Kolma Putschi

Einen Tag, nachdem wir Harbours Farm verlassen hatten, war uns das Unglück beschieden, daß Treskows Pferd stürzte und den Reiter abwarf. Es sprang rasch wieder auf, rannte fort und schleifte Treskow, welcher mit einem Fuße im Bügel hängen geblieben war, neben sich her. Zwar waren wir schnell zur Hand, das Tier zu halten, aber doch schon zu spät, um zu verhüten, daß er mit dem Hufe einen Schlag erhielt, der ihn glücklicherweise nicht am Kopfe sondern an der Schulter traf. Die Wirkung dieses Schlages äußerte sich, wie dies zwar selten aber doch zuweilen vorzukommen pflegt, nicht nur auf die getroffene Stelle sondern auch auf die ganze betreffende Seite des Körpers. Der Verletzte war auf derselben wie gelähmt; er konnte sogar das Bein kaum bewegen, und es zeigte sich als ganz unmöglich, ihn wieder auf das Pferd zu bringen. Wir konnten nicht weiterreiten.

Zum Glücke gab es in der Nähe ein Wasser, wohin wir ihn brachten und nun gezwungen waren, Lager zu machen, auf wie lange, das mußte abgewartet werden.

Winnetou untersuchte ihn. Weder das Schulterblatt noch irgend ein Knochen war verletzt, doch hatte die getroffene und sehr geschwollene Stelle ein dunkle Färbung angenommen. Wir konnten uns nur mit kalten Umschlägen und Massage behelfen, welche letztere sich außerordentlich schmerzhaft zeigte, zumal Treskow keine widerstandsfähige Natur besaß und nicht in die Klasse der Westmänner gerechnet werden konnte, welche in der Schule, die hinter ihnen liegt, gelernt haben, Schmerzen lautlos zu ertragen.

Er wimmerte bei jeder Berührung und Bewegung; wir kehrten uns aber nicht daran und hatten den Erfolg, daß die Lähmung wich und er schon am nächsten Tage den Arm und das Bein bewegen konnte. Nach weiteren zwei Tagen hatte sich die Geschwulst fast gesetzt, und die Schmerzen waren soweit gewichen, daß wir weiterreiten konnten.

Wir hatten durch diesen leidigen Fall drei volle Tage eingebüßt, eine Zeit, die wir unmöglich einbringen konnten. Old Surehand vor seiner Ankunft oben im Park noch einzuholen, was wir doch beabsichtigt hatten, das mußten wir nun aufgeben. Unter gewöhnlichen Verhältnissen hätte dies ja nichts zu sagen gehabt; aber er war ganz allein, was schon an und für sich seine große Bedenken hatte, und sodann befanden sich Leute hinter ihm, denen nicht zu trauen war. Ja, wenn ihm bekannt gewesen wäre, daß der „General“ auch hinauf wollte und zwar zu derselben Zeit und nach demselben Parke, so hätte er sich vor ihm in acht nehmen können; aber er wußte das nicht. Auch dem alten Wabble traute ich nicht. Ich wußte freilich nicht, wohin der alte König der Cow-boys mit seinen Begleitern eigentlich gewollt hatte; ich konnte nur unbestimmte Ahnungen darüber hegen; aber nach dem, was geschehen war, mußte ich annehmen, daß er sich der Rache wegen an unsere Ferse geheftet hatte. Der Umstand, daß wir sein Pferd behalten hatten, konnte gar nichts daran ändern, sondern die Ausführung dieses Vorhabens höchstens verzögern, und diese Verzögerung konnten wir nicht mehr in Anschlag bringen, weil unsere dreitägige Versäumnis ihm Gelegenheit gegeben hatte, den ihm abgewonnen Vorsprung einzuholen. Ebenso mußte ich an Tibo taka denken. Das Ziel seines Rittes war uns eigentlich unbekannt; daß er nach Fort Wallace wollte, war jedenfalls eine Lüge gewesen. Ich nahm, grad so wie Winnetou, an, daß der weiße Medizinmann auf irgend einem, uns noch unbekannten Wege von dem „Generale“ aufgefordert worden sei, nach Colorado zu kommen und dort an einem bestimmtem Punkte mit ihm zusammenzutreffen. Ein einzelner Mann, der noch dazu durch die Anwesenheit seiner Frau an jeder freien Bewegung gehindert wurde, war eigentlich gar nicht zu fürchten; aber dem Bösen ist das, was man Glück zu nennen pflegt, oft wenigstens scheinbar oder vorübergehend günstiger als dem Guten, und so schien es geraten, auch diesen Menschen mit in die Berechnung zu ziehen.

Wir waren also auf unserm weitern Ritte sehr vorsichtig und kamen über die Grenze hinüber und ein gutes Stück ins Colorado hinauf, ohne irgend welche Belästigung zu erfahren oder eine Spur der erwähnten Personen entdeckt zu haben.

Jetzt befanden wir uns in der Nähe des Rush-Creek, und Winnetou kannte da ein altes, längst verlassenes Camp welches wir gegen Abend erreichen wollten. Dieser Platz hatte nach der Beschreibung des Apatschen einen nie versiechenden Quell und war mit einer Steinumwallung umgeben, welche guten Schutz gewährte, obgleich sie nicht eine Mauer bildete, sondern in der Weise aufgeschichtet war, wie die Landleute mancher Gegenden die in ihrem Acker gefundenen Steine rund um denselben aufeinanderlegen. Für den Westmann bietet ein solcher Wall, auch wenn er nicht hoch ist, eine stets willkommene Deckung gegen etwaige Angriffe.

Kurz nach Mittag entdeckten wir eine Fährte von gegen zwanzig Reitern, welche aus Nordost herüberkam und auch nach dem Rush-Creek zu gehen schien. Die Spuren zeigten, daß die Pferde beschlagen gewesen waren; dieser Umstand und die schlechte und oft unterbrochene Ordnung, welche die Männer eingehalten hatten, ließen vermuten, daß sie Weiße waren. Wir wären dieser Fährte gefolgt, auch wenn sie nicht so genau in unsere Richtung geführt hätte. Man muß im wilden Westen stets wissen, was für Menschen man vor sich hat. Daß sie hinauf in die Berge wollten, war für uns ganz selbstverständlich, zumal man grad damals von bedeutenden Gold- und noch größeren Silberfunden sprach, die in den Mountains gemacht worden seien. Wahrscheinlich hatten wir da die Fährte einer Gesellschaft jener Abenteurer, welche sich infolge solcher Gerüchte schnell zusammenfinden und dann ebenso rasch wieder auseinander gehen, verwegene und gewissenlose Gesellen, welche vom Leben alles erwarten und sich doch sehr wenig daraus machen, wenn sie nichts bekommen.

Die Fährte war wenigstens fünf Stunden alt; wir hatten also Grund, anzunehmen, daß wir heut mit diesen Leuten nicht zusammentreffen würden. Wir folgten ihr also ohne alle Besorgnis, bis wir an eine Stelle kamen, wo sie angehalten hatten. Mehrere leere Konservenbüchsen, die man weggeworfen und dann unvorsichtig liegen lassen hatte, verrieten, daß an diesem Orte Mittag gehalten worden war. Auch eine leere Flasche lag da. Wir waren abgestiegen, um die Stelle genau zu untersuchen, fanden aber nichts, was uns zu ungewöhnlichen Befürchtungen Veranlassung geben konnte. Dick Hammerdull hob die Flasche auf, hielt sie gegen das Licht, sah, daß sich noch ein Schluck drin befand, setzte sie an den Mund und warf sie schnell wieder fort. Sprudelnd und Gesichter schneidend rief er aus:

„Pfui! Wasser, abgestandenes, altes, halbwarmes Wasser! Hatte mir eingebildet, einen Schluck guten Brandy zu finden! Das können keine Gentlemen sein! Wer eine Flasche bei sich hat und nur Wasser drin, der kann keine Ansprüche auf meine Achtung haben, der ist ein ordinärer Mensch! Meinst du nicht auch, Pitt Holbers, altes Coon?“

„Hm!“ brummte der Lange. „Wenn du Schnaps erwartet hast, so kannst du mir in der Seele leid thun, lieber Dick. Denkst du denn, daß dir hier im Westen jemand eine volle Brandyflasche her vor die Nase legt?“

„Ob voll oder leer, das bleibt sich gleich, wenn nur etwas darinnen ist. Aber Wasser, das ist geradezu schändlich an mir gehandelt!“

Der klügste Mann begeht zuweilen eine Dummheit, und vielleicht grad dann, wenn er alle Veranlassung hat, klug zu sein. So auch wir! Von den andern will ich schweigen, aber daß wir beide, Winnetou und ich, diese Flasche unbeachtet ließen, das war eine geradezu unverzeihliche Nachlässigkeit von uns. Die leeren Konservenbüchsen hatten ja nichts zu sagen; aber die Flasche hätte unsere Aufmerksamkeit erregen müssen. Hätte sich Branntwein drin befunden gehabt, nun, so wäre er eben ausgetrunken und die Flasche dann fortgeworfen worden; aber es war Wasser drin gewesen, Wasser! Man hatte sie also nicht des Brandy wegens, sondern als Wasserflasche mitgenommen, sie als Feldflasche benutzt, welche man füllt und in die Satteltasche schiebt, um da, wo es kein Wasser giebt, seinen Durst löschen zu können. Im wilden Westen ist oder war wenigstens damals eine Flasche eine Seltenheit; sie wurde nicht weggeworfen, sondern aufgehoben. Auch diese hier war nicht weggeworfen, sondern vergessen worden; das hätte uns eigentlich unser kleiner Finger sagen müssen. Wenn der Besitzer, den Verlust bemerkend, umkehrte, um sie zu holen, so mußte er uns entdecken. Das war es, was wir uns hätten denken sollen und woran wir doch nicht dachten. Ich kann mich noch heut über meine damalige Unachtsamkeit ärgern. Die Folgen traten freilich sehr prompt ein!

Die Leute hatten an dieser Stelle über drei Stunden lang kampiert; die fortführende Fährte war nicht zwei Stunden alt; wir folgten ihr dennoch vielleicht eine halbe Stunde lang über eine grasige Savanne, bis wir am Horizonte und zu beiden Seiten Buschwerk sahen, hinter welchem rechter Hand eine bewaldete Höhe lag, ein Vorberg des Sandythales, über dessen Creek wir heut früh gekommen waren. Winnetou deutete nach dieser Höhe und sagte:

„Dort an dem Berge müssen wir vorüber, wenn wir nach dem Camp wollen. Meine Brüder mögen mir folgen!“

Er lenkte nach rechts ab.

„Und die Fährte hier?“ fragte ich. „Bleiben wir nicht auf ihr?“

„Heut nicht. Morgen werden wir sie wiedersehen.“

Seine Berechnung war ganz richtig; wir wären früh zu ihr zurückgekehrt, wenn wir nicht die Unterlassungssünde in Beziehung auf die Flasche begangen hätten. Wir folgten ihm ganz ahnungslos, der selbst nicht ahnte, wie verhängnisvoll das Camp uns werden sollte.

Immer durch Buschland reitend, kamen wir nach einer Stunde an dem erwähnten Berg vorüber, hinter welchem sich eine Höhe nach der andern aufbaute oder kulissenartig vorschob. Wir folgten dem Apatschen, uns seiner sichern Führung anvertrauend, zwischen sie hinein und kamen gegen Abend in ein breites, sanft ansteigendes Thal, aus dessen Mitte uns ein stiller Weiher entgegenglänzte, in dessen Abflusse zahllose kleine, silberhelle Fischchen spielten. Schattige Bäume standen, bald einzeln, bald in Gruppen, rings umher, und hinter dem Teiche sahen wir Steinanhäufungen, welche von weitem wie die Ruinen eines früher bewohnten Ortes erschienen.

„Das ist das Camp, welches ich meine,“ erklärte Winnetou. „Hier sind wir sicher vor jedem Überfalle, wenn wir einen Posten an den Eingang zum Thale stellen.“

Er hatte recht. Es konnte kaum einen Ort geben, der sich besser zum sichern Lager eignete als dieses Camp. Wenn ich bis jetzt irgendwelche Sorge für uns gehabt hätte, sie wäre beim Anblicke dieser Stelle sofort verschwunden. Wir ritten, des weichen Bodens wegen beinahe unhörbar, einer hinter dem andern an dem Weiher hin; da hielt Winnetou, welcher voran war, plötzlich sein Pferd an, hob den Finger, um Schweigen zu gebieten, und lauschte.

Wir folgten seinem Beispiele. Jenseits der Steine erklangen Töne, die in der Entfernung, in welcher wir uns befanden, allerdings nur von einem scharfen Ohre gehört werden konnten. Der Apatsche stieg ab und gab mir das Zeichen, dies auch zu thun. Wir ließen unsere Pferde bei den Gefährten zurück und schlichen uns leise zu den Steinen hin. Je näher wir diesen kamen, desto deutlicher wurden die Klänge. Es war eine hohe männliche Bariton- oder eine sehr tiefe weibliche Altstimme, welche in Indianersprache langsam und klagend ein Lied sang. Das war nicht eine Indianerweise, aber auch keine Melodie nach unseren Begriffen; das lag vielmehr in der Mitte zwischen beiden, als hätte ein Roter sich der Sangesweise der Bleichgesichter anbequemt und in die Sprache und den eigenartigen Ausdruck der Indianer übertragen. Ich hätte sofort wetten mögen, daß derjenige oder diejenige, welcher oder welche da vor uns sang, das Lied und auch die Melodie selbst erfunden habe. Es war ein Sang, der sich, dem, Sänger fast unbewußt, aus der Seele löst, um ebenso ins Geheimnisvolle zu verklingen, wie er aus dem Geheimnisvollen erklungen ist.

Wir schoben uns näher und näher, bis wir eine schmale Bresche im Steinwalle erreichten, durch welche wir sehen konnten.

„Uff, uff!“ sagte Winnetou, vor Überraschung beinahe laut.

„Uff, uff!“ sagte auch ich, mit ihm zu gleicher Zeit, denn ich war so erstaunt wie er selbst.

Die Steine bildeten eine von Bäumen beschattete und mit einigen Büschen besetzte Umwallung von vielleicht vierzig Meter Durchmesser, deren Boden von hohem fettem Grase bewachsen war. Am Rande dieser Umwallung, ganz nahe bei der Bresche, an welcher wir lagen, saß – Winnetou, der Häuptling der Apatschen!

Ja, gewiß, in etwas größerer Entfernung hätte man den Indianer da drin für Winnetou halten müssen. Sein Kopf war unbedeckt. Er hatte seine langen, dunkeln Haare in einen Schopf gebunden, von welchem sie ihm jetzt, da er saß, über den Rücken bis auf die Erde niederfielen. Sein Jagdrock und seine Leggins waren aus Leder gefertigt; dazu trug er Mocassins. Um die Hüften hatte er sich eine bunte Decke geschlungen, in welcher außer dem Messer keine andere Waffe steckte. Neben ihm lag ein Doppelgewehr. Am Halse hingen an Schnüren und Riemen verschiedene notwendige Gegenstände, doch darunter keiner, den man für eine Medizin hätte halten können.

War das nicht alles fast genau so wie bei Winnetou? Freilich war der Indianer da drin älter wie der Apatsche, aber man sah noch heut, daß er einst gewiß schön gewesen war. Seine Gesichtszüge waren ernst und streng, hatten aber doch etwas an sich, was mir frauenhaft weich vorkam. Alles in allem war ich im ersten Augenblicke erstaunt über diese Ähnlichkeit mit Winnetou gewesen, und nun dieses Erstaunen vorüber war, bemächtigte sich meiner ein Gefühl, welches ich nicht beschreiben kann. Ich befand mich vor etwas Rätselhaftem, vor einem verschleierten Bilde, dessen Schleier nicht zu sehen war.

Der Rote sang noch immer halblaut fort. Wie stimmte aber das weiche, tief empfundene Weh des Liedes mit dem kühnen, energischen Schnitte seines Gesichtes? Wie war der harte, unerbittliche Zug, der seine vollen Lippen umlagerte, mit dem wunderbaren, milden Glanze seiner Augen in Harmonie zu bringen, der Augen, von denen ich behaupten möchte, daß sie gewiß und wahrhaftig schwarz gewesen seien, während es sonst niemals wirklich schwarze Augen giebt? Dieser Rote war nicht das, was er schien, und schien nicht das, was er war. Hatte ich ihn schon gesehen? Entweder nirgends oder hundertmal! Er war mir ein Geheimnis, aber inwiefern und warum, das vermochte ich nicht zu sagen.

Winnetou hob die Hand in die Höhe und flüsterte:

„Kolma Puschi!“

Auch seine Augen hatten sich erweitert, um den fremden Indianer mit einem Blicke zu umfassen, wie ich selten einen Blick aus den Augen des Apatschen gesehen hatte.

Kolma Puschi! Also ich hatte richtig geahnt. Wir sahen eine rätselhafte, eine wirklich rätselhafte Persönlichkeit vor uns. Es gab oben in den hohen Parks einen Indianer, den kein Mensch näher kannte, der zu keinem Volke gehörte und der in stolzer Weise jeden Umgang von sich wies. Er jagte bald hier und bald dort, und wo man ihn sah, da verschwand er, wie Schillers „Mädchen aus der Fremde“, ebenso schnell, wie er gekommen war. Nie hatte er sich einem roten oder weißen Menschen feindlich gezeigt, aber es konnte sich auch niemand rühmen, ihn auch nur einen Tag lang zum Gefährten gehabt zu haben. Einige hatten ihn zu Pferde, einige nur zu Fuße gesehen, stets aber hatte er den Eindruck eines Mannes gemacht, der seine Waffen zu führen verstand und mit dem also nicht zu spaßen sei. Seine Person galt den Indianern und den Weißen als für alle Fälle neutral, als unverletzlich; ihn feindlich zu behandeln, hätte nichts anderes geheißen, als den großen Manitou in Zorn zu versetzen und seine Rache heraufzubeschwören. Gab es doch Indianer, welche behaupteten, dieser rote Mann sei kein Mensch mehr, sondern der Geist eines berühmten Häuptlings, den Manitou aus den ewigen Jagdgefilden zurückgeschickt habe, um nachzuforschen, wie es seinen roten Kindern ergehe. Es gab keinen Menschen, der seinen Namen hatte erfahren können, und da man doch für jeden Gegenstand und für jede Person einen Namen haben muß, so hatte man ihn seiner nachtschwarzen, tiefdunkeln Augen wegen Kolma Puschi, d. i. Dunkelauge oder Schwarzauge, genannt. Wer aber ihm diesen Namen gegeben, ihn zum erstenmal ausgesprochen und weitergetragen hatte, das wußte freilich auch niemand.

Also diesen geheimnisvollen Indianer hatten wir jetzt vor uns. Winnetou kannte ihn auch nicht, hatte ihn auch noch nicht gesehen, behauptete aber doch sofort, daß es Kolma Puschi sei. Es fiel mir gar nicht ein, an der Wahrheit dieser Behauptung zu zweifeln, denn jeder, der diesen Roten vor die Augen bekam und vorher auch nur einmal von Kolma Puschi gehört hatte, mußte sich nach dem ersten Blicke sagen, daß er dieser und kein anderer sei.

Wir hatten keine Veranlassung, ihn lange zu belauschen, und da wir unsere Gefährten nicht lange warten lassen wollten, so erhoben wir uns von der Erde und machten dabei absichtlich ein Geräusch. Schnell wie ein Blitz griff er nach seinem Gewehre, richtete die Läufe auf uns, ließ die Hähne knacken und rief:

„Uff! Zwei Männer! Wer?“

Das war ebenso kurz, wie es gebieterisch klang. Winnetou öffnete schon den Mund, um zu antworten; da ging mit dem Fremden eine plötzliche Veränderung vor. Er ließ sein Gewehr, es mit der einen Hand am Oberlaufe haltend, mit dem Kolben zu Boden sinken, breitete den andern Arm wie bewillkommnend aus und rief:

„Intschu tschuna! Intschu tschuna, der Häuptling der Apa – – doch nein! Das ist nicht Intschu tschuna; das kann nur Winnetou sein, sein Sohn, sein noch viel größerer, noch berühmterer Sohn!“

„Du hast Intschu tschuna, meinen Vater, gekannt?“ fragte Winnetou, indem wir durch die Bresche in den Kreis traten.

Es war, als besinne er sich, ob er es leugnen oder zugeben solle. Da das erstere aber nun nicht mehr möglich war, antwortete er: „Ja, ich habe ihn gekannt; ich habe ihn gesehen, einmal oder zweimal, und du bist sein Ebenbild.“

Seine Stimme hatte einen weichen und doch kräftigen, entschiedenen Ton; sie war fast noch sonorer, noch klangreicher als diejenige des Apatschen und hatte unbedingt eine höhere, beinahe weibliche Lage.

„Ja, ich bin Winnetou; du hast mich erkannt. Und du wirst Kolma Puschi genannt?“

„Kennt mich Winnetou?“

„Nein; ich habe dich noch nie gesehen; ich errate es. Erlaubt uns Kolma Puschi, von dem wir stets nur Gutes hörten, an seiner Seite Platz zu nehmen?“

Der Genannte richtete seine Augen nun auch auf mich. Nachdem er einen scharf forschenden Blick über mich hatte gleiten lassen, antwortete er:

„Auch ich habe nur Gutes von Winnetou gehört. Ich weiß, daß oft ein berühmtes Bleichgesicht bei ihm ist, welches noch nie eine böse That begangen hat und Old Shatterhand genannt wird. Ist das dieser Weiße?“

„Er ist’s,“ nickte Winnetou.

„So setzt euch nieder, und seid Kolma Puschi willkommen!“

Er gab uns seine Hand, die mir ungewöhnlich klein vorkam. Winnetou machte ihm die Mitteilung-

„Wir haben Gefährten bei uns, welche draußen am Wasser warten. Dürfen auch sie herbeikommen?“

„Der große Manitou hat die Erde für alle guten Menschen geschaffen; es ist hier Platz genug für alle, die euch begleiten.“

Ich ging, um sie zu holen. Die Umwallung hatte auf der andern Seite einen breitern Eingang als die Bresche, durch welche wir gestiegen waren; als wir durch ihn in den Kreis gelangten, saßen Winnetou und Kolma Puschi nebeneinander unter einem Baume. Der letztere sah uns erwartungsvoll entgegen. Sein Auge glitt über die Nahenden mit dem gewöhnlichen Interesse hinweg, welches man für Unbekannte zeigt, mit denen man für kurze Zeit zu verkehren hat; als es aber auf Apanatschka fiel, welcher zuletzt hereingeritten kam, blieb sein Blick wie festgebannt an diesem hangen. Es riß ihn – wie eine unsichtbare Gewalt – mit einem Rucke vom Boden auf; er that, den Blick keinen Moment von ihm wendend, mehrere Schritte auf Apanatschka zu, blieb dann stehen, verfolgte jede seiner Bewegungen mit unbeschreiblicher Spannung, trat dann sehr schnell auf ihn zu und fragte in fast stammelnder Weise:

„Wer – wer bist du? Sag – – sag es mir!“

Der Gefragte antwortete mit gleichgültiger Freundlichkeit: „Ich bin Apanatschka, der Häuptling der Kanean-Komantschen.“

„Und was – was willst du hier in Colorado?“

„Ich wollte nach Norden, um die heiligen Steinbrüche zu besuchen, und traf dabei auf Winnetou und Old Shatterhand, welche in die Berge wollten. Da habe ich meinen Pfad geändert und bin mit ihnen geritten.“

„Uff, uff! Häuptling der Komantschen! Es kann nicht sein; es kann nicht sein!“

Er starrte Apanatschka noch immer so forschend an, daß dieser fragte:

„Kennst du mich? Hast du mich schon einmal gesehen?“

„Ich muß, ich muß dich gesehen haben, doch wird es wohl im Traum gewesen sein, im Traume meiner Jugend, die schon längst vergangen ist.“

Er gab sich Mühe, seine Aufregung zu beherrschen, reichte ihm die Hand und fuhr fort:

„Sei auch du mir willkommen! Es ist heut ein Tag, wie wenig Tage sind!“

Er kehrte zu Winnetou zurück, bei dem ich inzwischen Platz genommen hatte, und ließ sich, Apanatschka immer noch betrachtend, in einer Weise auf seinen frühern Sitz nieder, als ob er sich noch heut im „Traume seiner Jugend“ befinde. Ein solches Verhalten ist bei einem Indianer eine Seltenheit, welche nicht unbeachtet bleiben kann. Sie fiel Winnetou nicht weniger auf als mir, doch ließen wir uns nichts davon merken, so hochinteressant die Scene für uns beide gewesen war.

Die Pferde wurden zur Tränke geführt und dann mit grünem Laubwerk zum Fressen wohl versorgt. Zwei Mann sammelten Dürrholz zum Feuer, welches angesteckt wurde, sobald es dunkelte, und um dieselbe Zeit ging Pitt Holbers fort, um als der erste am Thaleingang Posten zu stehen. Er sollte von Treskow abgelöst werden, worauf wir nach der gewöhnlichen Reihe folgen wollten.

Wir saßen alle in einem weiten Kreise, in dem das Feuer brannte. Wir waren mit Proviant versehen und teilten Kolma Puschi davon mit, da wir glaubten, daß er nichts zu essen habe.

„Meine Brüder sind freundlich zu mir,“ sagte er; „aber ich könnte ihnen auch Fleisch geben, daß sie alle satt würden.“

„Wo hast du es?“ fragte ich.

„Bei meinem Pferde.“

„Warum hast du es nicht mit hierher genommen?“

„Weil ich nicht hier bleiben, sondern weiterreiten wollte. Es steht an einem Orte, wo es sicherer ist als hier.“

„Hältst du dieses Camp nicht für sicher?“

„Für einen einzelnen nicht; da ihr aber so zahlreich seid, daß ihr Wachen ausstellen könnt, habt ihr nichts zu befürchten.“

Ich hätte dieses Gespräch gern fortgesetzt; er verhielt sich aber so einsilbig, daß ich davon abließ, ihn zu animieren. Natürlich fragte er, wohin wir wollten. Als er erfuhr, daß der Park von San Louis unser Ziel sei, wurde er noch schweigsamer als vorher; das konnte uns weder auffallen noch beleidigen. Im wilden Westen ist der Mensch selbst gegen gute Bekannte vorsichtiger als anderswo. Nur Dick Hammerdull war unzufrieden, daß von diesem fremden Indianer so wenig zu erfahren war; er wollte mehr erfahren und fragte ihn in seiner vertraulichen Weise:

„Mein roter Bruder hat gehört, daß wir von Kansas heraufgekommen sind. Dürfen wir nun wissen, woher er gekommen ist?“

„Kolma Puschi kommt von daher und von dorther; er ist wie der Wind, der alle Wege hat,“ lautete die unbestimmte Antwort.

„Und wohin wird er von hier aus gehen?“

„Dahin und dorthin, wohin sein Pferd die Schritte lenkt.“

Well! Ob dahin oder ob dorthin, das ist ja ganz egal; das bleibt sich vollständig gleich; aber man muß doch wenigstens wissen, wohin das Pferd zu laufen hat! Oder nicht?“

„Wenn Kolma Puschi es weiß, ist es genug.“

„Oh! Ich brauch es also nicht zu wissen?“

„Nein.“

„Das ist sehr aufrichtig; das ist nicht nur aufrichtig, sondern sogar grob! Meinst du nicht auch, Pitt Holbers, altes – –“

Er bemerkte, daß Holbers jetzt nicht da war, und verschluckte also das letzte Wort seiner Frage. Kolma Puschi wendete sich vollständig zu ihm hin und sagte in ernstem Tone zu ihm:

„Das Bleichgesicht, welches Hammerdull genannt wird, nennt mich grob. War es vorher fein und höflich, mir den Mund öffnen zu wollen, wenn ich es liebe, daß er geschlossen bleibt? Der dicke Mann scheint den Westen nicht genau zu kennen. Es ist da stets gut, wenn niemand weiß, woher man kommt und wohin man will. Wer sein Ziel verschweigt, dem kann die Gefahr nicht vorauseilen, um ihn dort zu überfallen. Das mag Hammerdull sich merken!“

„Danke!“ lachte der Zurechtgewiesene. „Schade, jammerschade, Mr. Kolma Puschi, daß Ihr kein Schulmeister geworden seid! Die Begabung hättet Ihr dazu! Übrigens war es nicht bös von mir gemeint. Ihr gefallt mir außerordentlich, und ich würde mich freuen, wenn Euer Weg derselbe wie der unsere wäre. Darum habe ich gefragt.“

„Daß mein dicker, weißer Bruder es nicht bös gemeint hat, weiß ich, sonst hätte ich ihm überhaupt nicht geantwortet. Ob mein Weg derselbe ist, das wird sich finden; ich überlege es mir. Howgh!“

Damit war die Unterhaltung zu Ende. Weil wir am andern Morgen sehr zeitig aufbrechen wollten, legten wir uns bald schlafen; das war, als Pitt Holbers, welcher von Treskow abgelöst worden war, wieder in das Lager kam.

Wie lange ich geschlafen hatte, weiß ich nicht; ein vielstimmiges Brüllen weckte mich, und als ich die Augen öffnete, geschah es nur, um einen Augenblick lang einen vor mir stehenden Menschen zu sehen, welcher mit dem Gewehrkolben ausholte. Ehe ich eine Bewegung machen konnte, traf mich der Hieb, und es war aus mit mir – – -glücklicherweise nicht für immer.

Lieber Leser, bist du eine so empfindsame Natur, daß es dir möglich ist, mir nachzufühlen, wie es ist, wenn man aus einer tiefen Betäubung erwacht und dabei zu der freundlichen Erkenntnis kommt, daß man einen Dummkopf besitzt, der so unbedachtsam gewesen ist, einen niedersausenden Gewehrkolben aufzufangen? Ich sage mit Absicht, „einen Dummkopf“, denn dümmer als nach einem solchen Hiebe kann es keinem menschlichen Kopfe sein! Zunächst fühlt man ihn gar nicht; man lebt nur bis zum Hals herauf und kommt erst nach und nach durch ein gewisses Summen und Brummen zu der Einsicht, daß man nicht gänzlich geköpft, sondern nur an den obersten Teil des Körpers geschlagen worden ist. Daß dieser Teil der Kopf ist, wird einem nicht sogleich, sondern erst dann – – nicht klar, sondern einstweilen noch unklar, wenn das Brummen sich in ein Drücken und Schrauben verwandelt, als ob der in eine Weinpresse gespannte Schädel mit einem halben oder auch ganzen Gros Propfenzieher bearbeitet werde. Im nächsten Stadium bringt jeder Pulsschlag, welcher das Gehirn mit Blut versorgt, das Gefühl hervor, als ob man mit dem Kopfe unter den Stampfen einer Ölmühle oder eines Hammerwerkes liege, und dazwischen wühlen Löwenkrallen im Domizile des Verstands herum. Ich sehe ein, daß es eines intelligenten Menschen unwürdig ist, den Zustand zu beschreiben, in welchem man sich nach einem solchen Hiebe befindet; ich will nur sagen: dumm, im höchsten Grade dumm!

So erging es auch mir. Nachdem ich die oben beschriebenen Grade durchgemacht hatte, bekam ich alle möglichen Farben, vielleicht auch Röntgens Strahlen, vor die Augen, und die Brandung von hundert Meeresküsten tobte mir um die Ohren. Ich konnte weder sehen noch hören und that, was in diesem Falle des Beste und Allergescheiteste war; ich fiel in die Betäubung zurück.

Als ich dann, zum zweitenmal, wieder zu mir kam, fühlte ich mich zu meiner Freude im leidlichen Besitze meiner körperlichen und geistigen Fähigkeiten; nur daß ich noch nicht ganz genau zu unterscheiden vermochte, ob mir zwischen und aus den Schultern ein Kopf oder ein Gewehrkolben gewachsen war. Ich machte natürlich von diesen Fähigkeiten sofort Gebrauch, indem ich zunächst die Augen öffnete. Das, was ich sah, war nicht sehr tröstlich zu nennen. Ein großes, helles Feuer brannte, und vor mir saß Old Wabble, der seine haßerfüllten Augen auf mich gerichtet hielt.

„Ah, endlich, endlich!“ rief er aus. „Habt Ihr ausgeschlafen, Mr. Shatterhand? Von mir geträumt, nicht wahr? Ich bin überzeugt, Euch im Traume als Engel erschienen zu sein, und bin gern bereit, diese Rolle jetzt weiter zu spielen; th’is clear! Als was für einen Engel werdet Ihr mich da wohl kennen lernen? Als Rache- oder Rettungsengel?“

Pshaw!“ antwortete ich. „Ihr habt zu keinem von beiden das Geschick.“

Es fuchste mich gewaltig, diesem Menschen antworten zu müssen; aber ein stolzes Schweigen wäre das Verkehrteste gewesen, was es geben konnte. Ich ließ natürlich meine Augen rundum schweifen. Wir waren alle gefangen, selbst Treskow, der Wache gestanden hatte. Wahrscheinlich war er nicht aufmerksam genug gewesen und hatte sich überrumpeln lassen. Wir waren alle gefesselt. Links von mir lag Winnetou, rechts der dicke Hammerdull. Die Waffen hatte man uns abgenommen und die Taschen alle geleert. Von den zwanzig Kerlen, die rund um uns saßen, kannte ich außer Old Wabble keinen. Das waren die Leute, deren Fährte wir heut gesehen hatten. Wie kamen sie hierher nach diesem Camp? Sie waren uns doch voraus gewesen und hatten sich links gehalten, während wir rechts abgeritten waren! Da fiel mir die Wasserflasche ein, und es wurde mir mit einem Male klar, was wir in Beziehung auf sie für einen Fehler begangen hatten.

Der alte König der Cow-boys hatte sich grad vor mich hingesetzt. Die Freude, mich gefangen zu haben, lachte höhnisch aus jeder Runzel und Falte seines verwitterten Gesichtes. Das schlangengleich in einzelnen Strähnen von seinem Kopfe fallende lange, graue Haar verlieh ihm das Aussehen einer greisenhaften, männlichen Eumenide oder Gorgone, aus deren krakenähnlichen Fangarmen kein Entrinnen ist. Die oft wechselnde Beleuchtung des bald hoch aufflackernden und bald zusammensinkenden Feuers gab ihm etwas so grotesk Phantastisches und ließ seine langgliederige, wabbelnde Gestalt so wunderlich erscheinen, daß ich hätte glauben mögen, mich innerhalb einer Märchenscene zu befinden, wenn mir nicht so sehr bewußt gewesen wäre, daß ich es leider nur mit der nackten, unpoetischen Wirklichkeit zu thun hatte.

Ich hätte ihm auf seine Frage wohl keine bessere Antwort geben können als die, welche er bekommen hatte; er nahm sie als das, was sie war, nämlich eine Verhöhnung, und fuhr mich zornig an:

„Seid nicht so frech, sonst schnalle ich Euch die Fesseln so fest, daß Euch das Blut aus der Haut spritzt! Ich habe keine Lust, mich von Euch lächerlich machen und beleidigen zu lassen. Ich bin kein Indianer! Versteht Ihr, was ich damit sagen will?“

„Ja, daß Ihr überhaupt nicht zu den Wesen gehört, die man Menschen nennt!“

„Zu welchen denn?“

„Steigt so weit wie möglich im Tierreiche herunter und sucht Euch da das häßlichste, gemiedenste Geschöpf heraus, so habt Ihr, was Ihr seid!“

Er ließ ein heiseres Lachen hören und rief:

„Der Kerl ist wirklich so albern, daß er mich nicht verstanden hat! Ich habe gesagt, Ihr sollt bedenken, daß ich kein Indianer bin. Die Roten schleppen ihre Gefangenen lange Zeit mit sich herum, um sie nach ihren Weideplätzen zu bringen; sie füttern sie gut, um sie zum Aushalten vieler Qualen kräftig zu machen. Dadurch wird, wie ich in Eurer Gesellschaft selbst erfahren habe, den Gefangenen Gelegenheit geboten, einen zur Flucht günstigen Augenblick abzuwarten. Wer keine Hoffnung zum Entkommen hat und schnell und schmerzlos sterben will, der pflegt darum das alte, abgegriffene Mittel anzuwenden, die Indsmen, in deren Hände er geraten ist, so zu beleidigen, daß sie sich im Zorne darüber vergessen, ihn augenblicklich zu töten. Wenn Ihr etwa glaubt, zwischen diesem Entweder und diesem Oder wählen zu können, so befindet Ihr Euch im Irrtum. Ihr findet bei mir keine Gelegenheit zur Flucht, weil es mir gar nicht einfallen kann, Euch lange mit mir herumzuzerren; aber Ihr bringt mich auch nicht so weit, Euch rasch die Kugel oder das Messer zu geben und also auf den Genuß zu verzichten, den ich haben werde, wenn Ihr so recht hübsch langsam aus diesem Leben in Eure berühmte Seligkeit hinüberschmachtet. Ich habe es nämlich mit Euch so gut vor, daß es Euch selbst da drüben in der Seligkeit unmöglich sein wird, es mir genug zu danken. Könnt Ihr Euch noch besinnen, was Ihr mir während jenes nächtlichen Rittes durch den Llano estacado alles vom ewigen Leben vorgefaselt habt?“

Ich antwortete nicht, und er fuhr fort:

„Nach Eurer Ansicht muß es da drüben so wundervoll sein, daß es mich als Euern besten Freund, der ich doch jedenfalls bin, von Herzen jammert, Euch hier im Erdenleben schmachten zu sehen. Ich werde Euch also die Thüre Eures Paradieses öffnen und durch einige kleine Unbehaglichkeiten, die ich Euch dabei bereite, dafür sorgen, daß Euch die jenseitigen Herrlichkeiten um so vollkommener erscheinen.“

„Habe nichts dagegen,“ bemerkte ich in möglichst gleichgültigem Tone.

„Das bin ich überzeugt! Darum hoffe ich, daß Ihr mir für die Liebe, welche ich Euch damit erweise, einen Gefallen thut. Ich möchte nämlich gar zu gern wissen, wie es da drüben ist. Wolltet Ihr mir nach Eurer seligen Abreise einmal als Geist oder Gespenst erscheinen, um mir Auskunft zu erteilen, so würde mich das zu großer Dankbarkeit verpflichten, und Ihr könntet meinerseits des herzlichsten Willkommens sicher sein. Wollt Ihr das thun, Mr. Shatterhand?“

„Gern! Ich werde sogar noch mehr thun, als Ihr verlangt; ich werde noch vor meinem Tode über Euch kommen, und zwar in einer Weise, daß Ihr tausend Gespenster anstatt nur eines sehen werdet!“

Well, darüber sind wir also einig,“ lachte er. „Ihr seid freilich ein Kerl, der nie den Mut verliert; aber wenn Ihr auch jetzt noch irgend welche Hoffnung hegt, so kennt Ihr Fred Cutter schlecht, den Ihr Old Wabble nennt. Ich habe mir vorgenommen, meine Rechnung mit Euch abzuschließen, und der Strich, den ich darunter mache, wird ein Strich durch Euer Leben sein. Davor wird Euch alle Eure eingebildete Klugheit nicht bewähren können, mit der es überhaupt nicht so weit her ist, wie Ihr denkt. Ihr habt gestern nachmittag einen Pudel geschossen, der seinesgleichen sucht. Jedenfalls aber fehlt es Euch an dem nötigen Hirn, zu begreifen, was Ihr unter diesem Pudel zu verstehen habt!“

Pshaw, eine Flasche, weiter nichts!“

„Richtig! Ihr seid doch nicht ganz so albern, wie ich dachte, und wenn Ihr nicht schon vor der letzten Thüre ständet, könnte vielleicht ein ganz leidlicher Westmann aus Euch werden. Ja, die Flasche, die ist verhängnisvoll für Euch geworden! Es ist schon mancher an der Flasche, nämlich am Inhalte derselben, zu Grunde gegangen; aber daß jemand in einer leeren Flasche nach den ewigen Jagdgründen befördert wird, das ist wohl noch nicht dagewesen! Habt Ihr denn nicht daran gerochen?“

Da antwortete Dick Hammerdull an meiner Stelle:

„Ist uns nicht eingefallen. Denkt Ihr denn wirklich, daß wir etwas, was Ihr in den Händen gehabt habt, an unsere Nase bringen?“

„Sehr schön gesprochen, Dicker; aber die Lust zum Scherzen wird dir noch vergehen! Ihr habt die Bouteille für eine weggeworfene Schnapsflasche gehalten; sie war aber meine Wasserflasche, die ich vergessen hatte. Wenn Ihr wißt, was ein Schluck Wasser da, wo es keines giebt, zu bedeuten hat, so werdet Ihr Euch nicht darüber wundern, daß ich sofort halten ließ und zurückritt, als ich ihren Verlust bemerkte. Es giebt Gegenden, wo das Leben an einigen Tropfen Wasser hängt. Als ich den Rand der Prairie erreichte, auf welcher wir zu Mittag gelagert hatten, sah ich Euch und erkannte Euch nicht gleich. Ihr rittet aber weiter und kamt mir dadurch näher; da sah ich freilich zu meiner Freude, daß ich die Gentlemen vor mir hatte, welche ich suchte. Ich jagte also sofort zurück und holte meine Leute. Wir folgten Euch bis an dieses Thal, wo Euer Posten so entgegenkommend war, sich von uns überfallen zu lassen. Wir schlichen zu Fuß herein und umzingelten Euch. Ihr schlieft den Schlaf der Gerechten und träumtet von so vortrefflichen Dingen, daß es mir unendlich leid thut, Euch aufgeweckt zu haben. Wir bieten Euch auf Eurem weiteren Ritte unsere Gesellschaft an. Mr. Shatterhand wird sich leider nicht daran beteiligen können, da er im Begriffe steht, abzureisen. Er wird in diesem schönen Thale, sobald es Tag geworden ist, die Himmelsleiter besteigen und also verhindert sein, an unserer Seite zu – – –“

„Schwatzt nicht so lang und so unnützes Zeug!“ fiel ihm da einer in die Rede, welcher mit übereinander geschlagenen Armen am Stamme eines Baumes lehnte. „Was geschehen soll, das kann geschehen, ohne daß man vorher darüber viele Worte macht. Was Ihr mit Old Shatterhand abzuschließen habt, geht uns nichts an; die Hauptsache ist für uns das Versprechen, welches Ihr uns gegeben habt.“

„Das werde ich halten!“ antwortete Old Wabble.

„So macht, daß Ihr darauf zu sprechen kommt!“

„Das hat Zeit!“

„Nein. Wir wollen wissen, woran wir sind.“

„Das wißt ihr schon!“

„Nein. Bevor Ihr nicht mit Winnetou gesprochen habt, hat alles andere keinen Wert für uns. Ihr habt uns da unten in Kansas aus den besten Geschäften gerissen; nun da wir die Kerls gefangen haben, wollen wir vor allen Dingen erfahren, ob die Hoffnungen, welche Ihr uns gemacht habt, in Erfüllung gehen können.“

„Warum sollten sie das nicht können!“

„So wendet Euch an Winnetou, schwatzt aber nicht so lange mit Old Shatterhand! Der Apatsche ist doch wohl der Mann, den wir brauchen!“

„Nur langsam, Cox, langsam! Wir haben soviel Zeit, daß Ihr das wohl erwarten könnt.“

Also Cox hieß der Mann, welcher am Baume stand! Ich vermutete, da er von Kansas und den dortigen guten Geschäften gesprochen hatte, daß die Leute, welche uns überfallen hatten, zu den Tramps gehörten, denen wir da unten so geflissentlich ausgewichen waren. Cox war sehr wahrscheinlich der Anführer dieser Truppe und von Old Wabble veranlaßt worden, mit ihm zu reiten, um uns zu verfolgen – unter welchen Voraussetzungen und Bedingungen, das war noch zu erfahren. Ich hatte, wie sich später zeigte, mit diesen Vermutungen das Richtige getroffen.

Unsere Lage war eine schlimme. Die Kerls, in deren Händen wir uns befanden, waren mehr zu fürchten als die heruntergekommenste Indianerhorde. Und von uns allen war ich derjenige, welcher die schlechtesten Aussichten hatte. Ich sollte hier ermordet werden und war vollständig überzeugt, daß, wenn nicht ein für mich günstiger Umstand eintrat, Old Wabble seine Drohung ausführen werde. Mein Leben hing diesmal an einem Haare.

Cox näherte sich dem Apatschen und sagte zu ihm:

„Mr. Winnetou, die Sache ist nämlich die, daß wir ein Geschäft mit Euch haben. Hoffentlich weigert Ihr Euch nicht, darauf einzugehen!“

Winnetou sah ebenso wie ich ein, daß Schweigen nicht am Platze sei. Wir mußten uns über die Absichten dieser Menschen klar werden und also mit ihnen reden. Darum antwortete der Apatsche:

„Was für ein Geschäft meint das Bleichgesicht?“

„Ich will es kurz machen und aufrichtig sein. Old Wabble hat eine Rache gegen Old Shatterhand, die er sich nicht getraute, allein auszuführen. Er kam zu uns und forderte uns auf, ihm zu helfen. Wir waren natürlich bereit dazu, doch nur unter der Bedingung, daß ein guter Lohn für uns abfällt. Er versprach uns Gold, viel Gold dafür. Hoffentlich habt Ihr mich verstanden?“

„Uff!“

„Ich weiß nicht, was Ihr mit diesem Uff sagen wollt, hoffe aber, daß es eine Zustimmung bedeutet. Es sind hier in Colorado sehr schöne Placers entdeckt worden. Wir wollten, wenn wir in Kansas fertig waren, auch herauf, um zu prospekten; das ist aber eine sehr trügerische Sache. Wer nichts findet, bekommt eben nichts und zieht mit langer Nase ab. Da hat uns aber Old Wabble auf einen kostbaren Gedanken gebracht: Ihr, Mr. Winnetou, wißt gewiß viele Stellen, wo Gold zu finden ist?“

Winnetou, dem es vor allen Dingen um meine Rettung zu thun war, bedachte sich keinen Augenblick, zu antworten:

„Es giebt rote Männer, welche Plätze kennen, an denen Gold in Menge liegt.“

„Auch Ihr?“

„Ja.“

„Ihr werdet uns einen solchen Platz zeigen!“

„Die Roten Männer pflegen solche Stellen nicht zu verraten.“

„Und wenn man sie aber zwingt?“

„So sterben sie lieber.“

Pshaw! Es stirbt sich nicht so leicht!“

„Winnetou hat nie den Tod gefürchtet!“

Nach allem, was ich von Euch gehört habe, glaube ich das. Aber es handelt sich dieses Mal nicht nur um Euch, sondern um alle Eure Begleiter. Old Shatterhand muß sterben; das ist nicht zu ändern, weil wir es Old Wabble versprochen haben; aber Euch und die andern könnt Ihr dadurch retten, daß Ihr uns ein gutes Placer entdeckt.“

„Ist das fest bestimmt?“

„Ja.“

„Werdet Ihr uns Wort halten?“

„Ich gebe Euch mein Wort darauf!“

„Das Bleichgesicht mag warten; ich werde überlegen!“

Winnetou schloß zum Zeichen, daß er nachdenken wolle, die Augen. Es trat eine Pause ein. Er kannte Goldlager, ja; aber selbst die ärgste Drohung hätte ihn nicht vermocht, eines zu verraten. Er mußte die Tramps täuschen und sich willig zeigen. Es galt für ihn zweierlei: erstenss mich, dessen Tod eine fest beschlossene Sache war, zu retten und zweitens Zeit zu gewinnen, um einen für unsere Befreiung günstigen Umstand abzuwarten.

„Nun, wann bekomme ich Antwort?“ fragte Cox, als ihm die Pause zu lang wurde.

„Die Bleichgesichter werden kein Gold bekommen,“ sagte Winnetou, indem er die Augen wieder aufschlug.

„Warum? Du weigerst dich also, ein Placer zu verraten?“

„Nein.“

„Wie habe ich das zu verstehen? Du weigerst dich nicht, und doch werden wir nicht bekommen, was wir suchen! Das ist ein Widerspruch!“

„Es ist kein Widerspruch. Winnetou weiß nicht nur ein Placer, sondern eine große, reiche Bonanza; er würde sie nicht verraten, wenn es sich nur um ihn handelte; da es aber das Leben so vieler Männer gilt, würde er euch die Stelle sagen, wenn er sich getraute, sie zu finden.“

„Wie? Du weißt sie und kannst sie doch nicht finden? Sollte man so etwas für möglich halten!“

„Es ist möglich, weil Winnetou nicht nach dem Besitze des Goldes trachtet. Wenn er welches gefunden hat, denkt er sehr bald nicht mehr daran. In Colorado kenne ich nur einen einzigen Ort; das ist diese Bonanza; sie ist unermeßlich reich; aber ich habe den Weg, welcher zu ihr führt, vergessen.“

All devils! Eine unermeßlich reiche Bonanza und den Weg zu ihr vergessen! Das ist noch gar nicht dagewesen! Das ist geradezu zum Tollwerden! Das kann nur einem Indianer passieren! Kannst du denn nicht wenigstens sagen, in welcher Gegend es ungefähr ist?“

„Das weiß ich wohl. Es ist am Squirrel-Creek. Ich ritt damals mit Old Shatterhand am Wasser hin; da sahen wir es unter dem Moose des Ufers glänzen. Wir stiegen ab und untersuchten den Ort. Da lag Gold, viel Gold, das Wasser hatte es an dieser Stelle zusammengeschwemmt. Es gab da kleine Nuggets und auch größere Stücke.“

„Wie groß – wie groß?“ fragte Cox, und alle lauschten andächtig.

„Bis zur Größe einer großen Kartoffel. Manche waren auch noch größer.“

„Donnerwetter! Da liegen ja Millionen, viele Millionen dort beisammen! Und die habt ihr liegen lassen?!“

„Warum sollten wir das Gold mitnehmen?“

„Warum? Warum ihr es hättet mitnehmen sollen? Hört, ihr Männer, diese zwei Menschen finden eine riesenhafte Bonanza, und da fragt dieser Mann, warum sie das Gold hätten mitnehmen sollen! Und das ist Winnetou, der so viel gepriesene, wundergescheite Kerl!“

Ein allgemeines Murmeln des Erstaunens antwortete. Man kann sich überhaupt denken, mit welcher Aufmerksamkeit diese Leute den Worten des Apatschen folgten. Es fiel ihnen gar nicht ein, an der Wahrheit derselben zu zweifeln. Man wußte überall, daß Winnetou ein Freund der Wahrheit sei. Ich war überzeugt, daß er auch jetzt keine Lüge sagte; es gab jedenfalls eine solche reichhaltige Bonanza, doch lag sie sehr wahrscheinlich nicht am Squirrel-Creek, sondern ganz anderswo.

„Warum wundert sich der weiße Mann so sehr?“ fragte der Apatsche. „Es sind überall Placers vorhanden, wo Winnetou und Old Shatterhand sich Gold holen können. Wenn sie welches brauchen, suchen sie dasjenige Placer auf, welches ihnen zu der betreffenden Zeit am nächsten liegt. Jetzt wollten wir hinauf nach dem Squirrel-Creek, um dort einige Taschen voll zu holen.“

„Ah! Ihr wolltet welches holen! Das haben wir uns doch gedacht, daß ihr nur aus diesem oder einem ähnlichen Grunde hinauf in die Berge wolltet! Aber – wie stimmt das? Du hast ja gesagt, daß du nicht mehr weißt, wo die Bonanza liegt!“

„So ist es. Ich habe es vergessen; aber Old Shatterhand, mein Bruder, hat sich die Stelle sehr gut gemerkt.“

Jetzt war es heraus, was er hatte sagen wollen und was mich vom Tode erretten sollte. Wenn sie die Bonanza haben wollten, deren Lage ich allein genau kannte, mußten sie mein Leben schonen. Er war natürlich so klug, diese Worte so wenig zu betonen, daß ihre Absichtlichkeit nicht erraten wurde. Daß er den gewollten Zweck erreichte, zeigte sich auf der Stelle, denn Cox rief schnell aus:

„Das ist gut, sehr gut! Das ist ja ganz dasselbe! Ob Winnetou oder Old Shatterhand diese Stelle genau kennt, das macht gar keinen Unterschied, da beide unsere Gefangenen sind. Kann Winnetou uns nicht hinführen, so wird Old Shatterhand unser Führer sein!“

„Das sagt Ihr, ohne mich zu fragen, Mr. Cox?“ sagte Old Wabble.

„Warum sollte ich Euch fragen?“

„Weil Old Shatterhand mir gehört.“

„Das bestreitet Euch kein Mensch!“

„Oho! Ihr selbst bestreitet es.“

„Wie so?“

„Weil Ihr ihn mit nach dem Squirrel-Creek nehmen wollt. Er soll doch heut, und zwar hier in diesem Thale sterben!“

„Soll? Nein, sondern er sollte; nun aber ist nicht mehr daran zu denken. Er wird leben bleiben und uns zu der Bonanza führen.“

„Das gebe ich nicht zu; das verbitte ich mir!“

„Seid Ihr gescheit, oder seid Ihr verrückt! Ich glaube, Ihr habt den Verstand verloren, alter Wabble!“

„Grad weil ich mehr Verstand habe als Ihr, gebe ich es nicht zu!“

„Mehr Verstand? Oho! Wollt Ihr auf die Bonanza verzichten?“

„Ja.“

All devils! Ihr seid wirklich wahnsinnig geworden!“

„Fällt mir nicht ein! Ich weiß, was ich thue. Ich habe Euch angeworben, mir Old Shatterhand zu fangen; dafür habe ich Euch den Rat gegeben, Winnetou zu zwingen, Euch ein Placer zu zeigen. Die Bonanza würde also Euch allein gehören und nicht mir auch mit. Wegen etwas aber, woran ich keinen Anteil habe, gebe ich Old Shatterhand, nachdem wir ihn so glücklich erwischt haben, nicht wieder her.“

„Ihr sollt ihn ja nicht hergeben!“

„Doch!“

„Nein!“

„Das denkt Ihr nur; ich aber verstehe mich besser darauf. Glaubt Ihr denn wirklich, ihn mit hinauf nach der Bonanza zu bringen?“

„Natürlich!“

„Fällt ihm nicht ein!“

„Möchte doch sehen, wie er es anfangen wollte, sich zu weigern!“

„Sich weigern? Daran denkt er mit keinem Atem. Aber fliehen wird er, ausreißen!“

Da schlug Cox ein lautes Gelächter auf und rief:

„Ausreißen, uns ausreißen! Habt ihr es gehört, ihr Leute, ein Mann, der unser Gefangener ist, soll uns entfliehen, soll ausreißen können!“

Sie stimmten alle in sein Lachen ein; Old Wabble aber schrie zornig:

„Wie dumm ihr seid, die ihr mich dumm genannt habt, das ist doch kaum zu sagen! Wenn ihr euch einbildet, diesen Kerl festhalten zu können, so könnt ihr mir unendlich leid thun! Der zersprengt mit seinen Fäusten eiserne Ketten, und wenn er mit Gewalt nichts ausrichtet, so legt er sich auf die List, in welcher er der größte Meister ist.“

„Eiserne Ketten haben wir nicht und brauchen wir nicht; lederne Riemen sind besser, viel besser! Und List! Ich möchte den Menschen sehen, der zwanzig solchen Männern, wie wir sind, durch List entkommt! Und wenn er es noch so pfiffig anfängt, vierzig Augen bewachen ihn; was da das eine nicht sieht, das sieht das andere. Der listigste Anschlag, den er versuchen könnte, würde von uns entdeckt werden.“

„Es ist wirklich lächerlich, großartig lächerlich, was manche Menschen sich einbilden! Habt Ihr denn nicht gehört, wie oft er bei den Indianern gefangen war und ihnen wieder und immer wieder entkommen ist?“

„Wir sind keine Indianer!“

„Aber Weißen ist es ebenso ergangen! Ich sage euch, dieser Schurke macht alles, alles möglich, was allen andern Menschen unmöglich wäre! Der ist nicht zu halten. Den muß man erschießen, gleich nachdem man ihn ergriffen hat. Wenn man das nicht thut, läuft er einem wie Wasser aus den Händen! Ich kenne das, denn ich bin lange Zeit mit ihm geritten!“

„Ihr macht aus der Mücke einen Elefanten. Ich wiederhole es noch einmal: Ich möchte den Menschen sehen, der mir entflieht, wenn ich ihn festhalten will! Es bleibt dabei; er führt uns nach der Bonanza!“

„Und ich gebe das nicht zu!“

Sie standen sich wie kampfgerüstet gegenüber, Old Wabble, der Spötter, der Leugner, der Lästerer, und Cox, der gewaltthätige Anführer der Tramps, der sich ohne Skrupel hatte dingen lassen, mich zu fangen und dem Mörder zu übergeben. Es war ein interessanter, ein hochinteressanter Augenblick, so interessant, daß ich vergaß, daß es mein Leben war, um welches sie sich stritten. Es kam aber nicht zu Thätlichkeiten. Cox legte dem alten Wabble die Hand auf die Achsel und sagte in drohendem Tone:

„Glaubt Ihr denn wirklich, daß ich danach frage, ob Ihr es zugeben werdet?“

„Ich hoffe es!“

Pshaw! In dieser Beziehung habt Ihr leider gar nichts zu hoffen!“

„So wollt Ihr mich um Old Shatterhand betrügen, wollt wortbrüchig werden?“

„Nein. Wir halten Wort.“

„Es hat aber jetzt ganz anders geklungen!“

„Aber auch nur geklungen. Wir haben Euch versprochen, Old Shatterhand zu fangen und ihn Euch auszuliefern. Gefangen haben wir ihn, und Ihr könnt versichert sein, daß wir ihn Euch auch übergeben werden, aber nur nicht heut!“

„Hole Euch der Teufel mit diesem Eurem Versprechen! Ihr werdet es doch nicht halten können; das habe ich gesagt und sage es immer wieder!“

„Wir halten es. Und wenn Ihr es etwa verhindern wolltet, daß wir ihn mitnehmen, so schaut Euch hier im Kreise um! Wir sind zwanzig Mann!“

„Ja, darauf fußt Ihr freilich!“ schrie er ergrimmt.

„Ihr seht also, daß Ihr Euch fügen müßt. Es ist ja nur für kurze Zeit!“

„Für kurze Zeit? Für immer wird es sein! Ich sage ja, daß er entfliehen wird! Es ist am besten, ich frage gar nicht viel, sondern schieße ihm eine Kugel in den Kopf. Da hat aller Streit ein Ende!“

„Das wagt ja nicht, Mr. Wabble! Wenn Ihr Old Shatterhand erschießt oder ihn nur im geringsten verletzt, so ist Euch im nächsten Augenblicke eine Kugel von mir sicher. Das mögt Ihr Euch wohl merken!“

„Ihr wagt es mir zu drohen?“

„Wagen? Dabei ist gar nichts gewagt! Wir sind mit Euch gezogen und wollen gute Kameradschaft mit Euch halten. Aber es handelt sich um eine Bonanza, welche wahrscheinlich Millionen wert ist. Da frage ich den Teufel nach Eurem Leben, wenn Ihr uns um diese Masse von Gold bringt! Also, daß Ihr es wißt: Old Shatterhand reitet mit uns, und wenn Ihr ihn auch nur so wenig verletzen solltet, daß ein Ritz in seiner Haut entsteht, lauft Ihr die Himmelsleiter hinan, auf die Ihr ihn stellen wolltet!“

„Ihr droht mir mit dem Tode! Ist das die Kameradschaft, von der Ihr redet?“

„Ja, das ist sie! Oder ist es kameradschaftlich von Euch, daß Ihr uns um die Bonanza bringen wollt?“

„Nun gut, so muß ich mich fügen, doch nicht, ohne daß ich eine Bedingung stelle.“

„Welche?“

„Ich will dann, wenn die Bonanza gefunden wird, auch an ihr Teil haben; th’is clear!“

Well! Einverstanden! Ihr seht also, daß wir es gut mit Euch meinen!“

„Das könnt Ihr auch, denn wenn Ihr solche Klumpen Gold bekommt, so habt Ihr das niemand als nur mir zu verdanken. Übrigens werde ich mich wegen Shatterhand nicht auf Euch, sondern auf mich selbst verlassen.“

Und sich zu mir wendend, fuhr er in sehr höhnischem Tone fort:

„Ich habe nämlich ein vortreffliches Mittel, Euch von der Flucht abzuhalten.“

Er deutete auf den Henrystutzen und den Bärentöter und fügte hinzu:

„Ohne diese Gewehre reißt Ihr uns sicherlich nicht aus! Ich kenne Euch und weiß, daß Ihr sie auf keinen Fall aufgebt. Ich habe sie ja schon einmal besessen, leider nur für kurze Zeit. Nun sind sie für immer mein!“

„Wie lange wird dieses immer dauern?“ fragte ich.

„So lange ich lebe, natürlich!“

„Das würde eine sehr kurze Zeit sein, denn ich nehme mit Sicherheit an, daß der Tod ganz nahe hinter Euch steht. Aber auch so lange braucht Ihr Euch mit den Gewehren gar nicht zu belästigen; das kann ich Euch schon jetzt sagen. Ich bin überzeugt, daß ich sie sehr bald zurückbekomme.“

Pshaw! Rechnet dieses Mal ja nicht auf Euer gewöhnliches Glück!“

„Auf Glück und Zufall rechne ich niemals. Ich spreche nur darum so, weil ich weiß, daß meine Zeit, zu sterben, jetzt noch lange nicht gekommen ist.“

„So? Steht Ihr etwa mit dem Himmel in so gutem Einvernehmen, daß er Euch, wenn Ihr drüben gebraucht werdet, einen expressen Boten schickt, um Euch gehorsamst einzuladen, Euch an der Seligkeit zu beteiligen?“

„Lästert nicht! Ich bin zum Tode noch nicht reif, weil ich noch viel zu wirken habe.“

„Oh! Und da denkt Ihr, daß der liebe Gott wartet, bis Ihr fertig seid? Ein sehr gefälliger Gott; das muß ich sagen! Nicht?“

Er erhielt natürlich keine Antwort. Da stieß er mich mit dem Fuße an.

„Wollt Ihr wohl reden, wenn ich frage! Es ist eine große und ganz unverdiente Ehre für Euch, wenn Old Wabble mit Euch spricht! Als Ihr mich ohne Gewehr aus dem Kih-peta-kih fortschicktet, ohne Pferd und Gewehr sogar, dachtet Ihr wohl nicht, daß ich Euch so bald fassen würde? Ich ging zu den Osagen. Da bekam ich ein anderes Pferd und eine andere Flinte; aber die Kerls hatten keinen Unternehmungsgeist. Dieser Honskeh Nonpeh, dem der Befehl übergeben worden war, hatte keine Lust, Euch zu folgen; er stellte sogar lächerlicherweise alle Feindseligkeiten gegen die Bleichgesichter ein und zog mit seinen Kriegern heim. Eine Schande! Doch hat mich das nur kurze Zeit aufhalten können. Ich ritt zu den Tramps und engagierte, wie Ihr gehört habt, hier diese Gentlemen, natürlich auf Eure Kosten, die Ihr so gewiß bezahlen müßt, wie ich hier vor Euch stehe. Jetzt habe ich mein Pferd und Gewehr wieder und Eure Pferde und Gewehre dazu. Ihr seid nun nichts, gar nichts mehr in meinen Augen und nur noch diese Fußtritte wert!“

Er stieß mir und dann auch Winnetou den Fuß mit aller Kraft gegen den Leib. Schon hob er ihn, um auch Hammerdull einen Tritt zu versetzen, ließ ihn aber wieder sinken; der Dicke war ihm ja gleichgültiger als wir, sagte aber, als Old Wabble sich abwendete, in seiner drolligen Weise, die er auch in der schlimmsten Lage nicht aufgab:

„Das war Euer Glück, verehrtester Mr. Wabble!“

„Was?“ fragte der Alte.

„Daß Ihr den Fuß zurückgezogen habt.“

„Warum?“

„Weil ich grad an dem Leib im höchsten Grade empfindlich bin.“

„Das wollen wir doch gleich einmal versuchen!“

Er gab ihm einen derben Tritt. Der Dicke war trotz seines Leibesumfanges ein sehr behendes und gewandtes Kerlchen. Ihm waren wie auch uns, die Füße zusammen- und die Hände auf den Rücken gebunden worden. Indem er die Kniee beugte und die Füße an den Leib zog und dabei die Hände unter dem Rücken gegen die Erde stemmte, schnellte er sich wie eine Feder auf und fuhr Old Wabble mit dem Kopfe an den Leib. Der Stoß war ein so kräftiger, daß Hammerdull auf seinen Platz zurückstürzte, der alte Cow-boy aber hintenüber und in das Feuer flog. Der letztere sprang zwar schnell wieder auf, aber der kurze Augenblick hatte doch genügt, ihm die Hälfte seiner langen, weißen Haarmähne weg- und die Bekleidung seines Oberkörpers anzusengen. Ein allgemeines Gelächter erscholl. Darüber ergrimmt, richtete Old Wabble seinen Zorn nicht gegen Hammerdull, sondern gegen die Tramps, die sich über ihn lustig machten. Während er eine geharnischte Stafpredigt gegen sie losdonnerte, wendete sich der Dicke an Pitt Holbers:

„War das nicht fein gemacht? Hast du nicht deine Freude drüber, alter Pitt?“

„Hm, wenn du denkst, daß es ein guter Coup war, so hast du recht!“ antwortete sein langer Freund in seiner wohlbekannten, trockenen Weise.

„Glaubt dieser Mensch, mir einen Fußtritt versetzen zu können, ohne daß ich mich wehre! Was sagst du dazu?“

„Ich hätte ihn auch ins Feuer geworfen, grad wie du!“

„Ob ins Feuer oder nicht, das bleibt sich gleich, das ist übrigens ganz egal, denn hineingeflogen ist er doch; das hast du ja gesehen!“

Nun erst kam Old Wabble herbei, um sich an dem Dikken zu rächen, Cox aber hielt ihn davon ab, indem er sagte:

„Laßt die Leute in Ruhe, so wird Euch so etwas nicht wieder geschehen! Old Shatterhand gehört Euch; die andern aber sind unser, und ich will nicht, daß sie unnütz maltraitiert werden.“

„Ihr seid doch plötzlich recht human geworden!“ knurrte der Alte.

„Nennt es, wie Ihr wollt. Diese Männer müssen mit uns reiten, und ich kann mich nicht mit verletzten und zerstoßenen Menschen schleppen. Wir haben übrigens mehr zu thun, als uns hier mit ihnen herumzuzanken. Wir wissen ja noch gar nicht, wo sie ihre Pferde haben. Sucht nach ihnen!“

Die Pferde waren aus der Umwallung in das Freie gebracht und dort angepflockt worden; sie wurden bald gefunden. Die Tramps hatten schon, während ich in der Betäubung lag, gegessen und wollten nun noch bis zum Morgen schlafen. Cox bestimmte zwei Männer zum Wachen, und dann legte man sich nieder. Old Wabble hatte den mir höchst unangenehmen Gedanken, sich zwischen mich und Winnetou hineinzuschieben und meinen Arm mit dem seinigen durch einen Extrariemen zu verbinden. Diese große Vorsicht des Alten war sehr geeignet, keinen Gedanken an Flucht in mir aufkommen zu lassen.

Und doch dachte ich an Flucht, und wie sehr!

Es giebt keine Lage, die so schlimm ist und den Menschen so fest umfängt, daß er nicht aus ihr befreit werden könnte, durch eigene Kraft oder, wo das nicht möglich ist, durch fremde Hilfe. Auch jetzt verzweifelte ich keineswegs. War doch schon der augenblickliche Tod, den Old Wabble für mich bestimmt hatte, an mir vorübergegangen! Bis zum Squirrel-Creek hatten wir einen weiten Ritt; warum sollte sich uns bis dorthin nicht eine Gelegenheit zum Entkommen bieten. Übrigens richtete ich meinen Blick gar nicht so weit hinaus, sondern vielmehr ganz in die Nähe. Ich hegte eine Hoffnung, eine Hoffnung, deren Name ein indianischer war, nämlich der Name Kolma Puschi.

Wenn man mich fragt, warum dieser Name seit der Zeit, in welcher wir uns schlafen legten, nicht wieder genannt worden ist, so muß ich antworten: Dies hatte seinen Grund, und dieser Grund bestand in dem Umstande, daß Kolma Puschi nicht mehr da war. Als ich aus der Ohnmacht erwachte, war es natürlich mein erstes gewesen, mich umzusehen, und da hatte ich sogleich bemerkt, daß der rätselhafte Indianer nicht mehr anwesend war.

Wo befand er sich? Wo war er hin?

Zunächst wollte ein böser Verdacht in mir aufsteigen: Stand er vielleicht mit den Tramps in Verbindung? Dieses Mißtrauen mußte ich aber gleich wieder zurückweisen. Der Ruf, in welchem Kolma Puschi stand, ließ es als ganz unmöglich erscheinen, daß er sich mit derartigen Menschen in Beziehung setzte.

Da gab es eine zweite Frage: Hatte er die Tramps kommen hören und sich bei ihrer Annäherung schnell aus dem Staub gemacht? Auch das konnte ich ihm nicht zutrauen. Welchen Grund hätte er in diesem Falle haben können, uns nicht zu wecken und zu warnen? Nein, seine Entfernung mußte eine andre Ursache haben.

Er war von Dick Hammerdull gefragt worden, ob er mit uns reiten wolle, und hatte geantwortet, daß er sich dies erst überlegen werde. Er hatte sein Pferd nicht hier, sondern irgendwo anders stehen und sich, als wir eingeschlafen waren, heimlich entfernt, um entweder es zu holen oder überhaupt nicht wiederzukommen. Im letzteren Falle war seine Entfernung deshalb ohne Abschied geschehen, um allen zudringlichen Fragen und Erkundigungen aus dem Wege zu gehen; er hatte ja in der kurzen Zeit unsers Beisammenseins wiederholt gezeigt, daß dergleichen Forschungen ihm unangenehm seien.

In dem Falle, daß er fortgegangen war, um nicht wiederzukommen, hatten wir nichts von ihm zu erwarten; hatte er aber nur sein Pferd holen wollen, so war dies grad kurz vor der Zeit des Überfalles geschehen, und er hatte bei seiner Rückkehr infolge des Lärmes, den die Tramps machten, sich gleich denken müssen, daß etwas vorgekommen sein müsse, was ihn zur Vorsicht mahne. Dann hatte er sich höchst wahrscheinlich herbeigeschlichen, die Veränderung der Scene entdeckt und alles, was geschah und gesprochen wurde, belauscht. War er nun der Mann, für den ich ihn infolge seines Rufes hielt, so mußte er da unbedingt den Entschluß gefaßt haben, sich unser anzunehmen, und zwar dies um so mehr, als er nicht nur große Freude über seine Begegnung mit Winnetou, sondern auch ein noch viel regeres, wenn auch geheimnisvolles Interesse für Apanatschka gezeigt hatte. Personen, für welche man eine solche Teilnahme empfindet, läßt man nicht in einer Lage stecken, wie die unserige war; das versteht sich ganz von selbst.

Wenn diese meine Kombination die richtige war, steckte Kolma Puschi jetzt hier in der Nähe, und ich konnte, sobald die Tramps eingeschlafen waren, irgend ein Zeichen von ihm erwarten; es läßt sich also denken, daß ich mich in einer ziemlichen Spannung befand. Übrigens stand bei mir vollständig fest, daß Winnetou, dessen Scharfsinn ja unvergleichlich war, genau dieselben Gedanken hegte und ebenso auf Kolma Puschi wartete wie ich.

Es widerfuhr mir die Freude, daß diese Erwartungen nicht getäuscht wurden. Die beiden Wächter saßen diesseits und jenseits des Feuers, welches sie unterhielten; der jenseitige legte sich später um; er mochte müde sein; der diesseitige kehrte mir den Rücken zu und deckte, da unsere drei Plätze in einer geraden Linie lagen, mich vor den Augen des andern. Das war ein günstiger Umstand, von dem ich hoffte, daß der Indianer ihn eintretenden Falles ausnutzen werde. Es strich jetzt ein Wind durch das Thal, welcher die Büsche und Bäume bewegte, daß sie rauschten. Dieses Rascheln mußte das Geräusch, welches ein heimlich herankriechender Mensch vielleicht verursachte, unhörbar machen.

Zuweilen den Kopf hebend, beobachtete ich den Kreis der Schläfer und war nach einer halben Stunde überzeugt, daß außer den Wächtern, Winnetou und mir kein Mensch mehr munter war. Ich muß erwähnen, daß mir zur Rechten Hammerdull und zur Linken der alte Wabble lag; dann kam Winnetou und neben diesem Pitt Holbers, auf welchen mehrere Tramps folgten.

Grad, als ich dachte: jetzt wäre die beste Zeit, daß er käme, wenn er überhaupt kommen kann und will, bemerkte ich rechts hinter mir eine leise, langsame Bewegung, und es schob sich ein Kopf zu dem meinigen heran; es war der Erwartete.

„Old Shatterhand mag sich ja nicht bewegen!“ flüsterte er mir zu. „Hat mein weißer Bruder an mich gedacht.“

„Ja,“ antwortete ich ebenso leise.

„Und geglaubt, daß ich komme?“

„Ja.“

„Kolma Puschi wollte eigentlich hin zu Winnetou, hätte aber dort bei ihm keine Deckung gehabt. Darum kroch ich zu Old Shatterhand, wo wir uns im Rücken der Wache befinden. Mein weißer Bruder mag mir sagen, was er wünscht; ich bin bereit, es zu hören!“

„Willst du uns befreien?“

„Ja.“

„Wo?“

„Das mag Old Shatterhand bestimmen; er wird es am besten wissen.“

„Hier noch nicht. Es muß so passen, daß wir die Gefährten auch gleich losmachen können. Aber wird mein roter Bruder uns folgen wollen?“

„Gern.“

„Wie lange und wie weit?“

„So lange und so weit, bis ihr frei geworden seid.“

„Hast du vielleicht gehört, was gesprochen worden ist?“

„Ja. Kolma Puschi lag hinter den Steinen und hörte alles.“

„Auch daß wir nach dem Squirrel-Creek wollen?“

„Auch das. Die Weißen wollen die Bonanza haben, die sich nicht dort befindet.“

„Kennt mein roter Bruder den Squirrel-Creek?“

„Es sind mir hier und noch viel weiterhin alle Gegenden bekannt.“

„Giebt es auf dem Wege nach diesem Creek vielleicht einen passenden Ort zu unserer Befreiung heut abend? Es müssen da viel mehr Bäume und Büsche stehen als hier, wo wir nur schwer an die Wächter kommen können und ein einziger Blick von ihnen genügt, uns alle zu übersehen.“

„Kolma Puschi kennt einen solchen Ort, den ihr grad zur passenden Zeit erreichen könnt, so daß es nicht auffällig ist, wenn ihr dort anhaltet. Aber werden die weißen Männer euch dorthin folgen?“

„Gewiß. Sie scheinen in dieser Gegend unbekannt zu sein, und wenn wir sie nach dem Squirrel-Creek bringen sollen, sind sie unbedingt gezwungen, sich unserer Führung anzuvertrauen.“

„So mag Old Shatterhand von hier aus genau nach Westsüdwest reiten und da, wo er auf ihn trifft, über den Rush-Creek gehen. Er hat dann diesem Flusse am andern Ufer so lange zu folgen, bis er die Stelle erreicht, wo der Nordfork und der Südfork dieses Creeks zusammenfließen. Von da aus geht es um den letzten Bogen des Südforks herum und hierauf genau Westnordwest über eine langsam ansteigende Prairie, auf welcher oft Gesträuch zu finden ist, nach einer schon von sehr weit zu sehenden Felsenhöhe, an deren Fuße mehrere Springs aus der Erde fließen. Auf dem Felsen und um die Springs stehen viele Bäume, und die nördlichste dieser Quellen ist der Ort, an dem ihr lagern sollt.“

„Gut; ich werde diesen Spring finden.“

„Und Kolma Puschi wird auch hinkommen.“

„Aber ja nicht vor, sondern nach uns!“

„Denkt Old Shatterhand, daß ich das nicht weiß? Meine Fährte würde mich verraten. Was hat Old Shatterhand mir noch zu sagen?“

„Jetzt nichts, weil ich nicht weiß, wie sich die Einzelheiten unsers Lagers heut abend gestalten werden. Hoffentlich wirst du dich zu uns heranwagen können, dann aber nur zu Winnetou oder mir, weil keiner von den andern das nötige Geschick besitzt, die Hilfe, welche du uns leistest, augenblicklich und energisch auszunützen.“

„Ja. Ich danke meinem roten Bruder Kolma Puschi und bin, sobald wir freigeworden sind, bereit, für ihn in jeder Not mein Leben zu wagen.“

„Der große Manitou lenkt die Schritte seiner Kinder wunderbar; darum ist es möglich, daß Kolma Puschi auch einmal der Hilfe Winnetous und Old Shatterhands bedarf. Ich bin euer Freund, und ihr mögt meine Brüder sein!“

Er schob sich so geräuschlos zurück, wie er gekommen war. Auf der andern Seite Old Wabbles ertönte jetzt das halblaute Räuspern des Apatschen; das galt mir. Er wollte mir damit sagen, daß er den Besuch Kolma Puschis beobachtet habe. Ihm, dessen Sinne von einer geradezu unvergleichlichen Schärfe waren, hatte das freilich nicht entgehen können.

Wir waren beide befriedigt und wußten, daß unsere jetzige Lage nicht von langer Dauer sein werde; wir konnten ruhig einschlafen. Vorher aber gingen mir allerlei Gedanken über Kolma Puschi im Kopfe herum. Er sprach ein fast geläufiges Englisch; er hatte sich der Ausdrücke Westsüdwest und Westnordwest bedient, was mir noch bei keinem Indianer vorgekommen war. Woher kam diese Geläufigkeit bei ihm, der mit niemanden verkehrte und ein so sehr einsames, abgeschlossenes Leben führte? Ließ das auf einen frühern, engern Umgang mit den Weißen schließen? Wenn ja, so war er jedenfalls durch schlimme Erfahrungen von ihnen zurück und in die Abgeschiedenheit gestoßen worden, in welcher er jetzt lebte.

Als ich am Morgen erwachte, waren die Tramps dabei, die bei uns gemachte Beute zu verteilen; sie betrachteten natürlich alles, was sie uns abgenommen hatten, als ihr gutes Eigentum. Old Wabble hatte alle meine Sachen; Cox nahm Winnetous Silberbüchse für sich, ohne daran zu denken, daß diese ihn später überall, wo man sie in seinen Händen sah, als Räuber und Mörder, wenigstens aber als Dieb verraten müsse. Auch den Hengst Iltschi des Apatschen bestimmte er für sich und gab Old Wabble den guten Rat:

„Den andern Rapphengst, den jedenfalls Old Shatterhand geritten hat, sollt Ihr bekommen, Mr. Cutter. Ihr könnt daraus ersehen, daß ich es gar nicht übel mit Euch meine.“

Old Wabble aber schüttelte den Kopf und antwortete:

„Danke sehr; ich mag ihn nicht!“

Er wußte wohl, warum. Er hatte meinen Hatatitla kennen gelernt.

„Warum nicht?“ fragte Cox erstaunt. „Ihr seid doch ein besserer Pferdekenner und müßt wissen, daß kein andres Tier mit diesen beiden Rappen zu vergleichen ist.“

„Das weiß ich freilich, nehme aber doch lieber diesen hier.“

Er deutete dabei auf Schahko Mattos Pferd. Cox bestimmte also einen andern, der das meinige bekommen sollte. Ebenso ging es mit unsern andern Pferden, welche alle besser waren als diejenigen der Tramps, die alte Stute Dick Hammerdulls ausgenommen, die niemand haben wollte.

Ich freute mich schon auf die Scene, die daraus folgen mußte; unsere braven Hengste litten ja keinen fremden Menschen im Sattel.

Unser Proviant war uns auch abgenommen worden. Es wurde gegessen; auch wir bekamen ein freilich unzureichendes Frühstück; man tränkte die Pferde, und dann sollte aufgestiegen und fortgeritten werden. Wir wurden auf die Gäule gebunden, die Hände nach vorn, so daß wir die Zügel halten konnten; nun führte man die Beutepferde vor.

Die Osagenpferde machten denen, die sie reiten wollten, nicht viel zu schaffen; schlimmer schon war es mit Apanatschkas dunklem Rotschimmel; er ging, kaum daß der Reiter aufgestiegen war, sofort durch, und es dauerte lange, ehe Mann und Roß zurückkehrten. Jetzt stieg Cox auf Winnetous Iltschi. Dieser ließ das so ruhig geschehen, als ob er der allerfrömmste Rekruten- und Manegegaul sei. Schon wollte der Tramp es sich recht gemütlich im Sattel machen, da flog er in einem weiten Bogen durch die Luft, und gar nicht weit davon ertönte ein lauter Schrei: mein Hatatitla hatte seinen Kerl ganz ebenso prompt herabbefördert.

Die beiden Gestürzten standen fluchend auf und sahen zu ihrer Verwunderung die Rappen so unbeweglich dastehen, als ob gar nichts geschehen sei; sie schwangen sich also wieder auf, wurden aber zu ganz gleicher Zeit zum zweitenmal abgeworfen. Es wurde noch ein dritter Versuch gemacht, doch mit ganz demselben Mißerfolge. Old Wabble hatte heimlich kichernd zugesehen; jetzt brach er in ein lautes Lachen aus und rief dem Anführer zu:

„Nun wißt Ihr wohl, Mr. Cox, warum ich den schwarzen Teufel nicht haben wollte? Diese Rappen sind so dressiert, daß sich selbst der beste Reiter der Welt keine Minute auf ihnen halten kann.“

„Warum sagt Ihr mir das jetzt erst?!“

„Weil ich Euch das Vergnügen gönnen wollte, auch einmal mit dem Parterre Bekannschaft zu machen. Seid Ihr zufriedengestellt?“

„Der Teufel hole Euch! Lassen sie denn wirklich niemanden oben?“

„Keinen Menschen!“

„Fatal! Was ist da zu thun?“

„Wenn Ihr nicht unterwegs verschiedene Ärgernisse haben wollt, so setzt einstweilen ihre früheren Besitzer darauf! Später kann man ja den Versuch machen, ob die Rakker gefüge zu machen sind.“

Dieser Rat wurde befolgt. Wir bekamen unsere Pferde, und dann wurde aufgebrochen. Als wir dem Thaleingange zuritten, kam Cox an meine Seite und sagte:

„Ich denke, daß es Euch nicht in den Sinn kommt, Euch durch Widersetzlichkeit Eure Lage zu erschweren! Kennt Ihr den richtigen Weg?“

„Ja.“

„Hoffentlich führt Ihr uns nicht irr!“

„Fällt mir nicht ein!“

„Wohin geht es heut?“

„Nach einem Spring jenseits des Rush-Creek.“

Mir war es außerordentlich lieb, daß er es für ganz selbstverständlich hielt, daß ich den Führer zu machen hatte, weil ich nach der Aussage des Apatschen mir die Lage der Bonanza gemerkt hatte. Um nun zu wissen, wie es mit den Ortskenntissen der Tramps stehe, erkundigte ich mich:

„Ihr kennt doch wohl die Gegend nach dem Squirrel-Creek hinauf?“

„Nein.“

„Oder einer Eurer Leute?“

„Auch nicht,“ war er so dumm, zu antworten.

„So ist niemand von euch schon dort gewesen?“

„Keiner! Ihr werdet uns also den Weg zeigen.“

„Das mag Winnetou thun!“

„Der hat sich die Stelle nicht gemerkt, wo das Gold liegt.“

„Und Ihr seid der Ansicht, daß ich sie Euch wirklich zeigen werde?“

„Natürlich!“

„Sonderbarer Mensch, der Ihr seid!“

„Wieso?“

„Was habe ich davon, wenn ich Euch zu dem Gold verhelfe? Nichts, gar nichts! Der Tod ist mir zugesprochen; es geht mir an das Leben, ob Ihr die Bonanza bekommt oder nicht. Denkt Ihr da, daß es mir Vergnügen macht, euch alle dafür, daß ihr uns überfallen und ausgeraubt habt und daß ich ermordet werde, zu Millionären zu machen?“

„Hm!“ brummte er, ohne weiter etwas zu sagen.

„Ihr scheint die Sache noch gar nicht von dieser Seite betrachtet zu haben?“

„Freilich nicht; aber Ihr habt Rücksicht auf Eure Kameraden zu nehmen.“

„Wieso?“

„Wenn wir die Bonanza nicht bekommen, müssen sie alle sterben!“

„Was geht das mich an, da ich sterben muß? Wer nimmt Rücksicht auf mich? Was habe ich, wenn ich tot bin, davon, daß die andern leben?“

Chimney corner! Ihr werdet doch nicht so grausam mit ihnen sein!“

„Ich? Grausam? Ihr scheint ein sehr lustiger Kerl zu sein! Spricht der Mensch von Grausamkeit und ist es doch selbst, der sie ermorden will, falls er das Gold nicht bekommt! Ihr braucht uns ja nur freizugeben, so kann von Grausamkeit gar keine Rede sein!“

„Daß ich verrückt wäre!“

„So macht auch mir nicht die Vorwürfe, die nur Euch gehören!“

Er sah einige Zeit vor sich nieder und sagte dann:

Well, wollen aufrichtig miteinander reden! Ist Euch wirklich der Gedanke gekommen, uns die Lage des Placers zu verheimlichen?“

„Ja, selbstverständlich!“

„Schlagt ihn Euch aus dem Kopfe! Es würde das unbedingt zum Tode Eurer Kameraden führen und außerdem auch Euer Schaden sein.“

„Wieso der meinige?“

„Weil es noch gar nicht sicher ist, daß ich Euch dem alten Wabble ausliefere.“

„Ah!“ dehnte ich verwundert.

„Ja,“ nickte er. „Zufällig reitet er da vorn und hört also nicht, was ich mit Euch spreche. Wenn Ihr uns die Bonanza zeigt, und wenn sie so reich ist, wie Winnetou sie beschrieben hat, bin ich im stande, nicht nur Eure Gefährten, sondern auch Euch freizulassen.“

„Wirklich?“

„Ja.“

„Wollt Ihr es mir versprechen?“

„Fest versprechen kann ich es leider nicht.“

„So nützt mir Eure ganze Rede nichts. Ich will wissen, woran ich bin!“

„Sie nützt Euch doch! Es kommt auf den Reichtum der Bonanza an. Sind wir in dieser Beziehung zufrieden, so werdet auch ihr mit mir zufrieden sein. Ihr müßt ja am besten wissen, wie es steht.“

„Was das betrifft, so weiß ich freilich, daß es sich um Millionen handelt.“

„Nun, da ist es so gut, als ob Ihr jetzt schon frei wäret.“

„Was aber wird Old Wabble dazu sagen?“

„Das geht Euch nichts an; den überlaßt nur mir! Wenn es ihm einfällt, mir Scherereien zu machen, so jage ich ihn einfach zum Teufel.“

„Das geht aber nicht an; er soll ja Teilnehmer der Bonanza sein.“

„Unsinn! Habt Ihr denn nicht gemerkt, daß ich ihm das nur weisgemacht habe? Ich bin nicht so dumm, ihm mein Wort zu halten!“

Er war dennoch dumm; er war sogar noch dümmer, als er mit diesen seinen Worten bezeichnen wollte. Wenn er dem alten Wabble sein Wort brach, wie konnte ich da annehmen, daß er das mir gegebene Versprechen halten werde! Es fiel ihm gar nicht ein, mich, wenn er die Bonanza hatte, freizulassen. Ja, noch mehr: da es keine Zeugen seiner an uns verübten Gewaltthat geben durfte, konnten auch meine Begleiter ihres Lebens nicht mehr sicher sein. Er wollte sich nur jetzt meiner Bereitwilligkeit versichern; hatte er dann das Placer, so kam es ihm auf einen Wortbruch und auf ein weiteres Verbrechen nicht an. Was mich dabei am meisten empörte, war, daß dieser freche Patron es wagte, gegen mich einen so vertraulichen Ton anzuschlagen. Ich hätte ihm am liebsten ins Gesicht gespien, mußte aber, die Verhältnisse berücksichtigend, ruhig dazu sein.

„Nun, habt Ihr es Euch überlegt?“ erkundigte er sich nach einer Weile.

„Ja.“

„Was wollt Ihr thun?“

„Sehen, ob Ihr mir Wort halten werdet.“

„Mir das Placer also zeigen?“

„Ja.“

Well! Ihr könnt ja gar nichts Klügeres thun. Übrigens könnte es, selbst wenn ich mein Wort bräche, Euch dann, wenn Ihr tot seid, ganz gleich sein, ob wir das Gold haben oder ob es in der Erde liegen bleibt.“

Das war ein wunderbar befriedigender Abschluß dieses Gespräches! ja, da konnte und mußte es mir allerdings gleichgültig sein! Glücklicherweise hatte ich dabei die eine große Genugthuung, daß es am Squirrel-Creek gar kein Placer gab und daß also nicht ich sondern er der Betrogene sein würde. Ich freute mich schon im voraus auf sein Gesicht!

Er hatte sich noch nicht lange von mir entfernt, so bekam ich Gelegenheit, ein beinahe ebenso interessantes Gespräch zu hören. Hinter mir ritten nämlich Dick Hammerdull und Pitt Holbers mit einem Tramp zwischen sich. Man nahm es mit der Reihenfolge und der Bewachung nicht so überaus streng-, wir waren ja gefesselt und nach der Meinung der Tramps also nicht im stande, zu entfliehen; darum durften wir nach unserm Gusto reiten.

Die beiden Toasts unterhielten sich mit ihrem Begleiter; das heißt, Dick Hammerdull sprach mit ihm, und Pitt Holbers gab dann, wenn er gefragt wurde, eine trockene Antwort dazu. So lange sich Cox neben mir befand, hatte ich nicht auf das, was hinter mir gesprochen wurde, achtgeben können; jetzt hörte ich Dick sagen:

„Und so glaubt Ihr also wirklich, uns ganz fest zu haben?“

„Ja,“ antwortete der Tramp.

„Hört, da bekennt Ihr Euch zu einer ganz falschen Konfession! Wir denken nicht daran, uns als Eure Gefangenen zu betrachten.“

„Ihr seid es aber doch!“

„Unsinn! Wir reiten ein bißchen mit Euch spazieren. Das ist alles.“

„Und seid gefesselt!“

Zu unserm Vergnügen!“

„Danke für das Vergnügen! Und dazu ausgeraubt!“

„Ja, ausgeraubt! Es ist geradezu traurig!“ lachte der Dicke.

Er und Pitt hatten nämlich vor unserm Aufbruche nach dem Westen ihr Geld eingenäht; darum lachte er jetzt.

„Wenn Euch das so lächerlich vorkommt, ist’s ja gut für Eure Laune,“ sagte der Tramp ärgerlich. „Ich an Eurer Stelle würde viel ernster sein!“

„Ernst? Was für einen Grund hätten wir denn, die Köpfe hängen zu lassen? Gar keinen! Wir befinden uns heut so wohl wie stets und immer.“

Da stieß der Tramp einen Fluch aus und rief.

„Ihr wollt mich wohl foppen, ihr Kerls! Ihr müßt euch doch gewaltig darüber ärgern, daß ihr in unsere Hände verfallen seid!“

„Ob wir uns ärgern oder Ihr, das bleibt sich gleich; das ist uns ganz egal; jedenfalls aber seid Ihr es nicht, der sich nicht ärgert. Meinst du das nicht auch, Pitt Holbers, altes Coon?“

„Ja, ich denke ganz dasselbe, lieber Dick,“ antwortete der Lange.

„Ich mich ärgern?“ rief der Tramp. „Ihr seid ja ganz verkehrt!“

„O nein! Wir wissen sogar, daß Ihr Euch noch viel mehr ärgern werdet.“

„Wann und worüber?“

„Wann? Wenn wir uns von Euch verabschiedet haben. Und worüber? Darüber, daß Ihr nicht länger so gemütliche und fidele Leute bei Euch habt.“

„Das ist Galgenhumor, nichts als Galgenhumor! Ihr ahnt doch wohl, welchem Schicksale Ihr entgegengeht!“

„Nicht daß ich wüßte! Welches berühmte Schicksal ist es denn?“

„Ihr werdet ausgelöscht werden, alle ausgelöscht!“

Pshaw! Das thut nichts; das thut sogar gar nichts, denn wenn wir ausgelöscht werden, so brennen wir uns ganz gemütlich wieder an!“

„Verrückt, geradezu verrückt!“

„Verrückt! Hört, wenn Ihr uns für verrückt haltet, da muß ich freilich einmal den Scherz beiseite lassen und Euch ein ernsthaftes Wort sagen! Wenn einer von uns dreien verrückt ist, so seid Ihr es; darauf kann ich schwören! Oder ist es etwa nicht der reine, unheilbare Wahnsinn, zu glauben, daß Ihr uns fest und sicher habt? Ich bin zwar ein dicker Kerl, dennoch aber schlüpfe ich Euch durch die kleinste Masche davon. Pitt Holbers hier, der Lange, ist gar nicht festzuhalten; er ragt mit seiner Nase hoch über Eure Schranken und Netze hinaus. Old Shatterhand und Winnetou, diese beiden erst! Wer sich einbildet, sie festzuhalten, der hat den Verstand bis auf den allerletzten Rest verloren. Ich erkläre Euch hiermit mit der größten Feierlichkeit, die Ihr von mir verlangen könnt, daß wir Euch davonfliegen werden, ehe Ihr es denkt. Dann steht Ihr da und sperrt die Mäuler auf. Oder wir fliegen nicht davon, sondern machen es noch besser, viel besser: Wir drehen den Spieß grad um und nehmen Euch gefangen. Dann klappen Euch die Mäuler wieder zu! Länger als höchstens einen Tag bei Euch zu sein, das wäre eine Schande, die ich bei meiner zarten Konstitution nicht überleben könnte. Wir brechen aus! Nicht wahr, Pitt Holbers, altes Coon?“

„Hm!“ brummte der Lange. „Wenn du denkst, daß wir es thun werden, so hast du recht, lieber Dick. Wir werden ausbrechen!“

„Uns entfliehen, uns entkommen?“ lachte der Tramp höhnisch. Ach sage Euch, wir halten Euch so fest und so sicher, wie auch ich zufällig Holbers heiße!“

„Ah, auch Holbers? Schöner Name! Nicht? Heißt Ihr auch Pitt?“

„Nein. Mein Vorname ist Hosea. Interessiert Euch das vielleicht?“

„Hosea? Uff! Natürlich interessiert es uns!“

„Ihr schreit Uff! Hat Euch mein Vorname etwa wehe gethan?“

Anstatt ihm diese Frage zu beantworten, wendete Dick sich an Holbers:

„Hast du es gehört, Pitt Holbers, altes Coon, daß dieser Mann den schönen, frommen und biblischen Namen Hosea hat?“

„Wenn du denkst, daß ich es gehört habe, so ist das richtig,“ antwortete der Gefragte.

„Und was sagst du dazu?“

„Nichts.“

„Gar nichts?“

„Nein, gar nichts!“

„Also wirklich gar nichts! Eigentlich hast du da recht, lieber Pitt, denn wenn der Mann ein Tramp ist, halte ich das Schweigen auch für viel besser; aber ich bin nun einmal ein neugieriger Kerl, und ich gestehe dir aufrichtig, daß es mir schwer fällt, den Mund zu halten.“

„Was sind das für geheimnisvolle Redensarten?“ fragte da der Tramp. „Stehen sie etwa mit mir, mit meinem Namen in Verbindung?“

„Wie es scheint, ja.“

„Wie so?“

„Sagt einmal, ob es in Eurer Familie noch ähnliche Bibelnamen giebt?“

„Es giebt noch einen.“

„Welchen?“

„Joel.“

„Uff! Wieder einer von den Propheten! Euer Vater scheint ein sehr frommer, bibelfester Mann gewesen zu sein! Oder etwa nicht?“

„Nicht daß ich wüßte. Er war ein sehr gescheiter Kerl, der sich von den Pfaffen nichts weismachen ließ, und ich bin nach ihm geraten.“

„So war aber wohl Eure Mutter eine gläubige Frau?“

„Leider ja.“

„Warum leider?“

„Weil sie mit ihrem Beten und Plärren dem Vater das Leben so verbittert hat, daß er sich gezwungen sah, es sich durch den Brandy zu versüßen. Es ist eben unmöglich, daß ein kluger Mann es bei einer Betschwester aushalten kann; er läßt sie daheim sitzen und geht in das Wirtshaus. Das ist ja das beste, was er thun kann!“

„Ah! Er hat es sich wohl so lange versüßt, bis es ihm zu süß wurde?“

„Ja; er bekam es überdrüssig, und als er eines schönen Tages sah, daß er einen Strick zu viel besaß, der zu nichts anderem zu gebrauchen war, hing er ihn an einen Nagel, machte eine Schlinge und steckte den Kopf hinein, und zwar so lange, bis er abgeschnitten wurde.“

Es zuckte mir in den leider gefesselten Händen, als ich diesen Kerl hinter mir in dieser cynischen Weise von dem Tode seines selbstmörderischen Vaters sprechen hörte. Hammerdull hütete sich, eine hier freilich sehr unnütze sittliche Entrüstung zu zeigen und etwa zu sagen, daß sich selbst der verkommenste Indianer schämen würde, derart von seinem toten Vater zu reden; er verfolgte den heimlichen Zweck dieses Gespräches weiter, indem er lachend fortfuhr:

„Ja, es giebt freilich nur ganz seltene Fälle, daß jemand, der die Angewohnheit hat, den Kopf in solche Schlingen zu stecken, sie sich wieder abgewöhnen kann. Aber, Mr. Holbers, wenn ich mich recht entsinne, so sagtet Ihr vorhin, daß Ihr nach Eurem Vater geraten seid?“

„Ja, das sagte ich.“

„So hütet Euch vor ähnlichen Stricken!“

Pshaw! Wenn ich ihm in allem ähnlich bin, in dieser Beziehung sicher nicht. Das Leben ist so schön, daß ich es mir so lange wie möglich zu erhalten suchen werde. Wenigstens wird es mir nie einfallen, den Kopf in eine Schlinge zu stecken. Ich wüßte auch nicht, warum; ich hätte gar keine Veranlassung dazu, da ich nicht so dumm gewesen bin, mir ein immer betendes und ewig plärrendes Weib zu nehmen.“

„Ich bleibe trotzdem bei meiner Warnung! Es soll ja vorkommen, daß jemand an einem Stricke hängen bleibt, ohne daß er selbst auf den Gedanken gekommen ist, den Kopf hineinzustecken. Meinst du nicht auch, Pitt Holbers, altes Coon, daß dies vorgekommen ist und auch wieder vorkommen kann?“

„Hm! Wenn du denkst, daß es vorgekommen ist, so gebe ich das zu, wenn du aber meinst, daß es sich auch wieder ereignen kann, so gebe ich dir doppelt recht. Dieser Namensvetter von mir, der ein so kluger Mann wie sein Vater ist, wird mich wahrscheinlich verstehen.“

Zounds!“ rief da der Tramp. „Soll das etwa eine zarte Anspielung auf das Gehängtwerden sein?“

„Warum nicht?“ fragte Hammerdull.

„Weil ich mir solche Scherze verbitte!“

„Ich sehe nicht ein, wie ihr da gleich in Zorn geraten könnt. Wir haben doch nur im allgemeinen sagen wollen, daß es Stricke gegeben hat und auch jetzt noch giebt, an denen man, ohne es eigentlich zu wollen, ganz unerwartet hängen bleiben kann, und wenn ich Euch vor solchen Stricken gewarnt habe, so konnte das doch nur gut gemeint sein!“

„Danke sehr! Solche Warnungen sind bei mir nicht nötig!“

Well! Um aber wieder auf Eure Mutter zu kommen, so möchte ich gerne wissen, ob sie außer ihrer Frömmigkeit nicht auch noch andere Eigenschaften besessen hat, die Euch im Gedächtnisse geblieben sind.“

„Andere Eigenschaften? Ich verstehe Euch nicht. Wie meint Ihr das?“

„Nun, so in erziehlicher Beziehung. Fromme Leute pflegen streng zu sein.“

„Ach so!“ lachte der Tramp, der von dem Gedankengange Hammerdulls keine Ahnung hatte. „Leider ist das richtig, was Ihr sagt. Wenn sich alle braunen und blauen Flecke, die Euch dies beweisen könnten, noch auf meinem Rücken befänden, könnte ich mich vor Schmerz nicht hier auf meinem Pferde erhalten.“

„Ach, so war ihre Erziehungsweise also eine sehr eindringliche?“

„Ja, sie drang oftmals durch die Haut.“

„Auch bei Joel, Eurem Bruder?“

„Ja.“

„Lebt der noch?“

„Freilich; der denkt gar nicht daran, schon tot zu sein!“

„Wo befindet er sich gegenwärtig, mit den schönen Erinnerungen auf dem Rücken und höchstwahrscheinlich auch auf anderen Körperteilen?“

„Hier.“

„Was? Hier bei uns?“

„Gewiß. Seht nur nach vorn! Der, welcher neben Cox reitet, ist’s.“

Good lack! Es sind also beide Propheten da? Hosea und Joel, alle zwei? Was sagst du dazu, Pitt Holbers, altes Coon?“

„Nichts,“ antwortete der Lange noch kürzer, als er gewöhnlich zu antworten pflegte.

„Was habt Ihr denn eigentlich mit mir und meinem Bruder?“ erkundigte sich der Tramp, dem dieses Gespräch nun endlich doch auffiel.

„Das werdet Ihr wahrscheinlich bald erfahren. Sagt mir vorher nur erst, was Euer Vater gewesen ist!“

„Alles mögliche, was ein Mann sein kann, der sich so über sein Weib ärgern muß.“

„Das heißt wahrscheinlich: alles und nichts. Ich meine aber, was er war, als er eines Tages fand, daß er den betreffenden Strick übrig habe.“

„Da hatte er vor kurzem ein Heiratsbureau gegründet.“

„Sonderbar! Jedenfalls um andern auch eine Portion Ärger zukommen zu lassen? Das war für das Allgemeinwohl ja sehr hübsch von ihm!“

„Ja, die Absicht war gut, der Erfolg aber schlecht.“

„Ah! Es fand sich keine Menschenseele ein, die nach der Vereinigung mit einer andern schmachtete?“

„Keine, keine einzige!“

„Drum fand er wohl den Strick?“

„Ja; er wendete dem Leben, welches ihm nichts zu essen bot, den Rücken.“

„Feiner Kerl! Im höchsten Grade gentlemanlike! Wenn ich ihn hier hätte, könnte sein Rücken bald ganz in denselben Erinnerungen schwelgen wie der Eurige! Frau und Kinder feig zu verlassen! Pfui Teufel!“

„Schwatzt nicht so dummes Zeug! Als er fort war, ging es uns besser.“

„Richtig! Wenn der Mann das Geld nicht mehr vertrinken kann, welches die Frau verdient, geht es der Witwe und den Waisen besser!“

„Hört, wie kommt Ihr zu dieser Rede? Meine Mutter war allerdings die eigentliche Verdienerin.“

„Ja; sie arbeitete wie ein Pferd!“

„Woher wißt Ihr das?“

„Sie lebte und wohnte in dem kleinen Smithville, Tennessee, als ihr Mann, Euer lieber Vater, damals von sich selbst aufgehangen wurde?“

„Richtig! Aber sagt, woher Ihr das alles –“

„Und ist nachher mit ihren Kindern nach dem Osten gezogen,“ unterbrach ihn Dick Hammerdull unbeirrt.

„Auch das stimmt! Nun teilt mir endlich –“

„Wartet nur! Sie hat so gearbeitet und so viel verdient, daß sie sogar einen kleinen, blutarmen Neffen zu sich nehmen und aufziehen konnte, der nachher, als ihm ihre strenge Erziehungsweise zu schmerzlich wurde, eines schönen Sommertags verschwand. Ist es so oder nicht?“

„Es ist so. Mir unbegreiflich, daß Ihr das alles wißt!“

„Ihr hattet auch eine Schwester?“

„Ja.“

„Wo ist sie?“

„Sie ist jetzt tot.“

„So seid Ihr und Euer honorabler Prophet Joel die einzigen Erben Eurer Mutter gewesen?“

„Natürlich!“

„Wo ist das Erbe?“

„Zum Teufel! Wo soll es anders sein? Was konnten wir mit den paar hundert Dollars anders machen, als sie vertrinken!“

Well – Ihr scheint wirklich genau nach Eurem Vater geraten zu sein! Ich sage jetzt zum drittenmal: Hütet Euch vor dem Strick! Was meinst du, Pitt Holbers, altes Coon? Sollen sie es bekommen?“

„Hm,“ brummte der Gefragte, im höchsten Grade verdrießlich, „ich thue, was du willst, lieber Dick.“

Well, so bekommen sie es nicht! Bist du damit einverstanden?“

Yes; sie sind es nicht wert.“

„Ob sie es wert sind oder nicht, das bleibt sich ganz gleich; aber es wäre geradezu eine Affenschande, wenn sie es bekämen!“

„Was habt Ihr nur für Heimlichkeiten? Von wem sprecht Ihr eigentlich?“ erkundigte sich der Tramp.

„Von Hosea und Joel,“ antwortete Hammerdull.

„Also von mir und meinem Bruder?“

„Ja.“

„Wir beide sind es, die etwas nicht bekommen sollen?“

„Ja.“

„Was?“

„Unser Geld.“

„Euer Geld? Der Teufel mag Euch begreifen! Wir haben Euch ja alle Eure Taschen leer gemacht!“

Pshaw! Denkt Ihr, daß wir alles, was wir besitzen, mit hier herauf nach dem fernen Westen nehmen? Pitt hat ein Vermögen, und ich habe auch ein Vermögen; diese vielen, vielen Tausende von Dollars haben wir zusammengethan, um sie Euch und Euerm vortrefflichen Joel zu schenken; jetzt aber sind wir zu dem Entschluß gekommen, daß Ihr nichts, gar nichts, aber auch nicht einen einzigen Cent davon erhalten sollt.“

Ich sah mich nicht um, aber ich konnte mir das erstaunte Gesicht des Tramp vorstellen. Es verging eine ganze Weile, ehe ich ihn fragen hörte:

„Euer – – Vermögen sollten – – sollten wir – – bekommen?“

„Ja.“

„Ihr wollt Unsinn mit mir treiben!“

„Fällt mir gar nicht ein!“

Er schien in den Gesichtern der beiden Toasts zu forschen, denn es verging wieder eine lange Pause, ehe ich ihn in erstauntem Tone sagen hörte:

„Ich weiß wahrhaftig nicht, woran ich mit euch bin! Ihr macht so ernsthafte Gesichter, und doch kann es nichts als nur ein dummer Spaß sein!“

„Hört einmal, was ich Euch sage: Wenn Ihr Euch für einen Kerl haltet, zu dem wir uns gemütlich herablassen können, um mit ihm zu scherzen, so kennt Ihr weder Euch noch uns! Ihr seid teils Schafkopf, teils Halunke; wir aber sind kluge und achtbare Leute, welchen es nicht einfällt, sich mit Eseln und Schurken zu belustigen. Also daß wir uns ein Amusement mit Euch machen wollen, das liegt ganz außerhalb des Bereiches dessen, was auf dieser alten Erde möglich ist!“

Zounds! Vergeßt ja nicht, daß ihr unsere Gefangene seid! Beleidigen lasse ich mich nicht. Wenn ihr so mit Schurken und Halunken um euch werft, kann euch diese Kühnheit schlecht bekommen!“

Pshaw! Regt Euch ja nicht unsertwegen auf, wir haben keine Angst! So lange wir uns kennen, sind wir gewöhnt gewesen, alles beim richtigen Namen zu nennen. Es kann uns gar nicht einfallen, einen Schuft als Ehrenmann zu bezeichnen!“

„Und wenn ich Euch mit Strafen drohe?!“

„Unsinn! Seid Ihr etwa unser Schulmeister, und wir sind Eure Schuljungens? Was Ihr heut an uns verübt, das können wir morgen rächen, wenn wir wollen; darauf mögt Ihr Euch verlassen! Also der Schurke, der Halunke, der bleibt stehen! Und was den Schafskopf betrifft, so nehme ich auch ihn nicht zurück, denn Ihr seid einer, und zwar was für einer! Das habt Ihr bewiesen!“

„Wodurch bewiesen? Heraus damit!“

„Dadurch, daß Ihr noch immer nicht begreift, was es mit dem, was ich Euch gesagt habe, für eine Bewandtnis hat.“

„Der Teufel mag Euch verstehen und begreifen!“

„Der hat keine Zeit dazu. Ihr steht uns näher als er und seid auch nicht viel besser als er! Ihr habt uns doch Euern Familiennamen gesagt!“

„Ja, Holbers.“

„Und mein Freund heißt?“

„Auch so.“

„Und sein Vorname?“

„Pitt, wie ich gehört habe. Pitt Holbers. Das ist ganz – ah, ah!“

Er hielt inne. Ich hörte ihn halblaut durch die Zähne pfeifen, und dann fuhr er hastig fort:

„Pitt, Pitt, Pitt – so hieß doch auch der junge, der Cousin, den die Mutter zu sich nahm und – – – Thunder-storm! Wär es denn möglich? Ist dieser ewig lange Mensch hier vielleicht jener kleine Pitt?“

„Er ist’s! Endlich habt Ihr die Hand an der richtigen Thürklinke! Das hat viel, sehr viel Mühe und Arbeit gekostet, ehe Ihr darauf gekommen seid! Ihr dürft Euch auf Eure Klugheit nichts einbilden!“

Diese Beleidigung überhörend, rief der Tramp:

„Was? Wirklich? Du bist der dumme Pitt, der sich für uns alle immer so gutwillig von der Mutter prügeln ließ? Dem diese Stellvertretung endlich so wehe that, daß er die Flucht ergriff?“

Pitt mochte nur mit dem Kopfe nicken; ich hörte kein Wort.

„Das ist doch toll!“ fuhr sein Vetter fort. „Und jetzt sehe ich dich als unsern Gefangenen wieder!“

„Den ihr ermorden wollt!“ fügte Hammerdull hinzu.

„Ermorden? Hm! Davon wollen wir jetzt nicht reden. Erzähle mir jetzt lieber, Pitt, wo du damals hingelaufen bist und was du seit jener Zeit bis jetzt getrieben hast! Ich bin neugierig darauf!“

Pitt hustete einige Male und sagte dann, ganz und gar nicht in der trockenen Weise, in welcher er sonst zu sprechen pflegte:

„Ich begreife nicht, wie ich dazu komme, von Euch du genannt zu werden. Das duldet man doch nur von Gentlemen, nicht aber von Menschen, welche ihre Ehre, ihre Reputation so weit von sich geworfen haben, daß sie sich nicht schämen, unter die Tramps gegangen zu sein! Ich muß leider zugeben, daß ich der Sohn vom Bruder Eures Vaters bin, kann aber zu meiner Rechtfertigung sagen, daß nicht ich diese Verwandtschaft zu verantworten habe. Es macht mir große Freude, sagen zu können, daß ich gegen meinen Willen Euer Verwandter bin.“

„Oho!“ fiel der Tramp zornig ein. „Du willst dich meiner schämen? Aber geschämt hast du dich nicht, dich von uns ernähren zu lassen?“

„Von Euch? Doch nur von Eurer Mutter. Und das, was sie mir gab, habe ich mir redlich abverdienen müssen. Während Ihr tolle Streiche verübtet, mußte ich arbeiten, daß mir die Schwarte knackte; nebenbei erhielt ich die Prügel für Euch, so ungefähr als das, was man das Dessert, den Nachtisch nennt. Zu danken habe ich Euch also nicht das geringste. Dennoch wollte ich Euch eine große Freude machen. Wir suchten Euch, um Euch unsere Ersparnisse zu schenken, denn wir sind Westmänner, welche kein Geld brauchen. Ihr wäret reich dadurch geworden. Nun wir Euch aber als Tramps, als elende, herabgekommene Subjekte finden, soll mich unser Herrgott behüten, dieses schöne und viele Geld, mit welchem wir bessere und würdigere Menschen glücklich machen können, in Eure Hände zu legen. Wir haben uns seit unserer Kindheit hier zum erstenmal wiedergesehen und sind aber auch sofort wieder geschiedene Leute. Ich wünsche von ganzem Herzen, daß ich niemals wieder den Ärger und die Kränkung haben möge, mit Euch zusammenzutreffen!“

Der sonst so wortkarge Pitt Holbers hatte diese lange Rede in einer so fließenden Weise gehalten, daß ich mich schier wunderte. Das Verhalten des feinsten Gentleman hätte nicht korrekter sein können als das seinige. Das erkannte Dick Hammerdull dadurch an, daß er ihm, ohne eine Pause eintreten zu lassen, eiligst zustimmte:

„Recht so, lieber Pitt, recht so! Du hast mir ganz aus der Seele gesprochen. Wir können bessere Menschen damit glücklich machen. Ich hätte dieselben Worte gesagt, wirklich ganz genau dieselben Worte!“

Einem Fremden hätte der Tramp jedenfalls in anderer Weise geantwortet, nun er aber wußte, daß Pitt sein Verwandter sei, zog er den Spott dem Zorne vor und sagte, indem er dabei höhnisch lachte:

„Wir sind gar nicht neidisch auf die guten, die bessern Menschen, die euer Geld bekommen sollen. Die paar Dollars, die ihr zusammengewürgt haben werdet, brauchen wir nicht. Wir werden ja Millionen besitzen, sobald wir die Bonanza gefunden haben!“

„Wenn ihr sie findet!“ kicherte Hammerdull.

„Freilich nicht wir, sondern Old Shatterhand!“

„Und der zeigt sie euch!“

„Natürlich!“

„Ja, ja! Ich sehe schon, wie er mit dem Zeigefinger auf die Erde deutet und zu euch sagt: Da liegen sie, Klumpen über Klumpen, einer immer größer als der andere. Seid doch ja so gut und nehmt sie heraus! Einen größern Gefallen könnt ihr uns armen Gefangenen gar nicht thun! Dann schießt ihr uns alle über den Haufen, damit wir nichts verraten können, nehmt die Million heraus, kehrt nach dem Osten zurück, deponiert sie auf der Bank, lebt von den Zinsen herrlich und in Freuden wie der reiche Mann im Evangelium und laßt alle Tage Pflaumenkuchen für eure Schnäbel backen. So denke ich mir das, und so wird es auch geschehen. Meinst du nicht auch, Pitt Holbers, altes Coon?“

„Ja, besonders das mit dem Pflaumenkuchen wird seine Richtigkeit haben,“ antwortete Pitt, jetzt wieder in seiner trockenen Weise.

„Redet nicht so dummes Zeug!“ fuhr Hosea die beiden Freunde an. „Es ist doch nur der grimmige Ärger, der Neid, welcher aus euch spricht! Wie gern, wie sehr gern möchtet ihr doch die Bonanza für euch haben! Das ist so selbstverständlich wie nichts anderes in der Welt!“

„Diese Bonanza, grad diese? O, die gönnen wir euch von ganzem Herzen! Wir freuen uns schon auf die Augen, die ihr machen werdet, wenn wir an Ort und Stelle sind. Ich habe nur ein Bedenken, ein sehr großes Bedenken bei dieser ganzen Geschichte.“

„Welches?“

„Daß ihr vor lauter Wonne das Zugreifen vergessen werdet.“

„O, wenn es nur das ist, so zerbrecht Euch ja nicht den Kopf darüber. Wir lassen nichts liegen, denn das Zugreifen haben wir gelernt!“

„Sehr richtig; wir wissen es!“

„Nicht wahr? Also macht Euch keine Sorge! jetzt aber muß ich hin zu meinem Bruder, um ihm zu sagen, daß ich den Pitt gefunden habe, den Vetter Pitt, der es nicht zugiebt, daß ich ihn du nenne!“

Er trieb sein Pferd vorwärts und ritt, an mir vorüber, nach der Spitze des Zuges, wo sich Joel, der brüderliche Schuft, befand.

„Hättest du das gedacht?“ hörte ich Hammerdull hinter mir fragen.

„Nein!“ antwortete Pitt kurz.

„Saubere Verwandtschaft!“

„Bin großartig stolz auf sie!“

„Höchst ärgerlich!“

„O nein! Ich ärgere mich nicht, weil sie mir höchst gleichgültig sind.“

„Ach, das meine ich nicht!“

„Was denn?“

„Unser Geld.“

„Wieso?“

„Wen schenken wir es nun? Ich mag nicht reich sein; ich mag nicht auf dem Geldsacke hocken und vor Angst darüber, daß er mir gestohlen werden könnte, den schönen, gesunden Schlaf einbüßen.“

„Ja, nun können wir uns wieder die Köpfe zerbrechen!“

„Wieder von vorn anfangen, darüber nachzudenken, wer uns das Geld abnehmen wird! Es ist eine dumme, eine ganz dumme Geschichte!“

Da wendete ich den Kopf und sagte:

„Macht Euch doch keine unnötigen Sorgen!“

Sie kamen sofort rechts und links zu mir heran, und der Dicke fragte:

„Keine Sorge? Wißt Ihr vielleicht jemand, den wir beschenken können?“

„Hunderte könnte ich Euch vorschlagen; das meine ich aber nicht. Habt Ihr denn das Geld?“

„Leider nicht. Der General hat es; das wißt Ihr doch, Mr. Shatterhand.“

„Also grämt Euch jetzt noch nicht! Wer weiß, ob wir ihn fangen!“

„Oh, Ihr und Winnetou seid ja da! Da ist es so gut, als ob wir ihn schon hätten! Habt Ihr gehört, was wir jetzt,gesprochen haben?“

„Ja.“

„Daß wir Pitts Vettern gefunden haben?“

„Ja.“

„Was sagt Ihr dazu, Sir?“

„Daß Ihr sehr unvorsichtig gewesen seid.“

„Inwiefern? Hätten wir verschweigen sollen, wer Pitt Holbers ist?“

„Nein. Aber Ihr habt gethan, als wißtet Ihr ganz genau, daß wir bald frei sein werden.“

„War das ein Fehler?“

„Ein sehr großer! Es wird dadurch leicht ein Verdacht erweckt, der uns sehr hinderlich werden, vielleicht alles verderben kann.“

„Hm! Das ist wahr. Aber soll ich diesen Kerls den Gefallen thun, vor Traurigkeit die Nase bis auf den Sattel herunterhängen zu lassen?“

„Wenn auch das nicht!“

„Ihr habt doch selbst sehr selbstbewußt zu Cox und Old Wabble gesprochen!“

„Aber nicht in so auffälliger Weise wir Ihr jetzt zu diesem Hosea Holbers, welcher glücklicherweise nicht pfiffig genug ist, mißtrauisch zu werden. Eure Ironie in Beziehung auf die großen Goldklumpen war höchst gefährlich für uns. Die Tramps müssen bis zum letzten Augenblicke glauben, daß ich die Bonanza kenne.“

„Ja, aber wann wird dieser letzte Augenblick kommen?“

„Vielleicht schon heut.“

Huzza! Ist’s wahr?“

„Ich denke!“

„In welcher Weise?“

„Das kann ich jetzt noch nicht genau wissen. Kolma Puschi, der Indianer, wird kommen und mich freimachen.“

„Der? Wer hätte das gedacht! Wißt Ihr das genau?“

„Ja; er hat es mir versprochen. Wie ich mich dann, wenn ich frei bin, verhalten werde, das wird sich nach den Umständen richten. Ihr dürft nicht einschlafen, müßt Euch aber schlafend stellen. Sagt das nach und nach den Kameraden! Ich will nicht mit ihnen sprechen, weil dies Verdacht erregen könnte. Also, Ihr braucht vor diesen Tramps nicht demütig zu thun, dürft Euch aber auch nicht zuversichtlich zeigen.“

Sie wußten nicht, daß Kolma Puschi heimlich bei mir gewesen war, und frugen mich, woher ich wisse, daß er kommen werde; ich forderte sie aber auf, wieder hinter mir zu reiten und die Sache ruhig abzuwarten. Es war besser, wenn die Tramps mich so wenig wie möglich mit meinen Gefährten sprechen sahen.

Die Brüder Holbers hielten jetzt ihre Pferde an, bis sie sich bei Dick und Pitt befanden. Da zeigte Hosea auf den letzteren und sagte:

„Das ist er, der Prügelvetter von damals, dem jetzt der Stolz verbietet, du zu mir zu sagen.“

Joel warf einen sehr geringschätzenden Blick auf Pitt und antwortete:

„Er wird noch froh sein, wenn wir ihm erlauben, überhaupt mit uns reden zu dürfen! Also Geld hat er uns schenken wollen?“

„Ja, ein ganzes Vermögen sogar!“

„Und das hast du geglaubt?“

„Fällt mir nicht ein!“

„Sieh ihn doch an! Der, und ein Vermögen! Die reine Dummpfiffigkeit! Er hat uns ködern wollen. Werden uns freilich sehr hüten, auf so einen kindischen Blödsinn hereinzufallen! Komm!“

Sie ritten wieder nach vorn. Dick Hammerdull scherzte:

„Also dummpfiffig sind wir, Pitt Holbers, altes Coon! Das sind zwei Eigenschaften, in welche wir uns teilen können. Wenn es dir recht ist, nehme ich die Pfiffigkeit für mich; du bekommst das übrige.“

„Bin einverstanden! So muß es unter Freunden sein! Dann hat einer dem andern sein Kapital geborgt!“

„Donner! Das war nicht übel geantwortet! Danke dir!“

„Bitte! Gern geschehen!“

Ich wurde jetzt nach vorn gerufen, um mich als Führer an die Spitze des Zuges zu setzen, denn ich hatte bisher nur hier und da durch ein lautes Wort angegeben, welche Richtung zu nehmen sei. Wir waren ziemlich scharf geritten und nun in die Nähe des Zusammenflusses der beiden Rush-Forks gekommen. Die Gegend war wasserreich, und darum wurde die Prairie sehr oft durch größere und kleinere Gruppen von Büschen und Bäumen unterbrochen. Es war also notwendig, daß ich voranritt. Damit mir das aber ja nicht eine Gelegenheit zur Flucht geben möge, nahmen Cox und Old Wabble mich eng in ihre Mitte. Wir hatten wieder einmal eine solche Bauminsel vor uns, als Old Wabble die Hand ausstreckte und rief-

„All devilsl Wer kommt da? Männer, nehmt euch in acht! Haltet die Gefangenen eng zusammen, denn da kommt einer, der alles daran setzen wird, sie zu befreien!“

„Wer ist’s?“ fragte Cox.

„Ein guter Freund von Winnetou und Shatterhand. Old Surehand heißt er. Wenigstens möchte ich darauf schwören, daß er es ist.“

Es kam ein Reiter hinter dem Wäldchen hervor und in voller Carriere auf uns zugej agt. Er war noch weit von uns entfernt; wir konnten sein Gesicht nicht erkennen; aber wir sahen sein langes Haar wie einen hinter ihm wehenden Schleier fliegen. Das gab ihm freilich eine große Ähnlichkeit mit Old Surehand; aber ich sah sofort, daß er nicht die volle, kräftige Gestalt desselben hatte. Es war nicht Old Surehand, sondern Kolma Puschi, welcher uns entgegenkam. Er wollte uns zeigen, daß er auf dem Platze sei.

Er that zunächst, als sähe er uns nicht; dann stutzte er, hielt sein Pferd an und betrachtete uns. Hierauf stellte er Sich, als ob er zur Seite ausweichen wolle, lenkte aber wieder zurück und wartete auf unsere Annäherung. Als wir so weit gekommen waren, daß wir sein Gesicht erkennen konnten, sagte Old Wabble, hörbar im Tone der Erleichterung:

„Es ist nicht Old Surehand, sondern ein Indianer. Das ist gut, sehr gut! Zu welcher Horde er wohl gehören mag?“

„Dumme Begegnungl“ meinte Cox.

„Warum? Viel besser, als wenn es ein Weißer wäre. Braucht sich aber eigentlich auch nicht grad auf unserm Wege herumzutreiben; thi’s clear! Wir müssen ihn etwas scharf drannehmen, daß es ihm nicht etwa einfällt, uns nachzuspionieren.“

Jetzt hatten wir ihn erreicht und hielten an. Er grüßte mit stolzer Senkung seiner Hand und fragte:

„Haben meine Brüder vielleicht einen roten Krieger gesehen, welcher einen Sattel trägt und sein Pferd sucht, welches ihm in dieser Nacht entflohen ist?“

Cox und Old Wabble schlugen ein helles Gelächter auf, und der erstere antwortete:

„Einen roten Krieger, der einen Sattel trägt! Schöner Krieger!“

„Warum lacht mein weißer Bruder?“ fragte der den Tramps unbekannte Indianer ernst und erstaunt. „Wenn ein Pferd entwichen ist, hat man es doch zu suchen!“

„Sehr wahr! Aber wer seine Pferde ausreißen läßt und dann mit dem Sattel hinterher läuft, kann kein sehr berühmter Krieger sein! Ists etwa ein Kamerad von dir?“

„Ja.“

„Habt ihr noch mehr Kameraden?“

„Nein. Während wir in der Nacht schliefen, riß es sich los und war früh nicht mehr zu sehen. Wir brachen auf, nach ihm zu forschen; nun finde ich nicht sein Pferd und auch nicht ihn.“

„Nicht sein Pferd und auch nicht ihn! Lustige Geschichte! Ihr scheint ja zwei außerordentlich tüchtige Kerls zu sein! Da muß man wirklich Respekt bekommen. Zu welchem Stamme gehört ihr denn?“

„Zu keinem.“

„Also Ausgestoßene! Lumpengesindel! Na, ja, ich will menschlich und barmherzig sein und euch helfen. Ja, wir haben ihn gesehen.“

„Wo?“

„So ungefähr zwei Meilen hinter uns. Du brauchst nur auf unserer Fährte zurückzureiten. Er hat uns nach dir gefragt.“

„Welche Worte hat der Krieger da gesagt?“

„Sehr schöne, ehrenvolle Worte, auf welche du sehr stolz sein kannst. Er fragte, ob wir nicht den stinkigsten roten Hund gefunden hätten, den das Ungeziefer durch die Prairie treibt.“

„Mein weißer Bruder hat den Krieger falsch verstanden.“

„Ah? Wirklich? Wie sollte er anders gesagt haben?“

„Ob die Bleichgesichter nicht den Hund gesehen haben, welcher das stinkige Ungeziefer durch die Prairie treibt. So werden die Worte gewesen sein, und der Hund wird das Ungeziefer finden.“

Er nahm das Pferd vorn hoch – eine leise Bewegung der Schenkel – – es flog in einem weiten Bogen durch die Luft und trug ihn dann in schlankem Galoppe weiter, auf unserer Fährte hin, wie ihm gesagt worden war. Alle sahen ihm nach, während er sich nicht ein einziges Mal umblickte. Cox murrte:

„Verfluchter, roter Balg! Was mag er wohl gemeint haben? Habt Ihr diese Umdrehung meiner Worte verstanden, Mr. Cutter?“

„Nein,“ antwortete der alte Wabble. „Indianerwort! Er hat nur etwas sagen wollen und sich selbst nichts dabei gedacht.“

Well! So mag er die zwei Meilen reiten und dann weitersuchen. Ein roter Krieger mit einem Sattel auf dem Rücken! Zwei feine Kerls! Diese armselige Bande kommt immer mehr herunter!“

Wir ritten nach diesem kurzen Intermezzo weiter. Diese Tramps waren keine Westmänner; aber daß auch Old Wabble die Worte des Roten für bedeutungslos gehalten hatte! Mir an seiner Stelle hätten sie ein solches Mißtrauen eingeflößt, daß ich dem Indsman ganz gewiß nachgeritten wäre, um ihn zu beobachten. Wer solche Antworten nicht als Warnungen oder Winke nimmt, der ist den Gefahren des wilden Westens nicht gewachsen.

Wir waren noch nicht weit geritten, als es wieder eine Begegnung gab, und zwar eine für uns sehr wichtige, auf welche, wenigstens heut, keiner von uns gefaßt war und die uns infolge dessen im höchsten Grade überraschend kam.

Wir ritten an einem schmalen Buschstreifen hin, welcher sich wie ein geschlängeltes Band über die Savanne zog, und hatten das Ende desselben erreicht, als wir zwei Reiter sahen, welche mit einem Packpferde, von rechts herüberkommend, auf uns stoßen mußten. Da sie uns auch schon gesehen hatten, gab es kein Verbergen, wedervon ihrer noch von unserer Seite. Wir ritten also weiter und sahen, daß der eine Reiter sein Gewehr zur Hand nahm, wie es immer geschieht, wenn es sich um ein Zusammentreffen mit Fremden handelt.

Als wir ungefähr noch dreihundert Schritte entfernt von ihnen waren, hielten sie an, sichtlich in der Absicht, uns vorüber zu lassen, ohne von uns angeredet zu werden. Old Wabble aber sagte:

„Die wollen nichts von uns wissen, also reiten wir grad hin zu ihnen!“

Dies geschah. Wir waren nur eine kurze Strecke weiter geritten, so hörte ich hinter mir mehrere laute Ausrufe.

„Uff, uff!“ ertönte Schahko Mattos Stimme.

„Uff!“ rief nur einmal Apanatschka, aber um so ausdrucksvoller. Seine Überraschung mußte eine große sein.

Jetzt sah ich schärfer hin, als ich es bisher gethan hatte, und war ebenso erstaunt wie diese beiden. Der Reiter mit dem Gewehre in der Hand war nämlich der weiße Medizinmann der Naiini-Komantschen, unser vielbesprochener Tibo taka, und der andere konnte niemand als nur seine rote Squaw, die geheimnisvolle Tibo wete sein. Ein Packpferd hatten sie ja auf Harbours Farm auch bei sich gehabt.

Der Medizinmann wurde unruhig, als er sah, daß wir nicht grad weiterritten, sondern auf ihn zukamen, doch nur für einige Augenblicke; dann trieb er uns sein Pferd entgegen und rief, indem er die Hand durch die Luft schwenkte:

„Old Wabble, Old Wabble! Welcome! Wenn Ihr es seid, so habe ich nichts zu fürchten, Mr. Cutter!“

„Wer ist der Kerl?“ fragte der alte Cow-boy. „Ich kenne ihn nicht.“

„Ich auch nicht,“ antwortete Cox.

„Werden ja sehen, wenn wir bei ihm sind!“

Old Wabble war an seiner ungeheuer hagern und langen Gestalt und noch mehr an seinem weit herabhängenden weißen Haar, von welchem er freilich gestern die Hälfte durch das Feuer verloren hatte, schon von weitem zu erkennen. Als wir näher kamen, erkannte der Medizinmann auch uns. Er wußte zunächst nicht, ob er fliehen oder bleiben solle, als er aber sah, daß wir gefesselt waren, schrie er vor Freude förmlich auf:

„Old Shatterhand, Winnetou, Schahko Matto und – und und – –“ er wollte den Namen seines angeblichen Sohnes doch nicht nennen – – „und ihre Kerls, alle gebunden! Das ist ja ein wunderbares, ein ganz wunderbares Ereignis, Mr. Cutter! Wie hat sich das zutragen können? – Wie habt Ihr das zustande gebracht?“

Jetzt hatten wir ihn erreicht, und da fragte Old Wabble:

„Wer seid Ihr denn eigentlich, Sir? Ihr kennt mich? Es ist mir zwar, als ob ich Euch auch kennen sollte, aber ich kann mich nicht besinnen.“

„Denkt doch an den Llano estacado!“

„Wo und wie und wann denn da?“

„Als wir Gefangene der Apatschen waren.“

„Wir! Wer ist da gemeint?“

„Wir Komantschen.“

„Was? Wie? Ihr zählt Euch zu den Komantschen?!“

„Damals, ja, aber jetzt nicht mehr.“

„Und sagtet soeben, daß Ihr jetzt nichts zu fürchten hättet?“

„Ganz recht! Ihr könnt ja unmöglich Freund meiner Feinde sein, denn Ihr habt damals Old Shatterhands Gewehre gestohlen und seid der Kamerad des Generales gewesen. Und auf Harbours Farm erfuhr ich von Bell, dem Cowboy, daß Ihr wieder einen bösen Zusammenstoß mit Winnetou und Old Shatterhand gehabt hättet. Darum bin ich so erfreut, Euch so unerwartet zu begegnen.“

Well! Das ist ja alles gut, aber – –“

„Besinnt Euch nur!“ fiel ihrff der gewesene Komantsche in die Rede. „Ich war damals als Indianer freilich rot gefärbt und so ist – –“

All devils! Rot gefärbt? jetzt besinne ich mich! Ihr seid doch wohl nicht der damalige Medizinmann der Komantschen?“

„Der bin ich allerdings.“

„Ist das die Möglichkeit?! Ein Medizinmann, der, wie ich jetzt sehe, ursprünglich ein Bleichgesicht ist! Interessant, höchst interessant! Das müßt Ihr mir erzählen! Wir werden also hier einen Halt machen, denn das ist ein Abenteuer, wie man selten eins erlebt!“

„Danke, Mr. Cutter, danke sehr! Ich darf mich nicht aufhalten; ich muß weiter, doch hoffe ich, daß wir uns wiedersehen. Ich muß Euch sagen, daß der heutige Tag der glücklichste meines Lebens ist, denn ich sehe, daß Leute in Eure Hände geraten sind, die, wenn es auf mich ankäme, auf der Stelle ausgelöscht würden. Haltet sie fest; – haltet sie fest!“

Während des bisherigen Redewechsels hatte ich den zweiten Reiter betrachtet. Es war die Squaw, und zwar ohne den Schleier, hinter den auf Harbours Farm ihr Gesicht versteckt worden war. Sie trug zwar ein Männerhabit, aber sie war es doch. Das war dieselbe hohe, breitschulterige Gestalt wie damals im Kaarn-kulano. Das war das tiefbraune, durchfurchte und schrecklich eingefallene, fast kaukasisch geschnittene Gesicht, und das waren dieselben trostlosen, starren und doch wild flackernden Augen, bei deren Blick ich sofort an das Irrenhaus gedacht hatte. Sie saß nach Männerart auf dem Pferde, fest und sicher, wie eine geübte Reiterin. Sie lenkte es heran zu uns. Wir hatten unwillkürlich einen Halbkreis um den Medizinmann gebildet, bei dessen einem Ende sie bei dem letzten Worte ihres Mannes angekommen war. Dort hielt sie an, sagte kein Wort und richtete den stieren Blick ins Leere. Ich sah zu Apanatschka hin. Er saß, vollständig unbeweglich, wie eine Statue auf dem Pferde. Für ihn schien niemand vorhanden zu sein als nur diejenige, welche er gewohnt war, seine Mutter zu nennen. Dennoch machte er nicht den leisesten Versuch, sich ihr zu nähern.

Der Medizinmann hatte mit bemerkbarem Unbehagen seine Squaw herankommen sehen; doch beruhigte ihn ihre vollständige Teilnahmlosigkeit; er wendete sich wieder an Old Wabble:

„Ich muß, wie ich schon sagte, fort; aber sobald wir uns wiedersehen, werdet Ihr erfahren, warum ich mich so riesig darüber freue, daß Ihr diese Kerls gefangen habt. Was wird mit ihnen geschehen?“

„Das wird sich finden,“ antwortete der Alte. „Ich kenne Euch zu wenig, als daß ich Euch diese Frage beantworten könnte.“

Well! Ich bin auch schon so befriedigt, denn ich denke, daß Ihr nicht viele und große Komplimente mit ihnen machen werdet. Sie verdienen den Tod, nur den Tod; das sage ich Euch, und Ihr könnt keine größere Sünde begehen, als wenn Ihr ihnen das Leben laßt. Daß ich sie hier in Banden sehe, ist zehn Jahre meines Lebens wert. Welch eine Augenweide für mich! Darf ich sie einmal genau betrachten, Mr. Cutter?“

„Warum nicht? Seht sie Euch so lange an, wie es Euch gefällt!“

Der Medizinmann ritt nahe an den Osagen heran, lachte ihm in das Gesicht und sagte:

„Das ist Schahko Matto, der so viele Jahre lang vergeblich getrachtet hat, uns zu entdecken! Armer Wurm! Du, und solche Leute fangen, wie wir beide waren und noch heute sind! Dazu reicht ja doch dein armseliges bißchen Hirn nicht aus! Das war doch ein famoser Streich damals, nicht? So viele und dabei so billige Felle zu kaufen, das ist wohl nie wieder einem Menschen gelungen!“

„Mörder! Dieb!“ knirschte ihn der Häuptling an. „Hätte ich meine Hände frei, so erwürgte ich dich!“

„Das glaube ich gern. Würge nur zu, und ersticke selbst daran!“

Nun wendete er sich an Treskow:

„Das ist wohl der famose Polizist, von dem mir der Cowboy sagte, daß er in der Stube sitze? Alberner Kerl! Wonach schnüffelst du denn eigentlich? Lächerliche und vergebliche Arbeit! Nur noch einige Wochen, und es ist alles verjährt. Darum kommen wir wieder. Merkst du das nicht?“

„Laßt diese Wochen vorübergehen!“ antwortete Treskow. „Ihr taucht zu zeitig auf, Monsieur Thibaut.“

Mille tonnerre! Ihr kennt meinen Namen? Ist die Polizei denn plötzlich allwissend geworden? Ich gratuliere, Sir!“

Er ritt zu Apanatschka hin, warf ihm ein kurzes „Ekkuehn!“ in das Gesicht und hielt dann bei Winnetou an.

„Das ist der Häuptling der Apatschen, überhaupt der berührnteste aller Häuptlinge!“ sagte er höhnisch. „Man sieht es dem Bengel gar nicht an, was aus so einem Hunde werden kann! Wir kennen uns; nicht wahr? Ich hoffe, du bist dieses Mal auf dem Wege zu den ewigen jagdgründen. Wenn nicht, so hüte dich, mir zu begegnen! Sonst schieße ich dir eine Kugel durch den Kopf, daß die Sonne Gelegenheit bekommt, dir von zwei Seiten ins Gehirn zu scheinen!“

Winnetou antwortete nicht; er hatte ihn gar nicht angesehen. Er hätte sich trotz der Fesseln die Beleidigung sicher nicht gefallen lassen, wenn dieser Mensch ihm nicht gar zu verächtlich gewesen wäre. Der Medizinmann nutzte die ihm gebotene Gelegenheit bis auf die Neige aus, indem er sein Pferd nun zu mir lenkte. Als Weißer war ich nicht verpflichtet, die stoische Unempfindlichkeit Winnetous zu zeigen, und was meinen Stolz betrifft, so hätte dieser mich wohl veranlassen können, hoch über den einstigen Escamoteur hinwegzusehen; aber die Klugheit drängte mir ein anderes Verhalten auf. ich mußte versuchen, ihn zu unvorsichtigen Äußerungen zu bringen; darum wendete ich, als er kam, ihm mein Gesicht zu und sagte in belustigtem Tone:

„Nun wird die Reihe des berühmten Tibo taka wohl an mich kommen? Hier sitze ich, gefesselt wie ich bin. Ihr habt also Gelegenheit, Euer Herz einmal vollständig auszuschütten. Fangt also an!“

Diable!“ zischte er mich wütend an. „Dieser Kerl wartet gar nicht einmal, bis ich ihn anrede! So eine Frechheit findet doch nicht ihresgleichen! Ja, ich habe mit dir zu reden, Halunke, und das werde ich freilich gründlich thun. Du sitzest mir ganz recht!“

Well! Ich bin bereit, möchte Euch aber, ehe Ihr beginnt, um Euer selbst willen einen wohlgemeinten Rat erteilen.“

„Auch das? Welchen denn? Heraus damit!“

„Seid nicht ganz und gar unvorsichtig, wenn Ihr mit mir redet! Ihr werdet wahrscheinlich noch von früher wissen, daß ich meine Mucken habe!“

„Ja, die hast du; aber die werden dir bald ausgetrieben werden. Ärgert es dich vielleicht, daß ich dich duze? Du kannst dich gegen mich auch des traulichen Du’s bedienen!“

„Danke! Brüderschaft mache ich nie, am allerwenigsten aber mit stupiden, blödsinnigen Idioten, von denen ich mir das Du gefallen lasse, weil sie nicht anders lallen können.“

„Mir das, miserabler Wicht? Denkst du, weil meine Kugel dich einmal gefehlt hat, kann sie dich niemals treffen?“

Er richtete sein Gewehr auf mich und spannte den Hahn; da war Cox im Nu bei ihm, stieß ihm die Waffe weg und warnte:

„Thut die Flinte weg, Sir, sonst muß ich mich ins Mittel legen! Wer Old Shatterhand verletzt, bekommt von mir eine Kugel!“

„Von Euch? Ah! Wer seid Ihr denn?“

„Ich heiße Cox und bin der Anführer dieser Truppe.“

„Ihr? Ich denke, Old Wabble ist’s?“

„Ich bins; das ist genug!“

„Dann entschuldigt, Sir! Ich habe es nicht gewußt. Aber soll man es sich gefallen lassen, wenn man in dieser Weise beleidigt wird?“

„Ich denke, ja! Mr. Cutter hat Euch ohne meine Erlaubnis gestattet, mit diesen Leuten nach Eurem Gutdünken zu reden, und ich habe das bisher geduldet. Wenn sie sich aber Eure Höflichkeiten nicht unerwidert gefallen lassen, so seid Ihr selber schuld. Berühren oder gar verletzen lasse ich sie nicht!“

„Aber reden kann ich mit diesem Manne weiter?“

„Ich habe nichts dagegen.“

„Und ich auch nicht,“ fügte ich hinzu. „Eine Unterhaltung mit einem indianischen Possenreißer ist stets belustigend. Der alte Hanswurst macht mir ungeheuern Spaß!“

Er hob die Hand und ballte sie zur Faust, ließ sie aber wieder sinken und sagte in stolzem Tone:

Pshawl Du sollst mich doch nicht wieder ärgern! Wärest du doch nicht schon Gefangener und begegnetest mir auf der Prairie! Ich wollte dir für den damaligen Besuch im Kaamkulano einen Lohn auszahlen, der alle deine Begriffe übersteigen würde!“

„Ja; die Eurigen und alle Eure geistigen Mittel scheint er schon überstiegen zu haben! Hört, redet einmal aufrichtig! Würdet denn Ihr wohl so etwas fertig bringen, wie dieser Besuch war? Die Hand aufs Herz, Verehrtester! Ich will Euch nicht etwa kränken, denn wem nichts gegeben ist, dem ist eben nichts gegeben, aber ich denke, daß es bei Euch da oben unter dem Hute nicht dazu ausreichen würde!“

„Donnerrrrrr!“ knirschte er. „Mir das so gefallen lassen zu müssen! Wenn ich doch nur könnte und dürfte, wie ich wollte – –!“

„Ja, ja; es fehlt Euch überall! Nicht einmal den Wawa Derrick habt Ihr allein spedieren können; Ihr habt Euch helfen lassen müssen!“

Seine Augen wurden größer; er richtete sie starr auf mich. Er schien mir durch und durch blicken zu wollen, und als ich trotzdem mein unbefangen lächelndes Gesicht beibehielt, rief er aus:

„Was hat dir der verfluchte Kerl, der junge Bender, denn damals weisgemacht?“

Ach! Bender! Dieser Name fängt mit B. an. Ich dachte sofort an die Buchstaben J B. und E. B. droben am Grabe des ermordeten Padre Diterico. Wer war aber unter dem Namen Bender gemeint? So freilich durfte ich nicht fragen; ich gab meiner Erkundigung also eine andere Fassung, indem ich sie so schnell aussprach, daß er keine Zeit zum vorsichtigen Überlegen fand:

„Damals? Wann denn?“

„Damals im Llano estacado, wo er bei dir war und mit seinem eigenen Bru – –“

Er hielt erschrocken inne. Mir ging im kürzesten Teile einer Sekunde, den das menschliche Gehirn noch zu empfinden oder zu messen vermag, ein blitzheller Gedanke auf, und ich setzte seinen unterbrochenen Satz ebenso schnell fort.

„– – mit seinem eigenen Bruder kämpfte? Pshawl Was er mir damals sagte, wußte ich schon längst, wußte es noch viel besser als er selbst! Ich hatte schon viel früher Gelegenheit gehabt, nach dem Padre Diterico zu forschen!“

„Di – te – – ri – – –?!“ dehnte er erschrocken.

„Ja. Solltet Ihr diesen Namen nicht gern aussprechen, so können wir auch Ikwehtsipa sagen, wie er in seiner Heimat bei den Moqui genannt wurde.“

Zunächst war er wortlos; aber es arbeitete in seinem Gesichte; er schluckte und druckte und druckte und schluckte wie einer, dem ein übergroßer Bissen im Schlunde steckengeblieben ist; dann stieß er einen lauten, heisern Schrei aus und brüllte:

„Hund, du hast mich jetzt wieder überlistet, wie du uns damals alle überlistet hast! Du mußt und mußt, und mußt unschädlich gemacht werden! Nimm das dafür!“

Er riß das Gewehr wieder empor; der Hahn knackte und – – –

Cox spornte sein Pferd wieder heran; er wäre aber doch zu spät gekommen, mich vor der Kugel des Wütenden zu retten, wenn ich mir nicht selbst geholfen hätte. Ich bog mich vor, um die Zügel mit gefesselten Händen ganz vorn und kurz fassen zu können, preßte die Füße in die Weichen des Pferdes und rief:

„Tschka, Hatatitla, tschka!“

Dieser Zuruf, den der Rappe sehr wohl verstand, mußte die Nachteile, welche meine Fesseln mir als Reiter brachten, ausgleichen. Der Hengst zog den Körper wie eine Katze zusammen und brachte mich mit einem gewaltigen Satze so eng, daß sich die Pferde streiften, an Thibaut vorüber. Mein Bein traf mit aller Kraft dieses Satzes das seinige und, mitten im Sprunge die Zügel fallen lassend, stieß ich ihm die zusammengebundenen Fäuste so in die Seite, daß er, grad als sein Schuß losging, halb abgestreift und halb abgeschleudert auf der andern Seite aus dem Sattel und in einem weiten Bogen auf die Erde flog.

Es gab in diesem Augenblicke unter den Anwesenden außer Winnetou und der Wahnsinnigen keinen, der nicht einen Schrei des Schreckes, der Überraschung, der Anerkennung ausgestoßen hätte. Mein prächtiger Hengst aber hatte nur diesen Satz gethan, keinen einzigen weitern Schritt, und stand dann so ruhig, wie aus Erz gegossen, da. Ich drehte mich nach dem Medizinmann um. Er raffte sich auf und holte sein Gewehr, welches ihm entfallen war. Seine Augen funkelten vor Wut. Cox nahm ihm das Gewehr aus der Hand und zürnte:

„Ich werde Euer Gewehr halten, bis Ihr fortreitet, Sir, sonst richtet Ihr noch Unheil an! Ich habe Euch gesagt, daß ich keine Feindseligkeit, wenigstens keine thätliche, gegen Old Shatterhand dulde!“

„Laßt ihn nur; laßt ihn immer!“ sagte ich. „Wenn er sich wieder an mich wagt, kommt es noch besser! Ich habe ihn übrigens gewarnt, sich in acht zu nehmen. Der Mensch ist wirklich ganz unheilbar stupid!“

Da keuchte der vor Wut förmlich Zitternde:

„Tötet Ihr ihn, Mr. Cox! Werdet Ihr ihn töten?“

„Ja,“ nickte der Gefragte. „Sein Leben ist Old Wabble zugesprochen.“

„Gott sei Dank! Sonst hätte ich ihn doch noch erschossen, sobald Ihr mir das Gewehr wiedergebt, auch auf die Gefahr hin, dann von Euch erschossen zu werden. Ihr glaubt gar nicht, was für ein oberster aller Teufel dieser Schurke ist! Da ist Winnetou doch der wahre, reine Engel dagegen! Also erschießt ihn; erschießt ihn ja!“

„Was das betrifft, so könnt Ihr sicher sein, daß Euer Wunsch in Erfüllung geht!“ versicherte Old Wabble. „Er oder ich! Von uns zweien hat nur einer Platz auf der Erde, und da ich dieser eine bin, so ist er der andere, der weichen muß. Ich schwöre alle möglichen Eide darauf.“

„So machts nur bald und kurz mit ihm, sonst geht er Euch noch durch!“

Die Squaw war indessen, sich durch nichts, auch durch den Schuß nicht stören lassend, nach dem Busche geritten, hatte einige Zweige abgebrochen, sie kranzförmig zusammengewunden und sich um den Kopf gelegt. Jetzt kam sie zurück, lenkte ihr Pferd zum ersten, besten Tramp, der ihr der nächste war, und sagte, nach dem Kopfe deutend:

„Siehst du, das ist mein Myrtle-wreath! Dieses Myrtle-wreath hat mir mein Wawa Derrick aufgesetzt!“

Da vergaß der frühere Komantsche mich und eilte auf sie zu, aus Angst, daß sie durch ihre Reden eines seiner Geheimnisse verraten könne. Ihr mit der Faust drohend, rief er ihr zu:

„Schweig, Verrückte, mit deinem Unsinn!“ Und sich an die Tramps wendend, erklärte er: „Das Weib ist nämlich wahnsinnig und redet Dinge, welche einem auch den Kopf verdrehen können.“

Er erreichte bei ihnen seinen Zweck, hatte seine Aufmerksamkeit aber dann gleich auf einen andern, nämlich auf Apanatschka zu wenden. Dieser hatte bis jetzt die schon beschriebene Ruhe und Unbeweglichkeit einer Bildsäule bewahrt; nun aber ritt er, als er die Squaw sprechen hörte, zu ihr hin und fragte sie:

„Kennt mich Pia heut? Sind ihre Augen offen für ihren Sohn?“

Sie sah ihn traurig lächelnd an und schüttelte den Kopf. Dennoch fuhr Tibo taka sofort auf Apanatschka los und herrschte ihm zu:

„Was hast du mit ihr zu reden? Schweig!“

„Sie ist meine Mutter,“ antwortete Apanatschka ruhig.

„Jetzt nicht mehr! Sie ist eine Naiini, und du hast den Stammverlassen müssen. Ihr geht einander nichts mehr an!“

„Ich bin Häuptling der Komantschen und laß mir von einem Weißen, der sie und mich betrogen hat, nichts befehlen. Ich werde mit ihr sprechen!“

„Und ich bin ihr Mann und verbiete es!“

„Verhindere es, wenn du kannst!“

Tibo taka wagte es nicht, sich an Apanatschka, obgleich dieser gefesselt war, zu vergreifen; er wendete sich an Old Wabble:

„Helft mir, Mr. Cutter! Ihr seid der Mann, dem ich Vertrauen schenke. Er, mein früherer Pflegesohn, ist es, wegen dem meine Frau wahnsinnig geworden ist. So oft sie ihn sieht, wird es mit ihr schlimmer. Er mag sie in Ruhe lassen. Also, helft mir, Sir!“

Old Wabble war wohl eifersüchtig darauf, daß Cox sich als Anführer bezeichnet hatte; jetzt bot sich ihm eine willkommene Gelegenheit, zu zeigen, daß er auch etwas zu sagen habe; er ergriff dieselbe und wies Apanatschka in befehlendem Tone zurück:

„Mach, daß du wegkommst von ihr, Roter! Du hast gehört, daß sie dich nichts angeht. Weg also; packe dich!“

In diesem Tone mit sich sprechen zu lassen, das lag Apanatschka freilich fern. Er maß den alten Cow-boy mit einem verächtlichen Blicke und fragte dann:

„Wer spricht da zu mir, dem obersten Häuptling der Komantschen vom Stamme der Kanean? Ist’s ein Frosch, welcher quakt, oder eine Krähe, welche schreit? Ich sehe niemand, der mich hindern könnte, mitder Squaw zu sprechen, welche meine Mutter war!“

„Oho! Frosch! Krähe! Drücke dich höflicher aus, Bursche, sonst wirst du erfahren, wie man einen König der Cow-boys zu achten hat!“

Er drängte sich mit seinem Pferde zwischen Apanatschka und die Frau. Der Komantsche wich einige Schritte zurück und lenkte sein Pferd auf die andere Seite; der Alte folgte ihm auch dorthin. Apanatschka ritt weiter, Old Wabble auch. So bewegten sie sich in zwei Kreisen um die Frau, und zwar derart, daß sie den Mittelpunkt bildete, den Cutter stets gegen den Komantschen deckte. Dabei hielten sich die beiden fest in den Augen.

„Laßt das sein, Cutter!“ rief Cox diesem zu. „Laßt das Vater und Sohn miteinander abmachen! Euch geht es doch gar nichts an!“

„Ich bin zur Hilfe aufgefordert worden!“ antwortete der Alte.

„Seid Ihr der Anführer, oder bin ich es?“

„Ich bin es, denn ich habe Euch engagiert!“

„Und das glaubt Ihr durchzusetzen?“

Yes, sehr! Einen Roten, der noch dazu gefesselt ist, werde ich schon im Zaum halten können!“

„Gefesselt? Pshaw! Denkt an Old Shatterhand und den Fremden! Der Rote ist ein ganz anderer Kerl, als Ihr seid.“

„Er mag’s versuchen!“

Well! Ganz, wie Ihr wollt! Mich soll es nichts mehr angehen!“

Nun waren alle Augen auf die beiden Gegner gerichtet, welche sich noch immer auf ihren Kreislinien bewegten, Old Wabble auf der innern und Apanatschka auf der äußern. Die Frau hielt ganz geistesabwesend in der Mitte. Tibo taka stand in der Nähe und war wohl am meisten auf den Ausgang dieser eigenartigen Scene gespannt. Nach Verlauf einiger Zeit fragte Apanatschka:

„Wird Old Wabble mich endlich zu der Squaw lassen?“

„Nein!“ erklärte der Alte.

„So werde ich ihn zwingen!“

„Versuche es doch!“

„Und dabei den alten Indianermörder gar nicht schonen!“

„Ich dich auch nicht!“

„Uff! So behalte die Squaw für dich!“

Er wendete sein Pferd und that, als ob er seinen Kreis verlassen wolle. Wie ich Apanatschka kannte, war dies nur eine Finte; er wollte die Aufmerksamkeit des Alten, wenn auch nur für einen Augenblick, von sich ablenken. Die Entscheidung nahte, Old Wabble ließ sich auch wirklich täuschen. Er wendete auch nach dorthin, wo Cox hielt, und rief in selbstgefälligem Tone:

„Nun, wer hatte recht? Fred Cutter, und sich von einem Roten werfen lassen! Das ist ein Ding der Unmöglichkeit; th’is clear!“

„Paßt auf; paßt auf! er kommt!“ ertönten da die warnenden Stimmen mehrerer Tramps.

Der Alte wendete sich selbst zurück, nicht aber das Pferd. Er sah ihn in gewaltigen Sprüngen auf sich zureiten und schrie vor Schreck laut auf, denn auszuweichen, das war für ihn schon zu spät. Es waren nur wenige Augenblicke, in denen sich dies und das Folgende abspielte, und die Seelen aller Zuschauer traten in die Augen. Mein und meines Hatatitla Sprung, vorhin gegen den Medizinmann gerichtet, war nur ein im Westen sogenannter Force- and adroitness-Sprung gewesen; Apanatschka hatte es viel anders, viel verwegener vor: Den gellenden Angriffsschrei der Komantschen ausstoßend, flog er auf den Alten zu und genau in querer Richtung so über dessen Pferd hinweg, als ob sich gar kein Reiter im Sattel befände. Er wagte sein Leben dabei, weil ihm die Hände zusammen- und die Füße an das Pferd gebunden waren und weil er an Old Wabble prallen mußte. Doch kam er glücklich hinüber. Als sein Pferd den Boden berührte, hätte es sich beinahe überschlagen, – er warf sich schnell nach hinten und riß es dabei vorn empor; es schoß noch eine kleine Strecke fort und wurde dann gehalten. Ich holte tief, tief Atem, denn es war mir um ihn sehr angst gewesen.

Und Old Wabble? Der war wie von einer Kanonenkugel aus dem Sattel geprellt und dabei sein Pferd mit umgerissen worden; es wälzte sich einige Male hin und her und stand dann unbeschädigt wieder auf; er aber blieb besinnungslos am Boden liegen. Es gab eine Aufregung, ein Durcheinander sondergleichen; wir hätten jetzt unschwer die Flucht ergreifen können und wären gewiß auch glücklich entkommen, doch ohne unser Eigentum; darum blieben wir.

Cox kniete bei dem Alten und bemühte sich um ihn. Er war nicht etwa tot und erwachte auch sehr bald aus seiner Betäubung; aber als er dann aufstehen und sich dabei auf die Arme stützen wollte, konnte er dies nicht. Er mußte aufgerichtet werden, und als er nun bebend, schlotternd und wabbelnd dastand, fand es sich, daß er nur einen Arm bewegen konnte; der andere hing ihm am Leibe herab; er war gebrochen.

„Habe ich Euch nicht gewarnt!“ wurde er von Cox angefahren, was freilich das Geschehene nicht ändern oder verbessern konnte. „Nun habt Ihr die Folgen! Was zählt euer Cow-boy-Königstitel, wenn Ihr gegen Euren alten, über neunzigjährigen Körper einen Gegner habt, wie dieser Apanatschka ist!“

„Schießt ihn über den Haufen, den verfluchten Kerl, der mich mit seiner Finte übertölpelt hat!“ stieß der Alte grimmig hervor.

„Warum denn gleich erschießen?“

„Ich befehle es! Hört Ihr, ich befehle es! Nun, wird es bald?!“

Es gab natürlich keinen, der ihm gehorchte. Da schrie und tobte er eine Weile aus vollem Halse, bis er seinerseits von Cox angebrüllt wurde:

„Nun gebt einmal Ruhe, sonst lassen wir Euch stehen und reiten fort! So wie Ihr brüllen j a die wilden Tiere! Bekümmert Euch lieber um Euren Arm! Man muß sehen, wie da zu helfen ist!“

Er sah ein, daß dies das Richtige war, und ließ sich die alte Jacke vom Leibe ziehen, was aber nicht ohne große Schmerzen ging. Nun tasteten Cox und nach ihm andere Tramps an dem Arm herum, wobei der Alte vor Schmerzen bald brüllte und bald stöhnte. Keiner verstand etwas. Da wendete sich Cox an uns:

„Hört, Mesch’schurs, ist einer unter euch, der sich auf Wunden und dergleichen versteht?“

„Unser Haus- und Hofarzt ist stets Winnetou,“ antwortete Dick Hammerdull. „Wenn Ihr an seiner Nachtklingel zieht, wird er sogleich erscheinen.“

Da irrte sich der Dicke, denn als der Apatsche aufgefordert wurde, den Arm zu untersuchen, erklärte er abweisend:

„Winnetou hat nicht gelernt, Mörder zu kurieren. Warum werden wir jetzt, da man unserer Hilfe bedarf, auf einmal Mesch’schurs genannt? Warum sind wir das nicht schon vorher gewesen? Hat der alte Cow-boy vorhin seinen Willen durchgesetzt, so mag er auch jetzt thun, was ihm beliebt. Winnetou hat gesprochen!“

„Er ist aber doch auch ein Mensch!“

Sonderbarer Einwurf, das! Vom Anführer dieser Menschen! Winnetou antwortete natürlich nicht. Wenn er einmal sagte, daß er gesprochen habe, so war er fest entschlossen und es gab für ihn kein weiteres Wort. Dick Hammerdull bemächtigte sich der Rede:

„Ihr findet auf einmal, daß ein Mensch unter euch ist? Ich denke, daß wir auch keine wilden Tiere, die man nach Belieben fangen oder wegschießen kann, sondern Menschen sind! Werden wir als solche behandelt?“

„Hm! Das ist eine ganz andere Sache!“

„Ob es eine andere oder keine andere ist, das bleibt sich gleich, wenn sie nur eben anders ist! Laßt uns frei, und gebt unsere Sachen alle heraus, so wollen wir den alten Kerl so zusammenkurieren, daß Ihr Eure Freude an ihm habt. Übrigens ist kein Geschöpf auf Erden so leicht zu verbinden wie grad Cutter; er besteht ja nur aus Haut und Knochen. Zieht ihm das Fell herunter und wickelt es ihm um den Knochenbruch, so bleibt noch eine ganze Menge Haut für andere, ihm auch sehr anzuwünschende Brüche übrig! Meinst du nicht auch, Pitt Holbers, altes Coon?“

„Hm, ja,“ nickte der Lange. „Und wenn es einige Hundert wären, ich würde ihm keinen einzigen mißgönnen, lieber Dick.“

Cutter stöhnte und wimmerte zum Erbarmen. Die Knochenspitzen stachen ihm, sobald der Arm berührt wurde, in das Fleisch; Cox ging zu ihm hin, kam aber sehr bald wieder und sagte zu mir:

„Ich höre von Old Wabble, daß Ihr auch so etwas wie Chirurgus seid. Nehmt Euch doch seiner an!“

„Ist das sein Wunsch?“

„Ja.“

„Und Ihr traut es mir auch wirklich zu, daß ich mich seiner erbarme?“

„Ja.“

„Obgleich ich ein von ihm dem Tode geweihter Mann bin?“

„Ja. Vielleicht besinnt er sich noch anders und läßt Euch laufen.“

„Schön! Ich höre, daß er der allervortrefflichste Mensch ist, den es nur geben kann. Mich vielleicht, nämlich „vielleicht“ laufen lassen! Wißt Ihr denn nicht, was Ihr mit diesen Worten ausgesprochen habt! Eine Dummheit, die ihresgleichen sucht, eine Unverfrorenheit, die bis zum Himmel reicht! Eine so unverschämte, beispiellose Frechheit, daß einem die Gedanken darüber vergehen möchten! Habt Ihr denn gar nicht bemerkt, daß wir vorhin alle hätten davonreiten können, wenn es nur unser Wille gewesen wäre? Glaubt Ihr denn wirklich, in uns nur Schafe mit euch herumzuschleppen, die man führt, wohin man will, und schlachtet, wann es einem beliebt? Wenn ich nun sage, daß ich dem Alten nur dann helfen werde, wenn ihr uns freigebt?“

„Darauf gehen wir natürlich nicht ein!“

„Und wenn ich nur die Forderung stelle, daß ich nicht ermordet, sondern gleich meinen Gefährten hier behandelt werden soll?“

„Vielleicht läßt sich mit ihm darüber reden!“

„Vielleicht! Kann mir mit einem Vielleicht gedient sein?“

Well! Soll ich hingehen und ihn fragen?“

„Ja.“

Er verhandelte längere Zeit mit Old Wabble, kam dann zurück und benachrichtigte mich:

„Er hat einen starren Kopf; er bleibt dabei, daß Ihr sterben müßt; lieber will er Schmerzen ertragen. Er hat einen zu großen Haß auf Euch geworfen.“

Das war meinen Gefährten doch zu stark; das hatten sie nicht für möglich gehalten; sie ergingen sich darüber in allen möglichen, nur aber keinen freundlichen Ausdrücken.

„Ich kann es nicht ändern!“ meinte Cox. „Nun werdet Ihr Euch natürlich seiner nicht annehmen, Mr. Shatterhand?“

„Warum nicht? Ihr habt vorhin gesagt, er sei doch auch ein Mensch. Das war falsch. Das richtige ist, daß ich von mir sage: Ich bin auch ein Mensch und werde menschlich handeln. Ich will also über alles andere hinweg und in ihm nur den Leidenden sehen. Was Ihr dabei, von ihm ganz abgesehen, für eine unendlich traurige und doch zugleich lächerliche Rolle spielt, das wird Euch baldigst unter die Nase gerieben werden; darauf könnt Ihr Euch verlassen!“

„Etwa von Euch?“

„Ob von mir oder von anderer Seite, das bleibt sich gleich, wie unser Hammerdull zu sagen pflegt. Ich meine nur im allgemeinen, daß für jeden Menschen einmal die Stunde schlägt, in welcher mit ihm abgerechnet wird, für Euch und mit Euch also auch! Kommt!“

Meine Kameraden wollten mich zurückhalten; sie zankten sich geradezu mit mir, am meisten Treskow; ich ließ sie schließlich aber denken und sagen, was sie wollten, wurde vom Pferde gebunden und ging zu Cutter hin. Er machte die Augen zu, um mich nicht sehen zu müssen. Man hatte mir natürlich die Hände freigegeben. Der Armbruch war ein doppelter und bei seinem Alter fast unheilbarer und sehr gefährlicher.

„Wir müssen fort von hier,“ entschied ich, „denn wir brauchen Wasser. Wir haben aber nicht weit zu reiten, denn der Fluß ist in der Nähe. Reiten wird er können; es ist ja bloß der Arm verletzt.“

Cutter ließ eine ganze Reihe von Flüchen hören und schwor Apanatschka die grauenhafteste Rache zu.

„Ihr seid wirklich nicht mehr unter die Menschen zu rechnen!“ unterbrach ich ihn. „Reicht denn Euer Verstand wirklich nicht hin, um einzusehen, daß Ihr Euch alles selbst zuzuschreiben habt?“

„Nein; dazu reicht er wirklich nicht!“ höhnte er.

„Hättet Ihr den Komantschen nicht herausgefordert, so wäret Ihr nicht von ihm vom Pferd geritten worden.“

„Aber mußte ich dabei den Arm brechen?!“

„Auch daran seid Ihr selber schuld.“

„Wieso denn? Ich bin begierig darauf, wie Eure große Weisheit mir das erklären wird.“

„Euer Arm wäre heil geblieben, wenn Ihr mir nicht meine Gewehre genommen hättet.“

„Wie kommen die Gewehre mit dem Armbruch in Verbindung?“

„Ich sah ganz deutlich, wie Ihr vom Pferde gerissen wurdes; Ihr hattet sie umhängen; beim Aufschlag auf die Erde kam Euer Arm zwischen sie, und da hatten sie die Wirkung zweier Brechstangen; daher auch der Doppelbruch. Hättet Ihr Euch nicht mit meinem Eigentum befaßt, so wäret Ihr heil vom Boden aufgestanden.“

„Das sagt Ihr nur, um mich zu ärgern. Pshaw!“

„Nein; es ist die Wahrheit, ganz gleich, ob Ihr es glaubt oder nicht.“

„Ich glaube, was ich will, und nicht, was Euch gefällt! jetzt werdet Ihr wieder gebunden, und dann geht es nach dem Flusse. Verdammt sei dieser Fremde mit seinem Weibe! Wären sie nicht gekommen, so hätte das alles nicht geschehen können! Und da soll es eine Vorsehung, einen Gott geben, der nicht besser auf seine Menschen Achtung giebt!“

Also selbst jetzt konnte sich dieser schreckliche Mensch nicht enthalten, Gott zu leugnen oder vielmehr zu lästern! Ich ließ mich bereitwillig wieder anbinden, obgleich ich so schöne Gelegenheit gehabt hätte, zu entfliehen. Als ich beim alten Wabble stand, war ich vollständig frei gewesen. In der Nähe lagen meine Gewehre noch an der Erde, und mein Rappe wartete auf mich. Es wäre das Werk einer halben Minute gewesen, mit den Waffen auf das Pferd und dann fortzukommen. Aber was dann? Ich wäre natürlich dann dem Zuge gefolgt, um die Gefährten des Nachts zu befreien; aber die Tramps hätten das vorausgesehen und sie mit zehnfacher Aufmerksamkeit bewacht. Jetzt aber waren sie ahnungslos, und so mußte uns heut abend unsere Befreiung durch Kolma Puschi viel, viel leichter werden. Darum hatte ich diese Gelegenheit zur Flucht so unbenützt vorübergehen lassen.

Apanatschka befand sich neben der Squaw und sprach mit ihr, ohne allen Erfolg. In der Nähe hielt Thibaut und beobachtete sie mit verhaltenem Zorne; er getraute sich nicht, dem Komantschen hinderlich zu sein. Die ihm von mir erteilte Lehre hatte gewirkt. Selbst als ich jetzt zu ihnen hinritt, sagte er nichts, machte sich aber noch näher herbei.

Ich hörte zu; es waren die gewöhnlichen Worte, welche Apanatschka aus ihr herausbrachte, sonst nichts.

„Ihr Geist ist fort und will nicht wiederkommen!“ klagte er. „Der Sohn kann nicht mit seiner Mutter sprechen; sie versteht ihn nicht!“

„Laß es mich einmal versuchen, ob ihre Seele zurückzurufen ist!“ forderte ich ihn auf, indem ich auf ihre andere Seite ritt.

„Nein, nein!“ rief Thibaut. „Old Shatterhand darf nicht mit ihr reden; ich dulde das nicht.“

„Ihr werdet es dulden!“ fuhr ich ihn drohend an. „Apanatschka, bewache ihn, und wenn er die geringste drohende Bewegung macht, so reitest du ihn nieder, aber gleich so, daß er Arme und Beine bricht! Ich helfe mit!“

„Mein Bruder Shatterhand kann sich auf mich verlassen,“ antwortete Apanatschka; „er mag mit der Squaw sprechen, und wenn der weiße Medizinmann nur eine Hand bewegt, wird er im nächsten Augenblicke eine unter den Pferdehufen zertretene Leiche sein!“

Er postierte sich ganz nahe an Thibaut hin, und da ich wußte, daß er seine Drohung wahr machen würde, so fühlte ich mich sicher.

„Bist du heut im Kaam-kulano gewesen?“ fragte ich die Frau.

Sie schüttelte den Kopf und sah mich mit so geistesleeren Augen an, daß sie mir förmlich wehe thaten. Selbst die Leere kann aggressiv wirken.

„Hast du einen Nina Ta-a-upa?“ fragte ich weiter.

Sie schüttelte abermals den Kopf.

„Wo ist dein To-ats?“

Abermaliges Schütteln.

„Hast du deine Kokheh gesehen?“

Ganz dasselbe gedankenlose Schütteln wieder überzeugte mich, daß sie für Fragen, welche das Komantschenleben betrafen, jetzt unempfänglich sei. Ich machte einen andern Versuch.

„Hast du Wawa Ikwehtsi’pa gekannt?“

„Ik – – weh – – tsi’pa – –“ hauchte sie.

„Ja. Ik – – weh – – tsi – – ‚pa – –“ wiederholte ich jede Silbe mit Betonung.

Da antwortete sie, zwar wie im Traume, aber doch:

„Ikwehtsi’pa ist mein Wawa.“

Also hatte ich richtig vermutet: Sie war die Schwester des Padre.

„Kennst du Tehua? Te – – hu – – a!“

„Tehua war Ikokheh.“

„Wer ist Tokbela? Tok – – be – – la!“

„Tokbela ist nuuh.“

Sie war aufmerksam geworden. Die auf ihre Kindheit und Jugend bezüglichen Worte machten Eindruck auf sie. Ihr Geist kehrte in die vor ihrem Irrsinn liegende Zeit zurück und suchte vergeblich Licht in diesem Dunkel. Darin bestand ihr Wahnsinn. Wenn ein Klang aus jener Zeit an ihr Ohr tönte, war es leicht begreiflich, daß da ihr Geist aus der Tiefe des Vergessens stieg. Ihr Blick war nicht mehr leer; er begann, sich zu füllen. Da wir aufbrechen wollten und die Zeit also höchst kostbar war, brachte ich nun gleich die Frage, welche heut für mich die wichtigste war:

„Kennst du Mr. Bender?“

„Bender- Bender – – – Bender – – –“ sagte sie mir nach, indem ein freundliches Lächeln auf ihrem Gesicht erschien.

„Oder Mrs. Bender?“

„Bender – – Bender – –!“ wiederholte sie, wobei ihr Auge immer heller, ihr Lächeln immer freundlicher und ihre Stimme immer klarer und bestimmter wurde.

„Vielleicht Tokbela Bender?“

„Tokbela – – Bender – – bin ich nicht!“

Jetzt sah sie mich voll und mit Bewußtsein an.

„Oder Tehua Bender?“

Da schlug sie die Hände froh zusammen, als ob sie etwas Längstgesuchtes jetzt gefunden hätte, und antwortete mit fast wonnigem Lächeln:

„Tehua ist Mrs. Bender, jawohl, Mrs. Bender!

Hat Mrs. Bender ein Baby?

Zwei Babies!

Mädchen?“

„Zwei Babies sind Knaben. Tokbela trägt sie auf den Armen.“

„Wie nennst du diese Babies? Die Babies haben Namen!

Babies sind Leo und sind Fred.

Wie groß?

Fred so und Leo so!“

Sie deutete mir mit den Händen an, wie hoch die Knaben, vom Sattel an gerechnet, gewesen waren. Der Erfolg meiner Fragen war über alles Erwarten günstig. Ich sah die Augen Thibauts, den Apanatschka noch immer in Schach hielt, mit mühsam verhaltener Wut auf mich gerichtet, wie diejenigen eines blutdürstigen Raubtieres, welches im Begriff steht, sich auf seine Beute zu stürzen; aber daraus durfte ich mir nichts machen. Die Erinnerung der Frau war zurückgekehrt, und wenn ich das klug und schnell ausnützte, konnte ich heut so ganz ohne Erwarten alles erfahren, was ich wissen mußte, um in das Leben Old Surehands und Apanatschkas Licht zu bringen. Es war ja, als ob grad ich dazu bestimmt sei, dies Licht zu schaffen. Schon neigte ich mich der Squaw wieder zu, um eine neue Frage auszusprechen, als ich zu meinem größten Leidwesen daran verhindert wurde. Zwei Tramps brachten mir den Bärentöter und den Henrystutzen, wobei der eine mir sagte:

„Old Wabble will, daß Ihr Eure Unglücksgewehre, welche den Leuten die Knochen zerschlagen, selber schleppen sollt. Wir werden sie Euch umhängen.“

„Das muß ich selber thun. Macht mir nur für einen Augenblick die Hände frei! Dann könnt ihr sie mir wieder zusammenbinden.“

Sie thaten dies, und daß ich nun wenigstens diese beiden Waffen wieder hatte, söhnte mich mit dem Umstande aus, daß mein Gespräch mit der Squaw ein Ende hatte nehmen müssen, denn die Tramps bestiegen ihre Pferde; es sollte aufgebrochen werden. Auch wenn dieser Aufbruch nicht gewesen wäre, hätte ich auf fernere Fragen verzichten müssen, denn in der kurzen Zeit, während ich mir die Gewehre umhing, hatte das Gesicht des armen Weibes schon wieder den trostlosen, geistesleeren Ausdruck angenommen wie vor meiner Unterredung mit ihr.

Ich wollte Apanatschka beobachten, wie er sich jetzt zu Tibo taka und Tibo wete verhalten werde; er kam aber zu mir und fragte mich:

„Der weiße Medizinmann wird sich nun von den Tramps trennen wollen?“

„Höchst wahrscheinlich.“

„Er nimmt die Squaw mit?“

„Ja, natürlich!“

„Uff! Kann sie nicht mit uns reiten?“

„Nein.“

„Warum sollte sie das nicht können?“

„Apanatschka mag mir erst vorher sagen, warum er den Wunsch hat, daß sie bei uns bleiben soll.“

„Weil sie meine Mutter ist.“

„Die ist sie nicht.“

„Wenn sie es wirklich nicht sein sollte, so hat sie mich doch lieb gehabt und mich so gehalten, als ob ich ihr Kind sei.“

„Gut! Aber pflegen die Krieger der Komantschen, auch wenn sie Häuptlinge sind, ihre Squaws oder Mütter mitzunehmen, wenn sie so viele, viele Tagesreisen weit reiten und schon vorher wissen, daß sie mancherlei Gefahren zu bestehen haben werden?“

„Nein.“

„Warum will Apanatschka diese Squaw bei sich haben? Ich vermute, daß es für ihn einen ganz besonderen Grund dazu giebt.“

„Es giebt einen Grund: Sie soll nicht bei dem Bleichgesichte bleiben, der sich für einen roten Mann ausgegeben und die Krieger der Naiini viele Jahre lang damit betrogen hat.“

„Er wird sie nicht hergeben.“

„So zwingen wir ihn!“

„Das ist unmöglich. Apanatschka vergißt, daß wir gefangen sind.“

„Wir werden es nicht lange sein!“

„Dürfen wir das den Tramps sagen? Und würden sie selbst für diese kurze Zeit eine Squaw bei sich dulden?“

„Nein. Aber wo will der weiße Medizinmann mit der Squaw hin? Was will er mit ihr thun? Wenn wir ihn mit ihr fortlassen, werde ich die niemals wiedersehen, welche ich für meine Mutter gehalten habe!“

„Apanatschka irrt; er wird sie wiedersehen.“

„Wann?“

„Vielleicht schon in sehr kurzer Zeit. Mein Bruder Apanatschka mag an alles denken! Der weiße Medizinmann giebt sie nicht her; die Tramps nehmen sie nicht mit, und uns würde sie nur stören, ganz abgesehen davon, daß wir heut gefangen und gar nicht unsere eigenen Herren sind. Wenn Tibo taka sie aber mit sich nimmt, fällt dies alles fort, und du wirst sie in kurzer Zeit wiedersehen.“

„Aber der weite Ritt ist zu schwer für sie!“

„Mit uns müßte sie vielleicht noch weiter reiten!“

„Und Tibo taka wird nicht gut und freundlich mit ihr sein!“

„Das war er auch am Kaam-kulano nicht; sie ist es also gewöhnt. Übrigens ist ihr Geist nur selten bei ihr, und es wird ihr also nicht bewußt, wenn er nicht freundlich mit ihr ist. Und sodann scheint er die weite Reise zu einem Zwecke unternommen zu haben, der ihre Gegenwart erheischt; er wird folglich so aufmerksam und sorglich für sie sein, daß sie keinen Schaden nimmt. Mein Bruder Apanatschka mag sie also mit ihm reiten lassen! Das ist der beste Rat, den ich ihm geben kann.“

„Mein Bruder Old Shatterhand hat es gesagt, und so mag es geschehen; er weiß stets, was für seine Freunde nützlich ist.“

Jetzt war man endlich damit fertig geworden, Old Wabble die Jacke wieder anzuziehen und ihn auf das Pferd zu bringen; nun konnte man weiterreiten. Es war ein Unsinn, seinen Arm wieder in den Ärmel zu zwingen. Wenn man ihm die Jacke einstweilen nur umhing, wurden ihm die großen Schmerzen erspart. Es konnte mir aber gar nicht einfallen, ein Wort dagegen zu sagen. Er hatte die Schmerzen mehr als reichlich verdient, und wenn er sie nun bis auf die Neige auskostete, so fühlte ich in mir keine Pflicht, etwas dagegen einzuwenden.

Tibo taka bestieg auch sein Pferd, auf welches er, seit ich ihn von demselben geworfen hatte, nicht wieder gekommen war. Er ritt zum alten Wabble hin, um Abschied zu nehmen.

„Nehmt meinen Dank, Mr. Cutter, daß Ihr Euch so kräftig meiner angenommen habt!“ sagte er. „Wir werden uns wiedersehen, und dann sollt Ihr so vieles und verschiedenes – –“

„Seid so gut, und schweigt!“ unterbrach ihn der Alte, „Euch hat mir der Teufel in den Weg geführt, wenn es überhaupt einen Teufel giebt, was ich gar nicht glaube. Euretwegen ist mir der Arm wie Glas zerschlagen worden, und wenn Euch dieser Teufel, den es für Euch dann hoffentlich giebt, so einige Jahrmillionen lang in der Hölle braten wollte, so würde ich ihn für den einsichtsvollsten Gentleman halten, den es unter allen guten und bösen Geistern giebt.“

„Euer Arm thut mir leid, Mr. Cutter. Hoffentlich heilt er schnell und gut. Die schönsten Pflaster habt Ihr ja in den Händen.“

„Welche wären das?“

„Die Kerls, welche Eure Gefangenen sind. Legt täglich ein solches Pflaster auf, so werdet Ihr sehr bald wieder gesund sein.“

„Das soll wohl heißen, daß ich täglich einen erschießen soll?“

„Ja, nichts anderes.“

Well, der Rat ist gut, und vielleicht befolge ich ihn; am meisten würde es mir Vergnügen gewähren, wenn Ihr die Gewogenheit hättet, das erste Pflaster sein zu wollen; aber auch nach dem wenigen, was ich hier von Euch gesehen und gehört habe, kann es mir nur lieb sein, Euch jetzt loszuwerden; th’is clear. Macht Euch also aus dem Staube, und laßt Euch nicht mehr vor meinen Augen sehen!“

Da ließ der Medizinmann ein höhnisches Gelächter hören und erwiderte:

„Das müssen wir abwarten, alter Wabble. Mir liegt auch nichts daran, mit so einem alten Schurken, wie Ihr seid, jemals wieder zusammenzutreffen; aber wenn es doch einmal, natürlich ganz gegen meinen Willen, geschehen sollte, so wird mein Willkommen nicht weniger freundlich sein, als es jetzt Euer Abschied ist. Reitet in die Hölle!“

„Verfluchter Kerl! Schickt ihm doch eine Kugel nach!“ brüllte der Alte.

Es fiel niemandem ein. Thibaut ritt, von der Squaw gefolgt, unbelästigt von dannen, nach links hinüber, also in derselben Richtung, welche er eingehalten hatte, als er uns vorhin begegnet war.

„Ob wir ihn aber auch wiedersehen werden!“ sagte Apanatschka halblaut vor sich hin.

„Sicher,“ antwortete ich.

„Hat mein weißer Bruder wirklich so bestimmte Gründe, dies zu denken?“

„Ja.“

Winnetou, welcher sich jetzt neben uns befand und die Frage des Komantschen und meine Antwort gehört hatte, fügte hinzu:

„Was Old Shatterhand gesagt hat, wird geschehen. Es giebt Dinge, die man nicht genau vorher wissen kann, aber um so bestimmter vorher fühlt. Dieses Vorgefühl hat er jetzt, und ich habe es auch; es wird zutreffen!“

Ich mußte mich wieder an die Spitze des Zuges setzen, und bald war der Fluß erreicht, wo wir abstiegen. Während einige Tramps nach einer bequemen Furt suchten, wurde ich wieder vom Pferde genommen, um den alten Wabble zu verbinden. Das nahm geraume Zeit in Anspruch, und ich kann mich nicht rühmen, mein Werk mit allzu großer Zartheit ausgeführt zu haben. Der alte Cow-boy heulte oft laut auf vor Schmerzen und bedachte mich mit Schimpfworten und Redensarten, welche man auf dem Papiere unmöglich wiedergeben kann.

Als ich mit ihm fertig war und wieder auf dem Pferde saß, war eine Furt gefunden worden. Wir setzten hinüber und folgten auf der andern Seite dem Wasser, bis wir den Zusammenfluß der beiden Arme erreichten. Wir umritten den Bogen des Südforks und dann westnordwestlich über die Prairie, von welcher Kolma Puschi gesprochen hatte.

Sie war nicht eben, sondern bildete eine langsam ansteigende, zuweilen mit Senkungen versehene Fläche, welche parkähnlich mit Gesträucheilanden bestanden war. Hier gab es eine Menge wilder Truthühner, von denen die Tramps nach und nach ein halbes Dutzend erlegten, aber wie! Es war die wahre Sauschießerei!

Am Spätnachmittag sahen wir grad vor uns eine Höhe aufsteigen, gewiß diejenige, an deren Fuße die Quellen lagen, deren nördlichste ich zu suchen hatte. Ich hielt mich jetzt also mehr rechts und erst dann wieder links, als der Berg genau im Süden vor uns lag. Auf diese Weise mußten wir den erwähnten Spring zuerst zu sehen bekommen. Ich war sehr neugierig darauf, ob der Scharfsinn Kolma Puschis sich bewahrheiten und die Lage und Umgebung der Quelle eine für unsern heutigen Zweck passende sein werde.

Je näher wir kamen, desto deutlicher sahen wir, daß der Berg bewaldet war und uns einige Ausläufer dieses Waldes entgegenschickte. Es begann schon zu dunkeln, als wir ein kleines Wasser erreichten, dem wir im Galoppe entgegenritten, um noch vor Einbruch der Finsternis bei seinem Ursprunge anzukommen. Wir langten bei diesem Ziele an, als eben die letzten Schimmer der Dämmerung zu erlöschen begannen. Das war mir lieb, denn nun konnten die Tramps, falls ihnen der Ort nicht gefiel, nicht daran denken, bei finsterer Nacht einen andern aufzusuchen.

Ob wir uns an dem Spring befanden, den Kolma Puschi gemeint hatte, das wußte ich nicht genau, dachte aber, daß er es sein werde. Er kam unter einem kleinen, mit Moos bedeckten Steingewirr hervor, und zwar an einem engen Grasplatze, welcher von den Bäumen und Sträuchern in drei Abteilungen geteilt wurde. Diese Abteilungen boten zusammen für uns und die Pferde grad Raum genug, mehr nicht, was unsere Bewachung ungemein erschwerte. Uns konnte dies sehr lieb sein; Old Wabble aber, dem dieser Übelstand keineswegs entging, sagte, indem er abstieg, in mißmutigem Tone:

„Dieser Lagerplatz gefällt mir nicht. Wenn es nicht schon so finster wäre, würden wir weiterreiten, bis wir einen bessern fänden.“

„Warum sollte er uns nicht gefallen?“ fragte Cox.

„Der Gefangenen wegen. Wer soll sie bewachen?“

„Wir natürlich!“

„Da brauchen wir drei Wächter auf einmal!“

Pshaw! Wozu wären die Fesseln da? Macht, daß wir sie von den Pferden bringen! Sobald sie liegen, sind sie uns sicher und gewiß!“

„Aber wir müssen doch drei Abteilungen machen!“

„Wer sagt das?“

„Der Platz zerfällt ja in drei Teile! Wollt Ihr etwa die Bäume niederhauen?“

„Fällt mir nicht ein! Die Gefangenen kommen alle hier in die eine Abteilung; die beiden andern sind für uns.“

„Und die Pferde?“

„Die schaffen wir hinaus ins Freie, wo sie angehobbelt werden. Da genügt ein Wächter für sie und einer für die Gefangenen.“

„Ja, wenn wir zwei Feuer anbrennen!“

„Ist auch nicht nötig! Ihr werdet gleich sehen, daß ich recht habe.“

Wir wurden von den Pferden genommen, wieder gefesselt und nach der einen Abteilung gebracht; dann ließ Cox da, wo die Abteilungen zusammenstießen, ein großes Feuer anbrennen, welches allerdings alle drei Teile erleuchtete. Hierüber sehr befriedigt, fragte er den alten Wabble:

„Na, habe ich recht gehabt oder nicht? Es genügt, wie Ihr seht, ein einziger Mann, die Kerls zu bewachen. Das ist alles, was Ihr verlangen könnt.“

Der Alte brummte etwas Unverständliches in den Bart und gab sich zufrieden. Und ich? Nun, ich war auch zufrieden, zufriedener wohl als er, denn das Lager hätte für unsere Zwecke gar nicht besser passen können, zumal bei der Einrichtung, welche Cox demselben gegeben hatte.

Ich war in die Mitte der kleinen Lichtung gelegt worden, hatte mich aber sogleich nach dem Rande derselben gewälzt, ein Manöver, welches auch von Winnetou ausgeführt und zu unserer Freude von den Tramps gar nicht beachtet wurde. Wir lagen mit den Köpfen am Rande des Gebüsches, und zwar hatten wir uns eine Stelle gewählt, wo die Sträucher nicht eng nebeneinander standen und es Kolma Puschi wahrscheinlich möglich war, zwischen und unter ihnen bis zu uns hindurch zu kriechen. Der Platz war so klein, daß wir alle, die wir zusammengehörten, so eng beieinander lagen, daß wir uns nicht nur berühren, sondern auch durch leise Worte verständigen konnten.

Bald erfüllte der Duft des Truthahnbratens die Luft. Die Tramps aßen, soviel sie konnten; wir aber erhielten – – -nichts.

„Die Kerls liegen so eng beisammen, daß man gar nicht zwischen ihnen hindurchkommen kann, um sie zu füttern,“ sagte Old Wabble. „Sie mögen warten bis morgen früh, wenn es Tag geworden ist. Sie werden bis dahin nicht vor Durst und Hunger sterben; th’is clear!“

Was das Verhungern und Verdursten betrifft, so hatte ich keine Sorge, denn ich war überzeugt, daß wir noch während der Nacht uns satt essen und trinken würden. Dick Hammerdull, der wieder in meiner Nähe lag, nahm das aber nicht so leicht und sagte zornig:

„Ist das ein Benehmen! Nichts zu essen und kein Schluck Wasser! Wem da die Lust, Gefangener zu sein, nicht vergehen soll, den möchte ich kennen lernen! Meinst du nicht auch, Pitt Holbers, altes Coon?“

„Wenn ich nichts bekomme, so meine ich auch nichts,“ antwortete der Lange. „Hoffentlich hört diese fatale Geschichte nun bald auf!“

„Ob sie aufhört oder nicht, das bleibt sich gleich, wenn sie nur ein Ende nimmt. Darf man wissen, was Ihr dazu sagt, Mr. Shatterhand?“

„Wir werden sehr wahrscheinlich noch in dieser Nacht ein gutes Truthahnessen haben,“ antwortete ich. „Schlaft nur nicht ein, und vermeidet alles, was geeignet sein könnte, den Verdacht der Tramps zu erregen!“

Well! So will ich mich ruhig fügen. Wo noch Hoffnung vorhanden ist, da ist weiter nichts nötig, als daß man diese Hoffnung gemacht bekommt.“

Da er sich mit dieser geistreichen Erwägung beruhigte, sagten auch die andern nichts, und wir hörten neidlos zu, wie gut es den Tramps schmeckte; sehen konnten wir es nicht, desto besser aber mit dem Gehör vernehmen.

Eine großartige Nachlässigkeit von ihnen war es, daß man mir meine Gewehre gelassen hatte. Die „Gewehre, welche andern die Knochen zerbrechen“, waren, als man mich vom Pferde band, gar nicht beachtet worden; ich hatte sie mit den gefesselten Händen mit nach unserm Platze genommen und dort neben mir hingelegt. Auf diesen Umstand hindeutend, flüsterte mir der Apatsche zu:

„Wenn nur mein Bruder Shatterhand allein loskommt, haben wir gewonnen, denn gegen deinen Stutzen können sie alle nichts machen.“

Als der erste Wächter, welcher am Feuer saß, das Turkeyfleisch in nicht sehr appetitlicher Weise mit den Zähnen von den Knochen gerissen und verzehrt hatte, waren auch seine Kameraden mit dem Essen fertig und rüsteten sich zum Schlafe. Der alte Cow-boy-König kam zu uns herübergewabbelt und brachte Cox mit; sie wollten noch unsere Fesseln sehen. Als sie sich überzeugt hatten, daß sich dieselben in dem von ihnen gewünschten Zustande befanden, sagte Cutter zu mir:

„Es ist alles in Ordnung, und ich denke, daß Ihr auch ohne Abendessen einen guten Schlaf thun werdet. Träumt recht angenehm von mir!“

„Danke!“ antwortete ich. „Was ich träumen werde, kann ich Euch schon jetzt sagen, falls Ihr die Güte haben solltet, Euch dafür zu interessieren.“

„Ach? Wovon denn?“

„Davon, daß ich mich, nachdem ich Euch heut den einen Arm verbunden habe, auch noch mit dem andern sehr eingehend beschäftigen werde.“

„Ich verstehe Euch nicht. Wie meint Ihr das?“

„Denkt darüber nach!“

Pshaw! Über etwas, was Old Shatterhand gesagt hat, nachzudenken, das fällt mir gar nicht ein! Ah, jetzt errate ich es doch!“

„Wirklich? Sollte mich wundern, denn zu den Leuten, welche durch Scharfsinn und Findigkeit Staunen erregen, habt Ihr ja nie gehört.“

„Du auch nicht, Halunke!“ rief er zornig aus. „Wenn du von meinem Arme sprachst, hast du jedenfalls gemeint, daß ich das Wundfieber bekomme. Du würdest dich wohl sehr darüber freuen, wenn Fred Cutter rechte Schmerzen auszustehen hätte und nicht schlafen könnte?!“

„Denke nicht daran!“

„Doch, doch! Aber deine Vorausfreude wird in das Wasser fallen. Meine alte Konstitution ist besser und kräftiger, als du denkst. Ich habe eine Bärennatur und möchte das Fieber sehen, welches sich an mich wagen könnte. Jedenfalls werde ich viel besser schlafen als du!“

Well! Dann gute Nacht, Mr. Cutter!“

„Gute Nacht, Schurke!“

„Und ein fröhliches Erwachen nach dem Schlafe!“

„Wünsche dir dieselbe Fröhlichkeit!“

„Danke, zumal ich weiß, daß dieser Wunsch in Erfüllung gehen wird!“

Er lachte hämisch auf und sagte zu dem zweiten Posten, welcher soeben den ersten abgelöst hatte, in streng warnendem Tone:

„Diesen Kerl da, der soeben gesprochen hat, scheint der Hafer zu stechen. Gieb auf ihn besonders acht, und falls er sich nur einmal falsch bewegen sollte, kommst du sofort zu mir, um mich zu wecken!“

Er entfernte sich mit Cox, und der Wächter setzte sich so, daß er mich grad in den Augen hatte, was mir freilich nicht willkommen sein konnte.

„Dumm wie ein Coyote!“ flüsterte Winnetou mir zu.

Er hatte recht. Daß Old Wabble meine Worte weder als eine Drohung noch als ein Zeichen der Hoffnung auf Befreiung, sondern nur als eine leere, höhnische Redensart aufgefaßt hatte, ließ sein Divinations-Vermögen in keinem imponierenden Lichte erscheinen. Ein guter Westmann hätte unbedingt irgend einen Hintergedanken geahnt und seine Gegenmaßregeln darnach getroffen.

Man hatte einen großen Haufen Dürrholz gesammelt und neben dem Feuer aufgestapelt. Um davon zu nehmen und die Flammen zu nähren, mußte der Wächter sich umdrehen. Die kurzen Augenblicke, in denen er dies von Zeit zu Zeit that, waren die einzigen Pausen, in denen er uns nicht beobachtete, und mußten von uns benutzt werden, falls Kolma Puschi hatte Wort halten und nach dem Spring kommen können. Wenn ich über diesen Punkt besondere Sorge gehabt hätte, so wurde sie bald zerstreut; denn schon als der Posten zum zweitenmal Holz nachlegte, hörte ich hinter mir ein leises Geräusch, ein Mund legte sich nahe an mein Ohr und sagte:

„Kolma Puschi ist hier. Was soll ich thun?“

„Warten, bis ich mich auf die andere Seite lege,“ antwortete ich ebenso leise. „Dann schneidest du mir die Hände frei und giebst mir dein Messer!“

Der Posten drehte sich uns wieder zu, und dasselbe fast unhörbare Rascheln sagte mir, daß Kolma Puschi zurückgekrochen sei.

Die Zeit des Handelns war noch nicht gekommen. Wir mußten warten, bis wir annehmen konnten, daß die Tramps alle schliefen. Ich ließ über eine Stunde vergehen, bis mehrfaches Schnarchen, Blasen und wohlbekannte Gaumentöne vermuten ließen, daß niemand außer Old Wabble munter sei. Wir wurden durch einen dünnen Buschstreifen von den Schläfern getrennt; ich konnte sie also nicht sehen. Es mischte sich in die beschriebenen Töne zuweilen ein kurzes Ächzen oder Stöhnen, welches jedenfalls von dem Cow-boy kam. Sein Arm schmerzte ihn. Sollte ich warten, bis auch er, wenigstens einmal für kurze Zeit, eingeschlafen war? Vielleicht fand er bis zum Morgen keinen Schlaf! Nein; wir durften diese Nacht nicht vorüberstreichen lassen. Glücklicherweise verriet mir sein Stöhnen, daß er jenseits der Sträucher an einer Stelle lag, von welcher aus er den Posten hüben bei uns nicht sehen konnte.

Ich legte mich also auf die andere Seite und hielt die Hände so, daß sie unserm Retter so bequem wie möglich lagen. Bald darauf wendete sich der Posten dem Feuer zu. Sofort fühlte ich, daß eine Messerklinge schneidend durch die Riemen ging und gleich darauf wurde mir das Heft in die Hand gedrückt. Mich rasch aufsetzend, zog ich die Füße an und schnitt dort auch die Riemen durch. Kaum hatte ich mich ebenso schnell wieder niedergelegt und ausgestreckt, so war der Posten mit dem Nachlegen fertig und drehte sich uns wieder zu. Es galt, zu warten; ich aber fühlte mich schon frei.

„Jetzt mich losschneiden!“ flüsterte mir Winnetou zu, der meine Bewegungen natürlich beobachtet und den Erfolg derselben gesehen hatte.

Er legte sich so, daß er mir die Hände zukehrte. Als der Posten das nächste Mal nach dem Dürrholz griff, bedurfte es nur zweier Sekunden, so war auch der Apatsche an den Händen und an den Füßen frei.

Jetzt war es grad, genau und ganz so gut, als ob wir alle schon auf unsern Pferden säßen und von hier weiter ritten! Ich hatte ja meine Gewehre! Aber ich wollte kein Blut vergießen, und so mußten wir uns noch eine Weile gedulden. Indem wir zwei so dalagen, als ob wir noch gefesselt seien, raunte ich dem Apatschen zu:

„Jetzt zunächst den Posten! Wer nimmt ihn?“

„Ich,“ antwortete er.

Es galt, den Mann lautlos, ohne alles Geräusch, unschädlich zu machen. Unsere Kameraden lagen zwischen ihm und uns; man mußte über sie wegspringen. Wenn dabei das geringste Geräusch entstand und er sich umdrehte und um Hilfe schrie, wurde die Befreiung unserer Leute, wie ich sie ausführen wollte, unmöglich. Winnetou war der richtige und unter uns wohl auch der einzige Mann, diese Schwierigkeit zu überwinden. Ich fühlte mich außerordentlich gespannt auf diesen Augenblick.

Der Wächter ließ dieses Mal das Feuer weiter niedergehen als vorher. Endlich, endlich wendete er sich von uns ab und dem Holzhaufen wieder zu! Wie ein Blitz war Winnetou in der Höhe und mit einem wahren Panthersprunge über unsere Gefährten hinüber. Ihm das Knie in den Rücken legend, faßte er ihn mit beiden Händen um den Hals. Der Mann war vor Schreck steif; er machte keine Bewegung der Abwehr; es war kein Laut, nicht der geringste Seufzer zu hören. Jetzt sprang ich, weil Winnetou keine Hand frei hatte, hinüber und schlug dem Tramp die Faust zweimal an den Kopf. Der Apatsche öffnete langsam und versuchsweise seine Hände; der Kerl glitt mit dem Oberkörper nieder und blieb, lang ausgestreckt, wie eine Leiche liegen. Der erste Teil des Werkes war gelungen!

Unsere Kameraden waren wach geblieben; sie hatten die Überwältigung des Postens gesehen. Da ich nicht reden, auch nicht ganz leise, wollte, winkte ich ihnen mit den Händen Schweigen zu und machte mich dann mit Winnetou an das Lösen ihrer Fesseln, die ich nicht zerschneiden wollte, weil wir sie später mit brauchten, um die Tramps zu binden. Was mich während dieser kurzen Beschäftigung wunderte, war, daß sich Kolma Puschi nicht sehen ließ. War er, der Geheimnisvolle, etwa schon wieder fort? Das mußte sich ja zeigen!

Als alle Befreiten still bei einander standen, kroch ich mit dem Apatschen langsam um das Feuer, um nach den Tramps zu sehen. Sie schliefen alle. Auch Old Wabble lag lang ausgestreckt im Grase; er war gefesselt, hatte einen Knebel im Munde, und neben ihm saß – – Kolma Puschi, unser Erretter! Wir mußten über das Meisterstück, welches dieser Rote so geräuschlos vollbracht hatte, staunen.

Er hielt seine dunkeln Augen nach der Stelle, von welcher er wußte, daß wir von dort aus lauschen würden. Als er uns sah, nickte er uns lächelnd zu. Ich hätte ihn ob dieser Ruhe, Kaltblütigkeit und Sicherheit umarmen mögen!

Es galt natürlich zunächst, uns zu bewaffnen. Ich holte meinen Stutzen und machte ihn schußfertig. Da die Tramps auch eng bei einander lagen, hatten sie zur Vermeidung der Unbequemlichkeiten ihre Gewehre zusammengestellt; wir nahmen sie in der Zeit von einer Minute in unsern Besitz. Jeder von den Kameraden fand das seinige dabei; nur Winnetous Silberbüchse lag bei Cox, der sich nicht von ihr hatte trennen wollen. Der Apatsche kroch wie eine Schlange hin und holte sie sich; das war auch ein Bravourstück von ihm!

Nun wir alle bewaffnet waren, wurden die Schläfer so umstellt, daß uns keiner entwischen konnte. Dick Hammerdull warf neues Holz in das Feuer, daß es hoch aufleuchtete.

„Nun erst den Posten draußen bei den Pferden,“ sagte ich leise zu Winnetou, indem ich durch die Büsche deutete.

Kolma Puschi sah diese meine Handbewegung, kam leise zu uns her und meldete:

„Das Bleichgesicht, welches Old Shatterhand meint, liegt gebunden bei den Pferden. Kolma Puschi hat es mit dem Gewehre niedergeschlagen. Meine Brüder mögen einen Augenblick warten, bis ich wiederkomme!“

Er huschte fort. Als er nach wenigen Sekunden zurückkehrte, hatte er eine Menge Riemen in den Händen; er warf sie hin und sagte:

„Kolma Puschi hat unterwegs einen Bock erlegt und sein Fell zu Riemen zerschnitten, weil er glaubte, daß sie hier gebraucht würden.“

Ein außerordentlicher Mann! Winnetou reichte ihm schweigend die Hand, und ich that dann dasselbe. Dann konnten wir die nichtsahnenden Schläfer wecken. Dick Hammerdull war natürlich derjenige, welcher uns bat, dies thun zu dürfen. Wir nickten ihm zu. Er stieß ein Geheul aus, welches der Größe seines weit aufgerissenen Mundes entsprechend war. Die Kerls sprangen alle auf; sie sahen uns mit angeschlagenen Gewehren stehen und waren vor Schreck bewegungslos. Nur Old Wabble blieb liegen, weil er gefesselt und geknebelt war. Dieses erste Entsetzen benutzend, rief ich ihnen zu:

Hands up, oder wir schießen! All hands up!“

Hands up, die Hände in die Höhe!“ ist ein sehr gefährlicher Befehl, zumal im wilden Westen. Wer diese Worte hört und nicht augenblicklich beide Hände hoch hält, bekommt die Kugel; das weiß jedermann. Es kommt vor, daß nur zwei oder drei verwegene Menschen einen Bahnzug überfallen. Wehe dem Passagier, welcher auf den Ruf „Hands up!“ nicht unverweilt die Arme hebt! Er wird sofort erschossen. Während einer der Räuber auf diese Weise mit seinem Revolver alle Reisenden in Schach hält, werden diese von dem oder den andern ausgeplündert und müssen mit hochgehobenen Händen stehen bleiben, bis die Taschen auch des letzten untersucht und geleert worden sind. Dieses „Hands up!“ trägt allein die Schuld daran, daß viele, wenn sie überrascht worden sind, gegen wenige gar nichts machen können. Selbst der sonst mutige Mann wird lieber die Arme heben als nach seiner Waffe greifen, denn ehe er sie erlangen kann, hat er die tödliche Kugel im Kopfe. Das weiß, wie gesagt, dort jedermann.

So auch hier! Ich hatte den Befehl kaum zum zweitenmal ausgesprochen, so fuhren alle Hände hoch empor.

„Schön, Mesch’schurs!“ fuhr ich fort. „Nun laßt euch sagen: Bleibt genau so stehen wie jetzt! Denn wer nur eine seiner Hände sinken läßt, bis wir mit euch allen fertig sind, der sinkt auch ganz, nämlich tot ins Gras! Ihr wißt wieviel Schüsse hier mein Stutzen hat. Es kommt mehr als eine Kugel auf jeden von euch! Dick Hammerdull und Pitt Holbers werden euch binden. Es giebt da keine Gegenwehr. Dick, Pitt, fangt an!“

Es war eine ernste Situation, aber doch machte es mir, überhaupt uns allen, innerlich Spaß, diese Leute wie beim Freiturnen oder bei einem Gesellschaftsspiele mit hoch erhobenen Armen stehen zu sehen, um ohne alle Gegenwehr zu warten, bis einer nach dem andern von ihnen an den Händen und Füßen gebunden und in das Gras gelegt wurde. Da waren uns freilich die Riemen sehr willkommen, welche Kolma Puschi mitgebracht hatte.

Erst als der letzte niedergelegt wurde, ließen wir die Gewehre sinken. Unser Retter ging mit Schahko Matto fort, um auch den Posten bei den Pferden zu holen. Nachdem dieser gebracht worden war, nahmen wir Old Wabble und auch dem Wächter am Feuer den Knebel aus dem Munde, denn dem letzteren hatten wir aus Vorsicht auch einen geben müssen.

Jetzt waren nun nicht mehr sie, sondern wir die Herren der Situation. Sie fühlten sich so deprimiert, daß keiner von ihnen ein Wort hören ließ. Bloß Old Wabble stieß zuweilen einen Fluch aus; das war aber auch alles, was er that. Um Platz zu bekommen, schoben wir sie so eng wie möglich aneinander, wodurch wir einen für uns genügenden Raum am Feuer gewannen. Es waren noch zwei ganze Turkeys da, welche wir für uns zurichteten. Während dies geschah, konnte Dick Hammerdull es nicht über sich gewinnen, ruhig zu bleiben. Er hatte in berechnender Weise die Gebrüder Holbers nebeneinander gelegt und suchte sie jetzt auf.

Good evening, ihr Onkels und Cousins!“ grüßte er sie in seiner gravitätisch drolligen Weise. Ach gebe mir die Ehre, euch zu fragen, ob ihr noch wißt, was ich euch unterwegs gefragt habe?“

Er bekam keine Antwort.

„Richtig! Es stimmt!“ nickte er. „Ich sagte, entweder flögen wir euch davon, und dann ständet ihr mit aufgesperrten Mäulern da; oder wir drehten den Spieß grad um und nähmen euch gefangen, und dann klappten euch die Mäuler wieder zu. Ist es nicht so, Pitt Holbers, altes Coon? Habe ich das gesagt oder nicht?“

Holbers saß, einen Puter rupfend, am Feuer und antwortete trocken:

„Ja, das hast du gesagt, lieber Dick.“

„Also richtig! Wir haben sie gefangen, und nun liegen sie mit zugeklappten Mäulern da und haben nicht den Mut, sie wieder aufzumachen. Die armen Teufel haben die Sprache verloren!“

„Fällt uns nicht ein!“ fuhr ihn da Hosea an. „Wegen euch verlieren wir die Sprache noch lange nicht; aber laßt uns in Ruhe!“

„Ruhe? Pshaw! Ihr habt ja bis jetzt geschlafen! Das plötzliche Erwachen war freilich etwas sonderbar, nicht? Was wolltet ihr doch nur mit euern Händen so hoch droben in der Luft? Es sah aus, als ob ihr Sternschnuppen fangen wolltet. Ganz eigenartige Pose!“

„Die Eurige war nicht besser, als wir Euch gestern festgenommen hatten! Ihr konntet da nicht einmal die Hände heben!“

„Das thue ich auch sonst niemals, weil ich kein Schnuppenfänger bin. Übrigens, wie habt ihr doch gelacht, als ich euch heut sagte, wir ritten nur zu unserm Vergnügen mit euch und würden auf keinen Fall länger als einen Tag eure Gefangenen sein! Hoffentlich kommt euch die Sache jetzt auch noch so lustig vor! Oder nicht?“

„Ich sage Euch noch einmal, daß Ihr uns in Ruhe lassen sollt!“

„Verehrtester Hosea, nicht so hitzig! Du siehst ja, wie gefaßt und still dein lieber Joel ist! Wenn ich ihn richtig beurteile, so denkt er über die Erbschaft meines alten Pitt Holbers nach.“

Da brach Joel sein Schweigen auch:

„Er mag behalten, was er hat! Wir brauchen nichts von ihm, dem Prügeljungen, denn wir werden reich sein; wir werden noch – –“

Da er inne hielt, fuhr Dick Hammerdull, fröhlich lachend, fort:

„– – noch nach dem Squirrel Creek reiten und die Bonanza holen? Nicht wahr, das wolltet Ihr sagen, Sir Joel, der Prophet?“

„Ja, das werden wir!“ schrie der Geärgerte. „Es wird uns nichts auf Erden abhalten können, dies zu thun! Verstanden?“

„Ich denke, wir werden euch ein wenig davon abhalten!“

„Möchte wissen, auf welche Weise!“

„Indem wir euch erschießen.“

„Dann wäret ihr Mörder!“

„Thut nichts! Ihr sagtet mir ja auch, daß ihr uns auslöschen würdet. Ich war da freilich der Ansicht, daß wir uns wieder anzünden würden. Meinst du nicht auch, Pitt Holbers, altes Coon?“

„Ich meine nur, daß du den Schnabel halten sollst!“ belehrte ihn der Gefragte vom Feuer her. „Diese Kerls sind es ja gar nicht wert, daß du mit ihnen sprichst. Komm lieber her, und rupfe mit!“

„Ob ich mit rupfe oder nicht, das ist ja ganz egal; aber ungerupft schmeckt mir der Puter nicht, und darum komme ich!“

Er setzte sich zu seinem Pitt ans Feuer und half ihm bei der Arbeit.

Kolma Puschi hatte sich inzwischen entfernt. Er war zu seinem irgendwo versteckten Pferde gegangen und brachte das Fleisch, welches er heut geschossen hatte, um es uns zu schenken. Dann trat er vor Cox hin und sagte zu ihm:

„Das Bleichgesicht hat heut von einem stinkigen Hunde und von Ungeziefer gesprochen. Kolma Puschi antwortete, der Hund werde das stinkige Ungeziefer jagen, bis es gefangen wird. Nun liegt es vor ihm da, wie er es vorher verkündet hat!“

Cox knurrte etwas vor sich hin, was man nicht verstehen konnte. Der Indianer fuhr fort:

„Das Bleichgesicht nannte die roten Männer eine armselige Bande, welche immer mehr herunterkomme. Wer ist tiefer herabgekommen, und wer ist verachtenswerter, der Weiße, welcher wie ein räudiger, hungriger Hund als Tramp das Land durchstänkert, oder der Indianer, welcher als unausgesetzt Bestohlener und immerfort Vertriebener durch die Wildnis irrt und den Untergang seiner unschuldigen Nation beklagt? Du bist der Hund, und ich, ich bin der Gentleman. Das wollte ich dir sagen, obgleich ein roter Krieger sonst nicht mit Hunden spricht. Howgh!“

Er wendete sich, ohne eine Antwort zu bekommen, von ihm ab und setzte sich zu uns, die wir ihm von Herzen gern und vollständig recht geben mußten. Er hatte wenigstens Winnetou und mir ganz aus der Seele gesprochen. Die andern stimmten ihm bei für diesen einen vorliegenden Fall, im allgemeinen aber wohl kaum. Zu den Verhältnissen, die man aus der Ferne richtiger beurteilt als in der Nähe, gehört dasjenige zwischen der roten und der weißen Rasse. Der echte Yankee, der Native, wird nun und nimmermehr zugeben, daß er schuld am Untergange der Indsmen, am gewaltsamen Tode seines roten Bruders sei!

Während wir aßen, lagen die Gefangenen ruhig. Nur zuweilen klang eine leise Bemerkung, welche einer dem andern zuflüsterte, zu uns herüber, ohne daß wir sie verstanden. Es war uns vollständig gleichgültig, was sie miteinander sprachen. Old Wabble warf sich wiederholt von einer Seite auf die andere. Seine Seufzer verwandelten sich nach und nach in ein immer häufiger wiederkehrendes und immer lauter werdendes Stöhnen. Er fühlte Schmerzen, wohl durch die Riemen vermehrt, mit denen Hammerdull und Holbers ihn fester, als eigentlich nötig war, gebunden hatten, nachdem er schon vorher von Kolma Puschi auf leichtere Weise gefesselt worden -war. Endlich rief er uns in ergrimmtem Tone zu:

„Hört ihr denn nicht, was ich für Schmerzen leide! Seid ihr Menschen, oder seid ihr Schinder, die kein Gefühl besitzen!“

Ich machte eine Bewegung, aufzustehen und nachzusehen, ob ich ihm seine Lage ohne Gefahr für uns erleichtern könne; da aber hielt mich Treskow zurück, indem er kopfschüttelnd sagte:

„Ich begreife Euch nicht, Mr. Shatterhand! Vermutlich wollt Ihr hin, um ihm die Hölle in ein Paradies zu verwandeln? Ich lasse jede Art erlaubter oder verständiger Humanität gelten; aber Euer Erbarmen für diesen Menschen ist geradezu eine Sünde!“

„Er ist schlecht, doch immerhin ein Mensch!“ warf ich ein.

„Er? Pshaw! Denkt an das, was Ihr heut sagtet, als Ihr ihn verbinden wolltet: Ihr hieltet für maßgebend, nicht daß er ein Mensch sei, sondern daß Ihr einer seiet. Ja, Ihr seid ein Mensch, und zwar ein in Beziehung auf ihn sehr schwacher Mensch. Nehmt mir das nicht übel! Nun geht hin, und bindet ihn in der ganzen Menschheit Namen los, wenn ich unrecht habe!“

„Mein Arm, mein Arm!“ wimmerte der Alte in kläglichem Tone.

Da rief Hammerdull ihm zu:

„Nun kannst du wohl klagen, alte Schleiereule! Wie steht es da mit deiner Konstitution, mit deiner großartigen Bärennatur, mit der du vorhin prahltest? jetzt singst du schon nach Gnade!“

„Nicht nach Gnade!“ antwortete Old Wabble. „Nur die Fesseln lockern sollt ihr mir!“

„Ob sie locker sind oder nicht, das bleibt sich gleich, wenn sie dir nur den Spaß so gründlich verderben, wie du es verdienst. Jede Sache hat einen Zweck, den sie erreichen muß; die Riemen haben ihn auch!“

Kolma Puschi aß natürlich auch mit, ohne dabei ein Wort zu sagen. Er verhielt sich fast noch schweigsamer als Winnetou, und nur einmal, als die Rede auf unser Zusammentreffen mit dem weißen Medizinmann und seiner Squaw kam, sagte er:

„Kolma Puschi ist, nachdem er von dem Bleichgesichte Cox beleidigt worden war, der Fährte seiner Brüder gefolgt, um sich zu überzeugen, daß sie den richtigen Weg geritten seien. Da kam er auf den Platz, wo sie gehalten haben. Er sah die Spur von drei Pferden, welche von rechts her auf ihre Fährte stieß und dann nach links weiterführte. War das der weiße Mann mit seiner roten Squaw, von welchem ihr jetzt gesprochen habt?“

„Ja,“ antwortete ich.

„Dieser Weiße ist ein roter Komantsche gewesen?“

„Ja.“

„Uff! Was hat er als Komantsche hier im Norden zu thun?“

„Das wissen wir nicht.“

„Warum hat er die Farbe aus seinem Gesicht entfernt? Warum kommt er nicht als roter, sondern als weißer Mann?“

„Wohl seiner Sicherheit wegen. Als Komantsche würde er hier der Feind aller Bleichgesichter und noch mehr aller Indianer sein.“

„Diese Worte scheinen die Wahrheit zu treffen, doch hat Kolma Puschi auch noch andere Gedanken.“

„Dürfen wir sie erfahren?“

„Ein roter Krieger darf nur solche Gedanken aussprechen, von denen er weiß, daß sie richtig sind. Ich denke jetzt nach!“

Er zog sein Gewehr lang an sich und legte sich wie zum Schlafen nieder. Ich nahm das als Zeichen, daß er nicht weitersprechen wolle. Später sah ich freilich ein, daß es viel besser gewesen wäre, wenn ich dieses Gespräch mit ihm fortgesetzt hätte. Dabei wäre mir jedenfalls der Name Thibaut über die Lippen gekommen, ein Name, welcher eine von mir ungeahnte Wirkung auf ihn hervorgebracht hätte. Der sogenannte „Herr der Schöpfung“ mag sich trotz des vielgerühmten Reichtums seiner geistigen Eigenschaften ja nicht vermessen, daß er von keiner andern Führung abhängig sei als nur von seinem Willen! Mag er es noch so sehr bezweifeln, es giebt einen Willen, der hoch über allem irdischen Wollen erhaben ist.

Nach dem Essen wurden die Taschen der Gefangenen geleert. Nachdem wir das uns geraubte Eigentum wieder genommen hatten, bekam jeder zurück, was uns nicht gehörte. Daß die Tramps dabei nicht überzart behandelt wurden, war nicht zu verhindern. Old Wabble hatte sich in den Besitz aller meiner Sachen gesetzt und war wütend darüber, daß er sie nun wieder hergeben mußte. Größer noch als dieser Zorn aber schienen die Schmerzen zu sein, welche er fühlte. Er bat mich wiederholt um Linderung derselben. Ich war schwach genug, die Vorwürfe Treskows zu scheuen, mochte das jammern aber endlich doch nicht mehr hören und sagte zu ihm:

„Ich will mich erweichen lassen, wenn Ihr mir meine Fragen beantwortet.“

„Fragt, fragt; ich werde reden!“ bat er.

„Ihr wolltet mich wirklich töten?“

„Ja.“

„Was seid Ihr doch für ein Mensch! Ich bin mir keines einzigen Unrechtes bewußt, welches ich Euch gethan hätte, und doch trachtet Ihr mir nach dem Leben! Noch heut wolltet Ihr lieber alle möglichen Schmerzen tragen, nur mich nicht freigeben. Wie stolz fühltet Ihr Euch im Besitze meiner Gewehre! Ihr meintet, sie nun für immer zu besitzen, und ich sagte Euch voraus, daß ich sie sehr bald wieder haben würde. Schon heut nachmittag mußte ich sie tragen, und jetzt sind sie ganz wieder mein!“

„Ich wollte, sie lägen mit Euch in der Hölle! Ich habe die paar Stunden, in denen sie mir gehörten, mit einem gesunden Arm bezahlt!“

„Und mit vielen Schmerzen, die Ihr noch erleiden werdet. Denn Ihr dürft nicht etwa denken, daß Ihr schon am Ende derselben angekommen seid! Ihr fühltet Euch Eurer Sache so sicher, daß Ihr mich auffordertet, Euch nach meinem Tode als Gespenst zu erscheinen. Wißt Ihr noch, was ich Euch darauf geantwortet habe?“

„Mag es nicht hören!“

„Ihr müßt es hören! Ich sagte: Ich werde noch vor meinem Tode über Euch kommen. Das ist jetzt eingetroffen. So wird der einfachste Mensch zum Propheten, wenn er nur weiß, daß das Gute dem Bösen stets überlegen ist! Gebt Ihr zu, schlecht an mir gehandelt zu haben?“

„Ja doch, ja!“

„Wollt Ihr den jetzigen Weg verlassen und einen bessern betreten?“

„Ja und ja und ja! Macht mir nur die Riemen locker, und laßt das verdammte Schulmeistern sein! Ich bin kein Kind!“

„Leider nein! Was Ihr für Schulmeisterei haltet, ist etwas ganz anderes. Auch müßt Ihr Euch hüten, meine Milde für Schwäche zu halten. Ich fühle Mitleid, nichts als Mitleid mit Euch. Ich gebe mich nicht der geringsten Hoffnung hin, durch Worte bessernd auf Euch einwirken zu können. Worte, und seien es die schönsten, ergreifendsten, prallen von Euch ab. Es wird ein ganz anderer, als ich bin, mit Euch reden, nicht durch Worte, sondern durch die That. Wenn Ihr dann unter der Wucht derselben zusammenbrecht, will ich mir sagen können, daß ich nichts, aber auch gar nichts versäumt habe, Euch zu retten. Das ist es, warum ich wieder und immer wieder mit Euch rede. Und nun kommt her! Es handelt sich nicht bloß um die Fesseln, sondern mehr noch um die Hitze, die Ihr im Arme habt!“

Ich übernahm, während die Gefährten sich schlafen legten, die Wache und benützte diese ganze Zeit, den Arm des Alten mit Wasser zu kühlen. Kolma Puschi hatte freiwillig die Wache nach mir übernommen. Als ich, um ihn zu wecken, von Old Wabble fortging, hörte ich ihn hinter mir her brummen:

„Heulmaier, alberner! Schäfleinshirte!“

Diese Art, mir zu danken, konnte mich nicht beleidigen. Ich hatte auf keinen Erfolg gehofft, und doch that es mir unendlich leid um den alten Mann, daß ich ihn für unrettbar verloren halten mußte.

Als ich geweckt wurde, war es schon eine Stunde Tag. Ein kurzer Umblick genügte, mich zu überzeugen, daß alles in Ordnung sei, nur daß ich Kolma Puschi vermißte. Schahko Matto hatte nach ihm die Wache gehabt. Als ich diesen fragte, antwortete er:

„Kolma Puschi sagte mir, daß er nicht länger bleiben könne; der große Geist rufe ihn fort von hier. Ich soll Old Shatterhand, Winnetou und auch Apanatschka von ihm grüßen und ihnen sagen, daß er sie wiedersehen werde.“

„Hast du ihn fortreiten sehen?“

„Nein. Er ging fort. Ich wußte nicht, wo er sein Pferd hatte, und durfte diesen Platz nicht verlassen, weil ich Wächter war. Dann aber bin ich seiner Spur gefolgt. Sie führte mich in den Wald, nach der Stelle, an welcher sein Pferd versteckt gewesen ist. Wenn wir wissen wollen, wohin er geritten ist, werden wir leicht seine Fährte finden. Soll ich gehen, um sie aufzusuchen und Euch zu zeigen?“

„Nein. Wäre er unser Feind, müßten wir ihm folgen. Aber er ist unser Freund. Sollten wir das Ziel seines Rittes erfahren, würde er es uns freiwillig gesagt haben. Den Willen eines Freundes muß man achten.“

Bevor ich von dem Fleische frühstückte, welches Kolma Puschi zurückgelassen hatte, ging ich hinaus, wo die Pferde angehobbelt waren. Sie befanden sich auf einer Grasbucht zwischen den gestern erwähnten Ausläufern des Waldes, wohin sie bei Tagesanbruch geschafft worden waren. Von da aus konnte man weit nach Norden sehen, woher wir gekommen waren. Indem ich nach dieser Richtung blickte, sah ich drei Punkte, welche sich unserm Lager näherten. Sie wurden schnell größer, bis ich zwei Reiter und ein Packpferd erkannte. Sollte es Thibaut mit der Squaw sein, die gestern doch nach Südwest geritten waren? Und wenn diese Vermutung richtig war, welche Gründe konnten ihn wohl bewogen haben, umzukehren und unserer Spur zu folgen?

Ich ging natürlich nach dem Lager, um Winnetou zu benachrichtigen.

„Dieser Mann braucht keine andern Gründe als nur seinen Haß zu haben,“ sagte er. „Tibo taka will wissen, ob Old Shatterhand schon tot ist oder noch lebt. Wir werden uns verstecken.“

Wir krochen hinter die Büsche und warteten. Es dauerte nicht lange, so hörten wir die Schritte eines Pferdes. Thibaut hatte die Frau mit dem Packpferde eine kleine Strecke zurückgelassen und kam allein nach der Quelle, um zu rekognoszieren. Er sah Old Wabble und die Tramps gefesselt am Boden liegen und rief erstaunt aus:

Behold! Sehe ich recht! Ihr seid gebunden? Wo sind denn die Kerls, welche gestern Eure Gefangenen waren?“

Old Wabble wußte nicht, daß wir auf das Kommen dieses Mannes vorbereitet waren und uns nur seinetwegen scheinbar entfernt hatten. Er rief ihm hastig und mit unterdrückter Stimme zu:

„Ihr seid hier? Ah, Ihr! Seit wann seid Ihr da?“

„Seit diesem Augenblicke. Ich komme eben erst.“

„Dann schnell herunter vom Pferde, und schneidet uns los!“

„Losschneiden? Ich denke, Ihr betrachtet mich als Euren Feind!“

„Unsinn! Das war gestern nur so eine Redensart. Macht rasch!“

„Wo sind denn Eure Gefangenen?“

„Sie haben sich in der Nacht befreit und uns überrumpelt. Zaudert doch nicht so ewig, sondern macht uns los, nur los!“

„Wo stecken sie denn? Wenn sie nun kommen und mich überraschen?“

„So sind wir, wenn Ihr schnell macht, frei und schlagen sie nieder!“

Well! Dieser Old Shatterhand besonders ist mir im Wege. Er muß unbedingt ausgelöscht werden. Darum komme ich Euch nach. Es ahnte mir, daß Ihr Unglück mit ihm haben würdet. Der muß erschossen werden, sobald man ihn erwischt, keinen Augenblick später, sonst verschwindet er gewiß. Also rasch! Ihr sollt frei sein!“

Er war während dieser Worte vorn Pferde gestiegen und zu Old Wabble getreten. Jetzt zog er sein Messer. Da steckte grad vor seinen Augen Dick Hammerdull den Gewehrlauf aus dem Busche heraus und rief:

„Mr. Tibo taka, wartet noch ein bißchen! Es wohnen gewisse Leute hier im Gebüsch!“

„Verdammt! Zu spät!“ fluchte Old Wabble wütend.

Thibaut wich einige Schritte zurück und sagte:

„Wer steckt da im Gesträuch? Thut Eure Flinte weg!“

„Wer drin steckt, bleibt sich gleich. Und ob ich sie wegthue oder nicht, ist ganz egal; sie geht doch los, wenn Ihr nicht augenblicklich Euer Messer fallen laßt! Ich zähle nur bis drei. Also, eins – – zwei – –“

Thibaut warf das Messer weg, retirierte so weit, bis er sein Pferd zwischen sich und dem gefährlichen Busche hatte, und rief:

„So thut das Gewehr doch weg! Ich mag mit Euch gar nichts zu schaffen haben. Ich reite augenblicklich fort!“

„Augenblicklich? Nein, lieber Freund; bleibt noch ein Weilchen da!“

„Wozu?“

„Es giebt Leute, welche Euch gern guten Morgen sagen wollen.“

„Wer denn? Und wo?“

„Gleich hinter Euch.“

Thibaut drehte sich schnell um und sah uns alle stehen, die wir, während er mit Hammerdull sprach, leise aus den Büschen getreten waren. Er erschrak. Ich ging bis hart zu ihm heran und sagte:

„Also ausgelöscht soll ich partout werden! Ihr scheint mich halb und halb zu kennen, aber ganz noch nicht. Wie wäre es wohl, Monsieur Thibaut, wenn wir die Rollen wechselten und ich Euch auslöschte?&

All devils! Das werdet Ihr nicht! Ich habe Euch nichts gethan!“

„Ob Ihr mir schon etwas gethan habt, das ist Nebensache. Ihr wollt mir an das Leben; das genügt. Ihr kennt doch die Gesetze der Prairie!“

„Es war nur Scherz von mir, Mr. Shatterhand!“

„So mache auch ich Scherz mit Euch. Hier liegen noch einige Riemen. Gebt die Hände her! Ihr werdet gefesselt, ganz so, wie diese Tramps.“

„Unmöglich!“

„Das ist nicht nur möglich, sondern es wird gleich wirklich geschehen. Pitt Holbers und Dick Hammerdull, bindet ihn! Wenn er sich weigert, bekommt er meine Kugel. Muß ich erschossen werden, sobald man mich erwischt, so giebt es bei mir auch kein Federlesens. Also, rasch!“

Hammerdull war auch herbeigekommen; er und Holbers banden den Mann, der sich nicht getraute, Widerstand zu leisten, wenigstens durch die That, in Worten aber sich außerordentlich sträubte:

„Das ist eine Gewaltthat, die Ihr nicht verantworten könnt, Mesch’schurs! Das habe ich wahrlich nicht verdient!“

„Auch nicht damit, daß Ihr Old Wabble gestern den Rat gabt, jeden Tag einen von uns zu erschießen?“

„Das war ja aber auch nur Scherz!“

„Ihr scheint ein außerordentlicher Spaßvogel zu sein, was auf eine gute Unterhaltung mit Euch schließen läßt. Wir wollen Euch darum bei uns festhalten, und Ihr müßt einsehen, daß dies am besten mit Hilfe dieser Riemen geschieht. Scherz um Scherz; das ist ganz richtig!“

„Aber ich bin nicht allein!“

„Das wissen wir.“

„Nichts könnt Ihr wissen, nichts!“

„Wir sahen Euch kommen. Draußen wartet Eure Squaw.“

„Soll die etwa auch gebunden werden?“

„Nein. Mit Ladies treiben wir keine solchen Scherze. Wir werden sie vielmehr als sehr willkommenen Gast empfangen. Fügt Euch ruhig in unsern Willen! Es kommt ganz auf Euer Verhalten an, was wir über Euch bestimmen. Seid Ihr fügsam, habt Ihr vielleicht gar nichts zu befürchten. Legt ihn allein, nicht hin zu den Tramps!“

Well! Gewalt geht vor Recht. Ich muß mich also fügen!“

Er wurde abseits der anderen Gefangenen hingelegt, daß er sich nicht mit ihnen unterhalten konnte. Dann verließ ich mit Winnetou das Lager, um die Squaw aufzusuchen. Sie hielt, noch im Sattel sitzend und den Zaum des Saumtieres in der Hand, draußen bei unsern Pferden. Unser Kommen machte nicht den geringsten Eindruck auf sie. Es war, als ob wir gar nicht vorhanden seien. Wir brachten sie nach der Quelle, wo sie unaufgefordert abstieg und sich neben Thibaut setzte. Daß er gefesselt war, schien sie gar nicht zu bemerken.

Das Packpferd hatten wir draußen gelassen; ich führte auch ihr und sein Reitpferd wieder hinaus. Er sollte nicht sehen, daß wir sein Gepäck untersuchten. Es war doch möglich, daß wir etwas fanden, was uns von Nutzen war. Als ich zur Quelle zurückkehrte, befand sich Cox mit Treskow in Verhandlung. Der letztere hatte wieder einmal seine juridische Anschauung vertreten und sich dabei aufgeregt, während die anderen ruhig wartend saßen. Er rief mir entgegen:

„Denkt Euch nur, Mr. Shatterhand, Cox verlangt, freigelassen zu werden!“

„Da braucht Ihr nicht zu sagen: Denkt Euch nur. Ich denke mir das ohnedies.“

„Aber was sagt Ihr dazu?“

„In diesem Augenblicke nichts.“

„Aber später?“

„Später werde ich mir denken, was Winnetou sich denkt.“

„Damit drehen wir uns im Kreise. Was denkt Winnetou?“

„Was recht ist.“

„Schön! Einverstanden! Das juridische Recht aber sagt, daß – –“

Pshaw!“ unterbrach ich ihn. „Wir sind hier nicht Juristen, sondern zunächst und vor allen Dingen hungrige Leute. Laßt uns essen!“

„Ach, essen! Damit wollt Ihr mir nur ausweichen!“

„Gar nicht! Ich will Euch dabei nur zeigen, was nach meiner Ansicht juridisch ist.“

„Nun was?“

„Gestern abend aßen die Tramps, und wir bekamen nichts; jetzt essen wir, und sie bekommen nichts. Ist das nicht die allerjuridischste Rechtshandhabung, die sich denken läßt?“

„Hole Euch – der Teufel, möchte ich auch bald sagen! Ich wette meinen Kopf, daß Ihr imstande seid, die Kerle laufen zu lassen!“

„Und ich wette nicht, weiß aber, daß geschehen wird, was richtig ist.“

Wir ließen es uns schmecken und teilten der Squaw das Beste mit, was wir hatten; sie nahm es aus den Händen Apanatschkas, ohne ihn zu kennen. Weiter erhielt niemand etwas. Als ich und Winnetou fertig waren, gingen wir beide hinaus, um das Gepäck Thibauts zu untersuchen. Das Packpferd hatte Eßwaren, einige Frauengewänder, wenig Wäsche und dergleichen getragen; etwas Besonderes fanden wir da nicht. Beim Pferde der Frau war auch nichts zu entdecken. Wir wendeten uns nun zu dem Pferde des Mannes.

Am Sattelknopfe hing sein Gewehr. In der rechten Satteltasche steckte eine geladene Doppelpistole und ein blechernes Kästchen mit verschiedenen Farben, zum Bemalen des Gesichts jedenfalls, weiter nichts. In der linken fanden wir Patronen, ein Rasierzeug mit Seife und wieder ein Blechkästchen, viel dünner als das vorige. Es enthielt ein langes, schmales, viereckiges, sehr gut gegerbtes, weißes Lederstück mit roten Strichen und Charakteren.

„Ah, ein sprechendes Leder wie die Roten sagen!“ meinte ich zu Winnetou. „Das bringt uns vielleicht eine Entdekkung.“

„Mein Bruder zeige es her!“ sagte er.

Ich gab es ihm. Er betrachtete es lange und aufmerksam, schüttelte den Kopf, betrachtete es abermals, schüttelte wieder und sprach endlich: „Dies ist ein Brief, den ich nur halb verstehe. Er ist ganz nach der Weise der roten Männer mit der Messerspitze geschrieben und mit Zinnober gefärbt. Diese vielgewundenen Linien sollen Flüsse vorstellen; das Leder ist eine Landkarte. Hier ist der Republican-River, hier der doppelte Salmon; dann kommt der Arkansas mit dem Big Sandy-Creek und dem Rush-Creek, hierauf der Adobe – und der Horse-Creek, südlich der Apishapa-River und der Huerfano-Fluß. So kommt ein Creek und ein Fluß nach dem andern bis hinauf zum Park von San Louis. Diese Wasser kenne ich alle; aber es giebt Zeichen dabei, welche ich nicht verstehe, Punkte, Kreuze verschiedener Gestalt, Ringel, Dreiecke, Vierecke und andere Figuren. Sie stehen auf der Karte da, wo sich in der Wirklichkeit keine Stadt, kein Ort, kein .Haus befindet. Ich kann nicht entdecken, was alle diese vielen Zeichen zu bedeuten haben.“

Er gab mir das Leder zurück, welches mit wirklich großer Sorgfalt und Feinheit graviert und gefärbt worden war. Man konnte den kleinsten, feinsten Strich ganz deutlich sehen. Auch ich konnte mir die Zeichen nicht erklären, bis ich das Leder umwendete. Da waren sie wiederholt, untereinander aufgezählt, und daneben standen Namen, welche keine Orts- sondern Personennamen waren. Höchst sonderbar! Ich sann und sann, lange vergeblich, bis mir endlich auffiel, daß einige von ihnen Namen von Heiligen waren. Nun hatte ich es! Ich zog mein Taschenbuch heraus, welches ein Kalendarium enthielt, verglich die Namen mit den Entfernungen der Zeichen auf der Karte und konnte nun dem Apatschen erklären:

„Dieser Brief ist an den Medizinmann geschrieben worden und soll ihm sagen, wo und an welchem Tage er den Absender desselben treffen soll. Eine gewöhnliche Anführung der Monatstage würde alles verraten. Die Christen benennen, wie ich dir schon einigemal gesagt habe, alle Tage des Jahres mit den Namen frommer oder heiliger Männer und Frauen, welche längst gestorben sind. Diese Bezeichnung hat der Schreiber gewählt. Eine Enträtselung ist um so schwieriger, als und weil die Namen nicht auf der Karte, sondern auf der andern Seite stehen. Hier lese ich: Aegidius, Rosa, Regina, Protus, Eulogius, Josef und Thekla; das bedeutet den I., 4., 7., II., 13., 18. und 23, September. An diesen Tagen wird der Absender des Briefes da sein, wo die Zeichen, welche neben den Namen stehen, sich auf der Karte befinden. Wir haben also den ganzen Reiseplan des Absenders und des Empfängers mit Orts- und Zeitangabe hier in den Händen. Hast du mich verstanden?“

„Ich verstehe meinen Bruder genau, nur daß ich nicht weiß, auf welchen Tag des Jahres diese Männer- und Frauennamen fallen.“

„Das schadet nichts, wenn ich es nur weiß. Dieses Leder kann großen Wert für uns bekommen; behalten aber dürfen wir es nicht.“

„Warum?“

„Tibo taka soll nicht ahnen, daß wir seinen Weg kennen.“

„So muß mein weißer Bruder die Schrift des Leders abschreiben!“

„Ja, das werde ich sogleich thun.“

Winnetou mußte den Brief halten, und ich kopierte ihn in mein Notizbuch, indem ich den Pferdesattel als Unterlage nahm. Dann legten wir das Leder in den Blechkasten zurück, den wir in die Satteltasche steckten. Als dies geschehen war, gingen wir wieder nach dem Lagerplatze.

Eben als wir um die letzte Buschecke biegen wollten, kam uns die Squaw entgegen. Sie war drin aufgestanden und fortgegangen, ohne daß Thibaut sie hatte halten können, weil er gefesselt war; seine Zurufe hatte sie nicht beachtet. Wie sie so an uns vorüberschritt, hocherhobenen Kopfes, doch gesenkten Auges, ohne uns zu beachten, langsam und gemessen Fuß um Fuß weitersetzend, hatte sie das Aussehen einer Somnambule. Ich drehte mich wieder um und ging ihr nach. Sie blieb stehen, brach einen schwanken Zweig ab und wand ihn sich um den Kopf. Ich richtete einige Fragen an sie, ohne daß ich eine Antwort bekam; sie schien mich gar nicht zu hören. Ich mußte ein bekanntes Wort bringen und fragte:

„Ist das dein Myrtle-wreath?“

Da schlug sie die Augen zu mir auf und antwortete tonlos:

„Das ist mein Myrtle-wreath.“

„Wer hat dir dieses Myrtle-wreath geschenkt?“

„Mein Wawa Derrick.“

„Hatte Tehua Bender auch ein Myrtle-wreath?“

„Auch eins!“ nickte sie lächelnd.

„An demselben Tage, als du eins hattest?“

„Nein.“

„Später?“

„Nein.“

„Also eher?“

„Viel, viel eher!“

„Sahst du sie mit ihrem Myrtle-wreath?“

„Ja. Sehr schön war Tehua, sehr schön!“

Meinen Gedankengang verfolgend, fragte ich, so seltsam dies hier vom Papiere klingen mag, weiter:

„Hast du einen Frack gesehen?“

„Frack – ja!“ antwortete sie nach einigem Sinnen.

„Einen Hochzeitsfrack?“

Da schlug sie die Hände zusammen, lachte glücklich und rief:

„Hochzeitsfrack! Schön! Mit einer Blume!“

„Wer trug ihn? Wer hatte ihn angezogen?“

„Tibo taka.“

„Da standest du an seiner Seite?“

„Bei Tibo taka,“ nickte sie. „Meine Hand in seiner Hand.

Dann –“

Sie zuckte wie unter einem plötzlichen Schauder zusammen und sprach nicht weiter. Meine nächsten Fragen blieben ohne Antwort, bis mir einfiel, daß Schahko Matto erzählt hatte, Tibo taka habe, als er zu den Osagen kam, einen verbundenen Arm gehabt. Ich folgte dieser Association der Ideen und erkundigte mich:

„Der Frack wurde rot?“

„Rot,“ nickte sie, wieder schaudernd.

„Vom Wein?“

„Nicht Wein, Blut!“

„Dein Blut?“

„Blut von Tibo taka.“

„Wurde er gestochen?“

„Kein Messer!“

„Also geschossen?“

„Mit Kugel.“

„Von wem?“

„Wawa Derrick. Oh, oh, oh! Blut, viel Blut, sehr viel Blut!“

Sie geriet in eine große Aufregung und rannte fort von mir. Ich ging ihr nach; sie wich mir aber, schreiend vor Angst, aus, und ich war gezwungen, es aufzugeben, weitere Antworten von ihr zu bekommen.

Ich war jetzt überzeugt, daß an ihrem Hochzeitstage ein Ereignis eingetreten sei, welches sie um ihren Verstand gebracht hatte. Ihr Bräutigam war Thibaut, ein Verbrecher. War er an diesem Tage entlarvt und von ihrem eigenen Bruder geschossen worden? Hatte Thibaut deshalb diesen Bruder später ermordet? Ich fühlte natürlich tiefes, tiefes Mitleid mit der Unglücklichen, deren Wahnsinn jedenfalls unheilbar war, zumal jener Tag um vielleicht dreißig Jahre zurückzuliegen schien. Der Frack ließ darauf schließen, daß die Hochzeit, obgleich sie selbst zur roten Rasse gehörte, in sehr anständiger Gesellschaft entweder gefeiert worden war oder gefeiert hatte werden sollen. Sie war ja Christin gewesen, die Schwester eines berühmten roten Predigers; das gab wohl eine hinreichende Erklärung.

Auch ihre Schwester Tehua schien gut verheiratet gewesen zu sein. Vielleicht hatte die Wahnsinnige ihren Bräutigam bei dieser Schwester kennen gelernt. Schade, daß ich heut weiter nichts erfahren konnte!

Ich ließ sie bei ihrem Pferde stehen, mit welchem sie wie ein Kind zu spielen begann, und ging nach dem Lager, wo Winnetou schon vor mir eingetroffen war. Als ich kam, waren alle Augen auf mich gerichtet; ich ersah daraus, daß man auf mich gewartet hatte.

„Endlich, endlich!“ rief Cox mir zu. „Wo steckt Ihr nur? Es soll ja über unsere Freilassung gesprochen werden! Und da lauft Ihr fort!“

Da machte Treskow ihm sofort den Standpunkt klar:

„Ehe davon die Rede sein kann, wollen wir erst von eurer Bestrafung sprechen!“

„Bestrafung? Oho? Was haben wir Euch gethan?“

„Überfallen, gefangen genommen, ausgeraubt, gefesselt und hierhergeschleppt! Ist das etwa nichts? Darauf steht Zuchthaus.“

„Das sagt Ihr als Jurist?“

„Ja.“

„Wollt Ihr uns nach Sing-Sing schleppen? Versucht das doch einmal!“

„Hier werden keine Versuche gemacht, sondern Urteile gesprochen und auch gleich ausgeführt. Die Jury wird sogleich beisammen sein!“

„Die erkennen wir nicht an!“

„Darüber lachen wir! Kommt, Mr. Shatterhand! Wir dürfen die Sache nicht aufschieben, und ich hoffe, daß Ihr uns dieses Mal nicht wieder mit einem humanen Streiche in die Quere kommt. Die Kerls sind es nicht wert!“

Da hatte er freilich recht. Strafe mußte hier sein; aber was für eine? Gefängnis? Gab es nicht. Geldstrafe? Diese Menschen hatten ja nichts. Ihnen die Pferde und Waffen nehmen? Da waren sie verloren, und wir standen in ihren Augen als Diebe da. Prügel? Hm, ja, eine sehr heilsame Arznei! Wie denke ich überhaupt über die Prügelstrafe? Sie ist für jeden Menschen, der noch einen moralischen Halt besitzt, fürchterlich; sie kann sogar diesen letzten Fall vollends zerstören. Aber der Vater straft sein Kind, der Lehrer seinen Schüler mit der Rute, um ihm grad diesen moralischen Halt beizubringen! Ist ein solches Kind etwa schlimmer, gefährlicher, ehrloser als der Verbrecher, welcher nicht geschlagen werden darf, obgleich er zwanzigmal rückfällig im Gefängnisse sitzt und sofort wieder „mausen“ wird, sobald er entlassen ist? Wenn ein Rabenvater, wie es vorgekommen ist, sein vor Hunger abgeschwächtes Kind wochenlang an das Tischbein bindet und ohne allen Grund täglich wiederholt mit Stökken, Ofengabeln, Stiefelknechten und leeren Bierflaschen prügelt und dafür einige Monate Gefängnis bekommt, ist diese Strafe seiner Roheit oder vielmehr seiner Bestialität kongruent? Denn eine Bestie ist so ein Kerl! Er bekommt im Gefängnisse umsonst Wohnung, reichliche Nahrung, warme Kleidung, Ruhe, Ordnung, Reinlichkeit, Bücher zum Lesen und noch anderes mehr. Er sitzt die paar Monate ab und lacht hernach darüber! Nein, so eine Bestie müßte als Bestie behandelt werden! Prügel, Prügel, aber auch tüchtige Prügel und womöglich täglich Prügel, das würde für ihn das einzig Richtige sein! Hier macht die Humanität das Übel nur ärger. Oder wenn ein entmenschtes, schnapssüchtiges Weib ihre Kinder mit Absicht und teuflischer Ausdauer zu Krüppeln macht, um mit ihnen zu betteln oder sie gegen Geld an Bettler zu verborgen, was ist da wohl richtiger, eine zeitweilige Einsperrung nach allen Regeln und allen Errungenschaften des humanitären Strafvollzuges oder eine Gefängnispönitenz mit kräftigen Hieben rundum garniert? Wer als Mensch sündigt, mag human bestraft werden; für die Unmenschen aber müßte neben dem Kerker auch der Stock vorhanden sein! Das ist die Meinung eines Mannes, der jeden nützlichen Käfer von der Straße aufhebt und dahin setzt, wo er nicht zertreten wird, eines Weltläufers, der überall, wohin er seinen Fuß setzte, bedacht war für den Nachruf. „er war ein guter Mensch“, und endlich eines Schriftstellers, der seine Werke nur in der Absicht schreibt, ein Prediger der ewigen Liebe zu sein und das Ebenbild Gottes im Menschen nachzuweisen!

Also Prügel für die Tramps! Ich gestehe, daß es mir widerstrebte, zumal ich Partei war; aber es gab nichts anderes, und sie hatten sie verdient.

Winnetou mochte meine Gedanken und Bedenken erraten, denn er fragte mich, indem ein sehr energisches, fast hartes Lächeln um seine Lippen spielte:

„Will mein Bruder ihnen etwa verzeihen?“

„Nein,“ antwortete ich. „Wir würden sie dadurch nur in ihrer Schlechtigkeit bestärken. Aber welche Strafe sollen sie bekommen?“

„Den Stock! Howgh!“

Wenn er Howgh sagte, war es abgemacht; da gab es keine Widerrede von Erfolg. Treskow fiel augenblicklich zustimmend ein:

„Ja, den Stock! Der ist es, den sie brauchen; alles andere würde unnütz oder gar schädlich sein. Nicht wahr, Mr. Hammerdull?“

„Ja, hauen wir sie!“ antwortete der Dicke. „Und Hosea und Joel, die Brüder mit den frommen Namen, die müssen zuerst darankommen. Sie sollen Hiebe anstatt des Geldes erhalten, über welches sie gelacht haben. Oder nimmst du dich deiner Vettern an, Pitt Holbers, altes Coon?“

„Fällt mir nicht ein!“ antwortete der Lange.

„Ja, wir werden ihnen die Verwandtschaft mit dir in das Register schreiben, in dem es keine Blätter umzuwenden giebt, und zwar so dick und blau, daß sie es nicht etwa wegradieren können! Howgh!“

Wir mußten über seine Begeisterung ebenso wie über seine Ausdrucksweise lachen. Die andern waren auch einverstanden, und nur der Osage sagte:

„Schahko Matto bittet, schweigen zu dürfen.“

„Warum?“ fragte ich.

„Weil er auch euer Feind gewesen ist und euch nach dem Leben getrachtet hat.“

„Aber jetzt bist du unser Freund und von den Tramps auch überfallen und beraubt worden. Deine Absicht, die du überhaupt nicht ausgeführt hast, faßtest du als Häuptling deines Stammes, als Krieger; sie aber sind ehrlose und verworfene, von der Gesellschaft ausgestoßene Subjekte, die nur noch ein einziges Gefühl besitzen, das für die Prügel nämlich.“

„Wenn Old Shatterhand in dieser Weise spricht, soll er auch meine Meinung hören: Man bereite ihnen dieses Gefühl vom Ersten bis zum Letzten!“

„Schön! Alle einverstanden!“ rief Hammerdull. „Komm, lieber Pitt, wir wollen Flöten schneiden, damit die Musik beginnen kann!“

Die beiden standen auf und entfernten sich, um passende Schößlinge auszusuchen. Wir hatten nicht so laut gesprochen, daß die Tramps uns verstehen konnten; als sie jetzt merkten, daß unsere Beratung zu Ende sei, erkundigte sich Cox in keineswegs seiner Lage angemessener Weise:

„Nun, wie steht’s? Wann bindet ihr uns los?“

„Wenn es uns beliebt,“ anwortete Treskow. „Einstweilen aber beliebt es uns noch nicht.“

„Wie lange sollen wir da noch liegen bleiben? Wir wollen fort!“

„Was ihr wollt, geht uns nichts an. Heut geht es wohl nach unserm Willen!“

„Wir sind freie Westmänner; merkt euch das! Wenn ihr das etwa nicht berücksichtigen wolltet, bekommt ihr es noch einmal mit uns zu thun!“

„Schurke! Willst du dich heut noch lächerlicher als gestern machen, wo du dich aufspieltest, als ob wir Hunde seien, die du an der Leine nur so nach Belieben herumschleppen dürfest! Hat es dir in deinem Schädel denn nicht gedämmert, daß wir schon eine Stunde nach eurem Überfalle die Zeit und den Ort unserer Befreiung kannten? Hast du denn wirklich die lachende Ironie nicht herausgehört, mit welcher Old Shatterhand deine Frechheiten von oben herab beantwortete? Der stinkigste Hund, wie du Kolma Puschi nanntest, begegnete uns nur aus kluger Berechnung. Er wollte sich überzeugen, daß wir euch wirklich nach der Falle führten, in welcher wir euch Gimpel fangen wollten. Daß du das alles nicht bemerkt oder erraten hast, läßt dich als Ausbund der erbarmungswürdigsten Stupidität erscheinen. Und nun fällt es dir gar noch ein, uns zu drohen! Ihr armseligen Kreaturen! Die Pfeifen werden schon geschnitten, nach denen ihr bald tanzen oder singen sollt! Und da ihr jedenfalls in eurer Dummheit auch nicht wißt, was ich mit diesen Worten meine, so will ich es euch deutlicher und ohne Gleichnis sagen: Es werden Stöcke abgeschnitten, denn ihr sollt Prügel bekommen, köstliche Prügel, so lange Prügel, bis ihr aus eurer Blödsinnigkeit herausgehauen seid. So; nun wißt ihr, was geschehen soll!“

Diese lange Rede des zornbegeisterten Juristen brachte eine Wirkung hervor, welche jeder Beschreibung spottet; ich halte es überhaupt für gemütlicher, über die nächste, für die Tramps äußerst ungemütliche Stunde so schnell wie möglich hinwegzugehen. Dick Hammerdull nahm sich der Sache mit solcher Anstrengung und Hingebung an, daß er am Ende der geräuschvollen Motion wie ein angelaufenes Fenster im Schweiße stand, und auch Pitt Holbers entwickelte in der Handhabung der schmerzerweckenden „Pfeifen“ eine Virtuosität, die er sich bisher wohl selbst nicht zugetraut hatte.

Der äußere Zustand der Tramps war infolge dieser großartigen Thätigkeit der beiden „verkehrten Toasts“ ein etwas ramponierter, ihr innerer aber nur mit dem landläufigen Ausdrucke „Rache kochend“ zu bezeichnen. Wir kehrten uns nicht daran. Old Wabble war von den Stöcken verschont geblieben, was er freilich nur mir allein zu verdanken hatte. Ich wollte den alten, schon so verletzten Mann nicht auch noch schlagen lassen. Er wußte es mir aber keinen Dank, sondern räsonnierte mit den Tramps um die Wette. Thibaut hatte den scheinbar unbeteiligten Zuschauer gemacht, doch hätte ihm eine Portion Prügel auch nichts schaden können. Ich hob mir diesen Mann für später auf. Er mußte mir ganz sicher kommen.

Als wir nun an den Aufbruch dachten, bat mich Apanatschka, die Squaw doch heute mitzunehmen, da wir nicht mehr gefangen seien und nur von Tibo taka eine Einrede zu erwarten hätten. Es gelang mir nur schwer, ihn von diesem Wunsche abzubringen; die Frau konnte uns nur hinderlich sein, und da wir die Reiseroute ihres Mannes besaßen, hatten wir die Gewißheit, ihr bald wieder zu begegnen.

Wir befanden uns vollständig wieder im Besitze unsers Eigentums. Keinem fehlte der geringste Gegenstand. Der Gerechtigkeit war, soweit die Umstände es gestatteten, Genüge geschehen, und so schieden wir befriedigt von dem Spring, der uns in ganz anderer Weise hatte kommen sehen. Weniger befriedigt waren die, welche wir da zurückließen. Wir ließen sie in ihren Fesseln liegen; sie mochten sich ihrer nach unserer Entfernung entledigen, wie sie konnten. Herzlich waren die Wünsche keineswegs, welche sie uns hören ließen. Old Wabble drohte mir trotz seines gebrochenen Armes noch zu allerletzt mit Rache und dem Tode. Wenn es mir nicht schon vorher bewußt gewesen wäre, hätte ich jetzt einsehen müssen, daß jede menschliche Regung für ihn Verschwendung sei. Er war so hart gesotten, daß er unmöglich, wenn auch nur für einen einzigen Augenblick, wieder weich werden konnte. Ich hätte nie geglaubt, daß es einen solchen Menschen geben könne!

Ehe wir aufstiegen, versuchte Apanatschka, von der Frau, welche draußen bei den Pferden stand, ein Wort des Abschiedes zu erlangen, doch vergeblich. Sie kannte ihn nicht und wich vor ihm zurück, als ob er ein ihr feindliches Wesen sei. Erst dann, als wir uns in Bewegung setzten, schien sie aufmerksam zu werden. Sie kam uns eine ganze Strecke nachgelaufen, nahm den grünen Zweig vom Kopfe und rief, ihn fortwährend schwenkend:

„Das ist mein Myrtle-wreath; das ist mein Myrtle-wreath!“ – – –

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