu lagern. Ich glaube, keiner von uns, außer Jonathan und Murphy, hat in dieser Nacht geschlafen.

Am zweiten Tage darauf kamen wir in Albuquerque an, wo wir unsere Pferde ausruhen ließen. Hier gaben wir unsere Erlebnisse und Aussagen zu den Akten und baten uns zur bessern Beaufsichtigung Meltons zwei Polizisten aus. Für Martha wurde ein Wagen genommen; sodann ging es weiter, auf der Canadianstraße bis Fort Bascom und von da aus auf der Red Riverstraße nach dem Mississippi und bis New Orleans.

Wie staunten die Herren Detektives dort, als wir den Missethäter brachten, aus dem verborgensten Winkel des wilden Westens geholt! Und welch ein Aufsehen gab es, als nach und nach die Umstände bekannt wurden, unter denen wir ihn verfolgt und endlich ergriffen hatten. Winnetou, der Fürst der Fährtenfinder, war der Held des Tages; er ließ sich aber nicht sehen, und wir andern blieben ebenso versteckt. Leider mußten wir lange, lange bleiben, um als Zeugen vernommen zu werden.

Es wurde bekannt, in welchem Hause Martha mit ihrem Bruder wohnte. Es sprach sich auch herum, daß sie eine sehr schöne Lady und eine excellente Sängerin sei. Von da an gingen bei ihr täglich wenigstens ein halbes Dutzend Heiratsanträge ein; er aber bekam eine angsterregende Überschwemmung von allen möglichen Projekten, durch deren Ausführung er das ihm jedenfalls zuzusprechende Vermögen in kürzester Zeit verdrei-, verzehn- und gar verhundertfachen könne.

Und es wurde der Familie Vogel zugesprochen. Murphy war durch meine Drohungen eingeschüchtert worden und bemühte sich, den Schaden, welchen er angerichtet hatte, möglichst auszugleichen. Davon aber, daß er an meinem Lasso gehangen hatte, um antworten zu lernen, erzählte er keinem Menschen etwas. Später aber habe ich einen von ihm geschriebenen Bericht über seine damaligen Erlebnisse gelesen, welcher, wenn ich mich nicht ganz irre, im Crescent erschien. Zu meiner großen Verwunderung und nachhaltigen Besserung las ich da schwarz auf weiß, daß er alles ganz allein gewagt, gethan, erreicht und in das richtige Geleis gebracht hatte, während Winnetou, Emery, Dunker und ich nur ganz unbedeutende, nebensächliche Personen gewesen waren. So kann man sich über seine eigenen, scheinbar gut im Gedächtnisse aufbewahrten Erlebnisse im erstaunenswertesten Irrtum befinden! Ich habe mich seit jener Zeit stets gehütet, etwas zu denken, zu sagen oder gar zu thun, wenn dabei drei oder fünf Meilen in der Runde ein amerikanischer Advokat anzutreffen war. Meine Reiseerlebnisse sind in hundert amerikanischen Zeitungen und in tausend amerikanischen Büchern ab- und nachgedruckt worden, ohne daß man mich darum fragte oder, was ein vernünftiger Mensch und Deutscher übrigens gar nicht verlangen kann, mir in Gnaden ein Exemplar davon gab; die amerikanischen Verleger sind steinreich geworden; mein einziges Honorar aber hat in einem bohnenstrohgroben Briefe bestanden, den der gebildetste dieser Gentlemen mir schrieb; die andern hielten es für geboten, mir gar nicht zu antworten. Wenn dazu dann noch so ein Mr. Fred Murphy kommt und, anstatt mich nur nachzudrucken, meine Erlebnisse für die seinigen erklärt, so kommt man, wenn man halbwegs ein gutes Gemüt besitzt und seinem Nebenmenschen etwas gönnt, leicht auf den Gedanken, fernerhin hübsch daheim zu bleiben, um auch einmal nachzudrucken, Mr. Murphy aber reisen zu lassen.

Und nun der Schluß?!

Der lange Dunker steigt noch immer im wilden Westen herum. Von Emery wird der liebe Leser wohl bald wieder etwas hören. Krüger-Bei ist gestorben, wie kürzlich auch die Zeitungen meldeten, leider aber nicht in seiner unübertroffenen deutschen Ausdrucksweise. Jonathan Melton, der falsche Small Hunter, wurde zu vieljähriger Einzelhaft verurteilt, ist aber bald in seiner engen Zelle zu Grunde gegangen, hoffentlich nicht auch in Beziehung auf seine Seele. Judith hat nie wieder von sich hören lassen.

Und die Familie Vogel?

Bei dieser Frage geht mir, ich mag wollen oder nicht, das Herz auf. Nicht in großen Welt-, sondern in Provinzialblättern kleinen und kleinsten Formates liest man zuweilen eine Annonce ungefähr folgenden Wortlautes: „Begabte Kinder armer, braver Eltern werden unentgeltlich in Pension genommen und gratis ausgebildet. Näheres wolle man usw.“ Auf die darauf erfolgende Meldung erscheint dann gewöhnlich ein sehr feiner und lieb dreinschauender Herr, um das Kind zu prüfen oder prüfen zu lassen. Besteht es die Prüfung, so nimmt er es mit in ein großes, sehr freundlich eingerichtetes Haus, an dessen Thor auf einem kleinen Messingschilde der einfache Name „Franz Vogel“ angebracht ist. Das Kind des darbenden Arbeiters, der hungernden Witwe, welches dieses Haus betritt, verläßt es später nur mit Thränen, innerlich und äußerlich aber wohl ausgerüstet für die Kämpfe, welche es im Leben zu bestehen hat. Wird dieser wohlthätige Herr gefragt, warum er seine Freude gerade daran finde, Kinder auszubilden, welche ohne ihn nichts sein und nichts werden könnten, so pflegt er nur still vor sich hinzulächeln. Hat ihn die Frage aber in einer besonders mitteilsamen Stunde getroffen, so antwortet er wohl:

„Ich selbst bin ein solcher armer Junge gewesen; ich fand zwar keine Annonce, welche mir emporhalf, aber ich wurde gefunden, und es ist nun mein größtes Glück, wiederzufinden.“

Und droben in einem Gebirgsdörfchen ragt ein hohes, mit einem Türmchen gekröntes Gebäude empor, welches von einem wohlgepflegten Garten umgeben ist. Als ich es zum erstenmal erblickte, war ich von der Besitzerin eingeladen worden, mir dieses Haus, seine Einrichtung und seine Bewohner anzusehen. Ich wußte nichts von demselben, denn ich war lange in der Fremde gewesen, und die nachgesandten Briefen hatten mich nicht getroffen.

Wie staunte ich, als ich das prächtige Gebäude sah! Über dem hohen, breiten Thore war in großen, goldenen Lettern zu lesen: „Heimat für Verlassene.“ Im Flur klingelte ich. Ein altes, reinlich gekleidetes Mütterchen erschien, fragte, ob ich Frau Werner sprechen wolle, und bat um meinen Namen. Als ich denselben nannte, schlug sie die Hände zusammen und rief:

„Da sind Sie doch wohl gar der gute Herr Shatterhand, von dem uns die liebe Frau Werner so oft vorliest und auch viel erzählt! O, Sie müssen unsere Heimat kennen lernen; ich bin selbst auch so eine Verlassene gewesen!“

Sie führte mich in ein einfach eingerichtetes Zimmer, in welchem eine ebenso einfach gekleidete Dame stand. Das war sie, die frühere Sängerin, jetzige Millionärin und zugleich Engel der Witwen und Waisen und aller Art von Verlassenen.

„Endlich, endlich kommen Sie einmal!“ sagte sie, unter schnell ausbrechenden Freudenthränen lächelnd und mir die beiden Hände zum Gruße entgegenstreckend. „Vor allen Ihnen wollte und mußte ich einmal mein selbstgeschaffenes, kleines Reich zeigen!“

„Ich bin mit Freuden gekommen, denn ich werde den Erlöser sehen,“ antwortete ich gerührt.

„Den Erlöser? – Wieso!“

„Sagt nicht Christus: Wer jemand aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf! Hier ist eine heilige Stätte, Frau Werner. Ich möchte meine Schuhe ausziehen wie Moses, als er im Feuer den Herrn erblickte. Sie haben nach langem Irren die rechte Heimat gefunden und teilen dieselbe mit den Verlassenen. Ich habe Sie darob lieb, Martha! Bitte, zeigen Sie mir Ihr Haus!“

Sie that es. Die Barmherzigkeit führte mich, die Barmherzigkeit, welche die tragende und pflegende Schwester der Liebe ist. Wie sauber, wie bequem waren die Wohnungen; wie behaglich lächelten mich die vielen alten Mütterchen an; wie tollten sich die Kinder unten im Garten, und wie ergebungsfroh blickten die Kranken aus ihren weißen Kissen zu mir auf! Und wie richteten sich alle nach dem leisesten Winke der Herrin, welche zugleich die freudigste Dienerin aller war!

„Heimat für Verlassene!“ Welch ein schönes und beruhigendes Wort! Lieber Leser, auch ich werde und du wirst einst zu den Verlassenen gehören, wenn alles, was wir unser nennen, vor unserm sterbenden Auge verschwindet; dann öffnet sich uns jene Heimat, von welcher der Erlöser sagt: „Im Hause meines Vaters sind viele Wohnungen, und ich gehe hin, sie für euch zu bereiten!“ –-

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