SECHSTES KAPITEL

Vergebliche Jagd

Es war mir über allen Zweifel erhaben, daß Thomas Melton den Nachlaß Hunters irgendwo versteckt hatte, und ich nahm mir vor, den betreffenden Ort zu suchen. Der Scharfsinn Winnetous und Emerys mußten mir dabei von großem Nutzen sein. Vorher aber galt es, das erwähnte Dokument über den Befund der Leiche Hunters aufzusetzen. Das dazu nötige Papier war im Gepäck Krüger-Beis vorhanden. Das Schriftstück wurde in arabischer und englischer Sprache verfaßt und von uns unterschrieben. Krüger-Bei und der Scheik untersiegelten es außerdem noch mit ihrem Chawatim. Ich glaubte, daß es drüben in den Vereinigten Staaten die gewünschte Geltung finden werde.

Eigentlich hatten wir nun die beabsichtigte Nachforschung beginnen wollen, doch ließ uns der Scheik jetzt noch nicht dazu kommen, denn er sagte:

„Ich habe meinen Vertrag erfüllt, und werde auch später Wort halten; nun aber bitte ich, daß auch ihr das eure thut!“

„Was meinst du?“ fragte ich.

„Uns die Uled Ayun übergeben.“

„Du sollst sie haben, doch nur unter der Bedingung, daß sie ihr Leben erkaufen dürfen.“

„Das sollen sie. Bringt sie herbei! Ich werde die Versammlung der Ältesten berufen, in welcher den Ayun unsere Forderungen bekannt gegeben werden sollen.“

Ich wußte, daß uns da ein schweres Stück Arbeit bevorstand, und es wurde noch weit schwerer, als ich gedacht hatte. Die Ayun fanden die Forderung von hundert Kamelstuten für ein Leben viel, viel zu hoch; sie waren überzeugt, daß wir weit herabgehen würden, und gingen erst dann auf unser Verlangen ein, als sie erkannten, daß es uns wirklich Ernst mit demselben sei und der Scheik ihnen erklärte, daß sie noch bis Mitternacht alle sterben müßten, falls sie sich länger weigern sollten.

Damit keine Zeit verloren würde, wurden zwei Uled Ayar als Boten zu den Uled Ayun geschickt, um diesen mitzuteilen, was geschehen und dann beschlossen worden war. Die beiden Beduinen liefen dabei keine Gefahr. Boten, welche kommen, um die Diyeh zu fordern, gelten bei allen diesen Stämmen für unverletzlich.

Für Elatheh hatte ich wirklich auch hundert Stuten ausgewirkt. Krüger-Bei versprach, mit seinen Truppen dafür einzustehen, daß alles bezahlt werde. Die Frau konnte also überzeugt sein, daß sie die hundert Stuten oder deren Wert gewiß erhalten werde, und darum kam sie mit ihrem „Herrn und Gebieter“ zu mir, um sich für die Rettung ihres Lebens und für den ihnen bevorstehenden Reichtum zu bedanken.

Der Mann war allerdings arm. Er besaß nur das Kleid, welches er anhatte, und dieses bestand aus einem ärmellosen Hemde und einem Kopftuche. Dennoch versicherte er mir im Tone eines mächtigen Fürsten:

„Effendi, du hast mein Weib und Kind vom Tode errettet, und nur durch deine Güte wird Reichtum in mein Zelt einziehen, welches ich jetzt freilich noch nicht besitze. Mein Herz ist voller Dank für dich. Du stehst unter meinem ganz besondern Schutze, so lange du dich hier bei uns befindest!“

Wir waren jetzt Freunde der Ayars und hatten gegen vierhundert Reiter bei uns; es war also nicht wohl zu ersehen, was mir der Schutz des armen Teufels nützen sollte; aber es ist kein Geschöpf Gottes, am allerwenigsten aber kein Mensch, so schwach, gering und klein, daß man seine Liebe von sich weisen darf.

Nun hätten wir wohl Zeit gehabt, nach der Hinterlassenschaft Small Hunters zu suchen, aber es war für heute zu spät dazu. Die Verhandlung mit den vierzehn gefangenen Ayuns hatte so lange gedauert, daß sich jetzt schon die Zeit der Dämmerung nahte. Wir mußten also bis morgen warten.

Das that nichts, denn wir hatten Zeit, und die beiden Meltons waren uns sicher. Bei dem Alten hielten stets zwei Kavalleristen Wache, welche von zwei zu zwei Stunden abgelöst wurden, und der Junge befand sich bei den gefangenen Ayuns, welche von den Ayars bewacht wurden.

Was Thomas Melton betraf, so war sein Schicksal vorauszusehen. Er wurde mit nach Tunis genommen und dort als Verräter hingerichtet. Welcher Art da sein Tod sein werde, das hing von der Bestimmung des Pascha ab. Das Schicksal seines Sohnes war weniger fest bestimmt, doch da er im Komplotte mit seinem Vater gewesen und also als dessen Mitschuldiger zu betrachten war, so stand zu erwarten, daß seine Bahn auch nicht mit Rosen bestreut sein werde.

Ich bedauerte natürlich auf das herzlichste, daß es mir nicht gelungen war, Small Hunter am Leben zu erhalten; aber die beiden Meltons waren nun unschädlich gemacht, und ich durfte überzeugt sein, daß die Angehörigen der Familie Vogel nun sicher zu ihrem Erbe kommen würden. Wenn ich an die Freude der Leute dachte, hielt ich alle Mühe, welche die Angelegenheit mir verursacht hatte, für gering.

Während wir im Verlaufe des Tages in der beschriebenen Weise thätig gewesen waren, hatten die Krieger der Ayars und die Soldaten Vorbereitungen zu dem Fest- und Friedensmahle getroffen, welches am Abende abgehalten werden sollte. Denn daß es ohne ein solches nicht abgehen konnte, das verstand sich nach den dortigen Gebräuchen ganz von selbst.

Unsere Soldaten hatten einen bedeutenden Vorrat von trockenen Lebensmitteln bei sich. Die Ayars hatten südlich von dem Engpasse eine kleine, für ihre Kriegerschar bestimmte Schlachtherde weiden, welche im Laufe des Tages herbeigetrieben worden war. Es gab also Fleisch, Mehl, Datteln und auch anderes mehr als genug. Wasser war auch da, denn es gab, wie ich noch nicht bemerkt habe, in der Schlucht einen Quell, welcher die Veranlassung gewesen war, daß die Ayars vor unserer Ankunft dort gelagert hatten. Licht wurde zu dem Feste nicht gebraucht, denn der Mond ging bald auf und verbreitete einen so hellen Schein, daß künstliche Beleuchtung ganz unnötig war.

Die Beschreibung des Mahles kann ich füglich übergehen. Der Beduine ist äußerst mäßig, kann aber bei solchen Veranlassungen eine ganz erstaunliche Menge von Lebensmitteln zu sich nehmen. Gespart wurde nicht, denn es wußte jeder, daß die Uled Ayun bald ganze Herden bringen würden.

Das Leben, welches in den beiden Lagern herrschte, ermüdete erst nach Mitternacht. Die mehr als gesättigten Esser legten sich in Gruppen zu einander schlafen. Bald herrschte dann Ruhe. Ich hatte ein Zelt angewiesen bekommen, welches ich mit Winnetou teilte. Bevor ich mich niederlegte, machte ich einen Rundgang, um nach den beiden Meltons zu sehen. Sie befanden sich in der Obhut ihrer Wächter, und es schien keine Veranlassung zur Sorge da zu sein. Als ich dann zum Zelte kam, saß vor demselben ein Beduine, in welchem ich den Mann von Elatheh erkannte.

„Was thust du hier?“ fragte ich.

„Wachen, Effendi,“ antwortete er.

„Das ist nicht nötig. Lege dich getrost auch nieder!“

„Effendi, wenn ich am Tage schlafe, kann ich des Nachts wachen. Du stehst ja unter meinem Schutze.“

„Ich bedarf desselben aber nicht!“

„Weißt du das? Nur Allah kann es wissen! Ich habe dir soviel zu verdanken und bin so arm, daß ich dir nichts dafür geben kann. Erfreue mich also durch die Erlaubnis, hier bleiben zu dürfen. Meine Wachsamkeit ist das einzige, was ich dir bringen kann!“

„Nun wohl! So will ich dich nicht dadurch betrüben, daß ich dich fortschicke. Allah sei mit dir, mein Hüter und mein Freund!“

Ich gab ihm die Hand und trat dann in das Zelt. Daß ich ihn Freund genannt hatte, war ein Vorzug, der ihn jedenfalls stolz und glücklich machte.

Winnetou war auch ermüdet, da er in voriger Nacht ebensowenig geschlafen hatte, wie ich; wir schliefen bald ein. Ungefähr gegen drei Uhr nach Mitternacht, also nach gar nicht langer Zeit, wurde ich geweckt durch einen Ruf, welcher draußen erscholl:

„Werda! Zurück!“

Ich horchte. Auch Winnetou richtete sich auf.

„Zurück!“ rief es draußen noch einmaL

Wir gingen hinaus. Mein Freund und Hüter saß nicht mehr am Eingange des Zeltes; er war aufgestanden und stand lauschend an der Seite desselben. Der Mond war untergegangen.

„Was gab es?“ fragte ich.

„Ich saß an der Thür und wachte,“ antwortete der Mann. „Da sah ich einen Menschen gekrochen kommen und rief ihn an. Er verschwand darauf schnell. Ich erhob mich von der Erde und ging um das Zelt. Da sah ich einen zweiten davonspringen und rief ihm nach.“

„Vielleicht sind’s zwei Tiere gewesen?“

„Was für welche sollten es sein! Es waren Menschen, die es auf dich abgesehen hatten!“

„Das glaube ich nicht. Wir befinden uns ja unter lauter Freunden!“

„Weißt du das? Allah allein kann es wissen! Doch geh hinein, und leg dich getrost wieder schlafen; ich wache für dich!“

Ich ging hinein, vollständig überzeugt, daß der Mann sich getäuscht hatte. Winnetou war derselben Ansicht. Wie gut aber wäre es gewesen, wenn wir dem Beduinen geglaubt hätten!

Wir schliefen bald wieder ein, wurden aber nach vielleicht einer Stunde durch einen Heidenlärm, welcher draußen erscholl, wieder aufgeweckt. Wir griffen nach unsern Waffen und eilten hinaus. Eben stieg der erste Schein des Tages im Osten auf; man konnte leidlich sehen. Der erste Mensch, auf welchen mein Auge fiel, war Krüger-Bei, welcher nach unserm Zelte gelaufen kam. Er rief mir atemlos zu, und zwar vor Aufregung in deutscher Sprache:

„Die Gefangenen sind fort mit drei Kamelen!“

„Welche denn? Wir haben verschiedene Gefangene, die beiden Meltons und die vierzehn Ayuns. Welche meinen Sie?“

„Die Ayuns nicht.“

„Also die Meltons? Alle Wetter! Das wäre ein Streich! Dann müssen wir sofort nach! Aber da laufen Ihre Leute nach allen Richtungen hin und her, und verderben mir die Spuren. Geben Sie den Befehl, daß jeder sofort an dem Platze zu bleiben hat, an welchem er sich jetzt befindet!“

Er rief mit einer wahren Donnerstimme diese Weisung über die beiden Lager hin, und sofort trat Ruhe ein. Der Scheik und Emery kamen auch herbei, und nun berichtete Krüger-Bei:

„Als jetzt vor zehn Minuten zwei neue Wächter zu dem Kolarasi Melton kamen, um die früheren abzulösen, war er fort. Seine Fesseln lagen da und daneben der eine Wächter mit dem Messer im Herzen.“

„Liegt der Tote noch dort?“ fragte ich.

„Ja.“

„Kommt hin!“

Ja, da lag er, der arme Teufel! Die Klinge war ihm bis an das Herz gestoßen worden. Er hatte jedenfalls nicht ein Wort sagen, nicht einen Ruf ausstoßen können. Das Sonderbarste aber war, daß man erst nach dieser Entdeckung bemerkt hatte, daß auch der junge Melton fehle. Dazu waren die drei besten Eilkamele fort!

Winnetou hatte kein Wort von denen, die wir gesprochen hatten, verstanden. Er sah mich fragend an, und ich erklärte ihm das neue, nicht eben freudige Ereignis. Er senkte den Kopf, überlegte eine kleine Weile und sagte dann:

„Ein Wächter ist tot. Wo ist aber der zweite?“

„Auch fort!“ antwortete Krüger-Bei, dem ich die Frage verdolmetschte.

„Dann war der andere Wächter im Einverständnisse mit Melton,“ erklärte der Apatsche. „Und darum hat Melton zu dir gesagt, er sei nicht so machtlos, wie du anzunehmen scheinest.“

„Ganz richtig!“ stimmte ich bei. „Und wir beide sind durch die Aufmerksamkeit unsers Hüters einer großen Gefahr entgangen. Die Meltons haben sich nach unserm Zelte geschlichen, um sich zu rächen, sind aber von diesem Manne vertrieben worden.“

„Wir müssen ihnen nach!“

„Ja, und zwar ohne Säumen. Leider haben sie die besten Kamele mitgenommen. Wir müssen uns mit den nun besten begnügen.“

Ich teilte dem Herrn der Heerscharen unsern Entschluß mit und bat ihn, drei schnelle Tiere aussuchen und für mehrere Tage mit Wasser und Proviant versehen zu lassen.

„Nur drei? Warum nicht mehr?“

„Weil nur wir drei reiten werden, Emery, Winnetou und ich.“

„Ich nicht auch?“

„Nein. Die Pflicht verbietet es dir. Du mußt bei deinen Truppen bleiben.“

Wenn wir deutsch sprachen, nannten wir uns Sie; redeten wir aber arabisch, so brauchten wir das in dieser Sprache geläufigere Du.

„So will ich euch einige Offiziere und tüchtige Soldaten mitgeben?“ schlug er vor.

„Auch das muß ich ablehnen. Schnelligkeit ist hier die Hauptsache. Viele Begleiter würden uns nur hinderlich sein. Wenn wir drei die besten Kamele bekommen, würden die andern, welche keine guten haben, bald hinter uns zurückbleiben; sie können uns also auf keinen Fall etwas nützen. Es bleibt dabei, wir drei reiten allein. Befiehl, daß man sich beeile!“

Das that er denn auch. Winnetou war schon über das Lager hinausgegangen, um nach den Spuren zu suchen. Er kam zurück und meldete:

„Sie sind nordwärts geritten.“

„Also nach Tunis,“ meinte Krüger-Bei. „Das war vorauszusehen.“

„Nein,“ antwortete ich. „Ich möchte wetten, daß sie nicht dorthin reiten, weil das für den Kolarasi zu gefährlich ist.

Man kennt ihn dort. Findet er nicht sofort ein Schiff, so muß er warten. Kommen dann inzwischen seine Verfolger dort an, so befindet er sich in der größten Gefahr, ergriffen zu werden.“

„Aber du weißt doch, daß er nach dort gewollt hat!“

„Gewollt, ja, aber jetzt wohl nicht mehr. Damals, als er seinen Sohn kommen ließ, lagen die Verhältnisse anders. Jetzt weiß er, daß Emery, Winnetou und Old Shatterhand sich nicht nur hier befinden, sondern sich sofort an seine Spur hängen werden. Wir würden ihm nach Tunis folgen; das weiß er ganz bestimmt. Und findet er nicht augenblicklich dort ein Schiff, so kann er überzeugt sein, daß wir ihn unbedingt erwischen werden. 0 nein, er geht nicht nach Tunis, sondern nach irgend einem Hafen des Golfes von Hammamet. Das ist derjenige Teil des Meeres, welcher von hier aus am schnellsten zu erreichen ist.“

„Aber Winnetou hat doch gesagt, daß sie nach Norden geritten sind! Da liegt ja Tunis!“

„Das macht mich nicht irre. Melton hat längere Zeit unter Prairiejägern und Westmännern gelebt; er kennt die Kniffe derselben, wenn er auch nicht Meister darin ist. Er will uns irre führen und ist darum zunächst nordwärts geritten, damit wir ihm dorthin folgen sollen. Dann wartet er, bis er einen Boden erreicht, der so hart ist, daß wir die Fährte seiner Kamele nicht erkennen können, und sobald dies geschieht, wendet er sich nach Osten.“

„Aber in Tunis fände er Geld. Hier am Golfe von Hammamet giebt es keinen Menschen, von welchem er welches bekommen kann.“

„Er braucht keines. Erstens hat sein Sohn welches. Da ich diese Wendung der Dinge nicht vorhersehen konnte, habe ich es ihm nicht abgenommen. Und zweitens hatte Small Hunter ganz gewiß eine bedeutende Summe bei sich.“

„Ob das aber Melton hat? Wir fanden doch nichts bei ihm!“

„Er hatte es versteckt und ist jedenfalls nicht von hier fort, ohne es sich vorher zu holen. Jetzt aber sehe ich, daß die drei Kamele gesattelt und bepackt sind. Wir können aufbrechen.“

„Wann kommt ihr wieder?“

„Wenn wir die beiden ergriffen haben.“

„Sei deiner Sache nicht zu sicher! Bedenke, daß sie schnellere Tiere haben als ihr und schon jetzt im Vorsprunge vor euch sind.“

„Das ist richtig. Auch müssen wir viel Zeit auf ihre Spur verwenden, während sie ohne allen Aufenthalt immer forteilen können, aber wir werden sie ergreifen, darauf kannst du dich verlassen. Fassen wir sie nicht hier, so fallen sie uns desto bestimmter drüben in Amerika in die Hände.“

„Maschallah! Soweit wollt ihr ihnen nach?“

„Soweit, bis wir sie haben.“

„Und wenn ihr sie nicht hier fangt, so kommt ihr doch nach Tunis, bevor ihr unser Land verlaßt?“

„Das läßt sich nicht vorher sagen. Deine Kamele bekommst du auf alle Fälle wieder; dafür werde ich sorgen.“

„Das ist das Allerwenigste! Die Hauptsache ist, daß die beiden Halunken uns nicht entkommen. Kennst du den Weg hinüber nach dem Golfe von Hammamet?“

„Von hier aus nicht; aber wir werden ihn schon finden, denn wir haben einen vortrefflichen Wegweiser in der Spur derer, die wir verfolgen; diese bringt uns sicher dorthin, wo sie sich befinden.“

„Dennoch will ich dir einige Andeutungen geben. Die gerade Linie von hier nach Hammamet führt nach dem Wadi Budawas, den Ruinen von el Khima und über den Dschebel Ussala nach der Gegend am Meere. Die Beduinen, welche du da antreffen wirst, sind die Meidscheri, die Ussala und die Uled Said, lauter friedliche Leute, die euch kein Leid thun werden, wenn ihr sagt, daß ihr meine Freunde seid.“

Bei der Aufzählung dieser Stämme hatte er einen, gerade den wichtigsten, vergessen, und diese Unterlassung sollte uns verhängnisvoll werden. Ich meine die uns feindlichen Uled Ayun, von denen wir eine so hohe Diyeh verlangt hatten. Sie weideten ihre Herden auch oft bis nach dem Wadi Budawas herauf, wo sie Nachbarn der Meidscheri waren. Daran hatte der Herr der Heerscharen nicht gedacht, und ich nahm also gleich von vornherein an, daß wir mit diesen Leuten nicht zusammentreffen würden.

Die Verhältnisse gestatteten uns nicht, viel Zeit auf den Abschied zu verwenden. Nur einige Minuten nachdem die Kamele bereitstanden, ritten wir von dannen. Der Herr der Heerscharen konnte sich doch nicht so schnell trennen; er warf sich auf sein Pferd, ritt uns nach und dann noch eine halbe Stunde mit uns weiter in das Wart hinein. Er wollte noch allerhand nützliche Bemerkungen machen und gute Regeln geben; aber wir konnten nicht so, wie er wollte, auf ihn achten, sondern mußten alle unsere Aufmerksamkeit auf die Spur lenken, der wir folgten und die hier zwischen den Felsblöcken nur für das Auge eines Westmannes zu erkennen war; ein Beduine hätte sie wohl nicht gefunden. Darum hielt er endlich an, reichte mir die Hand zu meinem hohen Sitze herauf und nahm Abschied.

Als wir das Warr hinter uns hatten und die Ebene wieder offen vor uns lag, erblickten wir zu unserm Erstaunen in einiger Entfernung von uns einen Menschen, welcher ratlos in der weiten Einsamkeit zu stehen schien. Er sah uns auch und wendete sich, als ob er davonlaufen wolle, blieb aber bald wieder stehen, da er einsah, daß wir als Reiter ihn, den Fußgänger, sehr schnell einholen würden. Ein Fußgänger hier in der Wüste war jedenfalls eine seltene Erscheinung.

Die Erklärung sollte uns bald werden, denn als wir näher kamen, sahen wir an seiner Uniform, daß es einer unserer Kavalleristen war.

„Der entflohene Posten!“ meinte Emery.

„Ohne Zweifel!“ nickte ich.

„Warum der aber hier steht!“

„Er ist heimtückisch zurückgelassen worden. Melton muß man kennen! Um befreit zu werden, hat er dem Menschen alles mögliche versprochen, und nun es gelungen ist, läßt er ihn hier sitzen, ohne ein einziges seiner Worte zu halten.“

„Dann wehe dem Soldaten! Was wird er thun, was anfangen?“

„Werden sehen!“

„Desertion und Befreiung Gefangener. Wird unbedingt erschossen! Willst du ihn retten?“

„Das kommt auf sein Verhalten an.“

„Wird dir aber schwer werden!“

„Nein. Krüger-Bei thut mir sicher auch einen solchen Gefallen.“

Jetzt erreichten wir den Mann. Er hatte uns stehend erwartet, jetzt aber sank er in die Kniee und rief, indem er die Hände flehend erhob:

„Gnade, Effendi, Gnade! Ich bin bestraft genug!“

Er wendete sich an mich, weil er gesehen hatte, daß ich von uns dreien derjenige war, mit welchem der Herr der Heerscharen am intimsten verkehrte. Daß er sich nicht trotz- und starrköpfig zeigte, sondern seine Schuld gleich eingestand, indem er um Gnade bat, ließ darauf schließen, daß er kein schlechter Mensch war. Dennoch antwortete ich in sehr ernstem Tone:

„Bestraft genug? Du bist Deserteur, Deserteur im Felde! Weißt du, was für Strafe darauf steht?“

„Der Tod.“

„Und außerdem hast du Gefangene befreit. Dafür wirst du, ehe man dich erschießt, entsetzliche Hiebe erhalten.“

„Ich weiß es; aber Effendi, dein Wort gilt sehr viel bei dem Herrn der Heerscharen. Ich flehe dich an, bitte bei ihm für mich!“

„Sage mir zunächst, wie die Flucht vor sich gegangen ist!“

„Wir kamen als Doppelposten zu ihm. Ich setzte mich hin; mein Kamerad aber ging auf und ab; wenn er entfernt genug war, konnte er nicht hören, daß der Kolarasi leise zu mir sprach.“

„Was sagte dieser?“

„Er verlangte sein Paket zurück.“

„Was für ein Paket?“

„Welches ich ihm hatte aufheben müssen.“

„Ah! Wann hat er es dir gegeben?“

„Als ihr die Uled Ayar in der Schlucht eingeschlossen hattet. Wir lagen als Gefangene in derselben, ich aber befand mich nicht bei den Gefangenen, sondern bei dem Kolarasi, dessen Diener ich war. Ihr hattet die gefangenen Kameraden befreit, und dann ging der Scheik fort, um mit euch zu verhandeln. Nachher sahen wir ihn mit dir zurückkehren, und da sagte der Kolarasi zornig- „Nun ist alle Hoffnung hin; der Hund wird die Ayar überreden und mich an Krüger-Bei ausliefern!“ Er gab mir schnell ein Päckchen, es heimlich aufzubewahren, und eilte dann fort, um bei dem Scheik gegen dich zu sprechen. Er hatte keinen Erfolg, und man brachte ihn bald gebunden und mit zerschlagenem Gesichte getragen. Er war Gefangener. In einem unbewachten Augenblicke verbot er mir, zu bleiben. Er dachte, du würdest kommen und bei ihm suchen; dann hättest du auch mich ausgesucht. Ich mußte mich also entfernen, das Päckchen aber stets bei mir tragen.“

„Warum?“

„Um es ihm jeden Augenblick wiedergeben zu können.“

„Hat er dir gesagt, welchen Inhalt es hatte?“

„Ja, einen echten Kuran aus Mekka und einige Fransen von el Wdibs Grabestuch aus der Okba-Moschee in Kairwan.“

„Sehr heilige Sachen!“

„Aber es war nicht wahr!“

„Das weiß ich freilich. Wie erfuhrest du denn, daß es eine Lüge war?“

„Von ihm selbst. Als ich dann des Nachts als Wächter bei ihm saß, sagte er mir leise, daß das Paket nicht diese Gegenstände, sondern Geld, sehr viel Geld enthalte. Er bot mir fünftausend Piaster davon an, wofür ich ihn losbinden sollte.“

„Die brauchte er dir doch nicht zu bieten, denn du hattest ja das Paket mit dem ganzen Gelde in der Tasche!“

„Es nütze mir nichts, sagte er. Es war kein gewöhnliches Geld, sondern dasselbe bestand aus Papieren, welche er selbst dem Serafi in Tunis geben mußte, denn ein anderer würde kein Geld dafür erhalten. Ich sollte mit ihm fliehen, mit ihm nach Tunis reiten, und die fünftausend Piaster sogleich erhalten, wenn er die Papiere umgewechselt haben würde.“

„Das Anerbieten blendete dich?“

„Ja, Effendi. Ein armer Soldat und fünftausend Piaster! Er schwor mir bei Mohammed und allen Kalifen zu, daß ich das viele Geld sofort nach unserer Ankunft in Tunis erhalten würde.“

„Der Schwur gilt nichts bei ihm, denn er ist eigentlich nicht ein Moslem, sondern ein Ungläubiger, ein Heide, der an gar nichts glaubt.“

„Hätte ich das gewußt! Aber ich vertraute ihm und schnitt ihm die Hände frei. Darauf gab ich ihm mein Messer.“

„Und dein Kamerad, der andere Posten?“

„Der sah und wußte nichts davon, denn ich machte mit dem Kolarasi aus, daß er sich erst dann vollends befreien solle, wenn wir abgelöst sein würden. Aber er hielt nicht Wort, denn sobald er das Messer hatte, schnitt er sich vom Pfahle los und machte auch seine Füße frei, blieb aber so liegen, als ob er noch gefesselt sei. Dann setzte sich mein Kamerad zu uns; der Kolarasi drang plötzlich auf ihn ein und stieß ihm das Messer in das Herz.“

„Schrecklich! Was thatest du?“

„Ich wollte schreien, konnte aber vor Entsetzen nicht. Er wollte mich beruhigen; das gelang ihm nicht. Da drohte er mir. Er war frei, und mein Messer steckte in der Brust meines Kameraden. Das zeugte gegen mich. Ich war verloren, wenn ich blieb, und mußte also mit ihm fort.“

„Aber ihr ginget nicht gleich?“

„Nein. Ich mußte am Platze warten, und er entfernte sich. Nach einiger Zeit kam er mit dem fremden jungen Manne, der mit entflohen ist. Wie er ihn befreit hat, ohne daß jemand etwas bemerkte, das weiß ich nicht. Wir gingen, um ganz leise die drei besten Kamele des Herrn der Heerscharen zu satteln. Als dies geschehen war, führten wir die Tiere eine Strecke fort; ich mußte bei denselben bleiben; die beiden aber kehrten noch einmal ins Lager zurück, um nach deinem Zelte zu gehen.“

„Woher weißt du das?“

„Aus den grimmigen Worten, welche sie fallen ließen.“

„Ja, sie wollten mich ermorden, aber das gelang ihnen nicht, weil ein Wächter vor meinem Zelte saß.“

„Das dachte ich mir, denn ich hörte einige laute Rufe, und dann kamen sie eilends zurück, um unter Fluchen auf die Tiere zu steigen. Ich that dies auch, und wir ritten fort.“

„Sprachen sie denn arabisch miteinander?“

„Ja, zuerst. Das war Unbedachtsamkeit, denn ich hörte Dinge, welche ich eigentlich wohl nicht hören sollte. Dann aber bedienten sie sich einer fremden Sprache, von welcher ich kein Wort verstand.“

„Weißt du, wohin sie wollen?“

„Nach Tunis.“

„Das glaube ich nicht. Sie werden ebensowenig nach Tunis reiten, wie du deine Piaster bekommen wirst.“

„Die bekomme ich freilich nicht; sie haben mich darum betrogen, mich schmachvoll hintergangen! Nicht weit von hier stiegen sie ab und forderten mich auf, dasselbe zu thun. Kaum stand ich auf der Erde, so fielen sie über mich her und nahmen mir meine Waffen ab, sodaß sie nun alle Macht über mich hatten. ich mußte vor ihren auf mich gerichteten Läufen weichen; sie aber stiegen wieder auf, nahmen mein Kamel beim Halfter und ritten hohnlachend davon. 0, Effendi, hätte ich dem Kolarasi, dem ungläubigen Heiden, doch nicht ein so großes Vertrauen geschenkt!“

„Das ist ein ganz falscher Wunsch. Nicht dein Vertrauen zu ihm hat dich in das Unglück geführt, sondern die Habsucht und die Pflichtvergessenheit. Du solltest rufen: Wäre ich doch meiner Pflicht treu geblieben! Du hast zwei schwere Verbrechen begangen. Was gedenkst du nun zu thun?“

„Wirst du mich denn nicht festnehmen?“ fragte er verwundert.

„Nein. Ich bin weder dein Vorgesetzter noch ein Polizist oder gar dein Richter. Du magst gehen, wohin du willst; wir werden dich nicht halten.“

„Ich danke dir, Effendina! Deine Güte ist weiter als die Wüste, und deine Gnade höher als der Himmel! Aber wohin soll ich gehen? Ich habe weder Wasser, noch Speise, noch Geld, noch Waffen, auch habe ich kein Pferd oder Kamel. Wer soll mich aufnehmen? Ich bin Deserteur und werde also allen Stämmen, welche unter dem Schutze des Pascha wohnen, so unwillkommen sein, daß sie mich lieber an ihn ausliefern, als bei sich behalten. Der Kolarasi hat mich zum unglücklichsten Menschen gemacht, den es nur geben kann.“

„Der Kolarasi nicht; du selbst trägst die Schuld. Aber deine Thaten reuen dich, und ich habe von dir einiges erfahren, was mir wichtig ist; darum will ich dir einen Weg zeigen. Kehre zum Herrn der Heerscharen zurück! Ich will dir einen Zettel mitgeben, auf den ich einige Zeilen schreibe, welche dich seiner Gnade empfehlen. Ich denke, daß deine Strafe milde sein wird.“

„Thue das, Effendi, thue das! Deine Worte erleichtern mein Herz und erquicken meine Seele!“

Da wendete sich Emery in englischer Sprache an mich:

„Unsinn! Entweder helfen wir gar nicht, oder ganz. Der Kerl ist kein schlechter Mensch. Kehrt er zu Krüger-Bei zurück, so wird er infolge deiner Befürwortung wohl zwar nicht erschossen, aber man schneidet ihm die Nase oder die Ohren ab, oder gibt ihm wenigstens die Bastonnade, um ihn nachher fortzujagen. Was soll er dann anfangen? Und außerdem bringst du durch deine Fürbitte den Herrn der Heerscharen mit seiner Pflicht in Konflikt. Er muß einen Verbrecher laufen lassen dir zuliebe, und alle seine Soldaten wissen, daß er das nicht darf. Du blamierst ihn also vor seinen Leuten. Wie weit ist es von hier bis zur algerischen Grenze?“

„Wenn man Dörfer und Brunnen nicht zu berühren braucht, kann man sie schon eher erreichen; auf dem Karawanenwege aber, wo er von Zeit zu Zeit Wasser findet und sich in den Dörfern auch Lebensmittel kaufen oder erbitten kann, wird ein Fußgänger sie in zwanzig Wegstunden erreichen.“

„Giebt es nahe da drüben französisches Militär?“

„Ja, in Tibessa; von hier aus vierundzwanzig Stunden weit.“

„So schick ihn dort hinüber! Ich will ihm das Geld dazu geben, und in Tibessa mag er sich von der glorreichen France anwerben lassen.“

Er zog seine lange, volle Börse und warf dem Manne einiges Geld vom Kamele zu.

„Ist dir der Weg von hier nach Lheïs bekannt?“ fragte ich den letzteren.

„Ja.“

„So wende dich dorthin. Von da aus gehst du über Zaufur, Thaleh und Hydra nach Keifah, welches nicht mehr tunesisch, sondern algerisch ist. Dann hast du nicht mehr weit nach der kleinen französischen Stadt Tibessa, wo Militär liegt. Dort kannst du dich anwerben lassen, wenn du nicht Lust hast, zu etwas anderem zu greifen. Jemand, der schon Soldat gewesen ist, wird von jedem Werber gern willkommen geheißen. Du hast von hier bis nach Tibessa immer Karawanenweg, und wirst also weder zu hungern noch zu dursten brauchen.“

Das Gesicht des Mannes wurde sonnenhell; er brach in wahrhafte Dankeshymnen aus; wir aber hatten keine Zeit, dieselben anzuhören, und ritten weiter.

Die Spur war mit großer Deutlichkeit zu sehen, wich aber bald, wenn auch nur ein wenig, nach Westen ab.

„Sonderbar!“ brummte Emery. „Wir denken, die Kerle werden nach Osten abbiegen, und nun thun sie es westlich!“

„Jedenfalls nicht ohne Absicht,“ antwortete ich. „Wahrscheinlich kennt der Kolarasi dort drüben ein Terrain, welches felsig ist und keine Fährte annimmt; da will er uns verschwinden.“

„Wird so einem Flachkopfe aber nicht gelingen!“

„Schwerlich! Wir reiten einfach geradeaus. Die Meltons sind nach Westen geritten, um ihre Spur zu verwischen; dann werden sie nach Osten umbiegen; folglich müssen wir, wenn wir ihnen nicht folgen, sondern geradeaus reiten, unbedingt wieder auf ihre Fährte treffen.“

„Well! Und haben dabei eine tüchtige Zeit gewonnen!“

Winnetou war uns ein wenig voraus und hatte also unsern Gedankenaustausch nicht gehört, doch kannte ich ihn gut genug, um überzeugt zu sein, daß er nicht anders rechnen werde, als wie wir. Und richtig! Er hielt sein Kamel an, stieg ab, betrachtete die Spur genau, stieg wieder auf und ritt in gerader Richtung weiter, ohne sich nach uns auch nur umzusehen. Er kannte eben auch meine Art, zu denken und zu schließen, gerade so genau, wie ich mit der seinigen vertraut war. Wir hatten uns vollständig ineinander hineingelebt.

Wir ritten eine Stunde lang und noch eine. Emery wollte ungeduldig werden, denn er begann zu glauben, daß wir uns doch vielleicht verrechnet hätten. Da aber sahen wir, daß Winnetou, welcher uns jetzt weiter voraus war, wieder abstieg und den Boden betrachtete. Als wir ihn einholten, sahen wir eine Fährte von drei Kamelen, welche von Westen her gerade über unsere Richtung nach Osten führte.

„Sie sind es,“ meinte der Apatsche. „Wollten Winnetou und Old Shatterhand irre führen. Pshaw!“

Es war köstlich, dabei sein Gesicht zu sehen; ungefähr so, wie dasjenige eines Professors der Astronomie, dem ein Kohlengrubenarbeiter die Entfernung des Sirius berechnen, oder die Entstehung der Kometen erklären will. Freude hatte ich über die Art und Weise, wie er auf dem Kamele saß. Er, der ohne alle Übung war, zeigte dabei eine Sicherheit, welche mich in Erstaunen hätte versetzen können, wenn mir nicht bekannt gewesen wäre, mit welcher Leichtigkeit er sich in alles fand, was körperliche oder geistige Gewandtheit voraussetzte.

Nachdem er wieder aufgestiegen war, wendeten wir uns in einem rechten Winkel rechts, nach Osten zu, wohin die wiedergefundene Spur jetzt führte. Wir folgten derselben den ganzen Tag, bis es so dunkel wurde, daß wir sie nicht mehr sehen konnten. Da hielten wir an, um auf der freien, ringsum ebenen Steppe zu übernachten. Am nächsten Morgen wurde, sobald es Tag geworden war, der Ritt fortgesetzt. Die Fährte war jetzt nicht mehr so deutlich wie gestern. Emery sprach die Ansicht aus, daß sie bald wieder frisch sein werde, da die Flüchtlinge doch höchst wahrscheinlich während der Nacht auch geruht haben mußten, doch war ich anderer Meinung. Die beiden Meltons waren sicher bestrebt gewesen, einen möglichst großen Vorsprung zu bekommen, und hatten gewiß die ganze Nacht dazu verwendet. Das konnten sie, weil der ältere von ihnen die Gegend kannte, da er als Offizier früher wiederholt hier gewesen war. Winnetou stimmte mir bei.

„Aber warum sollen sie so erpicht auf einen so großen Vorsprung sein?“ fragte der Engländer. „Sie haben denselben ja gar nicht nötig.“

„Nicht?“ antwortete ich. „Wieso?“

„Weil sie annehmen werden, daß sie uns irre geführt haben.“

„Und daß wir etwa nach Tunis reiten?“

„Ja. Sie sind ja gestern abgewichen, um ihre Spur unkenntlich zu machen. Nun werden sie überzeugt sein, daß sie uns vollständig getäuscht haben.“

„Überzeugt wohl nicht, wenn sie auch annehmen können, daß die Möglichkeit dazu vorhanden ist. Thomas Melton kennt Winnetou und mich. Er mag annehmen, daß er uns getäuscht hat, doch nur auf kurze Zeit. Wenn er sich alles vergegenwärtigt, was er von uns weiß, so muß er sich sagen, daß wir durch seinen Kniff, falls wir uns durch denselben überhaupt täuschen ließen, höchstens einige Stunden Zeit verloren, dann aber die Spur wiedergefunden haben, um derselben desto nachdrücklicher zu folgen.“

„Hm! Ob sie überhaupt für gewiß annehmen, daß wir ihnen nachreiten?“

„Ganz sicher! Wäre dies nicht der Fall, so hätten sie sich nicht die Mühe gegeben, uns irre führen zu wollen, auch wären wir längst an ihre Lagerstelle gekommen. Sie sind die ganze Nacht fortgeritten.“

„Mein Bruder Scharlieh hat recht,“ stimmte mir der Apatsche bei. „Sie haben gar nicht angehalten und sind weit vor uns, weil sie bessere Kamele besitzen als wir und weil wir gelagert haben. Wir müssen uns beeilen.“

Es stellte sich heraus, daß wir uns nicht geirrt hatten, denn wir ritten den ganzen Vormittag auf der immer undeutlicher werdenden Spur, ohne zu sehen, daß die beiden Reiter auch nur einmal abgestiegen waren.

Die Steppe war längst wieder in Sandwüste übergegangen. Jetzt trafen wir aber auf einzelne, spärliche Grashalme, welche nach und nach dichter und kräftiger wurden, und dann erkannten wir niedrige, lang gestreckte Hügel, welche sich vor uns im Osten erhoben und von Nord nach Süd zu streichen schienen.

„Das muß das Wadi Budawas sein,“ sagte ich. „Hinter demselben liegen dann die Ruinen von El Khima, welche wir südlich liegen lassen müssen, um über den nördlichen Abhang des Dschebel Ussalat zu reiten.“

„Ich denke, wir müssen der Fährte folgen,“ bemerkte Ernery.

„Allerdings; aber ich bin überzeugt, daß die Meltons denselben Weg einschlagen, weil er der bequemste nach der Küste ist.“

„Well! Doch, sind da drüben links nicht Reiter?“

Er deutete nach Nordost, wo sich allerdings einige bewegliche Punkte sehen ließen. Dieselben näherten sich uns schnell. Bald erkannten wir acht Beduinen, welche auf Pferden saßen. Sie hatten natürlich auch uns gesehen, kamen uns ein Stück entgegen und blieben dann halten, um uns zu erwarten. Sie waren gut bewaffnet, schienen aber keine feindlichen Absichten zu hegen. Ungefähr zwanzig Schritte vor ihnen hielten wir an, und ich grüßte:

„Sallam! Ist es das Wadi Budawas, welches da hinter den Höhen liegt?“

„Ja,“ antwortete derjenige, welcher der Anführer zu sein schien.

„Zu welchem Stamme gehört ihr?“

„Wir sind Krieger der Meidscheri und waren auf der Gasellenjagd. Wir haben kein Wild getroffen und kehren nach dem Wadi zurück, in welchem unsere Herden weiden.“

„Wann seid ihr zur Jagd ausgeritten?“ „Heute, als der Morgen tagte.“

„So könnt ihr mir eine Frage beantworten. Es sind zwei fremde Reiter auf sehr guten Reitkamelen durch das Wadi gekommen?“

„Ja. Heute früh, eben als wir fortreiten wollten.“ „Stiegen sie bei euch ab?“

„Ja. Wir luden sie ein, und sie folgten unserer Bitte, obgleich sie erklärten, eigentlich keine Zeit dazu zu haben.“

„Wie lange blieben sie? “

„Nur so lange, bis ihre Kamele getrunken hatten.“ „Wißt ihr, wer sie waren?“

„Der eine war ein Kolarasi des Pascha, wie wir an seiner Kleidung sahen, der andere ein Freund von ihm, der aber nicht Soldat war.“

„Wo wollten sie hin?“

„Nach El Kairwan, sagten sie. Wer aber seid denn ihr?“

„Kennst du Krüger-Bei, den Herrn der Heerscharen?“

„Ja. Er ist unser Beschützen“

„Weißt du, wo er sich jetzt befindet?“

„Wir hörten von den beiden Reitern, daß er gegen die Uled Ayar gezogen sei, um sie zu züchtigen.“

„Wie steht ihr euch mit diesen letzteren?“

„Wir leben mit ihnen in Frieden, nicht aber mit den Uled Ayun, welche Allah verderben möge!“

„Sie sind auch unsere Feinde. Wir kommen von Krüger-Bei, welcher die Uled Ayar besiegt und dann ein Bündnis mit ihnen geschlossen hat.“

„Maschallah! Er besiegte seine Feinde und begnadigte sie dann? Sein Herz ist voller Güte und Wohlwollen selbst gegen seine Feinde! Wenn ihr von ihm kommt, so steht ihr wohl auch unter seinem Schutze?“

„Er zählt uns zu den besten Freunden, welche er besitzt.“

„Wenn das ist, so thut uns nicht das Herzleid an, bei uns vorüberzureiten. Eßt von unsern Speisen, und trinkt von unserm Wasser! Ihr seid uns so willkommen, als ob der Herr der Heerscharen sich selbst bei euch befände!“

„Wie ist der Name eures Scheiks?“

„Welad en Nari; ich bin es selbst.“

„Du also bist der Scheik der tapferen und gastfreundlichen Meidscheri? Dann müssen wir deiner Einladung Folge leisten. Zwar haben auch wir große Eile, aber soviel Zeit, wie nötig ist, unsere Schläuche mit frischem Wasser von euch zu füllen, können wir dir doch schenken.“

„Und von der Gaselle, welche wir gestern geschossen haben, müßt ihr auch kosten. Ich bitte euch, uns nach unserm Bet es Sijara zu folgen!“

Der Scheik wendete sein Pferd den erwähnten Höhen zu; wir schlossen uns ihm an, und seine Leute folgten hinter uns drein. Gesprochen wurde jetzt nicht mehr. Nach der Sitte des Landes mußten wir warten, bis wir wieder angeredet wurden. Das legte uns aber nicht die Verpflichtung auf, auch unter uns zu schweigen. Darum übersetzte ich Winnetou, was ich mit dem Anführer gesprochen hatte. Er warf ihm einen forschenden Blick zu und fragte mich dann:

„Gefällt der Mann meinem Bruder?“

„Hm! Wenigstens mißfällt er mir nicht. Warum fragst du so?“

„Ein dichter Bart bedeckt sein ganzes Gesicht, aber für Winnetou ist der Bart doch nur ein Schleier, durch welchen man blicken kann.“

„Was siehst du da?“

„Die Freude, daß wir mit ihm reiten.“

„Das ist doch natürlich! Er hat uns eingeladen und freut sich darüber, daß wir seinen Wunsch erfüllen.“

„Aber es ist eine böse Freude! Winnetou hat kein Vertrauen zu dem Manne!“

„Und ich denke, daß kein Grund zur Besorgnis vorhanden ist. Die Meidscheri sind, wenigstens jetzt, friedlich gesinnte Leute.“

„So mag mein Bruder vertrauen; Winnetou aber wird vorsichtig sein!“

Ich hegte wirklich kein Mißtrauen; das war aber noch kein Grund für mich, die übliche Vorsicht aus den Augen zu setzen. Ich war gewohnt, sehr viel auf die Ansichten des Apatschen zu geben; also konnte auch sein Mißtrauen nicht ohne Eindruck auf uns bleiben.

Wir hatten jetzt die Anhöhen erreicht und ritten über sie hinweg. Hinter ihnen senkte sich jählings der Boden, um ein Thal zu bilden, dessen Breite da, wo wir hielten, eine Viertelstunde betragen konnte. Das war das Wadi Budawas, welches, wie ich gehört hatte, eine Länge von mehreren Stunden oder gar Meilen besitzt.

Es gab am diesseitigen Ufer eine Stelle, welche nicht so steil war; da ritten wir hinab. Man sah, daß das Wadi zur Regenzeit einen Fluß bildete; jetzt aber war es eine grünende Thalmulde, welche zahlreiche feuchte Stellen enthielt, wo man nur einige Fuß tief zu graben brauchte, um trinkbares Wasser zu erhalten.

Wir ritten eine kurze Strecke abwärts, kamen um eine Krümmung und sahen nun das eigenartige Leben eines afrikanischen Hirtenlagers sich vor uns entwickeln. Das Wadi war hier viel breiter als vorher und trug Gras, welches beinahe saftig genannt werden konnte. Soweit wir blicken konnten, sahen wir Pferde, Schafe, Ziegen, Rinder und Kamele, welche nach vielen Tausenden zählten. Dazwischen gab es so wenig Hirten, daß es zu verwundern war, wie die wenigen Leute so viele Tiere in Ordnung zu erhalten vermochten. Auch einige Zelte waren zu sehen, welche wohl den reichen Herdenbesitzern gehörten; die ärmeren Beduinen mußten im Freien nächtigen, was die Leute aber gewöhnt sind.

Die Hirten, an denen wir vorüberkamen, erhoben sich respektvoll von der Erde und grüßten uns, indem sie sich verneigten. Das schien auf Winnetou einen beruhigenden Eindruck zu machen, denn der Ausdruck seines Gesichtes wurde immer weniger streng, als er vorher gewesen war.

Wir ritten jetzt über Felsen, in denen sich eine schmale Spalte befand, nach welcher der Scheik sein Pferd lenkte. Einige Schritte vor derselben hielt er an, stieg ab und sagte:

„Willkommen in unserm Wadi! Hier ist das Haus des Besuches, in welchem alle unsere Gäste bewirtet werden. Es ist kühl und erquickt den Ermüdeten. Tretet mit mir ein und sättigt euch an den Speisen, welche uns sogleich vorgesetzt werden!“

Seine Begleiter stiegen auch ab, und wir thaten dasselbe, doch folgten wir nicht gleich seiner Aufforderung, sondern musterten zunächst unsere Umgebung. Oberhalb der Stelle, an welcher wir uns befanden, lagen wiederkäuend vielleicht ein Dutzend prächtiger Reitkamele, wie ich sie hier zu Lande so edel noch nicht gesehen hatte. Unweit davon sahen wir die doppelte Anzahl Reitsättel und alles Dazugehörige am Felsen liegen. Noch weiter oben weideten drei hochedle Pferde; sie waren in einem Pferche eingeschlossen, welcher aus in die Erde gesteckten Lanzen bestand, um die man, von einer zur andern, Palmenfaserstricke gezogen hatte. Schon der Umstand, daß man die Tiere in der Weise von den andern abgesondert hatte, ließ auf ihren Wert schließen; den Kenner aber mußte ihr Anblick in Entzücken versetzen. Unweit davon lagen die Sättel, das Riemenzeug und die Schabracken. Der Scheik bemerkte, mit welcher Bewunderung ich diese Pferde betrachtete und sagte:

„Ihr Stammbaum reicht bis hinauf zur Lieblingsstute des Propheten. Diese Pferde sind mehr wert als sämtliche Herden unseres Stammes.“

Also in die Felsspalte sollten wir treten; sie war das „Haus des Besuches“, von welchem der Scheik gesprochen hatte! Ein eigentümliches Haus! Der Felsen war wohl an die fünfzig Ellen hoch; die Spalte reichte vielleicht bis zur Hälfte der Höhe hinauf, war aber so schmal, daß unten zu ebener Erde nur zwei Mann stehen konnten, wenn sie sich zusammendrängten; sie war also weit eher ein Riß, als eine Spalte zu nennen. Neben ihr, oder vielmehr ungefähr zehn, zwölf Schritte von derselben, sickerte das Wasser aus der Erde und bildete einen kleinen Tümpel, dessen Inhalt selbst für Menschen sehr gut genießbar war.

Der Scheik mochte bemerken, daß die Spalte uns nicht so einladend erschien, wie er es wünschen mochte; darum sagte er:

„Es ist hier wirklich das Haus des Besuches, von welchem ich gesprochen habe. Die Spalte wird, sobald man hineingetreten ist, so breit, daß sie eine Murabba bildet, in welcher mehr als zehn Menschen Platz finden können. Folgt mir nach!“

„Erlaube uns, zunächst für unsere Tiere zu sorgen!“ bat ich.

„Meinst du, wir kennen die Pflichten der Gastfreundschaft so wenig, daß wir euch selbst die Arbeit machen lassen? Meine Leute werden eure Kamele tränken und eure Schläuche füllen.“

Jetzt war eine Weigerung, wenn wir ihn nicht beleidigen wollten, unmöglich. Und da er uns voranschritt, so gab es auch gar keinen Grund, seiner Aufforderung nicht Folge zu leisten. Wenn die Höhle eine Gefahr für uns barg, so befand er sich doch bei uns, und wir konnten ihn zwingen, teil an derselben zu nehmen.

„Da hinein?“ fragte Winnetou, als er ihn in der schmalen Öffnung verschwinden sah. „Wird mein Bruder ihm folgen?“

„Ja, er ist ja bei uns!“

„Wenn er uns aber betrügt!“

„Wir nehmen alle Waffen mit.“

Wir hatten die wenigen Worte englisch gesprochen. Emery sagte, als er sie hörte:

„Warum so zagen! Was soll der Scheik und was seine Leute von uns denken! Sie müssen uns für Feiglinge halten. Hinein also und ihm nach!“

Er folgte dem Scheik und wir ihm, nachdem wir unsere Waffen an uns genommen hatten. Solange ich meinen Henrystutzen besaß, brauchte ich mich vor keiner offenen Feindseligkeit zu fürchten. Vor einem arglistigen Angriffe aber konnte auch er mich freilich nicht bewahren.

Rechts neben der Spalte lag ein Stein, oder vielmehr er stand, und zwar eigentümlicherweise auf seiner Spitze. Er war ein Felsentrümmer von der ungefähren Gestalt der Hälfte einer von oben nach unten durchschnittenen ungeheuern Flasche. Diese halbe Steinflasche mochte wohl an die zwölf Zentner schwer sein und stand nicht mit ihrem Boden, sondern mit ihrem Halse auf der Erde. Dies konnte der reine Zufall sein und war mir nicht auffällig genug, irgend welches Bedenken in mir zu erregen.

Als wir den Eingang hinter uns hatten, sahen wir allerdings, daß das Innere des Spaltes geräumiger war, als man von draußen vermuten konnte. Zehn Mann hatten gut Platz. Der Raum bildete ein längliches Viereck, dessen Boden mit Bastmatten belegt war. In der Mitte lag ein besserer Teppich, auf welchem eine Sufra stand, ein kleines, höchstens zehn Zoll hohes Tischchen, wie man es häufig in Beduinenzelten findet. Gerade aufrichten konnte man sich allerdings nur in der Mitte des Raumes, weil er sich schnell nach oben verengerte. Und kühl war es hier, wunderbar kühl! Eine wahre Erquickung nach dem Sonnenbrande, dem wir draußen ausgesetzt gewesen waren.

Der Scheik setzte sich vor dem Tischchen nieder und winkte uns, seinem Beispiele zu folgen. Warum sollten wir das nicht thun, da wir uns nun einmal mit ihm hier befanden?

Kaum hatten wir uns bei ihm niedergelassen, so brachte uns ein junger Hirte drei kleine mit Wasser gefüllte Kalebassen, welche wir austranken; ein zweiter kam mit vier Tschibuks, einem Tabaksbeutel und einem kleinen Holzkohlenbecken. Der Scheik stopfte die Pfeifen selbst, gewiß eine außerordentlich seltene Ehrenerweisung, legte eigenhändig glühende Kohlen auf den Tabak, reichte jedem von uns eine Pfeife und meinte:

„Raucht mit mir! Der Tabak giebt Wolken des Duftes, weiche die Seele zum Himmel heben. Bald werden auch die Speisen kommen.“

Wir folgten seinem Beispiele und seiner Aufforderung und rauchten ein Kraut, welches den Verhältnissen angemessen gar nicht übel war; das thaten wir wortlos, da unser Wirt nicht sprach. Vielleicht hielt er das Schweigen für seiner Würde angemessen, vielleicht auch für einen Erweis seiner Höflichkeit und Ehrerbietung gegen uns.

Wir hatten die Tschibuks noch nicht ausgeraucht, so kam einer der Hirten wieder und brachte eine Schüssel mit kaltem Kuskussu, welche er auf das Tischchen stellte.

„Wie steht es mit dem Fleische, Selim?“ fragte ihn der Scheik.

„Ich werde es gleich bringen,“ antwortete der Gefragte, indem er sich entfernte.

„So bring doch auch gleich ––“

Er unterbrach sich, denn Selim war schon hinaus.

„Selim, Selim, hörst du!“ rief er ihm nach.

Es erfolgte keine Antwort: da sprang er auf und eilte an den Spalt, um Selim den beabsichtigten Befehl nachzurufen. Wir hatten kein Arg und hinderten ihn also nicht, sich auf so wenige Schritte zu entfernen.

„Selim, Selim!“ wiederholte er, indem er ganz hinaustrat.

„Herein muß er, herein!“ meinte Winnetou, obgleich er nicht arabisch verstand.

Er sprang auf, um den Scheik zu fassen und hereinzuziehen, konnte seine Absicht aber nicht ausführen, denn noch ehe er die Öffnung ganz erreicht hatte, geschah draußen ein dumpfer Fall und die Spalte schloß sich. Man hatte den vorhin beschriebenen, so eigenartig geformten Stein umgeworfen, und er stand nun gerade vor der Spalte, so hart vor derselben, daß man kaum einen Finger zwischen ihn und den Felsen stecken konnte.

„Heigh-ho!“ rief Emery, indem er aufsprang.

„Winnetou hat es geahnt,“ meinte der Apatsche, indem er zurückkehrte und sich so ruhig wieder niedersetzte, als ob nichts geschehen sei.

Ich sagte gar nichts. Draußen aber ließ sich ein Jubelgeschrei von vielen Stimmen hören. Es mußten jetzt viel mehr Menschen da sein, als wir vorhin gesehen hatten.

„Ich glaube gar, wir sind gefangen!“ zürnte der Engländer.

Ich sagte auch jetzt noch nichts.

„So antworte doch!“ forderte er mich auf. „Ich glaube, wir sind gefangen!“

„Ist uns ganz recht! Warum haben wir nicht auf Winnetou gehört!“

„Well! Aber es gab keinen Grund zum Mißtrauen. Der Herr der Heerscharen hat selbst versichert, daß wir von den Meidscheri nichts zu fürchten haben!“

„Sind es Meidscheri?“

„Sie sagten es doch!“

„Der Scheik hat uns belogen. Wenn er wirklich zu diesem Stamme gehörte, würde er uns nicht in diese Falle gelockt haben!“

„Richtig! Aber zu welchem Stamme soll er dann gehören?“

„Höchst wahrscheinlich zu den Uled Ayun.“

„Das wäre für uns fatal! Aber dennoch kann ich nicht begreifen, warum er uns gefangen nimmt. Er kennt uns nicht; er hat uns nicht einmal nach unsern Namen gefragt.“

„Er kennt uns! Die beiden Meltons sind ja hier gewesen, oder sie befinden sich möglicherweise sogar jetzt noch hier.“

„All devils!“

„Sie sind, wenn ich mich nun nicht abermals irre, hier auf die Uled Ayuns getroffen und haben ihnen erzählt, was drüben im Warr und bei dem Engpasse geschehen ist. Sie haben ihnen gesagt, daß der Scheik der Ayuns mit seinen Begleitern gefangen worden ist und einen so hohen Blutpreis zahlen soll; sie sind überzeugt, daß wir sie verfolgen werden, und haben dies den Ayuns mitgeteilt. Sie haben den Leuten mitgeteilt, daß wir an allem schuld sind, haben ihnen unsere Namen gesagt und unsere Personen beschrieben. Darauf haben die Ayuns uns erwartet, sich hinterlistigerweise für Meidscheri ausgegeben und uns hier in das Loch gelockt.“

„Der Teufel danke es ihnen! Also darum stand der Stein so sonderbar da draußen! Er lag auf seiner Spitze. Man brauchte ihm nur einen Stoß zu geben, so fiel er um und stellte sich gerade vor die Spalte. Sollte er nur für uns hingestellt worden sein?“

„Nein, denn da wäre er erst seit heute früh hierhergewälzt worden, und wir hätten die Spuren davon gesehen; das wäre mir sofort aufgefallen, und ich hätte mich dann gehütet, hereinzugehen. Der Stein gehört jedenfalls schon seit langer Zeit zu der Falle, in welcher wohl schon mancher andre Mann gesteckt haben mag.“

„Aber dann die außerordentliche Schlechtigkeit des Scheikes! Hat er nicht mit uns Wasser getrunken, mit uns geraucht? Wir sind also unbedingt seine Gäste, für welche er wie für sich selbst einzustehen hat! Wie willst du eine so grund- und bodenlose Schlechtigkeit erklären?“

„Damit, daß er erfahren hat, daß wir keine Moslemim sind. Er ist der Ansicht, daß man Ungläubige betrügen darf, ohne sich ein Gewissen darüber machen zu müssen.“

„Ah, ist das so! Aber wir haben Farad el Aswad, den Scheik der Uled Ayun gefangen, der den Blutpreis zahlen soll, und der Welad en Nari nennt sich auch einen Scheik derselben, wenn du nämlich nicht falsch vermutest. Wie willst du dir das erklären?“

„Dadurch, daß er der Scheik einer Ferkah der Ayun ist. Er wird uns einen falschen Namen genannt haben.“

„Was hältst du von unserer Lage? Ist sie gefährlich?“

„Das kommt darauf an, ob sich die beiden Meltons noch hier befinden. Sind sie noch da, so dringen sie jedenfalls auf unsern Tod und werden uns so außerordentlich streng bewachen, daß das Entkommen gewiß ein großes Kunststück genannt werden müßte.“

„Was hältst du für wahrscheinlicher, ob sie noch hier oder ob sie fort sind?“

„Das letztere, weil sie keine Zeit übrig haben. Hier droht ihnen von allen Seiten die Gefahr, während ihnen drüben in den Vereinigten Staaten, wenn sie sich beeilen, ein großes Vermögen fast sicher ist.“

„Well! Ich bin auch der Meinung. Aber wie kommen wir hinaus? Und dann, wenn wir draußen sind, wie kommen wir fort?“

„Durch List oder mit Gewalt. Warten wir erst, was die Menschen thun werden, welche uns hier eingesperrt haben!“

„Das brauchen wir nicht. Deine beiden Gewehre halten uns alle Feinde fern. Sie müssen weit fort, um von den Kugeln deines Bärentöters nicht erreicht zu werden, und dann haben wir ihre Schießbüchsen nicht zu fürchten.“

„Aber dennoch sind viele Hunde des Hasen Tod. Und selbst wenn ich dir auch unbedingt beistimmen wollte, wie kommen wir hinaus?“

„Da, wo wir hereingekommen sind! Der Stein ist zehn, höchstens zwölf Zentner schwer. Drei Männer, wie wir sind, werden ihn doch wegbringen können! Für den Mann vier Zentner!“

„Ja, wenn wir Platz genug hätten, unsere Kräfte zu entfalten!“

„Versuchen wir es wenigstens!“

Winnetou hatte uns zugehört, ohne ein Wort dazu zu sagen, jetzt meinte er:

„Der Stein ist nicht fortzuschieben. Meine Brüder brauchen den Versuch gar nicht zu machen.“

„Probieren wir es dennoch!“ bestand Emery auf seinem Willen. „Wir dürfen nichts, gar nichts unterlassen.“

Ich zweifelte nicht im geringsten daran, daß wir drei zusammen im stande wären, einen Stein von zwölf Zentnern Schwere von der Stelle zu bewegen, hier aber war ich ebenso überzeugt, daß wir es nicht vermochten. Winnetou folgte gutmütig der Aufforderung des Englishman. Er legte sich mit ihm in die Spalte, Rücken gegen Rücken, denn wegen der Enge derselben hatten sie nicht anders Platz; sie stemmten ihre Schultern gegen den Stein. Ich beugte mich über sie nach vorn und half. Wir vereinigten alle unsere Kräfte zu mehreren gewaltigen Stößen, doch vergeblich, denn die Kraft traf nicht nur den Stein, sondern auch die beiden Seiten der Felsenspalte; es ging also soviel von ihr verloren, daß es uns nicht gelang, dem Steine auch nur den kleinsten Ruck zu geben.

„Lassen wir ab!“ keuchte Emery. „Wir bringen ihn wirklich nicht von der Stelle.“

Und als jetzt draußen sich ein mehrstimmiges Hohngelächter hören ließ, fuhr er grimmig fort:

„Hört ihr’s! Sie horchen draußen! Sie haben unsere Anstrengung bemerkt und lachen uns aus! Hätte ich die Lacher hier; das Lachen sollte ihnen augenblicklich vergehen! Mit Gewalt ist allerdings nichts auszurichten; das sehe ich ein. Also müssen wir zur List unsere Zuflucht nehmen. Aber wie?!“

„Habe es doch nicht so eilig!“ bat ich ihn. „Sinnen und Überlegen bringt gute Gedanken.“

„Oft auch nicht. Wie wollen wir die Kerls überlisten, wenn wir hier stecken und sie draußen sind!“

„Mein Bruder mag, wie Scharlieh ihm schon gesagt hat, warten,“ meinte der Apatsche in nachdrücklicher Weise. „Winnetou ahnt einen Ausweg und wird versuchen, ob derselbe möglich ist.“

„Welchen Ausweg?“

„Merkt mein Bruder Emery nicht, wie feucht es in dem Spalte ist?“

„Das merke ich freilich.“

„Sind aber etwa die Wände naß?“

„Nein; sie sind trocken. Nur der Boden ist feucht.“

Indem der Engländer dies sagte, hob er eine der Matten auf und befühlte die unter ihr befindliche Stelle.

„Mein Bruder hat den Quell gesehen, der sich draußen befindet?“ fuhr der Apatsche fort. „Von ihm muß die Feuchtigkeit kommen. Das Wasser wandert aber nicht in solcher Menge durch den harten Felsen, sondern nur durch Sand. Der Boden der Felsenspalte muß also aus Sand bestehen. Die Spalte geht hoch empor, wie wir sehen; aber sie scheint auch tief in die Erde zu steigen und ist bis zu der Höhe, in welcher wir, uns befinden, mit Sand ausgefüllt.“

„So liegt wahrscheinlich der Stein da draußen auch auf Sand und nicht auf Felsen!“ rief da Emery.

„Winnetou vermutet es. Wir werden also graben, bis der Stein sich so weit gesenkt hat, daß wir über ihn hinaus und hinweg können.“

„Wenn wir sein ganzes Fundament unterwühlen wollen,“ fiel ich ein, „so stürzt er, während wir unter ihm graben, auf uns und erdrückt uns. Nein, wenn sich die Voraussetzung meines roten Bruders als richtig erweist, so müssen wir ihn stehen lassen, werden uns aber unter ihm hinweg- und hinausgraben. Machen wir zunächst eine Probe!“

Wir schafften die Matten und den Teppich nach dem hintern Teile der Spalte und begannen zu graben. Dazu konnten wir nur die Hände und die Messer nehmen, da wir keine andern Werkzeuge hatten. Natürlich begannen wir die Arbeit vorn am Eingange, gleich hinter dem Steine. Zu unserer Freude fanden wir grobkörnigen Sand, der mit Steingeröll untermischt war. Wir warfen ihn nach dem Hintergrunde der Spalte.

Selbstverständlich mußten wir dabei sehr vorsichtig verfahren, damit kein verräterisches Geräusch nach außen dringen könnte. Darum förderten wir die Arbeit nicht gut, was uns aber keinesweges mißmutig machte, denn wir hatten Zeit. Es war jetzt eine Stunde nach Mittag, und die Mine, welche wir gruben, durfte erst dann das Freie erreichen, wenn es dunkel geworden war.

Licht zur Arbeit hatten wir genug, denn der Stein verschloß nur den untern Teil der Spalte, und ließ den obern offen; letzterer aber war eben leider so eng, daß sich höchstens ein Kind mit großer Mühe hätte durchzwingen können.

Je tiefer wir kamen, desto wahrscheinlicher wurde es, daß die Wände unserer Mine einstürzen würden; der Sand rollte nach. Zum Glück hatten wir den Teppich und die Matten, welche wir vorstopften; die Gewehre mußten als Stützen dienen.

Wir mochten über eine Elle tief gekommen sein, da hörten wir draußen eine Stimme rufen:

„Kara Ben Nemsi mag herbeikommen. Ich habe mit ihm zu sprechen!“

Es war die Stimme des Scheikes.

„Wirst du seinem Rufe folgen?“ fragte Emery.

„Ja.“

„Ich würde es nicht thun, weil der Halunke nicht wert ist, daß er einen Hauch von uns hört.“

„Das mag sein; aber das, was ich gern von ihm erfahren werde, kann von großem Werte für uns sein.“

„Kara Ben Nemsi!“ rief der Scheik wieder.

Er kannte also unsere Namen.

„Hier bin ich,“ antwortete ich. „Der Stein ist umgefallen. Warum zögert ihr, ihn fortzuschaffen! Ihr wißt doch, daß wir rasch weiter müssen!“

Ich that, als ob ich nur an einen kleinen Zufall glaubte. Er lachte laut auf und sagte:

„Er ist nicht umgefallen, sondern wir haben ihn umgestürzt.“

„Umgestürzt? Warum habt ihr das gethan?“

„Warum? Das errätst du nicht? Der Kolarasi warnte mich noch vor seinem Wegreiten ganz besonders vor dir. Er sagte, man habe sich vor dir mehr als vor dem Teufel in acht zu nehmen, denn deine List sei noch größer, als deine Gewaltthätigkeit. Und nun errätst du nicht einmal, warum wir den Stein umgeworfen haben!“

„Wie soll ich das erraten? Sage es!“

Ich sagte so, um ihm eine geringe Meinung von unserm Scharfsinn beizubringen. Je weniger er uns zutraute, destoweniger möglich hielt er unsere Selbstbefreiung und destoweniger Sorgsamkeit wurde also sehr wahrscheinlich auf unsere Bewachung verwendet.

„Weißt du eigentlich, wo du dich befindest?“

„Natürlich in einem Hirtenlager der Meidscheri.“

„Die Meidscheri mag Allah verdammen! Wir gehören zu den Uled Ayun.“

„Allah w’Allah! So hast du uns wohl betrogen?“

„Überlistet haben wir euch! Ist es wahr, daß du ein Giaur bist?“

„Ich bin ein Christ.“

„Und deine Begleiter sind auch keine Anhänger des Propheten?“

„Nein.“

„Seid verflucht, ihr Hundesöhne! Ihr werdet in der Hölle auf brennenden Pferden reiten. Der Kolarasi sagte uns, daß ihr unsern obersten Scheik und seine Begleiter ergriffen habt. Der Herr der Heerscharen hat zwei Boten an die Uled Ayuns gesandt, um ein Blutgeld zu fordern, dessen Höhe nur dem Gehirne eines Wahnsinnigen entspringen kann, und dieser verrückte Hund bist du! Ist das wahr?“

„Ja,“ antwortete ich naiver Weise. „Der Kolarasi hat die Wahrheit gesagt. Rufe ihn her! Ich möchte mit ihm reden.“

„Er ist fort.“

„So rufe seinen Begleiter!“

„Auch der ist fort. Beide haben sich nur so lange hier aufgehalten, als notwendig war, uns über das Geschehene und über euch zu unterrichten. Die beiden Boten des Herrn der Heerscharen sind leider nicht zu uns gekommen, sondern zu einer andern Ferkah unsers Stammes geritten. Ich habe dorthin geschickt, um sie holen zu lassen, und bin dann ausgeritten, um euch aufzulauern und in die Spalte zu locken. Jetzt seid ihr in unserer Gewalt und werdet nur dann freikommen, wenn ihr meine Bedingungen erfüllt.“

„Welche sind das?“

„Das sage ich dir jetzt noch nicht. Ihr werdet es erst dann erfahren, wenn meine Abgesandten mit den beiden Boten des Herrn der Heerscharen hier angekommen sind. Ich habe dem Kolarasi versprochen, euch alle drei zu töten; das sollte ich unbedingt thun, denn ihr seid ungläubige Hunde und habt nicht nur unsere Krieger ergriffen, sondern sogar unsern Scheik schlagen lassen; dennoch bin ich bereit, euch in allzu großer Nachsicht das Leben und sogar die Freiheit zu schenken, wenn ihr das thut, was ich von euch verlangen werde. Thut ihr es aber nicht, so möget ihr hier stecken bleiben, um Hungers zu sterben, und alle neunundneunzig Millionen Teufel werden sich in eure Seelen teilen!“

Ich hörte, daß er sich entfernte. Ob ein Wachtposten draußen stand, konnte ich nicht sagen. Ich lauschte angestrengt und hörte wohl die verschiedenen Töne und Geräusche des Lagers, konnte aber nicht das mindeste vernehmen oder bemerken, woraus ich hätte schließen können, daß sich draußen hart an der Spalte ein Mensch befand.

Über das, was wir jetzt vom Scheik gehört hatten, wurde kein Wort verloren. Wir arbeiteten weiter. Ein großer, mehrere Zentner schwerer Stein, welcher mit im Sande steckte, machte uns viel zu schaffen. Wir mußten ihn heben, und der feine Schutt, auf welchem wir dabei standen, bot keinen Halt dazu; er rutschte immer nach. Wir hatten wohl einige Stunden damit zu thun, bis wir auf den Gedanken kamen, ihn gar nicht zu heben, sondern auf die Seite zu schaffen, wo er uns zugleich den Vorteil eines Haltes für die lockern Sandmassen bot. Wir waren noch nicht damit fertig, als draußen mein Name wieder gerufen wurde. Ich fragte, wer da sei.

„Der Scheik,“ wurde geantwortet. „Die Boten des Herrn der Heerscharen sind hier angekommen, und nun sollt ihr meine Bedingungen erfahren. Ich wiederhole dir: Wenn ihr sie nicht erfüllt, kann euch nichts vom Tode des Verhungerns und Verdurstens retten!“

„So teile sie mir mit!“

„Wir haben euch gefangen, um Geißeln zu haben. Was unserm gefangenen Scheik und seinen Kriegern bei den Ayars geschieht, das wird auch euch bei uns geschehen. Tötet man sie, so müßt auch ihr sterben.“

„Man wird sie nicht töten, wenn sie den Blutpreis zahlen.“

„Den bezahlen sie nicht! Wir werden euch gegen sie auswechseln.“

„Darauf gehen die Uled Ayars nicht ein.“

„Desto schlimmer für dich! Du hast sie den Ayars ausgeliefert. Sterben sie, so -sterbet auch ihr. Du gehörst zu den fremden Giaurs, welche stets Papier bei sich haben. Hast du welches mit?“

„Ja.“

„Kannst du schreiben?“

„Ja.“

„So sollst du einen Brief an den Herrn der Heerscharen schreiben, aber wir haben weder Kalem noch Hibr hier.“

„Beides ist nicht notwendig, denn ich habe ein Kalem reßas bei mir. Was soll ich ihm schreiben?“

„Daß ihr bei uns gefangen seid, und für das Leben unsers obersten Scheikes und seiner Begleiter haftet. Du verlangst, daß diese freigegeben werden.“

„Und was bietest du mir dafür?“

„Euer Leben.“

„Weiter nichts? Die Freiheit nicht?“

„Versprechen kann ich sie euch meinerseits; aber was unser Oberscheik thun wird, das ist eine andere Sache. Ihr habt ihn peitschen lassen. Das ist schlimmer als der Tod. Er wird eine schwere Sühne verlangen, wahrscheinlich euer Leben!“

„Und dennoch versprichst du uns das Leben!“

„Ich verspreche es und werde mein Wort halten, indem ich euch nicht töte. Ich verspreche euch auch die Freiheit, und ich sage die Wahrheit, denn ich werde euch aus der Spalte herauslassen. Dann hat der oberste Scheik über euch zu entscheiden.“

„Der hat gar nicht zu entscheiden und wird auch nichts entscheiden; denn um über uns entscheiden zu können, müßte er frei und hier sein, und dies könnte er nur dann, wenn auch wir frei wären. Der Herr der Heerscharen gibt keinen von euern Leuten frei, wenn nicht auch wir die volle Freiheit erlangen.“

Es dauerte eine Weile, ehe der Mann draußen weitersprach; dann sagte er:

„Ist es wahr, daß du zwei Zaubergewehre bei dir hast, von denen das eine schießt, so oft du willst, tausend Kugeln und noch mehr, ohne daß du zu laden brauchst?“

„Ja.“

„Und das andere schießt soweit du willst, mehrere Tagereisen weit, und verfehlt niemals sein Ziel?“

„Ja. Auch die Kugeln aus dem ersteren treffen stets dahin, wohin ich will.“

„Auch habt ihr kleine Pistolen, welche, wenn sie geladen sind, gedreht werden und dann sechsmal hintereinander schießen?“

„Auch das ist wahr. Wer hat dir denn davon erzählt?“

„Die Boten des Herrn der Heerscharen, die ich vorhin nach ihrer Ankunft gleich nach euch ausgefragt habe. Du wirst mir die kleinen Pistolen herausgeben und deine beiden Zaubergewehre. Über dem Steine, welcher vor der Spalte liegt, ist Öffnung genug. Lange die Gewehre dort heraus!“

„Das werde ich nicht. Wenn du die Waffen wünschest, so laß den Stein entfernen, und komm herein! Dann können wir den Handel weiterbesprechen.“

„Wenn du dich weigerst, werde ich dich zwingen!“

„Thue das! Indem du uns so verräterisch hier eingesperrt hast, hast du dir selbst die Macht und die Gelegenheit genommen, uns zwingen zu können.“

Wieder schwieg er eine ganze Weile, wenigstens gegen mich, denn ich hörte ein leises Geflüster. Er besprach sich mit seinen Leuten. Dann erklang seine Stimme abermals laut:

„Ich habe den Boten des Herrn der Heerscharen erlaubt, zu ihm zurückzukehren. Du willst den Brief schreiben?“

„Ja.“

„So werde ich ihn dir diktieren.“

„Ich habe nichts dagegen, doch muß ich mich vorher überzeugen, daß die Leute wirklich hier sind.“

„Ich gebe dir mein Wort, daß sie da sind!“

„Ich glaube nicht dir, sondern meinen Augen. Du hast uns bei unserer Ankunft die Unwahrheit gesagt, und wer mich einmal belogen hat, dem glaube ich niemals wieder.“

437

„Hund, du beleidigst mich!“

„Ich sage, was ich denke. Ist dir das nicht recht, so bedenke, daß auch du gethan hast, was uns nicht recht war!“

„Du hast aber zu schreiben, ohne daß du sie siehst. Ich verlange es!“

„Verlange es immerhin! Ich habe nichts dagegen!“

„Allah durchbohre dich! Du bist ein Hund, der nie gehorcht, sondern stets nur seinen eigenen Willen thut! Kannst du denn die Leute sehen, wenn sie hier stehen?“

„Ja. Da linker Hand von mir steht der Stein ein klein wenig vom Felsen ab; ich kann hindurchblicken und werde jeden sehen, der sich auf diese Seite stellt.“

„So holt die Schurken; er mag sie sehen!“

Nach diesem Befehle hörte ich Schritte, welche sich entfernten. Die beiden Boten wurden gebracht, und einer nach dem andern auf die angegebene Stelle gestellt. Ich sah sie; sie waren es wirklich.

„Hast du sie erkannt?“ fragte der Scheik.

„Ja.“

„Du siehst also, daß ich die Wahrheit gesagt habe. Wenn du mich noch einmal einen Lügner nennst, werde ich dich dafür peitschen lassen, bis dir das Blut von allen Gliedern tropft!“

„Und dennoch bist du einer! Du hast gesagt, der Kolarasi sei mit seinem Begleiter gleich wieder fort, und doch sind sie noch hier.“

„Sie sind fort!“

„Möchte wissen, wohin! Ich weiß doch ganz genau, daß sie nur hierher wollten, um sich in den Schutz der Uled Ayun zu begeben.“

„Das ist nicht wahr. Sie wollten weiter. Was ich sage, ist richtig! Habe ich ihnen doch einen Führer mitgegeben, den besten Kenner der Gegend zwischen hier und dem Meere, der sie sicher nach Hammamet bringen wird. Willst du nun schreiben?“

„Ja.“

„So schafft die beiden Halunken wieder fort!“

Ich hatte meinen Zweck erreicht; ich wußte nun nicht nur, daß die beiden Meltons nicht mehr hier waren, sondern auch wohin sie sich gewendet hatten. Die Boten wurden fortgeführt, und dann diktierte mir der Scheik das Schreiben.

Es war eine eigenartige, beinahe lächerliche Lage. Draußen stand der Beduine, welcher nicht schreiben und wohl auch kaum lesen konnte, und ich mußte oder sollte vielleicht nachschreiben, was er mir vorsagte. Er stellte Bedingungen, welche gar nicht zu erfüllen waren. Seine Absicht ging darauf hinaus, von der Auszahlung des Blutpreises loszukommen und die Freiheit der vierzehn gefangenen Ayuns zu erhalten, ohne aber verbunden zu sein, uns das Leben zu schenken.

Ich schrieb, um ihn nicht belügen zu müssen, alles nach, auf die eine Seite des Blattes, welches ich aus dem Notizbuche gerissen hatte. Während der Pausen aber, in denen er sich besann, teilte ich auf der andern Seite dem Herrn der Heerscharen das Geschehene mit und bat ihn, sich gar nicht um uns zu bekümmern, da wir schon in der nächsten Nacht wieder frei und auf dem Wege nach Hammamet sein würden.

„Nun, bist du fertig?“ fragte er dann.

„Ja.“

„So gieb den Brief heraus!“

Ich schob das Blatt durch die Lücke, durch die ich vorhin geblickt hatte. Es entstand eine Pause. Er sah es an, und sagte dann in einem Tone, dem man die Verwunderung anhörte:

„Was ist denn das? Das kann man ja gar nicht lesen!“

„Der Herr der Heerscharen kann es ganz gut lesen,“ antwortete ich.

Ich hatte nämlich deutsch geschrieben und auch das Diktat in deutsche Sprache übersetzt. Er schien das Blatt andern zu zeigen, denn ich hörte wieder flüstern, und es dauerte längere Zeit, ehe er mich fragte:

„Was ist denn das? Das sind ja ganz fremde Schriftzüge!“

„Es ist die Schrift, welche in meiner Heimat gebräuchlich ist.“

„Aber kann denn der Herr der Heerscharen die fremde Schrift lesen?“

„Ja.“

„Gut! Wenn er es nicht lesen kann, ist es dein eigener Schaden. Seine Boten mögen es ihm bringen; sie mögen ihm auch sagen, wohin er seine Antwort zu senden hat, denn wir bleiben hier nicht halten, sondern ziehen morgen weiter. Bis ich seine Antwort habe, werdet ihr weder zu essen noch zu trinken bekommen, damit eure Sehnsucht nach ihm um so größer werde.“

Er entfernte sich mit denen, die bei ihm gestanden hatten, und nun schob ich mich wie ein Schornsteinfeger so hoch wie möglich in der Spalte in die Höhe, um einmal hinauszublicken.

Da, wo der vorliegende Stein oben zu Ende ging, war der Spalt kaum einen Fuß breit, doch bemerkte ich gerade dort einen kleinen Riß in dem Gestein. Ich fuhr mit dem Messer in denselben und brach das Stück heraus. Nun konnte ich den Kopf gerade soweit vorschieben, daß ich hinaus- und an dem Steine herunterblicken konnte.

Es stand kein Posten draußen. Man hielt den schweren Stein für einen mehr als hinreichenden Wächter, ein Umstand, über den wir uns nur freuen durften. Ich konnte die ganze Breite des Thales überblicken, und auch nach links hinauf- und nach rechts im Wadi hinabsehen. Es waren weit mehr Menschen da, als wo wir gekommen waren. Jedenfalls hatten sie sich bei unserer Ankunft versteckt gehalten, um uns so vertrauensselig wie möglich zu machen. Der Scheik stand links bei den Boten Krüger-Beis. Ich sah, daß er ihnen den Brief gab; dann stiegen sie auf ihre Tiere und ritten davon. Ob sich das, was ich geschrieben hatte, nämlich meine Hoffnung, noch in der folgenden Nacht frei zu sein, auch erfüllen würde?

Nie vergeht die Zeit schneller als dann, wenn man sie am nötigsten hat. Die Sonne hatte sich schon hinter dem hohen, westlichen Ufer des Wadi niedergesenkt, und bald hörten wir draußen das Gebet der Dämmerung erschallen. Dann kam das Abendgebet. Der Mond ging auf, doch drang sein Schein nicht in unser schönes „Haus des Besuches“. Ich kletterte wieder empor und sah hinaus. Kein Feuer brannte, denn der Mond leuchtete hell genug. Am Steine stand noch immer keine Wache. Man vertraute vollständig seinem schweren Gewichte. Wir arbeiteten und gruben im Dunkeln. Da wir nichts sehen konnten, mußten wir uns ganz allein auf den Tastsinn verlassen. Winnetou machte den Vormann. Er scharrte den Sand los, und warf ihn dem hinter ihm in der Grube stehenden Emery zu, welcher ihn wieder mir zuschob, der ich ihn hinauf auf den Fußboden der Spalte zu werfen hatte. Denn wir standen jetzt viel tiefer, als der letztere lag. Das Loch führte zwei Ellen gerade abwärts, und dann wenigstens drei Ellen wagerecht weiter. Winnetou befand sich jedenfalls schon unter dem Steine und hatte dann, um das Freie zu erreichen, wieder aufwärts zu graben. Es war gegen Mitternacht; in einer Stunde konnten wir fertig sein.

Da hörte ich vor mir ein dumpfes Geräusch.

„Emery!“ rief ich.

„Ja. Was?“ antwortete er.

„Was macht Winnetou?“

„Er ruht aus; es kommt kein Sand mehr von ihm zu mir.“

„Um Gottes willen, greif nach ihm!“

Ein kurzer und doch banger Augenblick verging, dann schrie Emery förmlich auf:

„Er ist verschüttet!“

„Himmel! Ganz?“

„Nein; ich habe die Beine. Bleib stehen! Verdränge mich nicht! Es ist kein Platz dazu.“

Ich hatte ihn beiseite schieben wollen.

„Mach schnell, sonst erstickt er!“ drängte ich in höchster Angst.

Indern ich meine Hände auf seinen Rücken legte, fühlte ich, daß er mit Aufbietung aller seiner Kräfte nach vorn arbeitete. „Cheer up!“ rief er dann. „Jetzt hat er Luft! Er lebt! Winnetou, alter guter Junge, wie geht’s?“

Da hörte ich zu meinem höchsten Entzücken die Stimme des Apatschen:

„Es war die höchste Zeit; ich stand schon am Ersticken. Die Decke fiel ein und drückte mich nieder; ich konnte nicht einmal rufen.“

Er pustete, nieste und entfernte den Sand, der ihm in Mund, Nase und Augen gedrungen war. Dann fügte er hinzu:

„Nun fangen wir wieder von vorne an! Meine Brüder mögen doppelt schnell arbeiten, denn wir würden nun kaum bis zum Anbruche des Tages fertig werden.“

„Ist gar soviel eingestürzt?“ fragte ich.

„Ja.“

„So komm hinter! Du hast dich zu sehr angestrengt. Ich will nach vorn.“

„Nein,“ sträubte sich Emery. „So wie wir stehen, so wechseln wir ab. Ich geh jetzt nach vorn. Winnetou muß nach hinten.“

Der Apatsche wollte nicht, mußte uns aber den Willen thun. Leider waren wir durch den Einbruch der Decke sehr weit zurückgekommen. Es galt, das, was wir vorher weggeräumt und befestigt hatten, nochmals wegzuräumen und zu befestigen. Winnetou hatte recht: Es war nun nicht mehr daran zu denken, noch während der Nacht fertig zu werden. Und nur wenn kein fernerer Unfall eintrat, konnten wir hoffen, mit Tagesanbruch die Oberfläche draußen zu erreichen. Daß dann das Entkommen weit schwerer und gefährlicher war, verstand sich ganz von selbst. Und falls wir nicht fertig wurden, zogen die Uled Ayun mit uns fort, sahen das Loch, welches wir gegraben hatten, und sorgten ganz gewiß dafür, daß uns ein Fluchtversuch nicht wieder so leicht gemacht wurde.

Wir arbeiteten, als ob das Leben davon abhinge, was eigentlich wohl auch der Fall war. Später löste ich Emery ab, sodaß nun ich den Vordersten machte. Winnetou befand sich in der Mitte. Wir dachten nicht an die Zeit, ob es noch früh oder schon spät sei; wir kratzten, scharrten und gruben ohne Unterlaß weiter und weiter. Ich bohrte mich schon seit einiger Zeit nach oben, indem ich vorn am Ende des wagerechten Ganges, den wir gegraben hatten, kniete. Da erhielt ich plötzlich einen schweren Schlag auf den Hinterkopf und einen ebensolchen auf die rechte Schulter. Eine schwere Last drückte mich von hinten nach vorn, mit der Brust in den festen Sand, sodaß ich fast nicht atmen konnte. Atmen? War denn überhaupt Luft da? Ich hatte das Gefühl, als ob ich mich in einem luftleeren Raume befände. Die eine Hand mühsam nach hinten drängend, fühlte ich dort nicht den offenen Gang, sondern etwas Hartes; der Gang war verschlossen, die Decke wieder eingestürzt, und zwar hinter mir. Ich konnte weder vor- noch rückwärts.

„Winnetou!“ rief ich.

Es klang eigentümlich dumpf. Keine Antwort war zu hören.

„Emery?“

Derselbe resonanzlose Ton, und wieder keine Antwort! Von den beiden Gefährten war keine Hilfe zu erwarten. Ehe sie das Hindernis zu beseitigen vermochten, mußte ich erstickt sein. Nur nach oben konnte ich Rettung finden. Luft, Luft, Luft! Ich grub und kratzte; ich scharrte und bohrte mit beiden Händen. Ich achtete nicht darauf, daß der Sand, den ich loslöste, mir Mund, Augen, Nase und Ohren verstopfte. Weiter, immer weiter, gerade hinauf in entsetzlicher, fieberhafter, fast wahnwitziger Hast, und da, da – – ah, frische, freie Luft in die leere Lunge! Ich sog und sog sie ein; ich atmete mit Wonne, wischte mir den Sand aus den Augen und sah einen bleichen Himmel über mir, von welchem die letzten Sterne eben im Begriff standen, zu verschwinden. Ich hatte mich durch- und an die Oberfläche der Erde gearbeitet! Die Ellbogen hüben und drüben einstemmen und mich ernporschwingen, war das Werk eines Augenblickes.

Jetzt sah ich, was mich in Gefahr gebracht hatte, in eine Gefahr, welche weit, weit größer war, als ich gewußt hatte. Wäre ich nur wenige Zoll weiter zurückgewesen, so wäre ich zerquetscht, vollständig zermalmt worden – nämlich der schwere Stein war eingesunken; der von uns durchbohrte Sand, auf welchem er stand, hatte ihn nicht mehr halten können und war zusammengebrochen. Wohl zwei Ellen tief steckte der Stein in dem Boden; er war nicht gerade, sondern schief in demselben eingesunken, und infolgedessen hatte er – ich hätte laut aufjubeln mögen! – – hatte er die Felsenspalte soweit freigegeben, daß ich hineinschlüpfen und zu meinen Gefährten konnte.

Meine Gefährten! Himmel! An diese hatte ich jetzt gar nicht gedacht, sondern nur an mich allein! Wie stand es mit ihnen? Lebten sie noch, oder lag einer von ihnen unter dem Steine? Ich eilte in die Spalte und lauschte einen Augenblick. Da hörte ich zu meiner großen Freude unter mir die dumpfklingende Frage des Englishman:

„Also kein Sand?“

„Nein, sondern Felsen,“ antwortete der Apatsche ebenso dumpf.

„Es war aber doch vorher Sand da, durch den er sich gearbeitet hatte!“

„Ja. Es ist der Stein, der von oben herabgebrochen ist.“

„Himmel! So ist er zermalmt worden!“

„Zermalmt oder erstickt! Winnetou würde sein Leben geben, um seinen Bruder zu retten, aber kein Mensch kann durch diesen Stein! Die Sonne des Apatschen ist untergegangen im fernen Lande, und seine Sterne verlöschen in – –“

„Verlöschen in dem Lichte des Tages, welcher hier oben aufgehen will!“ fuhr ich an seiner Stelle fort, indem ich mich niederbückte, um da unten gehört und verstanden zu werden.

„Scharlieh!“ rief, nein, brüllte er förmlich.

„Winnetou!“

„Er lebt, er lebt, er ist da oben!“

„Ja, er lebt! Hinauf zu ihm!“ stimmte Emery bei.

Im nächsten Augenblicke sah ich beim ersten Schimmer des Tages, welcher in die Spalte fiel, die beiden aus der Tiefe tauchen. Winnetou nahm mich von vorn, Ernery von hinten; ich wurde hin und her gezogen und gedrückt, daß es mir fast noch banger wurde als vorhin, wo mir unter der Erde die Luft ausgehen wollte.

„Scharlieh, mein Bruder!“ die drei Worte nur sagte der Apatsche; aber der Ton, in welchem er sie aussprach, galt mir mehr als die allerlängste Rede. Emery machte mehr Worte, meinte es aber nicht weniger herzlich.

„Wo kommst du aber her?“ fragte er endlich, nachdem er sich beruhigt hatte. „Wir hielten dich für verloren, erstickt da unten im Sande, und nun bist du hier oben!“

„Ich habe mich hindurchgearbeitet. Steigt heraus, und seht, wie es gekommen ist!“

Sie bemerkten erst jetzt, daß das Licht des Tages durch die Spalte drang, und folgten mir hinaus.

„Die Höhle ist offen!“ meinte Emery, indem er jetzt viel leiser sprach als vorher, denn nun wir uns nicht mehr in der Spalte und unter der Erde befanden, galt es, vorsichtiger zu sein. „Ach, gerade das, was dich scheinbar in Gefahr brachte, hat uns freigemacht. Wir sind gerettet!“

„Gerettet!“ nickte der Apatsche, der mich noch immer bei der Hand hielt. „Meine Brüder mögen mit mir kommen und ihre Gewehre holen!“

Dies thaten wir, und dann erst nahmen wir uns die Zeit, das Wadi zu überblicken. Was waren die Uled Ayun doch für Menschen! Sie hatten drei so gefährliche Gefangene, wie wir waren, und dennoch schliefen sie alle; kein einziger Posten oder Wächter war zu sehen.

Links sahen wir die Reitkamele, und in dem Lanzenpferche lagen die Pferde, die ich am Tage so bewundert hatte. Die Menschen lagen einzeln oder in kleinen Gruppen zwischen den Schafen und andern Weidetieren, welche entweder auch schliefen, oder dumm in den beginnenden Tag hineinstierten.

„Pferde oder Kamele?“ fragte mich Winnetou.

„Pferde,“ antwortete ich. „Kommt hinter mir her!“

Ich legte mich auf den Boden nieder und kroch auf die Pferde zu; die beiden andern folgten mir. In der Nähe des Pferches angekommen, hielt ich an und flüsterte ihnen zu:

„Wartet hier, bis ich euch winke. Wir drei zugleich würden die Tiere unruhig machen; wir dürfen sie nicht schnauben lassen.“

Ich sah mich noch einmal vorsichtig um. Kein Schläfer hatte sich erhoben; niemand war aufgewacht. Rechts von mir, dreißig Schritte entfernt, stand ein Zelt, in dem der tiefste Schlaf wohnte. Geradeaus lag ein zweites in noch größerer Entfernung, dann weiterhin ein drittes.

Weiterkriechen durfte ich nicht, um die Pferde nicht aufzuregen; ich mußte es vielmehr wagen, mich zu erheben und aufrecht zu ihnen zu treten; das that ich denn auch, indem ich mich ihnen langsam und wie ein Bekannter näherte.

Nun kam die Hauptsache. Jedes edle arabische Pferd hat ein sogenanntes Geheimnis, und jeder Besitzer eines solchen Tieres pflegt es durch eine sich täglich wiederholende Eigentümlichkeit an sich zu gewöhnen. Meist besteht sie darin, daß man dem Tiere einen Teil irgend einer Sure in die Ohren flüstert. Und da man selten eine Sure betet, ohne vorher die Fathha zu beten, so trat ich zwischen die beiden mir nächsten Pferde, liebkoste sie durch Streichen der Mähne und begann, halblaut die Fathha herzusagen. Die Pferde, und nicht nur die beiden allein, spitzten die Ohren und ließen kein Zeichen der Unruhe hören oder sehen.

Ich suchte die drei besten aus und sattelte sie, eins nach dem andern, was weit über eine halbe Stunde in Anspruch nahm. Nun galt es, sich mit Wasser und irgendwelchem Proviante zu versehen. Ich sah mich um. In dem Augenblicke trat ein Beduine aus dem dritterwähnten Zelte, blickte gegen Osten, breitete seine Arme aus und rief mit lauter Stimme:

„Allah ill Allah! Auf, ihr Gläubigen, zum Gebete des Morgens, denn El Isfirar, der gelbe Schimmer des Tages, ist erschienen!“

Im Nu wurde es im Lager lebendig. Die Schläfer erhoben sich. Da durfte keine Minute, keine Sekunde, kein Augenblick verloren werden. Ich zerschnitt einige Palmenfaserstricke des Pferches, um einen Ausgang zu verschaffen, und schwang mich in einen Sattel; im nächsten Momente saßen Winnetou und Emery auf den beiden andern Pferden. Wir jagten, ohne einen Laut, einen Ruf hören zu lassen, davon, das Wadi empor.

Alle Beduinen, die sich erst jetzt den Schlaf aus den Augen gerieben hatten, standen starr vor Schreck. Selbst denen, an welchen wir vorüber mußten, fiel es nicht ein, sich uns entgegenzustellen. Dann aber brach ein wahrer Höllenskandal hinter uns los. Wir hörten alle Ausrufe des Schreckes und des Entsetzens, welche die arabische Sprache besitzt, aber gar nicht lange Zeit, denn unsere edlen Rosse fegten mit der Geschwindigkeit von Pfeilen mit uns dahin, sodaß der Lärm nach einer Minute schon für uns verklungen war. Sobald das steile Ostufer des Wadi uns eine dazu geeignete Stelle bot, ritten wir hinauf und trieben unsere Pferde zu noch größerer Eile an, um, wenn die Verfolger die Stelle erreichten, schon so fern zu sein, daß sie uns nicht erkennen konnten.

Wer noch nie auf einem solchen Pferde saß, und das wird wohl bei den meisten Menschen der Fall sein, der hat keine Ahnung von der Schnelligkeit eines echten und in der freien Wüste oder Steppe aufgewachsenen arabischen Rosses. Man sage, was man wolle, ich behaupte doch immer und immer wieder, es kommt ihm keines unserer berühmtesten Rennpferde gleich. Wir ritten nebeneinander und saßen dabei so ruhig und gleich im Sattel, daß wir eine Übung im Schönschreiben hätten vornehmen können, ohne einen einzigen falschen Strich zu thun. Das Gesicht des Apatschen glänzte vor Entzücken.

„Scharlieh,“ rief er mir zu, „denkst du an deinen Hatatitla?“

„Und du an deinen Iltschi?“ nickte ich.

Das waren die beiden Indianerhengste, welche wir drüben in der Savanne geritten hatten, die zwei vortrefflichsten Pferde, die mir drüben vor die Augen und unter die Hände gekommen waren, und dennoch jauchzte er:

„Hundert solche Hatatitla und hundert solche Iltschi für ein einziges von den Pferden, die wir jetzt reiten. Selbst der große Manitou reitet in den ewigen Jagdgründen kein besseres!“

Die berühmten Ruinen von El Khima flogen rechts an uns vorüber. Als unser Flug eine Stunde gewährt hatte, ritten wir langsamer, und doch war keine Spur von Schaum an den Mäulern und kein Tropfen Schweiß an den schönen Gliedern unserer Pferde zu sehen. Wir mußten ihre Kräfte schonen.

Nach einer halben Stunde sah Winnetou sich wieder um und rief:

„Zwei Reiter hinter uns. Das sind Verfolger!“

Ich hielt an und sah zurück. Die Reiter waren weit zurück; der eine hatte einen bedeutenden Vorsprung vor dem andern; beide aber ritten mit ungeheurer Schnelligkeit; ja, es waren Verfolger!

„Wieder Galopp!“ sagte ich. „Wir müssen soviel Zeit gewinnen, daß die beiden noch weiter auseinanderkommen.“

Nun fegten wir wieder wie vorher dahin. Ich erkannte bald, daß ich wirklich die drei besten Pferde ausgewählt hatte, die Verfolger kamen uns nur sehr langsam näher, obgleich sie gewiß alle Kräfte ihrer Pferde anstrengten, was wir nicht thaten. Der eine, welcher zurückgeblieben war, zeigte wohl kaum eine größere Schnelligkeit, als wir; von dem andern aber war zu berechnen, daß er uns in einer halben Stunde eingeholt haben würde. Jetzt tauchte am äußersten Horizonte hinter uns noch ein dritter auf. Sie waren uns nicht gefährlich. Wir waren unser drei, und gern hätte es ein einzelner von uns mit zehn und noch mehr von den zerteilt reitenden Leuten aufgenommen.

Die halbe Stunde verging; das Terrain blieb dasselbe, eine sandige, zuweilen dünngrasige Ebene. Wir hielten es nicht für der Mühe wert, uns viel umzublicken. Die Kerls hätten sonst gar gedacht, daß wir uns vor ihnen fürchteten. Da aber hörten wir eine schreiende Stimme hinter uns, und nun war es Zeit, uns um den, welcher sich uns näherte, zu bekümmern. Wir hielten an.

Es war der Scheik, der uns eingesperrt hatte. Hoch in den Bügeln stehend, kam er auf uns zugejagt, schwang drohend die lange Steinschloßflinte und schrie:

„la lußuß, ia haramiia, afrasi, afrasi – ihr Räuber, ihr Diebe, meine Stuten, meine Stuten!“

Er war uns so nahe gekommen, daß es meines weittragenden Bärentöters gar nicht bedurfte; ich konnte ihn recht gut schon mit dem Stutzen erreichen und legte diesen auf ihn an. So groß sein Grimm war, als er den Lauf auf sich gerichtet sah, zügelte er sein Pferd, lenkte es zur Seite, schlug, immer langsamer werdend, einen Viertelkreis um uns, hielt dann an und schrie uns zu.

„Ihr habt meine besten Pferde gestohlen, meine Stuten, die mir höher als mein Leben stehen! Gebt sie her!“

„Komm her, und hole sie dir!“ forderte ich ihn auf. „Blicke in den Lauf meines Zaubergewehres, welches, wie du selbst gesagt hast, mehr als tausend Kugeln schießt; dann werden wir erfahren, ob deine Stuten dir lieber sind, als dein Leben!“

Er folgte der Aufforderung doch nicht, sondern fuhr mich an:

„Warum habt ihr sie geraubt! Stehlen eure vornehmen Siziad sich von andern Leuten Pferde?“

„Nein. Bei uns giebt es aber auch keinen Scheik, welcher Gastfreunde gefangen nimmt und ihnen ihre Kamele stiehlt.“

„Ihr sollt die eurigen haben. Kommt mit mir zurück; ich werde sie euch geben!“

„Du bist ein Lügner; wir glauben dir nicht.“

„Jil’an daknak – verflucht sei dein Bart! Willst du mir die Pferde zurückgeben oder nicht?“

„Nein.“

„So ist deine letzte Stunde gekommen!“ drohte er, indem er das Gewehr erhob.

Sofort saß ich wieder im Anschlage und antwortete:

„Sobald dein Kolben deine Wange berührt, sitzt meine Kugel in deinem Kopfe! Nieder mit der Flinte!“

Er gehorchte augenblicklich, rief mir aber, vor Wut bebend, zu:

„Du siehst aber doch ein, daß du die Pferde unmöglich behalten kannst!“

„Ich sehe im Gegenteile ein, daß ich sie sehr gut gebrauchen kann. Sie dienen uns dazu, die Zeitversäumnis einzuholen, welche wir durch dich erlitten haben. Du hast gewußt, daß wir den Kolarasi verfolgten. Daß du geglaubt hast, uns gefangen halten zu können, verzeihen wir dir gern, denn der Falke achtet nicht der Fliege, welche ihm die Schwingen abbeißen will. Ihr seid die größten Tenabil, die mir jemals vorgekommen sind, und Hunderten von euch gelingt es nicht, es mit einem einzigen tapfern Giaur aufzunehmen. Aber wir haben durch deinen Verrat zwanzig wertvolle Stunden verloren und brauchen also die drei Stuten, um die Versäumnis wieder einzubringen. Schon als du mir den Brief diktiertest, wußten wir, daß wir jetzt frei sein würden; ich habe es dem Herrn der Heerscharen geschrieben.“

„Das hast du ihm geschrieben! Nicht meine Forderungen?“

„Diese auch, aber nur, damit er über dieselben lachen soll.“

„So werden seine Boten nicht wiederkommen?“

„Nein; aber er selbst wird mit allen seinen Reitern kommen, um den Blutpreis einzutreiben und dich für die Missethat zu strafen, welche du an uns verübt hast.“

„Allah w’Allah! Und ich habe deinen Bericht selbst fortgeschickt zu ihm!“

„Ja, das hast du. Du siehst also, mit welch großer Weisheit du von Allah begabt worden bist. Und nun mag es genug der Worte sein. Wir haben nicht Zeit, länger hier bei dir zu halten. Allah jekuhn ma’ak – Allah sei mit dir!“

Ich that, als ob ich weiter wolle; da rief er aus:

„Halt! Nicht von der Stelle! Gieb meine Pferde heraus! Du siehst, daß ich nicht mehr allein hier bin!“

Sein zurückgebliebener Gefährte war nämlich auch herangekommen, hatte sich aber nicht an uns gewagt, sondern es vorgezogen, zu ihm hinzureiten und an seiner Seite halten zu bleiben. Auch der dritte, den wir am Horizonte gesehen hatten, näherte sich im Trabe, und hinter ihm tauchten noch einige andere auf.

„Sprich doch nicht so lächerlich!“ antwortete ich. „Ich will gnädig mit dir sein, und dir zu deiner Beruhigung folgendes sagen: Die drei Kamele, welche du mit uns gefangen genommen hast, gehören dem Herrn der Heerscharen; du hast sie also nicht uns, sondern ihm genommen. Dafür werden wir ihm die drei Stuten bringen. Sprich dann mit ihm! Vielleicht ist er bereit, seine Kamele dafür wieder einzutauschen.“

„So sieh zu, ob du das ausführen kannst!“

Er legte sein Gewehr blitzschnell an und drückte auf mich ab; ich konnte ihm nicht mit einer Kugel zuvorkommen, riß mein Pferd empor und trieb es, eben als der Schuß krachte, in einer weiten Lançade zur Seite; die Kugel ging fehl. Nun wollte ich auf ihn los, doch war Winnetou mir da schon zuvorgekommen. Der kühne Apatsche hielt es gar nicht für nötig, sich dabei einer Waffe zu bedienen; er schoß von der Seite her auf den Scheik zu, trieb sein Pferd zum hohen Sprunge und ritt in unwiderstehlichem Anpralle Roß und Reiter über den Haufen, sodaß beide sich an der Erde wälzten; dann hielt er auf den andern Uled Ayun zu, riß ihm im Vorüberjagen die Flinte aus der Hand und zerschlug sie, sich vom Pferde niederbeugend, an dem Boden, daß sie in Stücke auseinanderflog.

„Fein gemacht, superfein!“ rief Emery. „Nun aber weiter, damit wir von dem Ungeziefer loskommen.“

Wir folgten der Aufforderung, ohne auf das Geschrei hinter uns zu achten. Erst nach längerer Zeit sahen wir uns einmal um. Es waren jetzt fünf Verfolger beisammen. Wir waren nur im Trab geritten.

„Machen wir rascher,“ meinte Emery, „sonst bekommen wir leicht eine Kugel von hinten! Oder willst du ihnen zeigen, wie weit ungefähr sie herankommen dürfen?“

„Sogleich,“ antwortete ich, da die Frage an mich gerichtet war.

Ich blieb halten, bis die Verfolger auf Hörweite herangekommen waren, und rief ihnen dann zu:

„Zurück mit euch!“

„Drauf, drauf!“ brüllte im Gegenteile der Scheik, seine Leute antreibend.

„Wagt es nicht! Wer nicht gehorcht, bezahlt es erst mit der Flinte, und dann mit dem Leben!“

Nun wußten sie es, und ich wendete wieder, um weiterzureiten. Nach einiger Zeit sah ich mich abermals um; sie mochten tausend Schritte hinter uns sein; der Scheik ritt voran, die Flinte quer vor sich über dem Sattel liegend; ein zweiter saß genau in derselben Stellung auf dem Pferde. Ich wollte niemand verwunden, und war doch meines jetzigen Pferdes nicht sicher; es hatte jedenfalls nicht gelernt, beim Schießen stillzustehen. Darum stieg ich ab, zielte und gab rasch hintereinander die beiden Schüsse des Bärentöters ab. Die Wirkung war diejenige, welche ich erwartet hatte: da die beiden Flinten vorn querüber gehalten worden waren, und die Kugeln genau auf die Läufe derselben trafen, so wurden dieselben den Reitern gegen die Leiber getrieben, und es gab einen so starken Stoß oder Schlag, daß die beiden Männer hintenüberflogen.

„Ia mußiba, ia huzn, ia schaka – 0 Unglück, o Traurigkeit, o Elend!“ hörte ich wirr durcheinander schreien. „Das war das Gewehr, welches meilenweit geht! Jetzt traf er die Flinten; nun geht es ans Leben! Bleibt zurück, denn Allah will nicht, daß ein Gläubiger von einem Ungläubigen, einem Zauberer, sterben soll!“

Der Scheik war heruntergefallen, er stand inmitten seiner Reiter, hielt beide Hände gegen den Leib und krümmte sich; der Schlag oder Stoß, den er erhalten hatte, hatte nicht Rücksicht auf seinen Rang genommen. Nachdem ich wieder aufgestiegen war, ritten wir weiter, die Verfolger aber blieben zurück und waren bald nicht mehr zu sehen.

„Ob sie wohl umgekehrt sind?“ fragte Emery.

„Fällt ihnen nicht ein, wenigstens dem Scheik nicht. Drei solche Pferde giebt kein Beduine auf.“

„So müssen wir dafür sorgen, daß er unsere Fährte verliert.“

„Das würde nur Zeit kosten und uns doch nichts helfen.“

„Nichts helfen? Wenn er unsere Spuren nicht mehr findet, sind wir ihn doch los!“

„Nein. Du hast doch seine Mitteilung gehört, daß der Kolarasi nach Hammamet will. Er weiß, daß wir diesem folgen, also auch dorthin reiten werden. Er wird auch nach Hammamet gehen, gleichviel ob er unsere Fährte sieht oder nicht, und dort seine Pferde von uns fordern.“

Wir ritten den ganzen Tag hindurch, ohne einen unserer Verfolger wieder zu Gesicht zu bekommen. Ebensowenig sahen wir die Fährte derer, welche wir verfolgten. Das war aber auch nicht nötig, da wir nun wußten, wohin sie sich gewendet hatten. Den Vorsprung, der ihnen so günstig war, konnten wir nun unmöglich einholen, und unsere einzige Hoffnung war, daß es in dem kleinen Hammamet augenblicklich kein Schiff gab, mit welchem sie in See gehen konnten.

Gegen Abend hatten wir die diesseitige Ebene hinter uns und kamen in die Ussalatberge, wo wir hinreichend Futter und auch Wasser für unsere Pferde fanden. Für uns selbst gab es außer dem Wasser nichts, und da wir keinerlei Nahrungsmittel bei uns hatten, mußten wir uns ziemlich hungrig schlafen legen, was uns aber nicht genierte, da wir dergleichen gewohnt waren.

Am nächsten Tage trafen wir bei den Ruinen von Nabhannah auf Ussalahbeduinen, welche uns freundlich aufnahmen. Für einige kleine Silberstücke erhielten wir von ihnen soviel Proviant, daß wir bis Hammamet recht gut ausreichen konnten.

An diesem Tage ritten wir bis Mahalute-Kasr, wo wir übernachteten, und am nächsten über die Zehlum-Ruinen, Kasr-azeït und El Menarah nach Hammamet, welches wir am Abende erreichten.

Mein erster Gang dort war gleich zu dem Rejjis el minal, der auch zuweilen Rejjis el mersa genannt wird. Von ihm erfuhr ich, natürlich nur gegen ein Trinkgeld, daß seit vier oder fünf Tagen kein Schiff außer einem kleinen Kutter den Hafen verlassen habe.

„Wem gehört derselbe?“ „Dem Juden Musah Babuam in Tunis.“

Dies hatte ein höchst günstiger Zufall für die beiden Flüchtlinge gefügt, und ich war überzeugt, daß sie die Gelegenheit benutzt hatten, dennoch erkundigte ich mich:

„Hatte der Kutter nur Fracht oder auch Passagiere?“ „Zwei Passagiere.“ „Wer waren sie?“

„Ein Kolarasi des Pascha, welcher zur See nach Tunis wollte, und ein junger Mann aus dem Beled Amirika.“

„Wann ist der Kutter abgefahren?“

„Heut morgen mit der Ebbe. Die Passagiere waren kurz vorher hier angekommen. Sie haben schnell ihre Kamele verkauft und sind dann gleich an Bord gegangen, da sie in der letzten Stunde vor der Abfahrt angekommen waren.“

„Wird das Schiff vor Tunis irgendwo anlegen?“ „Nein, denn die volle Ladung ist nach Tunis bestimmt.“ „Und wie lange wird es währen, bis es dort anlangt?“ „Bei dem jetzigen Winde wohl drei Tage.“

Die Auskunft war mir recht, da ich in weniger als zwei Tagen von Hammamet nach Tunis reiten konnte. Ich kam also einen vollen Tag vor dem Kutter dort an. Freilich war es fraglich, ob die beiden Meltons so verwegen sein würden, dort zu landen; aber es gab für sie in Tunis, wenn nicht die einzige, so doch die nächste Gelegenheit, an Bord eines großen Dampfers zu kommen, wenn sie nicht schon vorher auf dem Wasser zufällig auf einen solchen stießen und von demselben aufgenommen wurden.

Der Ansicht war auch Emery. Er sprach seine Zustimmung aus und fragte dann:

„Wir reiten morgen früh wieder ab?“

„Wenn es dir recht ist. Oder hast du einen andern Vorschlag?“

„Ich denke. Du warst doch überzeugt, daß der Scheik uns seiner Pferde wegen hierher folgen werde. Er kann kurz nach uns eintreffen und uns hier Weitläufigkeiten bereiten. Ist es da für uns nicht besser, ihm aus dem Wege zu gehen? “

„Du hast recht. Reiten wir also eine kleine Strecke fort, auf dem Wege nach Soliman zu. Uns ist es doch ganz gleich, wo wir übernachten, da wir lieber im Freien als in einem Menzil dieser kleinen Stadt schlafen.“

So verließen wir also Hammamet noch am Abende und übernachteten in einem offenen Olivengarten, der in der Nähe lag. Am nächsten Tage ritten wir dann bis nach Soliman, und am folgenden trafen wir nachmittags in Tunis ein, wo wir mit Schmerzen auf den Kutter warteten. Die drei Pferde lieferte ich im Bardo ab, wo sie zur Verfügung des Herrn der Heerscharen untergebracht wurden.

Nach der Berechnung des Hafenkapitäns hätten wir nur einen Tag uns auf die Ankunft des Kutter zu gedulden gehabt; es vergingen aber fast drei volle Tage, ehe er sich im Hafen von Goletta zeigte. Es stieg kein Passagier aus. An den Kapitän durfte ich mich nicht wenden; der war für meine Zwecke jedenfalls zu schlau; aber als das kleine Fahrzeug sich vor Anker gelegt hatte, hörte ich ein Geheul an Bord und sah, daß ein Knabe dort Prügel bekam und nachher fortgejagt wurde. Er kam über die Planke herübergelaufen, drehte sich dann um, drohte mit beiden Fäusten zurück und stieß Worte aus, die ich nicht verstehen konnte, weil ich zu fern von ihm stand. Er trollte langsam nach der Stadt zu, und ich folgte ihm.

Als fortgejagter Schiffsjunge war er existenzlos; das schien ihm aber ganz und gar nicht zu Herzen zu gehen. Sein Unterhalt machte ihm keine Sorge; er wußte genau, wie er zu beschaffen war, denn als ich ihn erreicht hatte und so that, als ob ich an ihm vorübergehen wolle, streckte er mir die Hand entgegen und forderte ein Backschisch. Ich gab ihm reichlich und fragte ihn dann nach seinen Verhältnissen aus. Er war, was wir bei uns ein „sauberes Früchtchen“ nennen würden, hatte trotz seiner vierzehn Jahre schon viel durchgemacht und war nun auch zum erstenmal auf der See gewesen, bei der Ankunft aber durchgeprügelt und fortgejagt worden.

„Hattet ihr Güter oder Reisende an Bord?“ fragte ich.

„Auch zwei Reisende.“

„Sind die hier in Goletta ausgestiegen?“

„Nein; wir mußten sie erst nach der Insel Pantellania fahren, wo sie ausstiegen und sich fränkische Kleider kauften; dann nahmen wir sie wieder auf und segelten solange hin und her, bis ein großes Dampfschiff erschien, auf welches sie stiegen, um mitzufahren.“

„Wie hieß dieses Schiff?“

„Ich weiß es nicht.“

„Woher kam es, und wohin fuhr es?“

„Auch das kann ich nicht sagen, denn mein Rejjis meinte, ich brauche es nicht zu wissen.“

Mehr erfuhr ich nicht; der Junge war zum erstenmal auf dem Wasser gewesen und kannte die bezüglichen Verhältnisse zu wenig, als daß er mir hätte Auskunft geben können. Nur das eine war gewiß, das Wichtigste und zugleich Unangenehmste, nämlich, daß die Gesuchten auf einen jedenfalls europäischen großen Dampfer entkommen waren. Natürlich hatten sie die Absicht, die schnellste Gelegenheit nach Amerika zu ergreifen, und es galt nun, wenn ihnen nicht zuvorzukommen, so doch ihnen wenigstens nicht die Zeit zu ihrem betrügerischen Vorhaben zu lassen.

Dies teilte ich meinen Gefährten mit, welche mit mir in demselben Hotel wohnten, in welchem wir nach unserer Ankunft abgestiegen waren, und sie erklärten sich einverstanden, mit dem Dampfer abzufahren, welcher morgen nach Marseille fällig war; dort würde sich, davon waren wir überzeugt, schnell eine weitere Schiffsgelegenheit bieten.

Sie gingen dann fort, um einige notwendige Vorbereitungen zu treffen, und ich blieb allein, um Notizen einzutragen. Da hörte ich eilige Schritte draußen; man klopfte stark an und riß die Thür auf; ich erhob mich schnell, um den Betreffenden über diese Ungebührlichkeit zur Rede zu stellen, hielt aber meine Strafrede gern zurück, denn hereinstürmte – mein alter, lieber Krüger-Bei. Er umarmte, drückte, quetschte und preßte mich aus Leibeskräften und rief dabei:

„Ihnen schon wieder hier, hier in Tunis! Niemand dürfte gedacht haben, daß eine so schnelle Anwesenheit möglich sei.“

„Ja, es ist schneller gegangen, als ich selbst geglaubt habe,“ antwortete ich, indem ich ihm die Rechte schüttelte. „Sie kommen selbst, uns aufzusuchen. Woher wissen Sie, daß wir uns schon wieder hier befinden? Man hat Ihnen wohl die Pferde gezeigt, welche wir mitgebracht haben?“

„Ja, ja, und habe deshalb angenommen, daß Sie auch da seien.“

„Allerdings; diese Pferde konnten nicht allein nach Tunis gelaufen sein; das ist sehr richtig. Auch wird man Ihnen gesagt haben, wer sie abgeliefert hat. Wie gefallen sie Ihnen?“

„Vortrefflich; bei Gewißheit der reinsten Rasse kann sie eigentlich niemand bezahlen.“

„Ja, es ist echtes, reines Vollblut, für welches kein eigentlicher Preis angegeben werden kann; solche Tiere sind eben unbezahlbar.“

„Und wie sind Sie in den Besitz der Pferde gekommen?“

„Ich werde es Ihnen erzählen. Sagen Sie mir aber vorher, wie es kommt, daß auch Sie schon hier angekommen sind! Ich habe angenommen, daß Ihre Gegenwart bei den Uled Ayars länger notwendig ist.“

„Dieser Notwendigkeit bin ich überhoben gewesen durch rasches Handeln nebst schnellem Eingriff bei den Uled Ayuns, daß sie zur Verteidigung keine Zeit hatten.“

Er erzählte mir nun in seinem klassischen Deutsch, daß er meiner Bemerkung in dem Briefe, ich würde noch während der Nacht frei sein, Glauben geschenkt hatte. Dennoch war er sofort aufgebrochen, um, falls meine Hoffnung sich nicht erfüllen Sollte, uns zu befreien. Die Uled Ayuns hatten noch im Wadi, aus dem wir inzwischen entkommen waren, gelegen. Sie waren freilich vorher entschlossen gewesen, es zu verlassen, an der Ausführung des Vorhabens aber durch unsere Flucht verhindert worden, da ihr Scheik uns, wie wir vermutet hatten, mit einigen seiner besten Krieger bis Hammamet gefolgt war; sie mußten also im Wadi auf ihn warten. Krüger-Bei hatte alle seine Reiter und auch die Uled Ayars bei sich gehabt; er war ihnen infolgedessen weit überlegen gewesen und hatte sie im Wadi so eingeschlossen, daß sie gezwungen gewesen waren, sich ihm ohne Gegenwehr zu ergeben. Schnell entschlossen, war er über noch zwei andere Unterabteilungen des Stammes hergefallen und hatte auch diese überwältigt. Nun waren die Ayuns gezwungen gewesen, den hohen Blutpreis an die Ayars zu bezahlen, eine Angelegenheit, welche freilich nicht an einem oder in einigen Tagen abgewickelt werden konnte.

Die Anwesenheit Krüger-Beis war dabei nicht nötig gewesen; er hatte also für alle Fälle zwei Schwadronen zurückgelassen, und war mit den übrigen Truppen nach Tunis zurückgekehrt, wo er sofort nach seiner Ankunft hörte, daß wir im Bardo gewesen waren und dort die Pferde übergeben hatten. Er nahm ganz selbstverständlich an, daß wir uns in dem Hotel befänden, in welchem wir früher abgestiegen waren, und war nun selbst gekommen, um uns dort aufzusuchen.

Da wir schon morgen fort wollten, galt es, noch heute die amtlichen Erhebungen zu veranlassen, um die Legitimationen zu vervollständigen, die wir in Beziehung auf die Ermordung Small Hunters in den Händen hatten. Krüger-Bei hielt die Angelegenheit für wichtig genug, sie Mohammed es Sadok Pascha, dem Herrscher von Tunis, selbst vorzutragen; er that dies ungesäumt; dann hatten wir eine Audienz bei dem Vertreter der Vereinigten Staaten, und noch ehe es Abend geworden war, befanden wir uns im Besitze von Dokumenten, die den beiden Meltons, wenn wir sie erwischten, das Leben kosten mußten.

Den Abend brachten wir im Bardo bei meinem alten Freunde zu. Er hätte uns gern viel länger behalten, mußte aber zugeben, daß es für uns unmöglich sei, auf seinen Wunsch einzugehen, hoffte jedoch, uns, oder wenigstens mich, recht bald einmal wiederzusehen.

Am andern Tage traf der Dampfer pünktlich ein. Krüger-Bei ließ es sich nicht nehmen, uns nach dem Hafen zu begleiten; ja, er ging sogar mit an Bord, um sich zu überzeugen, daß wir gut untergebracht seien. Dann verabschiedete er sich von uns, und das Schiff trug uns den beiden entkommenen Verbrechern nach.- – –

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