Zweites Kapitel.

Wenn ein Maler alles das, was ich gestern mit dem Ustad gesprochen hatte, auf die Leinwand bringen könnte, so würde er es wohl am besten mit »Morgengrauen im Menscheninnern« zu unterzeichnen haben. Die vorangehende, lebensgefährliche Erkrankung, die Genesungsfreudigkeit, die fromme Feier am Tempeltage, das Erscheinen der Bluträcherschar, der vereitelte Mord in der Halle, das alles hatte trotz meiner innern Ruhe und Stetigkeit doch Nebel in mir aufgerührt, welche das fast überlang geführte Gespräch nur schwer zu Ende kommen ließen. Und noch viel schwerer war es in dem Ustad aufgewallt. Seine Lebensanschauung hatte im Haine Mamre gewurzelt, wohin die Engel einst zu Abraham kamen, und ihren höchsten Punkt in dem Worte Christi gefunden: »Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen!« Dieses Gebet war seine Richtschnur gewesen allezeit, in jeder Lebenslage. Da hatten sich die Andern, die sich ebenso Christen nennen, mit ihrem Haß auf ihn gestürzt, um ihn und seine Nächstenliebe zu vernichten. Er hatte nur einige kurze Versuche gemacht, sich gegen sie zu wehren; aber als er erkannte, mit welchen Waffen man gegen ihn kämpfte, da zog er sich in das stille, ruhige Land des Schweigens zurück, der christlichen Mahnung gedenkend: »So dir jemand deinen Rock nehmen will, dem laß auch den Mantel!« Aber in seinem Innern wallte es auf in wichtig schweren Fragen: Wer hat recht? Auf wessen Seite steht die göttliche Wahrheit, der göttliche Wille? Bei Christo, welcher sprach: »Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf ihn?« Oder bei diesen hochangesehenen christlichen Priestern und Laien, die mit den Gottesleugnern im engsten Operationsbunde den begeisterten Bekenner der Lehre von der Nächstenliebe aus der »Gemeinschaft der Gläubigen« hinauszuwerfen trachteten? Es kann ja doch gewiß nur eines von beiden wahr und richtig sein! Entweder hat der Heiland sich geirrt, indem er etwas forderte, was ganz unmöglich war, oder diese Herren treten mit Widerwillen vor dem allerchristlichsten seiner Gebote zurück, weil ihnen die Selbstüberwindung fehlt, es zu erfüllen!

Wenn solche Fragen im Ustad nach klarer Antwort und nach Lösung trieben, so mußte alles, was in ihm festgestaltet gewesen war, ins Wanken kommen, tief erschüttert werden. Daher sein Bestreben, mich zu sich heran in das Gespräch zu ziehen und so lange festzuhalten, bis er deutlich sehe, wo eigentlich das wahre Christentum zu finden sei, bei ihm oder bei diesem Anderen. Wo es zu suchen sei, das wußte ich genau, durfte es ihm aber nicht in deutlichen Worten sagen, weil die Klarheit in seinem eigenen Innern aufzutauchen hatte. Daher mein dilatorisches Verhalten, die Dehnung unsres Stoffes und dann aber auch unsere gemeinschaftliche Freude, als die Antwort endlich, endlich aus dem Alabasterzelte herabgestiegen kam.

Nun war es hell und licht geworden, sogar während meines Schlafes. Ich weiß, ich träumte nicht, und dennoch war es mir, als ob ich träume. Wer war ich wohl, und wo befand ich mich? Ich atmete nicht, und doch war alles Odem! Ich bewegte mich nicht, und doch wallten tausend und abertausend Wogen unendlichen Glückes in mir. Meine Augen waren geschlossen, und dennoch sah ich Herrlichkeiten rings um mich her, die unbegreiflich sind. Und plötzlich hatte ich Flügel. Ich flog. Wohin? Durch Ewigkeiten! Bis ich müde wurde und nach einem Punkte suchte, an dem ich ruhen könne. Und ich fand ihn, fand ihn wieder, diesen meinen irdischen Ruhepunkt im Reiche der Ewigkeiten. Und wo lag er? Im Schlafe, im tiefen, tiefen Schlafe. Ich neigte mich trotzdem zu ihm nieder und – schlug die Augen auf.

Da stand die Sonne schon in des Vormittags Mitte, und um mich her war alles licht und warm. Das Geräusch des Tages drang zu mir herauf. Ich fühlte mich gekräftigt und so frisch, wie schon seit langer Zeit nicht mehr. Ich stand also auf und ging auf das freie Dach hinaus. Im Hofe unten wurden die Kamele des Ustad gesattelt. Ihn selbst sah ich nicht. Links drüben grasten unsere Pferde auf der bergigen Weide, welche an den Komplex der Ruinen grenzte. Der See glänzte azurblau zu mir herauf. Die Bewohner des Duar waren in lebhafter Bewegung, natürlich der Reise ihres Ustad wegen. Von meinem Vorplatze führten Stufen hinüber nach dem Glockenwege, welcher, von oben herabkommend, sich bis zur Gartenhöhe niedersenkte, wo die Quelle sprudelte, neben welcher sich der Herr des hohen Hauses eine rundum eingefaßte Badestelle abgeschlossen hatte. Ein solches Bad erschien mir sehr von Nutzen. Darum stieg ich da außen langsam am Berg hinab und fand die Tür zum Wasser geöffnet. Wie das erfrischte, dem Körper doppelte Kraft zu geben schien!

Als ich fertig war, spazierte ich auf dem weichen Grase zu unsern Pferden hin. Welche Freude, als sie mich erkannten! Als ich mich dann wieder entfernte, wollten sie partout mitgehen, und ich hatte sie sehr eindringlich zu bedeuten, daß ich dies für jetzt nicht wünsche. Nun durch den Garten nach dem Hofe gehend, kam ich an der Küche vorüber. Diese stand offen. Die »Festjungfrau« sah mich, kam heraus, schlug vor Verwunderung die Hände zusammen, daß es nur so klatschte, und rief:

»Maschallah, du schläfst nicht mehr, Effendi! Das ganze Haus durfte sich nicht laut bewegen, um dich ja nicht zu wecken. Wie hat unser Ustad dich doch gar so lieb!«

»Wo befindet er sich jetzt?« erkundigte ich mich.

»In seiner Stube.«

»Und Agha Sibil?«

»Der sitzt mit seinem Sohne in der Halle. Ich habe die halbe Nacht hindurch gebacken und gebraten, um Proviant für die Reise nach Isphahan zu machen. Für dich aber habe ich trotzdem immer Zeit. Weißt du, Effendi, um was ich den Ustad gebeten habe, was er mir aus der Hauptstadt mitbringen soll?«

»Nun?«

»Eine Kasawaika

Bei diesem Worte strahlte ihr Gesicht in einer auffälligen, mir krankhaft scheinenden Wonne.

»Eine Kasawaika?« fragte ich, »woher kennst du das? So etwas wird doch hier gar nicht getragen!«

»Ich habe es gesehen, als ich noch beim Schah-in-Schah mit kochte. Die russischen Madama hatten es. Ich muß so eine haben! Rot und blau, grün und gelb. Das sieht so schön im Fackellicht.«

»Fackellicht? Hm! Ich denke, du gehst stets weiß?«

Da kam sie die Stufen vollends herab, trat nahe zu mir heran, legte das fette Händchen auf meinen Arm und sagte in ehrfurchtsvoller Duzbrüderlichkeit:

»Ja, immer weiß! Zuweilen aber auch bunt, ganz bunt! Das steht mir besser, viel besser! Der Aschyk sagt das auch!«

»Du hast einen Geliebten, Pekala?«

Da errötete sie bis zur Farbe der persischen Mohnblume, nahm einen geheimnisvollen Ton an und raunte mir zu:

»Ich vertraue es nur dir, Effendi, allein nur dir! Es ist ein tiefes Geheimnis. Ich habe es schon vielen sagen wollen! aber ich fürchte, daß sie es verraten. Du aber hast ein solches Herz voll Freundlichkeit und Güte, daß du es gewiß nicht weiterplaudern wirst. Ein edles Frauenherz muß unbedingt ein edles Männerherz haben, von dem es ganz und gar verstanden wird. Und Tifl ist zwar ein liebes, folgsames Kind, jedoch ein edles Frauenherz, das kann er nicht begreifen!«

Sie schaute so ganz zerflossen und »edel« zu mir auf, daß sie mir gewiß sehr spaßig vorgekommen wäre, wenn ich nicht das zwar noch unbestimmte aber doch sehr deutliche Gefühl gehabt hätte, hier vor einer vielleicht sehr wichtigen Entdeckung zu stehen. Psychologisch zweifelhafte Personen sind stets mit Vorsicht zu behandeln.

Darum antwortete ich nicht anders als in meiner gewöhnlichen, freundlichen ernsten Weise:

»So sage mir, Pekala, was ein edles Männerherz von dir zu begreifen hat!«

»Dreierlei. Erstens daß man Vertrauen haben will. Zweitens daß man verschwiegen sein will. Drittens daß man nicht ewig Köchin bleiben will! Leuchtet dir das ein, Effendi?«

»Sehr!«

»Das wußte ich. Du bist vernünftiger als tausend andere Männer, die kein edles Frauenherz verstehen. Darum habe ich gewußt, daß ich dir alles, alles mitteilen kann, was ich den meisten Menschen verschweige.«

»Also den meisten! Das ist sehr vorsichtig von dir! Nun sage mir vor allen Dingen, von wem hast du denn eigentlich das von dem „edlen Frauenherzen“ erfahren?«

»Von meinem Aschyk. Ich habe gar nicht gewußt, daß ich auch so etwas Edles besitze; er aber hat es sofort erkannt und mir gesagt.«

»Und woher hat er von solchen Herzen erfahren?«

»Von einer Engländerin, die er mit ihrem Engländer in Buschehr getroffen hat. Die hat alle Tage einen neuen Papierfächer verlangt und dabei gesagt, sie habe ein edles Frauenherz und dürfe sich also ihre Gesichtsfarbe nicht verderben. Darum bringt mir mein Aschyk stets auch zwei oder drei Papierfächer mit, so oft er kommt.«

»Wo kauft er diese? Ist er ein Dschamiki?«

»Was du denkst, Effendi. Es ist noch keinem Dschamiki eingefallen, mein Herz edel zu nennen! O nein; mein Aschyk ist kein hiesiger und auch kein gewöhnlicher Mann, sondern ein vornehmer Schahsadeh aus Isphahan.«

»Du Glückliche! Kennst du ihn schon lange?«

»Schon seit einigen Jahren.«

»Besucht er dich oft?«

»Fast immer, wenn vier Wochen vorüber sind.«

»Hat er da einen bestimmten Tag?«

»Ja, denn so ein hoher Schahsadeh ist immer pünktlich. Er kommt stets, wenn es Pazar günü ist. Dann ziehe ich abends meine weißen Sachen aus und lege die schönen bunten an, die er mir immer schenkt. Hierauf gehe ich zu ihm hinüber in die Ruinen, wo ich mit ihm beim Mondenscheine hin und her spaziere, wie eine Tochter des Beherrschers. Ist es aber dunkel, so steigen wir in das Innere und brennen eine Fackel an.«

»Warum da droben und nicht hier?«

»Weil er nur heimlich kommen darf. Edlen Herzen wird es nämlich ungeheuer schwer gemacht, sich öffentlich zu verbinden. Wir können erst dann miteinander in Isphahan einziehen, wenn der jetzige Schah gestorben ist. Ich habe darum geschworen, das tiefste Geheimnis zu bewahren. Aber weil es bei dir ebenso verschwiegen aufgehoben ist wie bei mir, so halte ich meinen Schwur ja doppelt, indem ich es dir erzähle.«

»Aber welchen Grund hast du wohl, es grad mir mitzuteilen?«

»Einen sehr großen, wichtigen Grund. Du bist doch, wenn unser Ustad abgereist ist, der Herr des hohen Hauses?«

»Ja.«

»Ich wußte es. Der Ustad hat uns gesagt, daß wir dir in allen Dingen sofort und willig zu gehorchen haben. Und weil du über alles zu befehlen hast, muß ich dich um etwas bitten, womit ich das Leben meines Aschyk retten kann. Ich bin also gezwungen gewesen, dir mein Geheimnis zu verraten. Wäre das nicht, so hätte ich mich nicht an dich getraut, obgleich ich fühle, daß du ebenso edel bist wie ich! Aber dort kommt der Pedehr. Verrate mich nicht, Effendi! Kein Mensch darf es wissen, kein einziger! Nur du und ich allein! Ich sage dir vielleicht schon heut noch mehr. Jetzt aber muß ich in die Küche!«

Sie machte mir einen so tiefen Knix, wie bei ihrer Taille möglich war, und verschwand dann in ihrem Reiche. Der Pedehr hatte allerdings im Begriff gestanden, nach der Küche zu kommen, sich aber schon wieder umgedreht, um nicht zu stören. Das war mir lieb. Es war nur diese Pekala, diese Köchin gewesen, mit der ich gesprochen hatte, aber ich muß gestehen, daß ich mich trotzdem nicht in der Stimmung befand, sofort mit einer andern Person über andere Dinge zu reden.

Was für Gedanken hatten mich bisher bewegt! Bis fast zu diesem Augenblick! Und nun hier plötzlich diese geistige Nichtigkeit, zehnfach, hundertfach nichtig grad durch ihre strahlend freundliche Gestalt! Diese Null war hohl; hierüber gab es keinen Zweifel. Aber hinter ihr stand eine ganze Finsternis bereit, sie mit dem Verderben für uns vollständig anzufüllen! Und es war so viel, so ganz unerwartet viel, was ich erfahren hatte! Ich zog mich unter die Bäume des Gartens zurück, um nachzudenken.

Zunächst hielt ich es für begründet, dem Ustad diese Neuigkeit einstweilen zu verschweigen. Ich durfte ihm seine Reise nicht durch Sorgen erschweren, die ihm sehr leicht den klaren Blick beeinträchtigen konnten. Sodann war diese Pekala für mich jetzt in ein ganz neues, in ein drittes Stadium getreten. Von der Krankheit geschwächt, hatte ich sie für ein herzliebes, wenn auch recht unbedeutendes Wesen gehalten. Dann war ein gewisses Mißtrauen gegen sie erwacht, von welchem ich auch dem Ustad gegenüber kein Geheimnis gemacht hatte. Jetzt aber wurde es ernst, sehr ernst! Ein Mensch, welcher Charakter und Inhalt besitzt, kann berechnet werden, eine Pekala aber nicht. Sie ist trotz aller ihrer Liebenswürdigkeit gefährlicher als mancher Bösewicht. Solche Menschen gleichen freundlichen Schmetterlingen, die um ihrer Raupen willen unschädlich gemacht werden müssen. Es tut einem leid, doch hat man sich zu wehren.

Wer war dieser Aschyk, dessen Spionin sie in so unglaublich lächerlicher Weise geworden war? Jedenfalls ein Sill, ein Untergebener von Ahriman Mirza. Er kam monatlich einmal zu ihr, und stets Sonntags. Am Montag aber war der »Tag des Soldes«, also der Versammlungstag. Jedenfalls fragte er sie da nach allem aus, was hier bei den Dschamikun inzwischen geschehen war, und berichtete es dann weiter. So waren die Sillan stets vorzüglich unterrichtet. Das ganze Lebenswerk des Ustad hing also von der Schwatzhaftigkeit einer Person ab, die weiter nichts, als eine Törin, eine Närrin war! Wer weiß, wieviel sie bisher schon geschadet hatte! Stand sie allein mit ihrem Verrate, oder besaß sie noch andere Vertraute? Ich war sehr geneigt, anzunehmen, daß wenigstens Tifl, ihr »Kind«, auch mit beeinflußt worden sei. Konnte man es überhaupt für möglich halten, daß die geheimen Zusammenkünfte der »Schatten« hier in den Ruinen so ganz ohne Verrat und Unterstützung von seiten der Dschamikun abgehalten wurden? Mir erschien dies beinahe undenkbar. Mochte das aber sein, wie es wollte, ich hatte mir schon gestern vorgenommen gehabt, nach den hiesigen Geheimnissen der Sillan zu forschen, und nach dem jetzigen Gespräch mit der Köchin verstand es sich ganz von selbst, daß bei ihr der Anfang zu machen sei, und zwar so bald wie möglich.

Nun ging ich nach dem Hofe. Dort stand Agha Sibil mit seinem Enkel jetzt bei den fertiggeschirrten Kamelen. Ich erkannte den Ersteren sogleich an dem fast beispiellos starken Schnurrbarte, der so riesig war, wie ich noch keinen gesehen hatte. Man mochte auch mich ihm schon beschrieben haben, denn sobald er mich sah, kam er auf mich zu, nannte seinen und meinen Namen, stellte mir seinen Enkel vor und bat mich, bei ihnen im Baumesschatten Platz zu nehmen, damit sie von mir ausführlicher erfahren könnten, was ihnen von Andern nur andeutungsweise mitgeteilt worden sei. Es verstand sich ganz von selbst, daß ich diese Bitte mehr als gern erfüllte.

Noch während ich erzählte, kam der Ustad mit dem Pedehr aus der Halle. Sie gesellten sich zu uns. Der Erstere hatte gar nicht geschlafen und mich soeben wecken wollen, aber von dem Letzteren erfahren, daß ich schon aufgestanden sei. Der Pedehr verhielt sich so zu mir, als ob gar nichts vorgefallen sei, was man ihm vorzuwerfen habe, und darum zeigte auch ich mich unbefangen. Der Ustad aber schien sehr ernst mit ihm gesprochen zu haben und vermied es sogar jetzt noch, seinem Blicke zu begegnen. Der Kaufmann war ein hochehrwürdiger, braver Herr, der unendlich glücklich und dankbar war für das, was ich ihm erzählte. Er hätte mir noch gern stundenlang zugehört, mußte sich aber bescheiden, weil nun aufgebrochen werden mußte, weil es in der Absicht des Ustad lag, die verwandten Kalhuran noch heut zu erreichen, um ihnen Nachricht über das zufriedenstellende Befinden ihres Scheikes zu bringen. Doch blieb uns Zeit, das Nötigste zu besprechen.

Der Ustad übergab mir seine Wohnung mit dem sämtlichen Verschluß, und ich machte ihn noch einmal besonders auf den Brief aus Basra aufmerksam, den er in Isphahan an den »Henker« zu besorgen hatte. Als ich eine Bemerkung über die Gefahr aussprach, welche ihm seitens der entflohenen Soldaten drohen könne, teilte er mir mit, daß unten im Dorfe eine Schar bewaffneter Dschamikun auf ihn warteten, welche ihn begleiten würden, bis alle Gefahr vorüber sei. Hierauf wurden alle Bewohner des »hohen Hauses« herbeigerufen, damit er sich von ihnen verabschieden könne, grad als Kara Ben Halef von einer Tour heimkehrte, die er unternommen hatte, um sein Pferd wegen des Wettrennens geschmeidig zu erhalten. Er wendete sofort wieder um, weil er es für eine Ehrenpflicht hielt, den Ustad bis an die Grenze seines Gebietes zu begleiten.

Mir war es leider nicht möglich, mich ebenso höflich zu erweisen. Ich mußte bleiben, wo ich war, und konnte nur hinauf auf meine Plattform steigen, um erst mit dem Auge und dann mit dem Herzen dem zu folgen, von dem ich mich trotz aller äußerlichen Entfernung innerlich unzertrennlich fühlte. Ich war nun Herr seines Hauses und nahm mir vor, es im allerbesten Sinne zu sein, der menschenmöglich ist!

Eigentlich hatte ich mich jetzt wieder niederlegen wollen und auch sollen, aber ich fühlte sonderbarerweise nicht die geringste Spur von Müdigkeit. Darum ging ich jetzt wieder hinab, um zunächst nach meinem Halef zu sehen, von dem ich heut noch nichts vernommen hatte. Hanneh war bei ihm. Er hatte soeben die Augen aufgeschlagen und richtete sie auf mich, als ich mich bei ihm niederließ. Ein liebes, liebes Lächeln ging über sein eingefallenes Gesicht.

»Sihdi, gib mir deine Hand!« flüsterte er. »Ich muß sie küssen!«

Ich kannte ihn und wußte, daß ich ihm diese Liebe nicht verweigern durfte. Er führte meine Hand an seine Lippen und hielt sie dort so fest, wie es ihm möglich war. Dabei hielt er die Augen wieder geschlossen.

»Sihdi, wo – wo bist du gewesen?« fragte er leise. »Aus deiner Hand strömt – Leben – Kraft – und Genesung! Warst du vielleicht – im Schlafe dort, wo – wo – wo –«

Er sprach nicht weiter, sondern er schlief ein.

Dann ging ich wieder durch den Garten und nach der Pferdeweide hinter. Es war etwas in mir, was mich drängte, die dort so nahen Ruinen einmal in größerer Deutlichkeit als bisher vor mir liegen zu haben. Ich ahnte, daß in ihnen der Anfang des Endes liege, dessen Fäden jetzt in meine leider noch so schwache Hand gegeben waren. Das Gehen fiel mir heut schon wieder leichter als noch gestern. Meine kräftige Natur begann, sich geltend zu machen. Die Pferde seitwärts lassend, wendete ich mich der Stelle des alten Mauerwerkes zu, wo die letzten Büsche des Weidelandes standen. Dort war einer der cyklopischen Steine zu irgend einem Zwecke aus den Fugen gehoben und auf die hohe Kante gerichtet worden. Er warf nach Nord den Schatten. Da wollte ich mich niedersetzen und das Gemäuer in Augenschein nehmen. Aber es saß schon jemand da – Schakara. Meine Schritte waren im Grase unhörbar gewesen. Sie wurde auf mein Kommen erst aufmerksam, als sie meinen Schatten neben dem des Steines erscheinen sah. Da wendete sie den Kopf, wer es wohl sein möge. Als sie mich erblickte, wollte sie aufstehen, aber ich bat sie, ruhig sitzen zu bleiben, und nahm in ihrer Nähe Platz.

Sie zeigte nicht die geringste Spur von Verlegenheit, während ein europäisches Mädchen, in derselben Beschäftigung überrascht, gewiß aufgesprungen und davongelaufen wäre. Sie hatte nämlich ihre langen, schweren, dunklen Flechten geöffnet und war soeben dabei, dieses fast überreiche Haar durch den Kamm zu glätten.

»Laß dich nicht stören, Schakara!« sagte ich. »Hier bin ich Kurde und nicht Europäer.«

»Europäer – ?« Sie sah mich fragend an. Dann kam es wie Verständnis über sie: »Ist es bei euch eine Schande für die Frauen, ihr Haar vor euren Augen zu berühren?«

»Zwar keine Schande, aber auch keine Ehre. Unsere Frauen zeigen ihr Haar nur in künstlich geordnetem Zustande.«

»Künstlich geordnet?« lächelte sie. »Also ist bei euch diese Ordnung nicht Natur, sondern Kunst? Vielleicht ist das richtig; ich verstehe es nicht.«

Wie einfach und unbefangen das klang! Wie hell und sorglos sie mich dabei anschaute! Und wie unbedenklich sie dann in ihrer Beschäftigung fortfuhr! Ich richtete mein Auge auf die Ruinen, zunächst ohne weiter zu sprechen. Kein Lufthauch war zu spüren. Es herrschte tiefe Stille, und nur – was war denn das? Während Schakara ihr Haar bewegte, war jenes laut knisternde, ganz eigenartige Geräusch zu hören, welches entsteht, wenn elektrische Fünkchen überspringen. Sie bemerkte meine schnelle Kopfbewegung und fragte:

»Wolltest du mir etwas sagen, Effendi?«

»Eigentlich nicht; aber, knistert dein Haar stets so, wenn du es ordnest?«

»Ja. Oft noch viel lauter.«

»Seit wann?«

»So lange ich mich besinnen kann.«

»Kennst du noch andere Personen, bei denen dasselbe Geräusch entsteht?«

»Nur eine einzige, nämlich Marah Durimeh. So oft ich ihr die langen, weißen Zöpfe flocht, erklang ihr Haar in diesen lieben Tönen, und in den Händen war es mir, als sprängen tausend Funken auf mich über. Sie sagt, das müsse sein, wenn sich nichts Fremdes zwischen Leib und Seele stelle. Hast du es noch nicht gekannt, Effendi?«

»Doch!«

»Bei vielen?«

»Nein; nur bei einem, bei mir. Darum konnte ich nicht vergleichen und nach den Ursachen suchen.«

»Die Ursache ist das Leben, ist die Seele. Ist diese ungeschwächt, so hat sie auch die Kraft, zu zeigen, daß sie Ueberschuß an Lebensvermögen besitze.«

»Wie du so sprichst, Schakara!«

»Wie soll ich anders reden? Ich hörte es von Marah Durimeh, die meine Lehrerin gewesen ist, so lange ich lebe. Sie liebt dies Knistern sehr; sie pflegt es sogar; sie wird besorgt, wenn es sich einmal mindert. Sie spricht von ihm, wenn sie aus alter Zeit erzählt, als noch kein Mensch von Krankheit etwas wußte. Hat sie dir nicht gesagt von jenem fremden Dichter, der seine Poesie, die er verloren hatte, an diesem Knistern, als sie dann wiederkam, sofort erkannte? Das war das Roß der Himmelsphantasie, der treue Rappe mit der Funkenmähne, der keinen andern Menschen trug als seinen Herrn, den nach der fernen Heimat suchenden. Sobald sich dieser in den Sattel schwang, gab es für beide nur vereinten Willen. Die Hufe warfen Zeit und Raum zurück; der dunkle Schweif strich die Vergangenheiten. Des Laufes Eile hob den Pfad nach oben. Dem harten Felsen gleich ward Wolke, Dunst und Nebel, und durch den Aether donnerte das Rennen hinauf, hinauf ins klare Sternenland. Dort flog die Mähne durch Kometenbahnen, und jedes Haar klang knisternd nach der Kraft, die von den höchsten aller Sonnen stammt und drum auch nur dem höchsten Können dient. Und thaten sich die Thore wieder auf, die niederwärts zur Erdenstunde führen, so tranken Roß und Reiter von dem Brunnen, der aus der Tiefe jenes Lebens quillt, und kehrten dann im Schein der Sterne wieder. Der Reiter hüllte leicht sich in den Silbermantel, den ihm der Mond um Brust und Schultern warf, und seiner Locken Reichtum wallte ihm vom Haupte. Des Rosses düstre Mähne aber wehte, im Winde flatternd wie zerfetzte Strophen, schwarz auf des Mantels dämmerlichten Grund. Und jene wunderbare Kraft von oben, die aus den höchsten aller Sonnen stammt, sprang in gedankenreichen Funkenschwärmen vom wallenden Behang des Wunderpferdes, hell leuchtend, auf des Dichters Locken über und knisterte versprühend in das All.«

Sie hatte langsam und natürlich, ohne alle künstliche Hebung gesprochen, als ob diese Art der Ausdrucksweise eine ihr keineswegs ungewöhnliche sei. Ich war erstaunt, ja wohl mehr als erstaunt. Weniger über die bilderreiche Ausdrucksweise, weil diese dem Oriente eigen ist, als vielmehr über die Tiefe und den dichterischen Wert der Gedanken, welche sie ausgesprochen hatte. Welch ein Denken, Schauen und Empfinden! Welch eine reiche, seltsame Welt in ihrem Innern! Welche Schätze mochte sie in sich tragen, die doch so anspruchslos hier an der Erde saß! Sie begann jetzt, ihr aufgelöstes Haar wieder in Flechten zusammenzulegen. Sie sah dabei nicht zu mir herüber, fühlte aber dennoch meinen auf ihr ruhenden Blick, denn sie sagte:

»Effendi, du forschest in mir. Frage mich doch lieber, wenn du etwas willst! Ich sage es dir ja gern.«

Da erkundigte ich mich denn auch sogleich:

»Du nanntest Marah Durimeh deine Lehrerin. Was hat sie dich gelehrt, und in welcher Weise that sie es?«

»Als echte Muallima, die nichts falsch oder überflüssig tut. Sie lehrte mich zunächst das Lesen und das Schreiben. Dann brachte sie mir nach und nach alle jene Bücher, die das enthielten, was ich lernen sollte.«

»Gedruckte Bücher?«

»Nein, zunächst noch nicht. Diese bekam ich erst nach Jahren, als sie glaubte, daß mich fremde oder gar falsche Gedanken nicht mehr beirren könnten. Was ich in der ersten Zeit zu lesen und zu lernen hatte, das schrieb sie alles selbst, nur ganz allein für mich. Sie sagte, das müsse so sein, wenn ich werden solle, was ich zu werden habe. Solche Bücher haben die genaue Mostra zu enthalten, nach welcher die geistige Gestalt zu bilden sei, keinen Strich zu wenig und aber auch keinen zu viel. Weil aber niemals zwei verschiedene Personen ganz dieselbe Begabung besitzen, könne die Form für den einen nicht auch die Form für den andern sein. Darum sei außer der Schule des Lebens jede andere zu eng, die Kleinen in der Weise groß werden zu lassen, daß sich jeder in seiner besondern Eigenart entwickele. – Du siehst mich staunend an, Effendi. Habe ich etwas Törichtes gesagt?«

»Ich staune, ja; aber aus einem ganz andern Grunde, als du denkst. Schakara, ich sage dir: Marah Durimeh ist eine Meisterin! Hat sie noch andere Schülerinnen außer dir?«

»Wer kann das sagen! Sie ist zwar meist verborgen, doch überall geliebt, wo sie erscheint, und jeder lernt von ihr, zu dem sie kommt. Mich aber hat sie einst zu sich geholt; ich war und blieb bei ihr und teilte alles, was sie trug und tat. Sie gab sich wohl mit keiner so viel Mühe wie mit mir, und was ich bin, das habe ich nur ihr allein zu danken.«

»So weiß sie, daß du jetzt hier bei dem Ustad bist?«

»Ja. Ich bin sogar in ihrem Auftrag hergekommen, von dem er allerdings bis jetzt noch nichts erfahren hat. Ich mußte erst studieren.«

»Was oder wen? Darf ich es wissen?«

Da schlug sie ihre klaren Augen groß und voll zu mir auf und antwortete:

»Mir ist, als ob ich vor dir kein Geheimnis haben dürfe, als müsse ich dir alles sagen, was in mir ruht, und auch was mich bewegt. Drum will ich nicht verschweigen, daß ich den Ustad prüfe; weshalb, wozu, das weiß nur Marah Durimeh. Auch ist die Gegend, wo er wohnt, für mich von Wichtigkeit. Es liegt hier in der Nähe viel begraben, was auferstehen will. Er selbst spricht ja von seiner eignen Gruft, doch ist das wohl nicht richtig. Schau diese Mauern an, die hoch und stark sich hier vor uns erheben, als ob sie Heimlichkeiten zu verbergen hätten, die keines Menschen Auge sehen dürfe! Wer baute dies? Warum in dieser Weise? Aus welchem Grund gab man den Bau nicht völlig erdenfrei? So türmt man doch nur Festungen empor, von welchen aus man blutig herrschen will! Wozu Tyrannensitze für den Vater, der liebend zu den Kindern niedersteigt, wenn im Gebete sie ihn zu sich rufen? Indem ich dieses frage, muß ich an jene alte Sage denken, die von „Chodeh, dem Eingemauerten“ berichtet. Kennst du sie schon, Effendi?«

»Nein.«

»So laß sie dir erzählen!«

Sie schaute zu den Ruinen hinüber, nickte wie unter einem heimlichen Gedanken vor sich hin und begann sodann:

»Das war zu jener Zeit, als der Teufel auf den Gedanken kam, Baumeister zu werden. Er zeichnete viele tausend Pläne, aber keiner war ihm fromm genug. Da sah er ein, daß man jedes Fach, also auch dieses, erst nach und nach zu erlernen habe, und beschloß darum, zu den Menschen in die Schule zu gehen. Da er von unten zu beginnen hatte, so begab er sich zunächst zu einem Volke, welches nur auf Felsen baute. Als seine Zeit bei diesem vorüber war, suchte er ein anderes auf, welches ungeheure Steine aus dem Felsen brach, um sie zu Mauern aufeinander zu türmen. Bei einem dritten Volke lernte er Ziegel streichen und mit Asphalt zu Gebäuden vereinigen, die von scheinbar ewiger Dauer waren. Bei einem vierten richtete er sich auf riesenhafte Pfeiler und Säulen ein, welche selbst unter den schwersten Lasten nicht zusammenbrachen. Bei einem fünften hörte er zum erstenmal von Schönheit sprechen. Die Säulen bekamen freundlichere Gestalt, und die bisher platten Dächer hoben sich empor. Beim sechsten kam der Schmuck dazu und das Bedürfnis, Licht im Raum zu haben. Ein siebentes sah auf die äußere Gestalt und forderte für jedes Bauwerk andre Formen. So legte er sich also auf den „Stil“ und weiter noch auf alles, was sonst noch nötig war. Und als er dann vor seiner Meisterprüfung stand, an was für Bauten hatte er, der Teufel, sich geübt? Was glaubst du wohl, Effendi?«

»Erlaube mir, zu hören, nicht zu raten!« antwortete ich.

»An lauter frommen Werken, die nur zur Ehre dessen errichtet worden waren, für den der Teufel nichts als Haß besitzt. Zwar hatte wohl auch er die Frömmigkeit gewollt, denn fromm erscheinen, fördert selbst den Teufel, doch wirklich fromm zu sein, daran geht er zu Grunde. Drum war sein Haß jetzt gar zum Grimm, zur stillen Wut geworden, weil alle diese Bauten der Wahrheit dienten, aber nicht dem Scheine, und er beschloß, in seinem Meisterstück ein Werk zu schaffen, bei welchem alles Schein, nichts aber Wahrheit sei. Er ging in jenes Felsenland zurück, wo er die Lehre einst begonnen hatte, denn dort war Gott ein lieber Himmelsgast und ließ sich oft bei seinen Menschen nieder. Er saß so gern bei ihnen, licht und hehr, im offnen Alabasterberg, sich seiner Sonne freuend. Da kamen sie herbei, die er geschaffen, sie alle, groß und klein, von seiner eignen Hand den Segen zu empfangen. Sie liebten ihn; sie gönnten ihn auch andern; die Eifersucht auf Gott und auf die Seligkeit war ihnen unbekannt. In diesen Menschheitsfrieden trat der Andre, den es gelüstete, sein Meisterstück zu machen. Er brachte seine Scharen, die ihm dienen, und ließ den Neid der Hölle rings verbreiten. Als dann der Herr im Morgenrot erschien, um wieder einen Erdentag zu weilen, da drangen alle, alle auf ihn ein, nur hier bei ihnen noch, sonst nirgends zu erscheinen; die andern Menschen seien es nicht wert. Da neigte er das Haupt und ging betrübt von dannen. Er sprach den Segen nicht, sprach überhaupt kein Wort. Der Andre aber sprach: „Wißt ihr noch nicht, daß Gott sich zwingen läßt? Was ist die Bitte wert, wenn sie nicht zeigt, daß sie auch wirklich will! Beweist ihm euern Ernst, so muß und wird er tun, was ihr begehrt. Ich will euch euern wahren Gott verschaffen; die andre Welt mag andre Götter haben!“ Nun sandte er den Neid in Scharen aus, herbeizuschleppen, was er vorbereitet. Und als das nächste Morgenrot erschien, nahm er die göttliche Gestalt des Höchsten an und kam, den frommen Schein ins Werk zu setzen. Er ließ sich licht und hehr im Berge nieder und lächelte voll Huld den Menschen zu. Und als sie ihre Bitte wiederholten und ernsten Nachdruck auf die Worte legten, sprach er im Tone väterlicher Güte: „Ich prüfte euch; drum war ich gestern still; heut aber sag ich euch, ihr habt bestanden. Die Macht der Frömmigkeit ist größer als die meine. Drum nehmt mich hin als euer Eigentum. Ich will nun euch und niemand sonst gehören!“ Da flogen die Quader herbei, die Säulen, die Steine, die Ziegel. Der Felsen gab das Fundament; die Mauer klammerte sich fest; sie wuchs empor. Der Teufel saß als Gott im Heiligtume. Doch seine Scharen regten sich, ihn eiligst für das Volk hier einzumauern. Das Bauwerk stieg ihm immer höher, bis an den Leib – bis an die Brust – bis an den Hals! Und betend lag dabei die Andacht auf den Knieen! Der Kopf verschwand nun auch. Fast war der Berg verschlossen. Da schwang ein dunkler Flederhäuter sich aus der letzten Oeffnung und flatterte in das Verschwundensein. Und in demselben Augenblick erschien der Architekt vor seinem Werke und lobte laut, daß er zufrieden sei. – Was war es für ein Bau? Kein Mensch vermags zu sagen. Wo liegt der Berg? Ich weiß es nicht, doch möchte ich ihn finden. Und wenn ich mich nicht irre, bist du bereit, mit mir nach ihm zu suchen, Effendi.«

»Es wäre wohl der Mühe wert, sich hiermit zu beschäftigen,« antwortete ich. »Es steckt in jedem Märchen und in jeder Sage ein Kern, um dessen willen die Dichtung entstanden ist. Jedenfalls enthält auch diese Erzählung von „Chodeh, dem Eingemauerten“, eine Wahrheit, welche in dieser Form gesagt worden ist, um jedermann zugänglich zu werden. Nur meine ich, daß dieser Gottesberg mit seiner zugemauerten Alabasternische nicht an irgend einem geographischen Ort, sondern nur auf rein geistigem Gebiete zu suchen sei.«

»Ich nicht.«

»Wie?« fragte ich überrascht. »Du denkst dir einen wirklichen Berg, auf den ich mit diesen meinen Füßen hier steigen könnte?«

Da flog ein unbeschreiblich schalkhaftes Lächeln über ihr schönes Angesicht, und es klang beinahe wie von oben herab, als sie erwiderte:

»Effendi, Effendi! Willst du mich etwa glauben machen, daß ein Kurmangdschimädchen klüger sein könne als ein Gelehrter aus dem Abendlande? Was meinst du, wenn du von „Wirklichkeiten“ sprichst? Ist nur das wirklich, was ich sehe, höre, fühle? Und muß das, was du als „geistiges Gebiet“ bezeichnest, von unsern Sinnen niemals wahrzunehmen sein? Sind wir Menschen nicht unendlich verschieden begabt? Der Eine sieht, hört, riecht, fühlt oder schmeckt etwas, wofür der Andere nicht einen einzigen Empfängnisnerven besitzt. Und diesem Andern werden dafür viel tiefere und verborgenere Dinge offenbar, welche der Vorige für unbegreiflich hält. Ich bin nicht wie du, und du bist nicht wie ich; aber indem wir uns gegenseitig vertrauen und ergänzen, können wir uns zu einer Persönlichkeit vereinigen, welcher zu erreichen möglich ist, was wir vereinzelt nie erreichen würden. Das ist so leicht zu begreifen; aber schau um dich und sag, ob man es beherzigt! Der Sonderstolz, Effendi, der Sonderstolz! Du magst meinen, noch so hoch zu stehen, so hast du herabzusteigen, um zu lernen und dich fördern zu lassen. Willst du aber keinem Niederen etwas zu verdanken haben, so stehst du unter ihm, bist niedriger als er! Ich wollte, ich dürfte dir die Berge zeigen, die es für mich giebt, obgleich du sie nicht siehst!«

»Und ich dir auch die meinen!« fiel ich da schnell ein.

»Wo stehen sie?« fragte sie ebenso schnell.

»Da oben an der Grenze, in stiller Einsamkeit. Nur selten kommt ein Mensch, um dort emporzusteigen und heimzukehren in das Wunderland.«

»An der Grenze? Heimkehr? Wunderland? Effendi, du siehst, ich bin überrascht! Meinst du etwa dasselbe wie ich? Dieselben Felsenkronen, die mir so oft im Abendrot erglühten? Dieselben Pfade durch die heil’ge Stille, in welcher jede Blume und jeder Lufthauch betet? Dasselbe Wasserrauschen, von welchem meine Seele trinkt, noch durst’ger als die Lippe, die ich kühle? Warst du vielleicht in jenem Tal der Sternenblüten, wo unsichtbar die Seelen wandeln gehen, doch ihrer Füße Spur im grünen Moose lassen? Ich war einst dort mit Marah Durimeh! Wir hörten süßes Flüstern um uns her und leises Wehen, wie von himmlischen Gewändern. Ein Veilchen stand am Quell, das einzige im ganzen, weiten Tale, soeben erst gepflanzt, die Wurzel zärtlich sorgsam eingebettet und dann befeuchtet, daß sie trinken könne. Da kniete Marah Durimeh sich nieder, schloß es mit ihren lieben Händen ein und sprach: „So war er also hier! Ich kenne seine Weise und auch die namenlos Verehrte, die er mit seiner Lieblingsblume grüßt!“ Ich wagte nicht, zu fragen, wen sie meine. Jetzt aber denk‘ ich an die Lagerstätte, die ich mit deinen Lieblingsblumen schmückte, damit ihr Duft die Seele dir erhalte. – Nun sag‘, Effendi, kennst du meine Berge? Warst du schon dort? Bist du die Seele, die mit Veilchen grüßt?«

Da stand ich auf und ging zum nahen Erlenstrauch; dort blühten einige Veilchen. Ich pflückte sie und reichte sie der Fragenden. Auch sie stand auf, steckte die Blumen in das Haar, welches nun wieder in vollen Zöpfen niederhing und sagte:

»Ich kenne seine Weise, sprach Marah Durimeh. Effendi, wenn du ins Tal der Sternenblumen kommst und dort ein zweites Veilchen stehen siehst, begieße es, wie ich das deine tränken werde! Es sei fortan auch meine Lieblingsblume. Und nun sag‘ mir: Warum kamst du hierher an diesen Stein! Zwei Menschen, welche gleiche Pfade gehen, die pflegen gegenseitig sich zu ahnen. Dich zogen die Ruinen her zu mir?«

»Ja, Schakara. Dir will ich offen sagen, daß ich sie durchforschen werde, heimlich, bis in ihren tiefsten Winkel. Niemand soll jetzt davon erfahren, außer du.«

»Also treffen wir uns auch hier auf gleichem Wege! Ich war schon oftmals dort, ganz unbemerkt, des Nachts.«

»Warum?«

»Warum? Du weißt ja, was ich suche! Den Berg, die Alabastergrotte, das Meisterstück des Architekten, der Schein auf Schein anstatt der Wahrheit baute. Er kam zuletzt als Flattertier heraus. Was also kann die Grotte nun enthalten? Doch nichts! Leer muß sie sein! Es wurde weder Gott noch Teufel eingemauert. Und doch, und doch bin ich noch nicht am Schlusse; ich muß vielmehr noch weiter, weiter denken. Wo Gott von dem Teufel verdrängt wurde, da kann das Resultat doch wohl in keinem Nichts bestehen. Ich bin nur Weib, und du wirst wahrscheinlich über diese meine Mantyk lächeln; aber es handelt sich hier doch nicht um zwei Körper, welche zusammentreffen und sich wieder trennen können, ohne etwas zurückzulassen, sondern um die Frage, was entstehe, wenn das Gute von dem Bösen verdrängt wird und –«

Sie hielt inne. Es ist eben nicht leicht, Göttliches und Teuflisches durch menschliches Denken zu ergründen.

»Schakara, ich bitte dich, laß Mantyk Mantyk sein,« sagte ich. »Du fühlst das Richtige; aber es in Worten auszudrücken, das würde ich nicht wagen. Wenn der Teufel Schein auf Schein getürmt hat, so liegt hinter diesem Scheine sicher etwas Wahres verborgen. Was das ist, das können wir nicht wissen. Gelänge es aber, den Berg zu finden und die Grotte zu öffnen, so würde es sich zeigen. Ahnest du vielleicht einen gewissen Zusammenhang zwischen diesem Berge und dem alten Gemäuer hier im Gebiete der Dschamikun?«

»Ich ahne ihn nicht nur, ich fühle ihn ganz deutlich.«

»Hast du dich nicht gefürchtet, des Nachts so allein in den Ruinen herumzusteigen?«

»Vor Menschen, ja, doch sonst vor nichts.«

»Fandest du Spuren, daß Menschen dort verkehren?«

»Ja. Solche Spuren könnten eigentlich nicht befremden, weil die Neugierde doch gewiß so manchen Dschamiki und auch wohl manchen Andern hinunter in die alten Bauten treibt. Aber ich sah Einiges, was auf keine guten Absichten schließen läßt.«

»Was war das, Schakara?«

»Ich halte es für besser, es dir zu zeigen, statt jetzt davon zu plaudern, ohne daß es Nutzen bringt. Jetzt bist du noch zu schwach für solche Anstrengung, doch wird sich das schnell bessern. Dann steigen wir hinab und du wirst alles sehen, was ich entdeckte. Man sagte mir, daß du heut‘ den ganzen Tag zu schlafen haben werdest. Effendi, thue es! Es kommen schwere Tage, und du hast stark zu sein. Die Kraft, welche du heut‘ verschwendest, kann dir schon morgen fehlen. Glaube mir, ich meine es gut!«

Das klang so besorgt, so mütterlich, daß ich antwortete:

»Ich werde diesen deinen Rat befolgen, doch nicht sofort, erst nach der Mittagszeit, wenn Pekala –«

»Pekala?« fiel sie da rasch ein. »Du wolltest sagen, daß sie dir das Essen bringen werde. Du irrst. Von jetzt an werde ich es sein, die für dich sorgt. Ich lasse dich in keiner andern Hand.«

Ich wollte das nicht acceptieren und brachte meine Gründe dagegen vor. Da öffnete sie das kleine Dschasaltäschchen, welches an ihrem Gürtel hing, nahm ein Pergamentkärtchen heraus, gab es mir und sagte:

»Am Tage nach der Nacht, in welcher man dich und Halef zu uns brachte, sandte ich einen Boten an Marah Durimeh, denn ich hielt es für nötig, daß sie wisse, wie es um euer Leben stand. Ich habe ihr seitdem wiederholt berichtet und Antwort von ihr erhalten. Das Letzte, was sie schrieb, sind diese Worte.«

Ich las:

»Er sei der Geist; du aber sei die Seele, seine Schwester. Das zeige ihm und grüße ihn von mir.

Marah Durimeh.«

Da gab ich ihr das Pergament zurück, legte die Hand auf ihr Haupt und sprach:

»Was meine Freundin sagt, ist immer richtig. Ich will dein Bruder sein; so sorge denn für mich! Jetzt muß ich hinauf zu mir, um den Brief nach Bagdad zu schreiben. In einer halben Stunde wird er fertig sein.

Dann esse ich mit dir und Hanneh in der Halle, und da du es so willst, versuche ich hierauf, mich auszuschlafen.«

Dieses Programm wurde ausgeführt. Die Boten nach Bagdad hatten sich unten im Dorfe schon bereitgehalten. Sie gingen ab, sobald sie den Brief bekommen hatten, und nahmen eine Kamelsänfte für den dicken Kepek mit. Halef schlief noch fest, als wir uns zum Essen setzten. Ich bin ein mäßiger Esser; heut‘ aber aß ich doppelt so viel als gewöhnlich. Ich wurde von zwei Seiten hart bedrängt und hatte mich zu fügen. Als ich dann nach oben ging, nahm ich die noch immer im Hausgange liegenden Kleidungsstücke des Bluträchers mit, um sie in der »Rumpelkammer« aufzubewahren. Oben bei mir angekommen, trat ich auf die Plattform hinaus, um nach dem Stande der Sonne zu sehen. Es war eine Stunde nach Mittag. Da legte ich mich nieder.

Eigentlich war ich gar nicht müde. Es kamen mancherlei Gedanken, welche Audienz begehrten, und ich gab sie ihnen. Dann nickte ich ein bißchen ein, wachte aber sehr bald wieder auf. Nun griff ich zu künstlichen Mitteln. Ich sagte das ganze große und kleine Einmaleins rück- und vorwärts her, rezitierte in Gedanken Schillers Glocke und noch andere Gedichte, doch alles war vergebens. Dann stand ich wieder auf, zog mich an und schaute nach der Sonne. Es war seit dem Essen kaum eine Stunde vergangen. Was nun thun? In den Werken des Ustad lesen? Seine Zeitungen verbrennen? Ja. Aber da fiel mir ein, daß es doch meine Pflicht sei, einmal nach dem kranken Scheik der Kalhuran zu sehen. Das konnte sofort geschehen. Ich ging also hinab.

In der Halle saßen Hanneh und Schakara noch beisammen. Das Serir aber war fortgetragen worden.

»Es ist mir heut unmöglich, einzuschlafen,« sagte ich. »Darum kann ich mein Versprechen leider nicht halten. Hoffentlich bin ich heut abend müde.«

Da sahen sie einander an. Schakara blieb ernst. Hanneh aber lachte am ganzen Gesicht und sagte:

»Du kannst nicht einschlafen, Sihdi? Was hast du denn da während der ganzen, langen Zeit getrieben?«

»In welcher Zeit?« fragte ich belehrend. »Es ist ja höchstens eine Stunde!«

»Eine Stunde? So weißt du also wirklich nicht, daß du einen ganzen Tag geschlafen hast?«

Tableau, wie man im Abendlande sagt! Aber zum Scheik der Kalhuran ging ich nun erst recht, aber natürlich erst, nachdem ich wieder für zwei Mann hatte essen müssen. Der neue Herr des hohen Hauses trat sein Amt, wie es schien, mit vieler Würde an! Der Scheik befand sich in der besten Pflege. Er hoffte, schon in der kürzesten Zeit wieder aufzukönnen. Den Bluträcher erwähnte er nur ein einziges Mal, aber in einer Weise, die mehr als Worte sagte.

Hierauf wollte ich nach den Pferden sehen. Ich hatte nicht weit zu gehen. Barkh und Assil Ben Rih standen im Hofe. Kara sattelte sie, um sie auszureiten. Mit seinem Ghalib hatte er schon am Vormittage eine Uebungstour gemacht.

»Sihdi, wenn du nur wieder in den Sattel könntest,« sagte er. »Schau nur, wie dich dein Assil bittet!«

Der Rappe machte es allerdings sehr deutlich. Er tänzelte auf allen Vieren und schob sich dabei, ich mochte stehen wie ich wollte, so an mir vor, daß ich den Bügel in die Hand bekam. Das war drollig und rührend zugleich. Um dem Pferde eine, wenn auch nur kurze, Freude zu machen, hob ich den Fuß, setzte ihn auf und schwang mich in den Sitz. Ich wollte nur einen langsamen Gang durch den Hof, weiter nichts. Kaum aber saß ich oben, so war ich schon zum Tore hinaus, und ehe ich mich vorgebeugt und den herabhängenden Zügel aufgenommen hatte, war schon beinahe das Duar erreicht. Dabei fühlte ich weder Schmerzen noch sonst etwas, was mich hätte veranlassen können, abzusteigen. Es war mir sogar möglich, es zu einer Art von Schenkeldruck zu bringen. Ich saß ganz leidlich fest und wankte nicht. Kara hatte mich rasch eingeholt. Er freute sich wie ein König über den Streich, den mir das Pferd gespielt hatte.

»Der macht kurzen Prozeß mit dir, Sihdi!« lachte er. »Wie weit wirst du es wohl wagen können?«

»Wollen sehen,« antwortete ich. »Aber nur Schritt. Ich fühle mich ganz wohl; ja, es ist sogar, als ob im Sattel noch alte Kraft von mir aufgespart sei, die mir nun zugute komme. Sonderbar!«

Wir ritten langsam durch das Dorf. Die Leute kamen aus den Zelten, Hütten und Häusern, grüßten froh und waren baß verwundert, ihren Patienten so plötzlich schon zu Pferde zu sehen. Dann ging es am Seeufer hin, nach Osten zu. Ein Viertelstündchen hielt ich es aus. Dann wurde ich müde und sagte Kara, daß ich absteigen und ruhen müsse.

»Dann gleich hier,« antwortete er, nach dem Ufer deutend. »Das ist die Stelle, welche der Pedehr dir zeigen sollte.«

»Woher weißt du das?«

»Er hat es mir gesagt, als ich gestern hier an ihm vorüberritt.«

Das war mir interessant. Also der Ort, wo die Sillan ihre Pferde zu tränken pflegten! Wir ließen die unseren an das Wasser gehen, und ich legte mich lang in das Gras. Da begann Kara Ben Halef:

»Sihdi, bist du sehr müde? Oder darf ich von einer Sache zu dir reden, die mir sehr wichtig erscheint? So wichtig, daß ich es nur dir, keinem andern mitteilen kann?«

»Sprich!«

»Tifl lügt!«

Er sagte nur diese beiden Worte; dann war er still.

»So!«

Ich sagte nur dieses eine Wort; dann war auch ich still. Nach einer Weile fuhr er fort:

»Ja, er lügt! Und du weißt, daß ich die Lüge hasse und den Lügner verachte! Und doch muß ich mit diesem Menschen sprechen, denn ich bin Gast!«

»Vielleicht irrst du dich,« warf ich ein. »Es ist ein großer Unterschied zwischen der absichtlichen Lüge, welche aus schlechten Gründen täuschen will, und einer Unwahrheit, die man mit gutem Gewissen verbreitet, weil man sie für Wahrheit hält.«

»Das weiß ich gar wohl, Sihdi; aber ich habe geprüft. Tifl weiß ganz genau, daß er lügt. Auch ist es nicht bloß leichtsinnige Schwatzhaftigkeit von ihm, die sich auf gleichgültige Dinge bezieht, sondern es handelt sich um Angelegenheiten, welche von größter Wichtigkeit für uns sind. Ich meine nämlich Ahriman Mirza.«

»Hat er diesen belogen?«

»Nein, sondern dich – uns!«

»Wieso?«

»Du frugst ihn vorgestern vor dem Mordüberfalle, woher der Henker wohl wisse, wo deine Lagerstätte in der Halle sei. Er antwortete dir, er sei den Persern vorangeritten und habe gar nicht mit ihnen gesprochen. Aber Ahriman Mirza habe sich an die begleitenden Dschamikun gemacht und alles, was er wissen wollte, aus ihnen herausgelockt. Tifl behauptete sogar, daß er über diese unvorsichtige Schwätzerei sehr zornig gewesen sei. Besinnst du dich, Effendi?«

»Ja. Ich erinnere mich noch jedes Wortes. Bezieht sich deine Behauptung etwa auf diese seine Angabe?«

»Ja. Er hat gelogen, dir mit vollem Bewußtsein in das Gesicht gelogen! Ahriman Mirza hat während des ganzen Rittes nach der Grenze mit keinem andern Dschamiki auch nur ein einziges Wort gesprochen. Bedenke seinen Stolz! Aber er ist mit Tifl und dem Henker vorangeritten, Tifl zwischen ihnen, und diese drei haben sich sehr lebhaft, fast wie gute Freunde, unterhalten. Beim Scheiden haben der Mirza und Ghulam ihm sogar die Hand gereicht, um Abschied von ihm zu nehmen. Was sie erfuhren, konnte also nur aus seinem, aus keinem andern Munde stammen.«

»Woher weißt du das, Kara?«

»Von Einem, der es am besten wissen muß, nämlich von Tifl selbst. Das war gestern abend, als ich den Pferden zum letzten Male Wasser gegeben hatte. Ich wollte noch nicht schlafen und ging hinter, wo das Weideland aufhört und die Ruinen beginnen. Dort ragt ein großer Mauerstein aufrecht empor, und nur einige Schritte davon steht ein dichter Kyßylbusch, an welchem ich mich niedersetzte. Du wirst wohl noch nicht dort gewesen sein und die Stelle also nicht kennen.«

»Ich kenne sie. Ich saß am Vormittage bei dem Steine und pflückte Veilchen bei dem Kyßylstrauch.«

»So weißt du also, daß beide so nahe beieinander liegen, daß man am Kyßyl hören muß, was an dem Steine gesprochen wird. Ich war noch nicht lange dort, so kamen Pekala und Tifl. Sie setzten sich nieder, ohne zu ahnen, daß ich mich so nahe bei ihnen befand. Ich gab mir gar keine Mühe, mich zu verbergen, hatte aber auch keinen Grund, sie besonders auf mich aufmerksam zu machen. Sie brauchten nur einigermaßen aufmerksam zu sein, so mußten sie mich sehen; aber es gibt Menschen, denen die Unvorsichtigkeit so zur zweiten Natur geworden ist, daß sie gar nicht mehr wissen, was man unter Vorsicht zu verstehen hat. Diese sonderbare Mutter sprach mit ihrem noch sonderbareren Kinde zunächst über allerlei, was mir vollständig gleichgültig war. Darum stand ich schon im Begriffe, mich leise zu entfernen; da wurde dein Name genannt, und darum blieb ich sitzen. Was sie sagten, war keineswegs besonders klug zu nennen; sie wissen nicht so recht, was sie aus dir machen sollen; aber Pekala versicherte, daß sie dich in ihr Herz geschlossen habe, und Tifl meinte, man habe mit dir sehr freundlich und sehr höflich zu sein, weil man nicht wissen könne, was aus deiner Freundschaft mit dem Ustad entstehen werde. Bei ihm komme es vor allen Dingen darauf an, was du für ein Reiter seist, und da getraue er sich unbedingt, dich und deinen Assil auf der Stute des Ustad zu überholen. Was sagst du dazu, Effendi?«

»Kinderei!«

»Dieser Mensch ist ein Pferdejunge, aber doch kein Reiter! Rohes Anklammern, Jagen und Hetzen, aber keine Spur von wahrer Reiterkunst! Für solche Leute ist Pferd eben nichts als Pferd! Dann sprachen sie vom Ustad. Ich muß dir sagen, Effendi, was ich da hörte, hat mir fast wehe getan. Sie gaben vor, ihn zu lieben; sie lieben ihn wohl auch, jedoch in ihrer Weise. Beiden steht die Küche oder das Pferd des Ustad höher als er selbst. Sein Geist und seine Gedanken imponieren ihnen; von seiner Person aber sprachen sie in einer Weise, die mir nicht gefallen konnte. Das war Klatsch! Hierauf kam die Rede auf eine Person, welche Aschyk genannt wurde. Wer gemeint war, weiß ich nicht. Dieser Aschyk kommt regelmäßig nach vier Wochen, um Pekala hier bei dem Steine abzuholen. Nächsten Sonntag kommt er wieder, eine Stunde vor Mitternacht. Nun erwähnten sie eine große Empörung. Es soll Jemand abgesetzt werden; aber wer, das konnte ich nicht verstehen. Dann reitet Pekala auf dem herrlichsten Kamele in einer großen Stadt ein, und Tifl wird ein sehr berühmter Mann. Auch aus dem Ustad wird etwas Bedeutendes, doch was, das blieb mir verborgen. Den Mirza und den Bluträcher hassen beide, doch müsse man sich gegen sie verstellen, denn der Aschyk habe es gewünscht. Und hiermit bin ich bei der Hauptsache angelangt: Als Tifl die Perser bis über die Grenze zu bringen hatte, wurde er von Ahriman und Ghulam in die Mitte genommen und ausgefragt. Er fürchtete sich, sie mit ihren Fragen abzuweisen, und sagte ihnen darum alles, was sie wissen wollten. Als du ihn dann in das Verhör nahmst, getraute er sich nicht, es zu verschweigen, und belog dich, um die Schuld auf seine Begleiter zu schieben.«

»War Pekala damit einverstanden?«

»Ja. Sie lügen also beide! Das von der Empörung und der hierauf folgenden Erhebung und Beförderung war wohl nur Kindergeschwätz. Aber das Andere hat mich sehr bedenklich gemacht. Pekala hat mir von Isphahan erzählt, von ihrem Vater, von Tifl, wie er betrunken gewesen ist, vom Ustad, der sich ihrer angenommen hat, von seinem Tode und von seinem Grabe hier im Hause. Sie weinte dabei vor Rührung. Es kommen so schöne Stellen vor, auch Gedichte. Man wird da selbst gerührt und hält sie für ein frommes, liebes, seelensgutes Wesen. Aber sie hat das fast mit ganz denselben Worten und denselben Tränen auch meiner Mutter erzählt; sie erzählt es überhaupt Jedem, der sich von ihr festhalten läßt, sogar den Hadeddihn, die mit uns gekommen sind. Dadurch wird ja das Heiligste entheiligt! Und wenn sie bei jeder Gelegenheit hinzufügt, daß die Männer alle noch erzogen werden müssen, so wird sie lächerlich. Vor allen Dingen aber hat mich Folgendes empört: Kaum haben Pekala und Tifl von den hohen Eigenschaften ihres Ustad gesprochen, so dichten sie ihm eine Menge ganz gewöhnlicher, sogar gemeiner Fehler an, die er gar nicht besitzt, sondern die sie nur von sich selbst auf ihn übertragen, weil sie alles, was sie an ihm nicht verstehen können, für Mängel halten wie die ihrigen. Und das tun sie in so niederträchtig vertraulicher Weise, als ob er sie für Engel halte, an denen er sich gern ein Vorbild nehme! Das ist teuflisch, doppelt teuflisch, weil es mit so freundlich lächelndem Munde und mit so warmer Rücksicht ausgesprochen wird. Ich habe es gehört; Jeder hat es gehört; Alle können es hören, die es hören wollen. Er allein, der vollständig Arglose, der stets und ganz Vertrauende, hat keine Ahnung von der Menge dieser giftigen Gedankenschlangen, die sich unablässig zu seinen Füßen ringeln, ohne daß er es bemerkt, weil er nie auf das Niedrige, auf das Gemeine achtet! Sihdi, was mag ihm das wohl schon geschadet haben! Wie gütig bist auch du zu dieser Pekala und diesem Tifl!

Ich aber halte sie für ein Gezücht, mit dem man keine Nachsicht üben sollte. Wer ist dieser Aschyk ? Ein Dschamiki wohl kaum. Sie verkehren mit ihm, und zwar heimlich, wie es scheint. Sie schildern auch ihm den Ustad gänzlich falsch. Er trägt es fort. Infolgedessen macht man sich da draußen im ganzen Lande über des Ustad sogenannte Fehler und Schwächen lustig, die aber nur in den schwachen Köpfen einer dicken Köchin und eines dünnen Pferdejungen existieren! Die Feinde sind wohl klug genug, das zu wissen. Sie lachen heimlich über die Türkin und ihr „Kind“. Oeffentlich aber tun sie, als ob sie es glauben, und verbreiten es aus allen Kräften weiter. Daher der freche Blick, den Ahriman Mirza für den Ustad hatte! Und daher auch die unverschämte Stirn des Multasim! Hätten diese Menschen sich wohl in der Weise, wie sie es taten, in den Duar und hinüber zum Tempel gewagt, wenn der Ruf des Ustad nicht schon fast vernichtet wäre? Sihdi, ich sage dir: Zwei solche Personen im eigenen Hause sind gefährlicher, weit gefährlicher als hundert offene Gegner, die keine Liebe heucheln! Ich habe noch nie, noch nie in dieser Weise zu dir gesprochen. Jetzt aber mußte ich es tun. Und warum? Verzeihe mir, daß ich es sage! Um einer Person willen, die euch mit ihrer Kerbelsuppe nur scheinbar erheitert, in Wirklichkeit aber regiert!«

Hierauf setzte er sich nieder. Wartete er, was ich nun sagen werde? Wenn ja, so ließ er es sich doch nicht merken. Er schaute über den See hinüber, wo soeben das Boot vom Ufer stieß. Es saßen zwei Männer darin. Der eine ruderte; der andere schien zu lesen.

»Das ist der Dschamiki, welcher den andern das Singen lehrt,« sagte Kara, als ob er unser Gespräch als abgebrochen betrachte.

»Und du bist der Hadeddihn, der mich etwas anderes lehrt,« antwortete ich. »Ich habe geglaubt, mich nur auf meine eigenen Augen verlassen zu können. Darf ich von jetzt an auch die deinen mit zu Rate ziehen?«

Da sprang er schnell wieder auf, kam zu mir her, kniete neben mir nieder, griff nach meiner Hand und rief im Tone des Glückes, der innigsten Freude aus:

»Sihdi, ich danke dir! Weißt du, was du mir mit diesen deinen Worten schenkst?«

»Ich weiß es, Kara: dich selbst! Du warst bisher ein Glied; nun aber bist du Person, vollständige Person. Es wurde über dich bestimmt; nun sollst du selbst bestimmen. Sag, gibt es noch andere Leute hier, welche dir Mißtrauen eingeflößt haben?«

»Ja.«

»Wer?«

»Willst du Vermutungen hören?«

»Nein.«

»So laß mich erst noch prüfen, ehe ich Namen nenne. Ich kann wohl Verdacht hegen, aber ihn weiterverbreiten, ohne Beweise zu haben, das würde gewissenlos gehandelt sein. Das aber tut Kara Ben Halef nicht! Ueber Menschen also schweige ich noch, doch über Dinge kann ich sprechen. Ich muß dir etwas zeigen, was ich gefunden habe. Ich weiß nicht, ob es Edelsteine sind oder ob es Glas ist, aber es funkelt wie lauter Diamanten.«

Er zog aus der Innentasche seiner Weste eine schmale Blechkapsel und reichte sie mir, nachdem er sie geöffnet hatte. Sie enthielt eine Turbanagraffe mit rotem Pferdehaarbusch, welcher mittelst eines Charnieres umgelegt war, vor dem Gebrauche aber aufgeschlagen wurde. Der Halter bestand aus großen Facetten, welche die beiden Buchstaben Sa und Lam umschlossen, über denen das Verdoppelungszeichen stand. Die Facetten waren von Glas, doch gut geschliffen und brillant unterlegt, so daß sie bei künstlichem Lichte wahrscheinlich wie Diamanten funkelten. Diese Haaragraffen durften früher nur von sehr hochgestellten Personen an den Turbanen getragen werden. Der Schah schmückt bei festlichen Gelegenheiten seine Lammfellmütze noch heut in dieser Weise, natürlich aber mit echten Steinen. Die Imitation, welche ich jetzt in meinen Händen hielt, war ohne eigentlichen Wert, eine »Theateragraffe«, wie man bei uns sagen würde, für mich aber von einer Bedeutung, die mich veranlaßte, einen Ruf der Freude auszustoßen.

»Also Edelsteine?« fragte darum Kara.

»Nein. Es ist nur Glas, wertloses Glas; aber du hast trotzdem einen Fund gemacht, der wohl kaum mit Geld bezahlt werden könnte. Wie bist du zu dieser Agraffe gekommen, lieber Kara?«

»Es war auf dem Dschebel Adawa –«

»Der liegt doch nicht hier, sondern schon im Gebiete der Takikurden!« fiel ich ein.

Taki heißt fromm. Die betreffenden Kurden führen diesen Namen, weil sie in Beziehung auf den Glauben sehr streng gegen Andere sind und mit großer Bestimmtheit behaupten, daß nur sie allein den Himmel erlangen werden. Jeder nicht ganz Gleichdenkende wird als verdammenswerter Ketzer betrachtet und mit unnachsichtlicher, herzloser Strenge verfolgt.

»Ja; ich bin aber dennoch oben gewesen,« antwortete er.

»Wann?«

»Heut.«

»Kennt schon Jemand diesen deinen Fund?«

»Nein; nur du allein.«

»So schweige jetzt noch gegen Andere; mir aber erzähle!«

»Ich ritt gestern gegen Norden, ganz allein. In der ersten Zeit nahm ich Tifl stets mit; jetzt aber tue ich das nicht mehr. Ich mag nicht Leute bei mir haben, die mir nicht gefallen. Da traf ich auf eine kleine Todeskarawane, lauter persische Schiiten, welche ihre Kamele und Maultiere mit Särgen belastet hatten.«

»Eine Todeskarawane? Hier? Sonderbar! Hier gibt es doch gar keinen Karawanenweg, welcher hinab nach Karbela oder Meschhed Ali führt!«

»Das sagte ich mir auch, und darum kamen mir diese Leute bedenklich vor. Als ich mich aber näher an sie heranmachen wollte, nannten sie mich einen sunnitischen Hund und drohten, auf mich zu schießen. Ich hielt also an und ließ sie von weitem an mir vorüber. Mein Pferd aber wurde ungeduldig und drängte vorwärts, als das letzte Kamel noch vorbeizugehen hatte. Darum kam ich so nahe an dasselbe heran, daß ich alles deutlich sehen konnte. Es trug vier Särge, an jeder Seite zwei. Einer war zerplatzt und mit einem Stricke wieder zusammengebunden, aber so liederlich, daß ich den Inhalt sehen konnte.«

»Wohl keine Leiche?«

»Nein. Mir war schon aufgefallen, daß die Karawane nicht den geringsten Geruch verbreitete. Jetzt nun war das erklärt: Gewehre stinken ja doch nicht.«

»Ah! Gewehre! Sahst du das genau?«

»Ja. Es war kein Irrtum möglich. Ich ritt weiter, zunächst ohne mich umzusehen, denn man sollte nicht merken, daß ich aufmerksam geworden war. Als ich mich aber weit genug entfernt hatte, lenkte ich hinter einen Felsen, um diesen angeblichen Leichenzug zu beobachten. Nachdem er in der Ferne verschwunden war, ritt ich ihm nach, wohl zwei Stunden lang, bis über die Grenze hinüber. Da bog er von seiner bisherigen Richtung ab und hielt auf den Dschebel Adawa zu. Nun folgte ich erst recht, doch so, daß ich nicht bemerkt werden konnte. Am Fuße des Berges gibt es Wasser. Die Tiere aber mußten an demselben vorüber und ohne Verzug die steile Wildnis hinauf. Warum? Wozu? Das war mir ein Rätsel, und ich beschloß, es zu ergründen. Doch mußte ich das für heut aufheben, denn der Tag war schon fast vorüber und ich wollte auch nichts unternehmen, ohne vorher mit dir gesprochen zu haben. Ich kam spät heim. Du schliefst. Ich stand zeitig auf. Du schliefst noch immer. Da beschloß ich, selbständig zu handeln, und ritt auf Ghalib wieder hin.«

»Bist du Jemandem begegnet?«

»Nein; keinem Menschen. Ich glaube auch nicht, daß mich wer gesehen hat. Als ich auf die gestrige Spur der Todeskarawane traf, sah ich zu meinem Erstaunen, daß es heut eine doppelte war; sie führte nämlich auch wieder zurück. Diese Perser hatten die Nacht auf dem Berge zugebracht und waren dann wieder heimgeritten.«

»Ah, hätte ich die Fährte sehen können!«

»Keine Sorge, Sihdi! Ich habe von dir gelernt, wie solche Spuren zu lesen sind. Ich sah, daß man getrabt hatte. Der Sand lag hinten weit hinausgeworfen und die Stapfen waren vorn sehr scharf, aber flach und leicht. Wären die Tiere noch so schwer wie gestern beladen gewesen, so hätten sich die Eindrücke mehr vertieft. Die Gewehre waren also auf dem Dschebel Adawa abgeladen worden, und ich beschloß, hinaufzureiten, aber sehr vorsichtig, denn es war doch mehr als möglich, daß die Personen, welche die Waffen erhalten hatten, sich noch oben befanden. Diese Befürchtung hob sich aber, als ich bei meiner Annäherung einen Reitertrupp bemerkte, welcher soeben herabgekommen war und sich nach Westen entfernte, wo die Weideplätze der Takikurden liegen.«

»Hatten sie die Gewehre?«

»Nein. Ich hielt mich versteckt, bis ich sie nicht mehr sehen konnte; dann ritt ich hinauf. Ich konnte nicht irren; die Spuren zeigten mir den Weg. Oben aber war alles so wirr und warr und es liefen so viele Eindrücke in- und durcheinander, daß es mir ganz unmöglich war, mir ein Bild von dem zu machen, was man hier vorgenommen hatte.«

»Gab es Bäume, Sträucher?«

»Genug! Dazu eine große Ruine, wohl aus ganz uralter Zeit. In ihrem Innern hatte das Lagerfeuer gebrannt. Ich suchte mit Fleiß und überall, wohin die Ladung versteckt worden sei, doch war alle Mühe vergebens. Von dem vielen Umherkriechen müde, sah ich mich nach einem schattigen Ort um, mich für kurze Zeit auszuruhen. Er war sehr bald gefunden. Ich legte mich nieder und pfiff mein Pferd herbei. Indem es graste, betrachtete ich den alten Märwer, der neben mir am Mauerpfeiler stand. Er war hohl. Das Loch befand sich ungefähr zwei Fuß über der Erde. Und nun komme ich auf etwas, was du so oft behauptet hast, Sihdi, nämlich, daß es keinen Zufall gibt. Es war auch wirklich keiner, sondern ich fühlte es wie eine ganz deutliche Aufforderung in mir, in dieses Loch zu greifen, weil etwas darin stecke, was ich unbedingt sehen müsse. Begreifst du das?«

»Ja. Du griffst hinein und fandest diese Kapsel!«

»So ist es! Wer war das, der es mir sagte?«

»Frage nicht, sondern begnüge dich mit dem Funde, der für uns viel, viel wichtiger ist, als du denkst! Hast du dich dann noch lange auf dem Berge aufgehalten?«

»Nein. Sobald ich das Blech geöffnet und den Inhalt gesehen hatte, ritt ich heim. Ich kam zu spät zum Essen, aß aber nach. Als ich nach dir fragte, hörte ich, du schliefest immer noch. Darum sattelte ich. Vielleicht warst du am Abend zu sprechen. Da aber kamst du doch. Ich wollte nicht sofort beginnen, sondern dich bitten, abseits mit mir zu gehen. Denn niemand sollte sehen, was ich dir zu zeigen hatte. Da aber stiegst du auf und Assil ging schleunigst mit dir fort. Ich folgte schnell. So ist es gekommen, daß wir uns hier befinden.«

»Ganz, als ob es genau so beabsichtigt worden wäre! Du mußt schnell fort.«

»Wohin?«

»Nach dem Dschebel Adawa. Wenn es möglich ist, lässest du dich unterwegs von keinem Menschen sehen. Hier nimm die Kapsel mit der Agraffe. Du steckst sie wieder in den hohlen Baum und reitest dann sogleich wieder heim.«

»Warum das, Sihdi?«

»Es ist keine Zeit, es dir jetzt zu erklären. Ich sage es dir später. Der Mann, dem diese Agraffe gehört, darf nicht ahnen, daß sie in unseren Händen gewesen ist. Ich glaube zwar nicht, daß er heut nach dem Berge kommt, will aber sicher gehen. Du reitest augenblicklich und kommst nach deiner Rückkehr sogleich zu mir, damit ich erfahre, ob es dir gelungen ist, den Auftrag unbemerkt auszuführen.«

»Darf ich dich denn verlassen, Sihdi? Kannst du allein heimreiten?«

»Da kommt ja der Kahn. Der Chodj-y-Dschuna will, wie ich sehe, hier bei uns anlegen. Ich werde also nicht allein sein.«

Da steckte er die Kapsel zu sich, schwang sich auf den Barkh und ritt davon, eben als das Boot an das Ufer stieß.

»Erlaubst du, Effendi, daß ich dich für einige Augenblicke störe?« fragte der Gesangslehrer, indem er ausstieg, während der Andere beim Ruder sitzen blieb.

»Du störst mich nicht,« antwortete ich. »Es ist mir vielmehr eine Freude, daß du dich wieder einmal bei mir sehen lässest. Nimm bei mir Platz!«

Er ließ sich mit den Worten nieder:

»Ich komme in einer sehr wichtigen Angelegenheit. Es gab für mich einen Grund, mit dir zu sprechen, ohne daß man darauf merkte, daß ich dich im hohen Hause besuchte. Ich überlegte soeben, wie ich dies anzufangen habe, da sah ich dich bei mir vorüberreiten und ging sogleich zum Boote, um hier auf deine Rückkehr zu warten. Da trifft es sich gut, daß du grad hier abgestiegen und gar nicht weitergeritten bist.«

»So ist es etwas Heimliches, was du mir zu sagen hast?«

»Ja.«

»Aber wir sind doch nicht allein!«

»Du meinst meinen Begleiter hier? Der ist ein treuer Dschamiki und darf alles hören. Er weiß es sogar schon.«

»Ein treuer Dschamiki? Das klingt ja fast so, als ob es auch untreue gebe!«

»Wo das Gute wohnt, baut sich das Uebel immer auch ein Haus. Doch jetzt zu meiner Sache! Ich habe einen Freund in Chorremabad, der Hauptstadt unserer Provinz. Er ist im Herzen ein guter Dschamiki und hat mir über die uns betreffenden Maßnahmen der Regierung schon manche heimliche Nachricht geschickt, welche ich dem Ustad mitzuteilen hatte. Heut, vorhin erst, kam wieder ein Bote von ihm an, der mir eine Mitteilung machte, über welche ich zunächst erschrak. Bei näherer Betrachtung aber fand ich, daß es noch schlimmer, viel schlimmer geworden wäre, wenn der Scheik ul Islam uns so vollständig überrascht hätte, wie es in seiner Absicht liegt.«

»Der Scheik ul Islam?« fragte ich. »Will uns überraschen? Also hierher kommen?«

»Ja.«

»Wann?«

»Er trifft schon morgen ein.«

»Das ist ja gar nichts so Schreckliches, sondern ganz im Gegenteil im höchsten Grade interessant!«

Da hob er warnend den Finger und sprach:

»Effendi, urteile nicht so schnell! Du bist hier fremd, bist sogar krank und kennst die Verhältnisse nicht! Der Scheik ul Islam ist ein sehr hochgestellter, wichtiger Mann, von dessen Macht du wohl noch keine Ahnung hast. Er würde selbst für den Ustad ein Gegner sein, vor dem die größte Vorsicht nötig ist. Darum trifft es sich keineswegs gut, daß unser Herr verreist ist. Ich bitte dich, es mir nicht übelzunehmen, daß ich dich warne! Der morgende Besuch kommt in einer Absicht, hinter der sich alle List versteckt, die uns verderben kann. Darum wollte ich, der Ustad wäre hier!«

»Auch ich wünsche das. Da er nun aber einmal abwesend ist, haben wir den Fall zu nehmen, wie er liegt. Auch er muß, wie alles, mehrseitig betrachtet werden.

Beklagst du es, daß der Scheik ul Islam von einem Fremden empfangen werden muß, so gewährt uns grad dieser Umstand doch auch den gar nicht zu unterschätzenden Vorteil, daß er sich von mir hinhalten lassen muß, er mag beabsichtigen, was er will. Während er den Ustad zu schnellen Entscheidungen verleiten könnte, deren Tragweite sich erst später herauszustellen hat, muß er es sich nun gefallen lassen, von mir vorsichtig ausgehorcht zu werden, ohne daß ich dann verpflichtet bin, auf irgend etwas einzugehen. Du siehst also wohl ein, daß ich, falls es sich um Feindseligkeiten handeln sollte, von den beiden Gegnern derjenige bin, welcher die Schutzrüstung trägt, der andere aber nicht!«

Er nickte zwar nur leise, ließ aber seine Augen forschend an mir niedergleiten, und sagte:

»Vorsichtig ausgehorcht zu werden! Effendi, dazu würde ein Mann gehören, wie ich noch keinen kenne!«

»So warte ruhig, ob du ihn wohl siehst!«

»Der Scheik ul Islam ist wegen seiner hohen geistlichen Würde unantastbar, und über seine persönliche Schlauheit kam noch nie ein Anderer. Dazu ist noch zu legen, daß er ein ganz besonderer Kenner aller unserer Gesetze und Verhältnisse ist, während du dich doch nur erst so kurze Zeit bei uns befindest!«

»Wenn ich nicht will oder nicht kann, so brauche ich weder auf seine Kenntnisse noch auf seine Schlauheit einzugehen. Vor allen Dingen bitte ich dich, unbesorgt zu sein und jedes Vorurteil abzulegen, mag es mich oder ihn betreffen. Ist der Bote deines Freundes noch hier?«

»Nein; er ist schon wieder fort. Die Vorsicht gebot ihm, sich so kurz wie möglich sehen zu lassen. Er macht einen Umweg zurück, um dem Scheik ul Islam ja nicht zu begegnen.«

»Wird dieser mit dem großen Gefolge kommen, welches bei so hohen Würdenträgern fast immer unvermeidlich ist?«

»Das weiß ich nicht. Auch konnte ich nicht erfahren, wie lange er zu bleiben beabsichtigt. Doch sind das ja nur Nebendinge. Die Hauptsache ist, daß ich unterrichtet bin, weshalb er kommt. Mein Freund hat es nämlich zu erfahren gewußt.«

»Ah! Also doch schon Einer, der ihm an Schlauheit über ist! Und du sagtest, daß es Keinen gebe! Das würde mich schon ganz bedeutend beruhigen, wenn ich mich überhaupt gefürchtet hätte. Sind die Ursachen dieses Besuches denn gar so schlimm für euch?«

»Das weiß ich nicht. Und grad diese Ungewißheit halte ich für gefährlich.«

»So sag: Kommt dieser mächtige Herr nur als Scheik ul Islam oder auch als Hekim-i-Schera

Da sah er mich überrascht an und fragte:

»Du kennst die Trennung dieser seiner Würde! Woher kannst denn du das wissen?«

»Es gibt bei uns im Abendlande Leute, welche eure Gesetze und Verhältnisse wahrscheinlich besser kennen, als ihr selbst. Oder weißt du noch nicht, daß ihr euch gelehrte oder auch sonstwie gebildete Männer von uns kommen lassen müßt, wenn es einmal gilt, euch über euch selbst klug zu werden?«

»Das kann ich freilich nicht bestreiten, Effendi. Ob dein Gast nur als Geistlicher oder auch als Richter aufzutreten beabsichtigt, das ist mir unbekannt. Er will dem Ustad einen Antrag stellen, welcher im höchsten Grade verführerisch klingt. Aber wenn man mir so ganz ohne alle sichtbare Veranlassung mit so großen Geschenken kommt, dann wird es mir heimlich angst, weil ich sofort an eine noch viel größere Gegenforderung denke. Der Ustad soll nämlich auch zum Ustad der Takikurden erhoben werden.«

»So! Weiter nichts?« fragte ich lächelnd.

»Weiter nichts!« antwortete er erstaunt. »Ich bitte dich, zu begreifen, was das heißt! Welch eine Machtvergrößerung für uns!«

»Machtverkleinerung, willst du sagen! Wenn du irgendwelche Sorge gehabt hast, so wirf sie getrost von dir! Dieser Scheik ul Islam ist schon jetzt durchschaut. Es fällt dem Ustad nicht mit einem einzigen Gedanken ein, die Seelen seiner Dschamikun für eine hohle Ehre zu verkaufen! Ein einziger braver Dschamiki ist ihm tausendmal lieber als alle Takikurden, deren sämtliche Höflichkeiten doch nur den Zweck hätten, ihn betrunken zu machen, damit er sich zu ihrem willenlosen und verächtlichen Werkzeuge erniedrige! Er wird sich nie in fremde Dienste stellen. Er ist sein eigener Herr und wird es bleiben, ohne nach den tauben Nüssen zu fragen, die man ihm mit so vielverheißender Höflichkeit entgegenträgt.«

Da richtete er sich halb auf und fragte in erwartungsvollem Tone:

»Aber man wird sich rächen! Unnachsichtlich und auf jede mögliche Art und Weise rächen! Hast du hieran gedacht?«

»Natürlich! Die Rache ist dann unvermeidlich. Sie liegt im Wesen dieser Art von Menschen. Doch möge sie nur kommen! Ich habe noch keine Rache gesehen, die sich nicht schließlich selbst vernichtet hat!«

»So bist du also entschlossen, dich von dem Scheik ul Islam nicht verlocken zu lassen?«

»Selbstverständlich! Fest entschlossen! Ich werde ihn genau so höflich behandeln wie er mich. Und er mag greifen, zu welchem Mittel er will, so wird er doch nur erreichen, was mir beliebt!«

Jetzt sprang er vollends auf, richtete sich in die Höhe und rief mit dem Ausdrucke der Erleichterung und der Ueberzeugung aus:

»Da kann ich nun freilich ruhig sein! Effendi, Effendi, ich kam in großer Sorge hierher; du aber hast mir das Herz wieder leicht gemacht! Ich kenne die Macht, welche morgen an dich herantreten wird. Sie schmückt sich mit dem Namen Gottes und des Schah-in-Schah. Sie stellt sich auf die Seite des Bestehens und Erhaltens und hat also das Gesetz für sich. Sie kommt im schimmernden Gewande oder im Bettlerkleide und schmeichelt also den Sinnen und der Menschlichkeit. Sie hofft alles Gute und verzeiht alles Böse. Sie ist geduldig freundlich, demütig, der Inbegriff aller Tugenden in menschlicher Gestalt! Aber, kennst du sie, Effendi?«

»Ja.«

»So ist es genug! Sie wird morgen aus Chorremabad bei dir erscheinen. Sie wird dir schmeicheln, dich absondern, dich –«

»Nein, das wird sie nicht,« fiel ich ein. »Daß sie das könne, mache ich ihr gar nicht weis. Ich werde nicht allein sein, wenn ich den Scheik ul Islam empfange.«

»Wohl der Pedehr wird bei dir sein, weil er der Scheik des Stammes ist?«

»Ja; er und du.«

»Auch ich?« fragte er in schnell aufquellender Freude. »Warum auch ich?«

»Ich will es so. Das sei dir genug.«

Da trat er einen Schritt näher zu mir heran und sprach:

»Effendi, damit ehrst du nicht nur mich, sondern Viele! Ich weiß nicht, ob man es dir schon gesagt hat: Ich lehre nicht nur den Gesang, sondern alles, was dem Geiste und dem Körper am Können nötig ist, auch Turnen, Reiten, Schießen, Exerzieren. Ich habe diesen Unterricht gegründet, als mich der Ustad dazu auserwählte, und dann Gehilfen angestellt, als die Zahl der Schüler sich vermehrte. Wir wirken still, ohne Lärm. Ein guter Lehrer lenkt die Aufmerksamkeit auf seinen Gegenstand, doch nicht auf sich. Darum hast du wohl noch wenig oder nichts von uns gehört. Wer mit dem prahlt, was er lernte, der hat nichts gelernt. Aber gib den Dschamikun Gelegenheit, zu zeigen, was sie können, so werden sie es zeigen, und ich hoffe, du wirst damit zufrieden sein! Ich sehe kommen, was nun kommen wird, und darum will und muß ich dir vor allen Dingen sagen: Wir fürchten keinen Feind! Auch in Beziehung auf das Rennen mit den Persern kannst du ruhig sein. Wir haben gutes Reiter- und Pferdematerial. Ich stehe inmitten unserer Vorbereitungen und werde dir hierüber berichten, sobald es dir beliebt. Der Scheik ul Islam ist ein großer Liebhaber des Aesp-däwani; er hat einen wohlgepflegten Stall und rühmt sich, das „beste Pferd von Luristan“ zu besitzen. Sobald er hier von unserm Rennen hört, bin ich überzeugt, daß er sich zur Beteiligung melden wird. Weise ihn ja nicht ab! Du würdest dadurch unsere Ehre schädigen! Das hatte ich dir zu sagen. Hase du vielleicht noch eine Frage?«

»Weiß ich jetzt alles, was dir der Bote mitgeteilt hat?«

»Ja.«

»So über alles Andere, auch über das Rennen, später. Nur über der Stute des Ustad bin ich mir noch nicht im klaren. Ich glaube, dieser Tifl hat sie gänzlich aus der Schule gebracht.«

»Das ist nur eben richtig, wenn Tifl im Sattel sitzt, sonst aber nicht.«

»Wer aber soll sie reiten?«

»Wer anders als der Ustad?« fragte er verwundert. »Er reitet jetzt nur selten; aber stelle jedes beliebige Pferd gegen seine Sahm, so wird er es besiegen, höchstens deinen Assil ausgenommen! Tifl aber wird vom Rennen ausgeschlossen sein.«

»Warum?«

»Das sage ich dir, sobald es reif geworden ist. Ich vermute, dieser Schwätzer wird nicht lange mehr zu den Dschamikun gehören. Der Ustad hat sich seiner nur aus Mitleid angenommen, und die Nachsicht, die er gegen ihn und Pekala übt, ist Vielen unbegreiflich.«

»Schwätzer?« fragte ich.

»Ja. Es genüge ein Beispiel: Tifl hatte die Perser, als der Bluträcher hier war, über die Grenze zu bringen. Da ist er den ganzen, weiten Weg zwischen dem Mirza und dem Multasim geritten und hat ihnen bereitwilligst Auskunft gegeben über alles, was sie wissen wollten.«

»Von wem hast du das erfahren?«

»Von meinem Ruderer hier, welcher dabei gewesen ist. Kein Dschamiki hat mit diesen Leuten ein Wort gesprochen; nur Tifl allein hielt keinen Augenblick den Mund. Doch damit sei es genug. Ich sehe, daß du aufbrechen willst, Effendi.«

Ich war nämlich auch aufgestanden.

»Ja; ich muß heim,« sagte ich. »Aber ich möchte mich über den See rudern lassen. Willst du dich auf Assil setzen und ihn mir an die Landestelle bringen?«

»Wie gern!« rief er aus. »Einmal deinen Rappen unter mir; das war schon längst mein Wunsch! Läßt er mich hinauf?«

»Wenn ich nichts dagegen habe, ja.«

»So zögere ich keinen Augenblick.«

Er schwang sich in den Sattel. Assil schnaubte verwundert, weigerte sich aber nicht, zu gehorchen. Als der Chodj-y-Dschuna ihn dann in hocheleganten Gängen davontänzeln ließ, sah ich, daß beide gar nicht übel zu einander paßten. Hierauf stieg ich in das Boot, und der Dschamiki legte sich in die Ruder.

So kurz dieser unbeabsichtigte Ausflug gewesen war, ich hatte auf ihm außerordentlich Wichtiges erfahren. Meine Gedanken wollten sich ganz ausschließlich hiermit beschäftigen, und ich mußte mich zwingen, sie auf die Schönheit der Umgebung zu lenken, als wir uns auf der Mitte des Sees befanden.

Ich sah jetzt zum ersten Male die westliche Seite des Thales grad vor mir liegen und alle ihre Linien auf zum Himmel streben. Nur allein der Fuß des Berges hatte sich nicht senkrecht, sondern quer gelagert, doch nicht vollständig wagerecht, sondern schief. Das erinnerte mich an die Struktur der Wände des Wadi Jahfufe, durch welches man im Antilibanon von Muallaka nach Damaskus reitet. Ich betone diese Art der Felsenlagerung besonders, weil sie mich zu einer Entdeckung führte, die ich sonst wohl schwerlich gemacht hätte.

Als ich von hier, von der Mitte des Sees aus, nach dem Alabasterzelte emporschaute, fiel mir etwas auf, was ich von dem Rosentempel aus nicht bemerkt hatte. Das Zelt besaß nämlich die Gestalt einer Krone, deren durchbrochene Kuppel von acht weißschimmernden Flügeln auf dem Ringe getragen wurde. Es stand, wie ich sah, nicht auf dem höchsten Punkte des Berges. Sondern von diesem lief ein heller Felsenstreif, fast wie ein niederwärts gestreckter Arm geformt, bis zu der senkrecht abstürzenden Kante vor und bildete dort eine hand- oder faustförmige Verbreitung, auf welche das Zelt gesetzt worden war. Zu beiden Seiten dieses Felsenstreifens lag nur unfester Steingrus, nur lockeres Geröll. Es bedurfte keiner großen Phantasie, sich einen Wetterguß oder sonst eine Katastrophe zu denken, durch welche dieses lose Gestein in die Tiefe gespült oder gerissen wurde. Dann mußte der felsige Arm sich frei in die Lüfte dehnen, um auf gewaltiger Faust die Alabasterkrone über dem Thale herniederzustrecken. Das war nur so eine ganz flüchtige, schnell vorübergehende Idee, wie man sie hat, um dann lächelnd den Kopf darüber zu schütteln. Aber wie oft verdichtet sich scheinbar Flüchtiges zur festen Form, die uns belehrt, daß die Idee denn doch wohl etwas anderes ist, als nur eine schnell und spurlos zerplatzende Gedankenblase!

Je mehr wir uns dem Ufer näherten, desto mehr wurden meine Gedanken nach unten gezogen. Die schiefe Struktur des Felsens beschäftigte mich. Ich folgte mit dem Auge ganz unwillkürlich den auffallend regelmäßigen Linien dieser Lagerung. Es war interessant, zu sehen, mit welcher Neigungsgleichheit sie alle ohne Ausnahme verliefen. Ohne Ausnahme? Nein; doch nicht! Ich bemerkte eine Stelle, wo dies doch nicht der Fall war. Grad da, wo der Berg am weitesten an den See herantrat, hörten die abwärts gesenkten Linien auf, nicht etwa, um anders zu verlaufen, sondern es gab überhaupt keine mehr. Diese Stelle war nicht groß, nicht breit, aber dicht bedeckt von wuchernden Rankengewächsen, welche von dem Humusboden des Ufers bis in das Wasser niederhingen. Es gab da weder Garten noch Feld, sondern wildliegendes Land, und darum war noch niemand auf den Gedanken gekommen, sich um dieses Gestrüpp und seine Bodenunterlage zu bekümmern. Mir aber fiel diese letztere sofort auf. Ich bin zwar kein Gelehrter, obgleich es wohl auch einige Menschen gab, die mich gar Manches lehrten, aber ich sagte mir doch, daß die Naturlinien da, wo sie aufhörten, durch etwas Anderes ersetzt worden sein mußten, was nicht natürlich, also künstlich war – also durch Menschenhand.

Hundert Andere wären vorübergerudert, ohne sich um diese scheinbare Nebensache weiter zu bekümmern; mir aber konnte das nicht passieren. Ich ließ den Kahn bis ganz nahe an das Gestrüpp treiben und nahm dann dem Dschamiki das eine Ruder aus der Hand. Indem ich mit demselben die Ranken zur Seite schob, sah ich unter ihnen nicht natürliche Felsen, sondern behauene Steine. Das waren genau solche Kolossalblöcke wie diejenigen, aus denen die Cyklopenmauer da drüben am Berge bestand! Ich begann, zu ahnen, und setzte die Untersuchung fort, doch so unauffällig und scheinbar spielend wie möglich, weil der Dschamiki nicht zu erraten brauchte, was für Gedanken oder Vermutungen mich beschäftigten. Und richtig! Endlich, endlich stieß ich durch, vollständig durch! Es gab eine Oeffnung hier, die unter dem schmalen Dorfwege nach dem Innern des Berges führte! Das Wasser war hier tief, sehr tief. Sollte der See etwa durch diese verwachsene Öffnung mit dem Innern des Berges in Verbindung stehen? Die Art des klüftereichen Gesteins ließ dies keineswegs als unmöglich erscheinen. Ich beschloß, dieser Frage anderweit nachzuspüren, und ließ nun nach dem Landeplatze rudern. Dem Dschamiki sah ich an, daß er nichts erriet, ja daß es ihm sehr gleichgültig gewesen war, weshalb ich in dem Pflanzengewirr herumgestochert hatte.

Der Chodj-y-Dschuna erwartete mich mit dem Pferde. Er pries es als das beste Tier, auf dem er je gesessen habe, und erklärte mir, morgen sofort zu kommen, sobald ich zu ihm schicken werde. Ich ritt langsam den Berg hinauf und durch das Thor in den Hof. Dort vergaß ich bei dem, was ich sah, das Absteigen: Halef hatte sich mit samt dem Lager aus seiner Hallenecke heraus vor die Säulen schaffen lassen. Da lag er nun mit bequem erhöhtem Kopfe und sah mich von meinem ersten Ritt nach Hause kehren. Er winkte mit der schwachen, müden Hand. Da ritt ich hin und ließ Assil die Stufen langsam steigen.

»Sihdi, welche Freude!« sagte er. »Wieder zu Pferde! Nun wohl bald auch ich!«

Hanneh saß bei ihm. Sie streichelte ihm zärtlich die Wange und erklärte mir:

»Wir erschraken, als Assil mit dir entfloh; aber Kara, mein Sohn, rief uns zu, daß er dir folgen und dich behüten werde. Das beruhigte uns. Dann sahen wir dich an seiner Seite den See entlang reiten; so brauchten wir uns also nicht zu sorgen. Als Halef später erwachte, erzählte ich ihm, daß du jetzt deinen ersten Ritt versuchest. Da gab er keine Ruhe; er mußte hierhergetragen werden, um dich heimkommen zu sehen. Nun bist du da. Wie freut er sich, der Liebe!«

Ich stieg ab und setzte mich zu ihnen. Assil ging ganz von selbst die Stufen wieder hinunter. Da kam Tifl.

»Effendi, ich werde absatteln,« sagte er. »Aber wenn du wieder reitest, so nimmst du mich mit. Du hast es mir versprochen! Weißt du es noch?«

»Ja. Und was ich verspreche, das halte ich. Wenn du dann nicht mehr mit mir reiten willst, brauchst du es bloß zu sagen.«

Das war eine Andeutung, die er aber nicht verstand. Was mir Kara von ihm erzählt hatte, war mir von dem Lehrer bestätigt worden. Der Lahme stand von jetzt an unter strenger Aufsicht, ohne daß er es ahnte. Und sonderbar: Als er den Rappen fortführte, schaute Halef ihm nach und sagte:

»Ein Gespenst! Ich habe es schon einige Male gesehen – wenn ich die Augen öffnete –. Es stand vor mir und schaute mich häßlich an –. Sihdi, laß diesen Mann nicht her zu mir –; ich mag ihn nicht!«

»So geht es mir mit seiner Pekala,« bemerkte Hanneh. »Warum steht immer Eines von beiden hier bei uns, um nachzusehen, was geschieht, und auch zu hören, was gesprochen wird? Es fällt mir schwer, dies nur für Neugierde zu halten; aber für Spione ist doch wohl hier kein Ort!«

Ich war still. Etwa aus Beschämung? Warum hatte ich Tifl und Pekala gegenüber nicht sogleich dasselbe Gefühl gehabt wie Halef und Hanneh? Wahrscheinlich weil diese beiden Letzteren Naturmenschen waren, welche die Instinkte noch besitzen, die uns im Verlaufe unserer »Bildung« mehr und mehr verloren gehen. Die immer strahlende »Festjungfrau« und ihr »originelles Kind« waren mir so außerordentlich »natürlich« vorgekommen, während ich jetzt immer mehr einzusehen begann, daß eine künstliche, eine nachgeäffte Natürlichkeit nicht mehr natürlich ist. Denn daß ich es hier mit Schauspielereien zu tun hatte, das war mir sehr wahrscheinlich. Darüber, daß ich mich einmal in einem oder zwei Menschen geirrt hatte, kam ich sehr leicht hinweg; um so fürchterlicher aber waren mir die kindlich naiven, rührseligen Masken, von denen ich mich hatte täuschen lassen. Wer so aufrichtig blickt und spricht wie diese beiden Menschen und aber doch nicht wahr und ehrlich ist, als was kann man den noch betrachten und behandeln! Es gibt in Persien eine große Menge von Sekten. Eine derselben, die Schujuch, lehrt, der menschliche Körper sei nur dazu da, daß die Geister einander täuschen; das Erdenleben sei ein großer, ununterbrochener Maskenball, doch keinesweges zum Vergnügen, und je schöner, freundlicher und liebenswürdiger ein Maskenbild erscheine, desto mehr habe man sich vor ihm in acht zu nehmen. Die Kinderlarven aber seien am allerschlimmsten. Ich bin weder Perser noch Sektierer, aber es wurde mir nun gar nicht schwer, mich in den Gedanken zu versetzen, daß Pekala und Tifl hier bei den Dschamikun Redoute spielten. Und ich, der ich die Kinder herzlich liebe, war diesen »allerschlimmsten« in das Garn gegangen.

Ueber Halef freute ich mich. Er schien seit gestern einen bedeutenden Fortschritt gemacht zu haben und bat, bis zum Abende im Freien bleiben zu dürfen. Darum schlug ich vor, hier an diesem Platze später unser Abendbrot zu nehmen, worauf gern eingegangen wurde. Als Hanneh mich fragte, wo Kara geblieben sei, sagte ich nur, daß er gegen Abend wiederkommen werde, und ging dann in den Garten, wo, wie ich hörte, sich der Pedehr befand. Er saß auf der Bank, wo ich von Tifl als Pflaumendieb überfallen worden war. Ich setzte mich zu ihm.

»Kennst du den Scheik ul Islam?« fragte ich.

»Ja,« antwortete er, sofort aufhorchend; »doch nicht persönlich.«

»Hat man sich vor ihm zu fürchten?«

»Du wohl nicht, aber vielleicht wir.«

»Falsch! Ich bin jetzt Dschamiki, so vollständig Dschamiki, daß ich keine Gefahr kenne, die es nicht für mich gibt, sondern nur für Euch. Der Scheik ul Islam wird morgen zu uns kommen.«

»Ist das wahr? Wer hat es gesagt?« rief er erschrocken aus.

»Der Chodj-y-Dschuna.«

»So kommt er allerdings. Der Chodj ist stets gut unterrichtet. Er hat sich nie geirrt, wenn er uns warnte. Wenn der Scheik ul Islam persönlich zu uns kommt, so handelt es sich um eine Sache von allerhöchster Wichtigkeit. Er ist ein Fürst des geistlichen Standes und unternimmt sicher keine solche Reise, ohne die schweren Gründe sorgsam abgewogen zu haben. Effendi, es steht uns nichts Gutes bevor!«

»Warum nichts Gutes. Warum muß es unbedingt Böses sein, was er uns bringt?«

»Weil von dieser Seite überhaupt nichts Gutes kommen kann. Er ist, streng genommen, kein Perser, sondern ein Takikurde. Es gibt ein bekanntes Wort, das lautet: So oft der Taki seinen Blick fromm zum Himmel hebt, tritt er mit dem Fuße einen Menschen nieder. Und dieser tugendheilige Fürst schaut fast immerwährend empor. Wer mag sie zählen, die er schon unter seine leisen, weichen, geräuschlosen Sohlen trat! Wir werden seinen demütigen, gottseligen Augenaufschlag zu sehen, aber auch seine fanatischen Fußtritte zu fühlen bekommen. In seinen Stapfen hebt sich kein Grashalm wieder auf!«

»So lassen wir ihn nur in Dornen treten; das wird uns nützlich und ihm heilsam sein! Ich konnte leider nicht erfahren, ob er allein kommt oder nicht.«

»Allein? Daran ist nicht zu denken! Er muß sich doch mit Glanz und Stolz umgeben, damit seine Demut um so deutlicher hervortrete! Wir werden hohe, sehr hohe Gäste haben, und zwar nicht wenig. Es gilt also, uns vorzubereiten!«

»Nein! Er darf auf keinen Fall bemerken, daß wir von seiner Ankunft gewußt haben. Die Gäste bekommen nur, was grad vorhanden ist. Angeschafft oder zubereitet wird nicht das Geringste. In der Küche darf Niemand Etwas ahnen. Ganz besonders aber hast du dafür zu sorgen, daß Pekala und Tifl nichts erfahren. Das fordere ich streng!«

Er sah still vor sich nieder und sagte nichts dazu. Darum fuhr ich fort:

»Also keine Vorbereitungen, schon dieser Beiden wegen, die absolut nichts merken dürfen! Wo aber werden wir die Gäste unterbringen?«

»In der Halle.«

»Wo Hadschi Halef liegt?«

»Wenn du erlaubst, betten wir ihn fort. Es trifft sich gut, daß Hanneh mich vorhin fragte, ob sie ihn nicht bald hinauf zu sich bekommen könne. Die Pflege werde ihr dadurch erleichtert, und er habe dann auch mehr Ruhe als jetzt in der Halle, die doch stets offen sei.«

»So bettet ihn gleich nach dem Abendessen hinauf! Hanneh hat Recht; ihr Wunsch ist sehr vernünftig. Sag aber auch zu ihr nichts von dem Scheik ul Islam, überhaupt zu keinem Menschen. Wer es erfahren soll, dem sage ich es selbst. Dieser „Fürst“ soll ganz den Eindruck haben, daß er uns vollständig überrasche. Und denke ja nicht an große Gasterei! Es ist sogar sehr möglich, daß weder er noch einer seiner Begleiter einen Bissen von uns bekommt.«

»Effendi, das nimm zurück! Das ist ausgeschlossen, vollständig ausgeschlossen!«

»Warum?«

»Bedenke zunächst die hohe Pflicht der Gastlichkeit!«

»Die kenne ich ebenso genau wie du, und Niemand kann lieber gastlich sein als ich. Nur habe ich abzuwarten, ob der Scheik ul Islam sich gegen uns so benimmt, daß ich ihm erlaube, unser Gast zu sein.«

Da sah er mich groß an.

»Das klingt ja, als ob du dir gar nichts aus diesem hohen Würdenträger machtest!« sagte er.

»Ich mache mir ganz genau das aus ihm, wozu er das Material besitzt, nicht weniger und nicht mehr. Teppiche, Polster, Pfeifen, Tabak, Kaffee, Wasser, das ist ja alles da. Wenn Weiteres gegeben werden soll, ist dann, wenn ich es sage, auch noch Zeit. Zugegen sein werden nur du, der Chodj-y-Dschuna und ich. Er ist der Einzige, mit dem du dich besprechen magst. Ob ich noch andere Dschamikun brauchen werde, das kann ich jetzt nicht wissen; es hat sich erst zu zeigen. Hast du vielleicht einmal vom „besten Pferd von Luristan“ gehört?«

»Schon oft. Es gehört dem Scheik ul Islam und ist der schnellste und ausdauerndste Renner aus der Taki-Zucht. Er wurde nie besiegt, und der Besitzer hat schon manchen Preis mit ihm gewonnen.«

»Wie kam er zu diesem Tiere?«

»Der Stamm machte es ihm zum Geschenk, um seine beispiellose Frömmigkeit und Glaubensstrenge zu belohnen. Es gab noch keinen Taki, der so hoch gestiegen ist wie dieser Mann. Darum sind sie stolz auf ihn und halten es für eine Ehre, ihn den Ihrigen nennen zu dürfen. Er sagt, die Liebe zu dem Pferde sei die einzige irdische Liebe, die er sich erlaube. Und da er seinen Stall gern jedem Rennen öffnet, so ist es gar nicht ausgeschlossen, daß er sich morgen mit anmeldet, sobald er hört, daß hier bei uns gelaufen wird.«

»Soll ich annehmen?«

»Das ist deine Sache, Effendi. Ich sage weder ja noch nein. Ein Pferd, welches noch nie geschlagen wurde, ist ein gefährlicher Gegner. Um so ehrenvoller ist es dann aber auch, es besiegt zu haben. Es handelt sich da vor allen Dingen um den Preis, zu welchem er dich in die Höhe treiben würde.«

»Weißt du vielleicht, ob der Scheik ul Islam in irgend einem persönlichen Verhältnisse zu Ahriman Mirza steht?«

»Nein.«

»Oder zu Ghulam el Multasim?«

»Ja, die sind eng befreundet. Der Scheik ul Islam hat Ghulam sogar zu einem seiner Kasi ernennen lassen und sieht ihn oft als Gast in seinem Hause.«

»Das ist mir wichtig, außerordentlich wichtig! Doch jetzt zu etwas anderem: Ich ließ es bisher ruhen; nun ich aber an Stelle des Ustad stehe, ist es meine Pflicht, mich dieser Sache anzunehmen. Ich war nämlich beim Scheik der Kalhuran und freue mich, daß seine Genesung vorwärts schreitet. Er steht nicht unter Eurer Dschemma; aber du sagtest, daß sein Weib bestraft werden müsse, weil sie Blut vergossen hat.«

»So ist es. Sobald er das Lager verläßt, haben wir über sie zu richten.«

»Hättest du an ihrer Stelle anders gehandelt? Hättest du deinen Gatten vollends erschlagen lassen?«

»Was ich getan hätte, kommt nicht in Betracht.

Wir haben das Gesetz, und nach diesem ist zu verfahren.«

»Also selbst bei Euch herrscht auch noch der Buchstabe, nicht der Geist des Gesetzes!«

»Du irrst. Wir werden die allergeringste Strafe wählen.«

»Aber doch Strafe! Ist es denn nicht möglich, daß sie freigesprochen wird?«

»Nein.«

»Wer hat das Recht der Begnadigung?«

»Der Ustad. Du weißt, daß in Persien jeder Weli oder Beglerbeg die Macht über Leben und Tod, also auch das Begnadigungsrecht besitzt, und der Ustad ist der Weli unseres Bezirkes.«

»Wer hat es jetzt, da er verreist ist?«

»Sein Stellvertreter, also du.«

»So bitte ich dich, zu dem Kalhuri zu gehen. Sage ihm, daß ich an Stelle seiner Frau gewiß auch Blut vergessen hätte. Ich halte sie also für ebenso unschuldig, wie mich und dich und gebe nicht zu, daß sie bestraft wird. Wer einen Menschen einer Tat wegen verdammt, zu der er unter Umständen selbst fähig gewesen wäre, der ist derselben Strafe wert. Gehe sogleich!«

»Effendi, das ist eine frohe Botschaft. Ich eile, sie zu überbringen. Du hast hiermit die Herzen aller Dschamikun und Kalhuran gewonnen!«

Nun ging ich nach meiner Wohnung um die Schlüssel zu derjenigen des Ustad zu holen. Es galt, mich für den morgenden Besuch so weit vorzubereiten, als es notwendig war, über alles Vorkommende genau unterrichtet zu sein. Ich fand eine Mappe, welche alle Schriftstücke enthielt, die sich auf die Abtretung des Gebiets, auf die Verwaltung desselben und auf die Rechte und Pflichten der Dschamikun bezogen. Der Ustad hatte überhaupt dafür gesorgt, daß ich mich sehr leicht zu orientieren vermochte. Es gab überall beschriebene Zettel, welche den betreffenden Inhalt anzeigten, und so fand ich auch ohne langes Suchen das wertvollste aller Dokumente, bei welchem die Notiz lag: Noch nie gebraucht und noch keinem Menschen gezeigt, doch unbedenklich zu benutzen!

Ich öffnete es mit Spannung und las es durch. Es enthielt Abmachungen, welche ohne alle Zeugen zwischen dem Schah und dem Ustad persönlich gepflogen worden waren, und sicherten dem Letzteren einen Schutz, wie ihn kein Weli oder Beglerbeg sich kräftiger wünschen konnte. Eine große Seltenheit war der eigenhändige Namenszug des Beherrschers und die dreimalige Wiederholung des ebenso eigenhändigen Siegels. Hierbei lag noch eine Karte von schwer vergoldetem Pergament. Die vier Ecken enthielten in Handmalerei das persische Wappen, den vor der Sonne liegenden Löwen. Und in der Mitte war, mit der Feder liebevoll kalligraphisch geschrieben, natürlich in persischer Sprache, doch gebe ich es deutsch: »Wer dieses vorzeigt, hat nur mir zu gehorchen!« Auch hierunter der eigenhändige Namenszug und das Siegel, dessen Inschrift aus den Worten bestand: »Als Nasr-ed-Din das Siegel in die Hand nahm, erschallte der Ruf der Gerechtigkeit vom Monde bis zum Fische.« Der Schah, bekanntlich ein eifriger Kalligraph, hatte diese Karte selbst gezeichnet und geschrieben, und sie war darum vorkommendenfalls selbst den Höchsten seines Reiches gegenüber eine Legitimation, welche zu sofortigem Gehorsam zwang.

Hiermit besaß ich schon viel mehr, als ich für morgen brauchte, und schon wollte ich wieder gehen, da wurde die Tür geöffnet und Pekala trat herein. Ihr Gesicht glänzte in der gewöhnlichen, ganz wie begeisterten Freundlichkeit, und es war ein höchst vertraulicher Ton, in dem sie sagte:

»Ich sah den Schlüssel stecken, Effendi, und dachte mir gleich, daß du hier im Zimmer seist. Ich habe zwar keine Zeit, doch für dich immer, und so wollte ich dich fragen, ob ich dir das von meinem Aschyk sagen darf.«

»Laß es hören!«

»Und du wirst aber nichts verraten?«

»Ist es denn ein Geheimnis?« umging ich diese ihre Frage.

»Ja, natürlich!« antwortete sie wichtig. »Ich habe eine ganze Menge von Geheimnissen, von denen Niemand Etwas wissen darf. Dir aber sage ich vielleicht einige davon. Das notwendigste von ihnen allen sollst du jetzt gleich hören. Nämlich mein Aschyk kommt immer nach vier Wochen; das habe ich dir schon mitgeteilt. Kürzlich aber war er einmal außer dieser Zeit hier; das weißt du noch nicht. Kannst du vielleicht erraten, weshalb er kam?«

»Nein. Sag es, und mach es so kurz wie möglich!«

»Warum das? Ich spreche ja immer kurz, Effendi! Mein Aschyk hat nämlich beschlossen, mit unserem Ustad zu reden und ihm Vieles mitzuteilen, was ihn vom Tode erretten kann.«

»Wen erretten? Den Aschyk oder den Ustad?«

»Den Aschyk; vielleicht aber auch beide; ich weiß es nicht genau. Ich soll dem Ustad sagen, daß er nächsten Sonntag kommen werde, grad um Mitternacht. Ich aber komme schon eine Stunde vorher mit ihm zusammen.«

»Und hast du das dem Ustad mitgeteilt?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Weil – weil – weil ich mich vor ihm fürchtete.«

»Vor mir aber nicht?«

»Doch auch! Aber die Zeit verging; der Sonntag ist schon nahe, und wenn ich mich so weiter fürchte und nichts sage, so verliere ich meinen Aschyk. Er hat mir nämlich gesagt, daß er niemals wiederkommen werde, wenn ich nicht ganz gewiß dafür sorge, daß er mit dem Ustad sprechen dürfe. Darum habe ich mir endlich ein Herz gefaßt und diese Bitte zu dir gebracht, weil der Ustad nächsten Sonntag noch nicht wieder hier sein kann. Was sagst du nun dazu?«

Sie wischte sich die feucht gewordene Stirn und atmete erleichtert auf. Es war ihr doch schwer geworden, sich an mich zu wenden.

»Ist es denn dem Aschyk gleich, ob er mich oder den Ustad trifft?« fragte ich.

»Ich denke es. Du stehst ja an des Ustad Stelle, und da die Sache nicht aufgeschoben werden darf, so muß er einverstanden sein.«

»Weiß noch Jemand davon, daß er Sonntag kommt?«

»Nein.«

»Auch Tifl nicht?«

»Tifl? Diesem Schwätzer darf man solche Dinge nicht mitteilen. Er weiß kein Wort!«

Das war eine Lüge, wurde aber mit der ehrlichsten und aufrichtigsten Miene der Welt gesagt. Die kleinen Aeuglein blickten mich dabei so offen, so treuherzig an, daß ich fast glaubte, mich besinnen zu müssen, ob ich mich nicht täusche.

»Hat der Aschyk gesagt, an welchem Orte er mit dem Ustad zu sprechen wünscht?« fuhr ich fort.

»Nein. Das hast nun du zu bestimmen. Willst du mir sagen, wo?«

»Heut noch nicht. Ich werde es dir noch rechtzeitig mitteilen. Und nun höre mich an! Du schweigst gegen Jedermann, auch gegen Tifl! Wenn du einem einzigen Menschen sagst, daß dein Aschyk kommt, um mir etwas zu sagen, so rede ich nicht mit ihm und jage dich aus dem Hause!«

»Effendi,« rief sie aus, indem sie erschrocken zurückfuhr. »Was machst du mir da für fürchterliche Augen. Du hast ja plötzlich ein ganz anderes Gesicht!«

»Das ist mein Gesicht, wenn ich mir etwas vornehme, was ich unbedingt auch ausführe. Du hast es noch nicht gesehen. Hüte dich vor der Wiederkehr! Wenn du nicht schweigst, lasse ich dich noch mitten in der Sonntagsnacht über die Grenze schaffen, ohne zu fragen, was dann aus dir wird! Verstanden?«

»Ja, ja, ganz genau!« versicherte sie, vor Schreck in sich zusammenkriechend. »Effendi, der Ustad ist doch freundlicher als du. Wer hätte das gedacht!«

»Jedes an seinem Orte, die Strenge sowohl als auch die Freundlichkeit! Hast du noch etwas zu sagen?«

»Nein.«

»So geh!«

Sie machte in ihrer inneren Zermalmung einen ganz verkehrten Knix und entfernte sich bedeutend weniger vertraulich, als sie hereingekommen war. Ich aber schloß die Wohnung sorglich ab und ging, mit Schakara zu sprechen.

Wie kam es doch, daß ich gar nicht nach ihr fragte, sondern daß es mir war, als wisse ich ganz genau, wo sie sei? Ich ging durch den Garten. Bei der Quelle angekommen, sah ich die »Schwester« bei den Pferden.

Die Sahm knusperte mit Ghalib im Grase herum. Assil aber hatte sich niedergelegt. Schakara saß neben ihm und flocht, über seinen Hals gelehnt, aus den Mähnenhaaren Zöpfe, in die sie Veilchen wand. Der Rappe langte von Zeit zu Zeit mit dem Maule herüber, um sie freundschaftlich in den Arm zu kneifen. Ich beobachtete das eine ganze Weile; dann ging ich hin und setzte mich zu ihnen.

Es war nichts Unaufschiebbares, was ich mit Schakara zu besprechen hatte. Ich wollte ihr nur mitteilen, wer morgen kommen werde. Aber indem ich dies tat, war es, als ob sich in mir alles Verschlossene öffne, um von ihr gesehen, geprüft und bestätigt oder verworfen zu werden. Sie sprach ganz wenig, und fast nur, wenn ich fragte. Und was sie dann sagte, war so selbstlos, so bescheiden und klang doch fest, bestimmt und zaglos sicher. Ich erkannte mehr und mehr, daß sie etwas unendlich Großes, Schönes, Klares in sich trug, und sann darüber nach, wie es zu nennen sei. Es war gewiß das, was wir »Gebildeten« eine Welt-, eine Lebensanschauung nennen, und doch noch mehr, viel mehr! Diese Anschauung erstreckte sich über noch ganz andere Schätze als diejenigen, welche die sogenannte »Welt« und das angebliche »Leben« uns bieten. Indem ich jetzt mit ihr sprach, tauchte der Augenblick wieder vor mir auf, an dem ich sie von meinem Krankenlager aus zum zweiten Male sah4: Unweit der Tür saß sie mitten im Pflanzengrün. Weiß war ihr Gewand. Sie hatte den Schleier nach hinten geschlagen. Ihr dunkles Haar hing in langen, schweren Flechten herab. Die schlanken Finger glitten über die Saiten der Sandurah. Darf man ein menschliches Wesen mit einem Gedicht vergleichen? Man sagt ja, daß der Mensch das herrlichste Gedicht der ganzen Schöpfung sei. Wenn nicht das herrlichste, aber gewiß eines der frömmsten sah ich hier!

Damals waren es Harfentöne, die ich von ihr hörte. Sie spielte, damit meine und Halefs Seele festgehalten werde. Jetzt waren es Worte, die ich von ihr vernahm; aber Alles, was und wie sie es sagte, hatte eine tiefe, innige Verwandtschaft mit jenen Harfenklängen. Es war Alles so melodiös, so harmonisch, so voll, so rein, so ganz ohne jede Spur von Dissonanz. Ich sprach weiter und weiter, nur um diese Lippen antworten zu hören, aus denen nichts Trübes, nichts Entweihtes klingen konnte. Es war, als ob ich ihr alle meine Gedanken hinübergeben müsse, um sie geläutert und geklärt dann wieder in Empfang zu nehmen. Hatte Marah Durimeh das gewußt, als sie schrieb, daß ich der Geist sein solle, sie aber die Seele, meine Schwester? Psychologie, nicht theoretisch, sondern praktisch gelehrt! Nicht aus wissenschaftlichen Leitfäden getüftelt, sondern aus dem Geistes- und Seelenleben direkt und ohne Deutelei herausgegriffen!

So saßen wir viel länger, als ich beabsichtigt hatte, beieinander, bis Kara Ben Halef mit seinem Barkh kam und mir meldete, daß es ihm gelungen sei, meinen Auftrag auszuführen, ohne von Jemand gesehen zu werden. Er habe die betreffende Stelle genau untersucht und sei überzeugt, daß kein anderer Fuß sie inzwischen betreten habe. Da es Zeit zum Abendessen war, so forderte ich ihn auf, mit uns zu kommen, um an demselben teilzunehmen. Er lehnte aber ab, weil er für die langsame Abkühlung Barkhs zu sorgen habe, damit dieser ja nicht etwa verschlage. Er war in Allem, was in seinen Händen lag, so wohlbedacht, gewiß mehr ein Erbteil von seiten seiner Mutter als seines Vaters, des oft nur allzu schnellen Hadschi, dessen lebhaftes Temperament der ruhigen Ueberlegung gern aus dem Wege ging.

Nach dem Essen zog ich mich hinauf zu mir zurück, um Alles, was ich von den Sachen des Ustad zu verbrennen hatte, einer vorherigen Prüfung zu unterwerfen. Ich gewann da einen tiefen Einblick in sein Leben, in sein menschenfreundliches Wollen und Empfinden. Die Zeitungen widerten mich an. Ich hatte erklärt, sie nicht durchlesen zu wollen, und tat es auch nicht. Aber indem ich die Blätter einzeln durch meine Hände gehen ließ, blieb mein Auge doch zuweilen an dieser oder jener Stelle haften, und dann flog der zerknitterte Bogen so weit wie möglich fort von mir. Man sollte es kaum für möglich halten, mit was für Quatsch und Tratsch und Klatsch sich jenes sonderbare Wesen befaßt, welches denen, die es besitzen, weißmacht, daß sie geistreich seien! Wenn der Ustad das Alles wirklich durchgelesen hatte, so war es sicher eines der größten Wunder, daß er der Menschheit seine Liebe noch immer treu bewahrte. Es muß doch etwas Großes um die wahre, nicht geheuchelte, sondern wirklich aus dem Herzen wirkende Humanität sein, wenn sie die Kraft besitzt, auf ihrem allgemein menschlichen Standpunkte selbst gegen diejenigen Widersacher auszuhalten, die sich nicht scheuen, nur mit den Waffen des Sonderinteresses anzugreifen und dabei doch zu versichern, daß sie die Verfechter der allgemeinen Menschheitsrechte, des edlen Menschentums seien. Hinweg also mit diesen Elaboraten! Ich warf sie auf den Herd, brannte sie an, und als die Flamme emporschlug, flog auch die »Rechtfertigung« hinein, die ganz ohne allen Grund geschrieben worden war.

Nachdem ich mich hierauf noch einige Zeit mit den Werken des Ustad beschäftigt hatte, ging ich schlafen und wachte nicht eher auf, als bis draußen an meine Tür geklopft wurde. Daß man mich weckte, mußte eine sehr triftige Ursache haben. Ich stand auf und öffnete. Der Pedehr war es.

»Verzeihe, Effendi, daß ich dich wahrscheinlich im Schlafe gestört habe!« sagte er. »Es wird nicht lange dauern, so ist der Scheik ul Islam da.«

»So zeitig? Woher weißt du es?« erkundigte ich mich.

»Ich sprach gestern abend noch mit dem Chodj-y-Dschuna. Er hielt es für gut, zu wissen, woran man sei. Darum ist er dann fortgeritten, in der Richtung nach Chorremabad. Er kam bis an den Grenzduar der Dschamikun und erfuhr, daß der Scheik ul Islam dort übernachte und heute mit dem frühesten Morgen aufbrechen wolle. Er gebot Verschwiegenheit und ist nun hier, weil du gewünscht hast, daß er anwesend sei. Sonst aber weiß Niemand davon. Wirst du jetzt herunterkommen ?«

»Nein. Schicke mir das Frühstück herauf! Wer kommt Alles mit?«

»Es sind, Herren und Diener zusammen, fünfzehn Personen, alle sehr gut beritten und bewaffnet. Man hat ihnen dort im Duar gesagt, daß kein Fremder ohne die besondere Erlaubnis des Ustad bei uns Waffen tragen dürfe, sondern sie abzugeben habe, sobald er das Gebiet der Dschamikun betritt. Sie haben sich aber geweigert, dies zu tun.«

»Nun, was dann? Hat man sie gezwungen?«

»Nein. Man hat geglaubt, nicht streng verfahren zu dürfen, weil es der Scheik ul Islam sei. Natürlich werden sie auch hier am ersten Hause angehalten. Wenn du willst, werde ich sie unbedingt entwaffnen lassen. Wollen sie es sich nicht gefallen lassen, so mögen sie umkehren, und ich lasse sie von einer Reiterschar begleiten, bis sie über die Grenze sind.«

»Recht so, Pedehr! So gefällst du mir! Es gibt keinen einzigen Menschen, vor dem wir Ursache, uns zu fürchten, hätten, und Furcht ist überhaupt die größte Torheit, die ich kenne. Aber Alles an seinem Ort und zu seiner Zeit! Faust gegen Faust, doch gegen List nichts Anderes als eben auch wieder List! Wenn man mich vor der Schlauheit dieses Scheik ul Islam warnt, werde ich mich hüten, wie ein dummer Bär mit Tatzen dreinzuschlagen. Und wenn wir fünfzehn Personen gleich am Eingange des Duar entwaffnen wollten, müßte ich so viele Dschamikun hinstellen, daß man sich sofort sagen müßte: die haben gewußt, daß wir kommen! Und grad das soll ihnen doch verheimlicht werden! Lassen wir es also laufen, wie es läuft! Ihr beide, nämlich du und der Chodj-y-Dschuna, habt sie mit allen Zeichen der Ueberraschung zu empfangen und in die Halle zu führen, wo Ihr Euch mit ihnen unterhaltet, bis ich komme.«

»Soll ich dich holen lassen?«

»Nein. Um die Ansicht, daß wir nichts gewußt haben, zu verstärken, sagst du, daß ich nicht daheim sei, sondern einen Spaziergang gemacht habe. Das werde ich auch tun, doch gar nicht weit. Ich sorge dafür, daß ich ihre Ankunft bemerke, und werde mich dann in der Halle einfinden. Jetzt geh! Also mein Frühstück möglichst schnell!«

Er entfernte sich und schickte es mir sofort herauf. Als ich es eingenommen hatte, schloß ich bei mir zu und ging in die Wohnung des Ustad, um die goldene Karte des Schah zu mir zu stecken. Es war leicht möglich, daß ich sie brauchte. Dann schloß ich auch hier zu und ging, aber nicht die Treppe, sondern hinten den Glockenweg hinab, der nach dem Garten, dem Bade und der Pferdeweide führte. Ich sah Niemand, der mich bemerkte. Da es mir darauf ankam, die Ankunft des Scheiks ul Islam zu beobachten, so suchte ich einen Ort, von welchem aus es möglich war, dies unbemerkt zu tun. Der ganze, lange Rand des Gartens und der Weide war mit dichtem Gebüsch eingefaßt, hinter welchem die Gigantenmauer senkrecht niederfiel. Durchdrang ich dieses Strauchwerk bis zur Mauerkante, so bot sich mir dann dort die freie Aussicht, die ich wollte. Ich wendete mich also nach einer Stelle, wo eine Lücke durch die Büsche zu führen schien, sah aber, als ich sie erreichte, daß sie nicht ganz hindurchführte. Sie war vielmehr wie eine Laube geformt und rundum mit einer Rasenerhöhung zum Niedersetzen versehen. Das Grün war hier so wirr und dicht, daß man nicht einmal hindurchsehen und also noch viel weniger hindurchdrängen konnte, ohne Aeste und Zweige loszubrechen. Aber gleich daneben standen einige Tamarisken so, daß ich mich zur Not hindurchdrängen konnte, ohne sie zu beschädigen. Ich tat es, konnte aber nicht ganz bis vor kommen, sondern mußte mich dann nach der Seite, also hinter die Laube, wenden. Dort fand ich, was ich suchte. Es gab genug Zweige, mich vollständig zu verstecken, und doch so viele Oeffnungen zwischen denselben, daß ich das ganze Tal und auch, nur einige Windungen abgerechnet, den zu uns heraufführenden Weg übersehen konnte. Ich machte es mir so bequem wie möglich und richtete mich auf längeres Warten ein, was aber gar nicht nötig gewesen wäre, denn eben, als ich mich lang ausgestreckt und den Kopf in die Hand gestützt hatte, kam von rechts unten eine Reitertruppe, die keine andere als diejenige des Scheik ul Islam sein konnte. Ich zählte freilich mehr als fünfzehn Pferde, doch kamen die überzähligen auf die Dschamikun, welche ihm von dem Grenzduar aus das Geleit gegeben hatten.

Fünf der Tiere waren nach reicher, persischer Reschma-Art geschirrt, eines von ihnen ganz besonders auffallend. Der Mann, welcher auf diesem saß, trug einen Taki-Turban von ungeheurem Durchmesser auf dem Haupte. Von dieser, mit einigen hohen, bunten Federn geschmückten Wulst ging ein weißer Schleier, welcher wie ein Mantel nicht nur den Reiter, sondern auch den ganzen hintern Teil des Rosses bedeckte.

Sollte diese so in die Augen fallende Gestalt etwa der fromme Würdenträger sein? Der Demütige? Der Mann mit den leisen, weichen, geräuschlosen Sohlen? Indem ich mir diese Frage vorlegte, betrachtete ich auch die Andern, welche völlig schmucklos ritten und natürlich dienstbare Personen vorstellen sollten. Einer von diesen hielt sich ganz am Ende. Er trug einen sehr gewöhnlichen Taki-Anzug, saß aber auf einem Pferde, welches meine ganze, übrige Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Die Entfernung war zu groß, als daß ich Einzelheiten bemerken konnte, aber dieser Adel in der Haltung, diese Lebensfülle in jeder Bewegung, diese graziöse Sicherheit des Schrittes und dieses spannkräftige Selbstbewußtsein trotz der Schenkel und Zügel, das war mir genug zu der Annahme, daß es das beste, das wertvollste Pferd von allen fünfzehn sei – ein Hellbrauner mit zwei weißen Vorderstiefeln!

Der Trupp bog nach dem Wege zum hohen Hause ein. Weil hierdurch die Entfernung sich stetig verringerte, bekam ich dieses Pferd immer deutlicher zu sehen, und indem ich es auf einen Kaufwert von ganz sicher wenigstens neuntausend Mark deutschen Geldes abschätzte, sagte ich mir, daß der Daraufsitzende unmöglich zu den Sijas gehören könne.

Es waren also sonderbarerweise zwei Personen, welche mir nicht als das vorkamen, für was man sie allem Anscheine nach halten sollte. Der Weißverschleierte und der letzte Reiter waren beide höchst wahrscheinlich in ihrer äußern Erscheinung darauf berechnet, uns zu täuschen. Der Eine sollte höher, der Andere niedriger erscheinen, als er eigentlich stand. Die Würde des Ersteren konnte mir gleichgültig sein, die des Letzteren aber nicht. Wenn von diesen Leuten einer überhaupt mehr war, als er zu sein schien, so hatte ich gewiß alle Veranlassung, mit meiner Vermutung nicht nur bis zur nächsten, sondern gleich bis auf die höchste Stufe zu steigen: Der vermeintliche Reitknecht war der Scheik ul Islam selbst!

Indem mir diese Gedanken durch den Kopf gingen, sah ich Tifl, welcher drüben auf dem Wege erschien, um aus irgend einem Grunde hinab nach dem Duar zu gehen. Er wußte nichts von der Ankunft dieser Leute und blieb darum überrascht stehen, als er sie erblickte. Als sie ihn erreichten, sprach er auf sie, und da war es mir höchst interessant, zu bemerken, daß ihn die voranreitenden Vornehmen von sich ab und auf den letzten Reiter verwiesen. Das war ein Umstand, durch welchen meine Vermutung fast zur Gewißheit erhoben wurde.

Er winkte den Andern zu, weiter zu reiten, und blieb bei Tifl stehen. Dieser Wink verriet mir, daß er der eigentlich Befehlende sei. Sie sprachen eine kleine Weile miteinander; dann ließ der Fremde seinen Hellbraunen wieder vorwärtsgehen, und Tifl kehrte um und schritt, sich lebhaft mit ihm unterhaltend, an seiner Seite, bis beide hinter der letzten, obersten Biegung des Weges verschwanden.

Wie gut, daß ich hierher gegangen war, um zu rekognoszieren! Ich hatte dadurch erfahren, daß es dem Scheik ul Islam höchst wahrscheinlich beliebte, mit uns schauspielern zu wollen, und war nun also auf die beabsichtigte »Komödie der Irrungen«, falls sie wirklich versucht werden sollte, wohl gefaßt! Da ich nicht den geringsten Grund hatte, diese Gäste auf die Idee zu bringen, daß man vor Freude über ihr Kommen außer sich sei, so beeilte ich mich nicht im geringsten, sondern blieb noch eine ganze Weile auf meinem Platze sitzen. Und wie gut das war, stellte sich heraus, als ich Schritte hörte, welche sich sehr eilig der Laube näherten, hinter der ich lag. Zwei Personen traten ein.

»Niemand hat uns gesehen; das ist gut!« hörte ich Tifls Stimme sagen. »Er fragte, ob es einen Ort gebe, wo er unbemerkt mit dir sprechen könne. Darum eilte ich, dich hierher zu bringen. Nun schicke ich auch ihn.«

Nach diesen Worten ging er wieder fort. Wer war die Person, die sich nun allein in der Laube befand? Ich sollte nicht lange zu warten haben, es zu erfahren. Es kamen wieder Schritte, eilig aber leise, vorsichtig schleichend und wie auf weichen Sprungfedern fußend.

»Du bist die ungläubige Türkin Pekala?« wurde gefragt.

»Ja,« antwortete sie, die Falschheit ihrer Religion unbedacht mit bestätigend. »Und wer bist du?«

»Wie ich heiße, brauche ich nicht zu sagen; aber ich bin der Freund dessen, der sich deinen Aschyk nennt.«

Da schlug sie die Hände klatschend zusammen und rief aus:

»Der Freund meines Aschyk! Wie mich das freut! Wer hätte gedacht, daß –«

»Nicht so laut!« unterbrach er sie gebieterisch. »Kein Mensch darf wissen, daß ich ihn kenne und daß ich mit dir sprach – du Liebliche, du Blühende!« fügte er in plötzlich ganz weichem, schmeichelndem Tone hinzu. »Ich will dir aber beweisen, daß ich dich und ihn und eure Liebe kenne. Er wird nächsten Sonntag kommen, eine Stunde vor Mitternacht, und du wirst an einem hoch aufgerichteten Mauersteine auf ihn warten. Erkennst du hieran, daß ich sein Vertrauter bin, sein Freund und also auch der deinige?«

»Ja, ich vertraue dir,« versicherte sie. »Du hast gewiß auch so ein edles Männerherz wie er und weißt, was ein edles Frauenherz bedeutet!«

Es war ein Räuspern zu hören, als ob er mit einem unzeitigen Lachen zu kämpfen habe. Ich konnte beide nicht sehen, wußte aber, daß ich ihn an seiner Sprache sofort erkennen würde. Er sprach die gutturalen Spiranten mit mehr als gewöhnlicher kurdischer Schärfe aus und hatte ein so uvular schnarrendes Rrrrrr, als ob er an einer bösartigen Zäpfchenkrankheit leide.

»Ich weiß sogar, weshalb er diesmal kommt,« fuhr er fort. »Er will mit dem Ustad sprechen, und weil dieser nicht hier ist, mit dem fremden Effendi, da es nicht aufzuschieben ist. Ich ahnte nichts von der Anwesenheit dieses Stellvertreters, und es hat sich erst zu zeigen, ob sie gut oder nicht gut für uns ist. Dein Aschyk muß unbedingt als Gast im Hause des Ustad aufgenommen werden. Es war bezweckt, er solle in den Räumen wohnen, welche euer Herr sein „Grab“ zu nennen pflegt. Leider habe ich von diesem Tifl erfahren, daß dort der Fremde aufgenommen worden ist. Dafür sind aber nun die eigenen Stuben des Ustad frei geworden, und es würde uns genügen, wenn dein Aschyk nun wenigstens doch diese bekäme. Du bist die Herrin dieses Hauses, Pekala. Das weiß ich ganz genau. Und deiner Freundlichkeit kann Niemand widerstehen. Dein Aschyk wird den Effendi unbedingt bewegen, ihn bei sich aufzunehmen, aber wo! Ich hörte, daß du diesen Mann durch deine Holdseligkeit ganz für dich gewonnen habest. Nun sag: Glaubst du, ihn bewegen zu können, den Beglücker deines edlen Frauenherzens in den Räumen des Ustad wohnen zu lassen?«

»Sogleich, sogleich wird er es mir erlauben!« jubelte sie so unvorsichtig auf, daß er ihr in schnellem Zorne befahl:

»Schweig, unvorsichtige Katze! Dein falsches Maul hat schon genug verraten; mich aber soll es nicht –«

Er hielt mitten im Satze inne und fuhr mit vollständig verändertem Ausdrucke fort:

»Mein Herz begreift die Größe deines Glückes, den Aschyk als geliebten Gast hier bei dir zu haben, du treue, schöne Blume seines Lebens, aber ich bitte dich, dieses Glück tief und schweigsam in dich zu verschließen, bis die ersehnte Zeit gekommen ist, in welcher du es nicht mehr zu verheimlichen brauchst! Du weißt ja, daß das Leben des Aschyk von deiner Verschwiegenheit abhängt, und das deinige wahrscheinlich auch!«

»Chodeh! Auch mein Leben? Mein eigenes?« fragte sie erschrocken.

»Ja. Seine Feinde sind auch die deinigen, und wenn sie ihn töten, können sie dich nicht leben lassen!«

»Wer aber sind sie denn? Er hat sie mir noch nie genannt.«

»Um den Blick deiner strahlenden Augen nicht zu trüben, der ihm über alles Andere geht. Darum schweige auch ich. Dein Herz soll rein und unbefangen bleiben. Den Ustad kenne ich, doch den Effendi nicht. Was ist er für ein Mann? Welcher ist der klügere von beiden?«

»Kein Mann ist klug. Man hat sie alle zu erziehen. Ich habe da eine ganze Menge von Geheimnissen, die ich den meisten Menschen nicht sage, denn ich denke, daß sie es verraten. Zu dir aber habe ich Vertrauen. Darum will ich dir eines davon mitteilen: Der Ustad ist mir lieber als der Effendi.«

»Aus welchem Grunde?«

»Weil der Effendi mich fortjagen will.«

»Warum?«

»Wenn ich es Jemandem verrate, daß er mit meinem Aschyk sprechen wird.«

»Oh Allah, welche Dummheit sondergleichen! Und so ein Weib will Männer erziehen und –«

Wieder brach er mitten im Satze ab, um sie nicht zu beleidigen. Dieser Mann verstand es nicht, sein Temperament zu beherrschen. Oder nahm er sich nur deshalb nicht besser in acht, weil er wußte, es mit einer »leeren Null« zu tun zu haben ? Wie freundlich und gelassen klang es dagegen, als er fortfuhr:

»Fühlst du denn nicht, daß dieser Effendi dafür nicht zu tadeln, sondern zu loben ist? Ich weiß, daß du einen scharfen Verstand besitzest. Du wirst also einsehen, daß er nur in der besten Absicht Verschwiegenheit gefordert haben kann. Auch ich bitte dich, nichts zu verraten. Er konnte dir nur drohen, dich fortzujagen; ich aber weiß, daß es dein sicherer Tod ist, wenn du plauderst. Die Feinde deines Aschyk sind erbarmungslos, besonders gegen dich. Darum hüte dich, und schweig! Ich habe von diesem Effendi schon oft gehört, werde ihn aber heut zum erstenmale sehen. Ist er gutmütig?«

»Sehr!«

»Scharfsinnig?«

»Ganz und gar nicht! Er glaubt Alles, was man sagt!«

»Kennt er die hiesigen Verhältnisse?«

»Nein. Da ist mein Tifl hundertmal gescheiter!«

»Wie steht es mit seiner Religion?«

»Der hat gar keine. Es gibt hier gewiß Niemand, der ihn schon einmal beten sah.«

»Ist er ein schöner Mann?«

Sie schwieg, wahrscheinlich um über diese Frage nachzudenken. Der sie aussprach, war ganz gewiß kein schlechter Menschenkenner, und die Köchin ahnte nicht, was er mit dieser höchst überflüssig erscheinenden Erkundigung eigentlich bezweckte. Dann antwortete sie:

»Er ist nicht schön und auch nicht häßlich. Er hat ein ganz gewöhnliches Gesicht. Ich glaube, wenn er kein Fremder wäre, würde man ihn gar nicht beachten.«

»Maschallah! Das klingt nicht gut! Mir wäre es lieber, du hättest ihn schön genannt. Doch antworte mir weiter: Hat er Eigentümlichkeiten? In der Stimme, in der Sprache, in der Haltung, im Gange oder sonst irgendwie?«

»Nein, gar nicht. Er ist ein Mann wie alle andern Männer. Du brauchst dich ganz und gar nicht vor ihm zu fürchten. Er ist nicht halb so vornehm wie du!«

»Woher weißt du das?«

»Ich sehe es dir an. Du brauchst nur andere Kleider anzulegen, so ist der Pascha fertig!«

»Meinst du, meine liebe Pekala?«

Das klang geschmeichelt. Der Mann war also eitel! Das bestätigte sich durch seine folgenden Worte:

»Ich muß jetzt fort und sage dir, daß du mir gefallen hast. Ich möchte dir das durch ein Geschenk beweisen, welches ich dir durch deinen Aschyk sende. Ich weiß, du liebst den Schmuck und schöne Kleider, die du einstweilen in den Ruinen aufbewahrst, bis bessere Tage kommen. Wünsche dir Etwas?«

»Sehr gern! Aber was?« fragte sie da schnell.

»Was du willst!«

»Ja, bist du arm oder reich?«

»Wünsche nur! Dann sage ich dir, ob du es bekommst oder nicht!«

Das klang wieder so kalt, so gebieterisch, als ob er sie nicht soeben seine »liebe Pekala« genannt hätte. Dieser Mann wurde mir immer interessanter.

»Schicke mir eine goldene Naddara!« bat sie in ihrem süßesten Diskante.

»Eine Naddara? Wozu?« fragte er erstaunt.

»Es sieht so vornehm aus und so gelehrt. Ich sah in Isphahan sehr oft eine Madama aus Rußland. Die hatte stets zwei Gläser vor den Augen, wenn sie aus der Sänfte stieg. Das war so stolz. Man konnte sie für die Kaiserin von Rußland halten. Darum will ich auch eine Naddara. Aber von Gold muß sie sein, sonst nicht!«

»Weib, du bist verrückt! Es wohnt ein böser und dabei ungeheuer lächerlicher Geist in dir, den ich zerdrücken werde, sobald –«

Er wurde in diesem Ausbruche des Zornes, der zugleich verächtlich klang, unterbrochen. Tifl kam und meldete:

»Der Scheik ul Islam sendet mich. Er läßt dich bitten, zu kommen. Ich führe dich.«

»Sogleich!« gab der Andere streng zurück. Und ebenso streng oder noch strenger klang es weiter: »Du sollst die Naddara haben, Pekala, und zwar eine so scharfe, daß dir die Augen übergehen! Der Effendi hat Recht gehabt mit der Verschwiegenheit. Auch ich fordere sie von dir, von Euch. Für den Verrat gibt es weiter nichts als nur den Tod. Das merke, Tifl, du auch dir! Und nun führe mich zu meinen Leu – zum Scheik ul Islam, doch ohne daß man merkt, wo ich jetzt war!«

Er ging mit Tifl fort. Dann hörte ich, daß auch Pekala sich entfernte. Wer er war, das wußte ich nun. Er hatte es selbst verraten, und zwar durch das nur halb ausgesprochene Wort: »Führe mich zu meinen Leu –.« Leuten hatte es heißen sollen. Er war der Scheik ul Islam selbst, und der Andere, der nach ihm geschickt hatte, sollte diese Rolle mimen.

Ich wartete nur ganz kurze Zeit, dann verließ ich meinen Platz, schob mich zwischen den Tamarisken wieder hinaus, und als ich sah, daß Niemand hier war, ging ich nach dem Garten und durch diesen auf den Hof. Da standen die Pferde der Perser, die Diener dabei. Auf den Stufen lehnte Tifl an einer der Säulen; an einer andern der kurdisch gekleidete Reiter des Hellbraunen mit den weißen Vorderstiefeln. Beide sprachen miteinander und sahen nicht, woher ich kam. Ich grüßte die Reiterknechte freundlich und blieb bei den Pferden stehen, um sie zu betrachten. Ich wünschte aber nicht, für einen Kenner gehalten zu werden, und verhielt mich also dementsprechend. Da sah mich Tifl und machte den Kurden auf mich aufmerksam. Dieser schaute zu mir her und betrachtete mich scharf.

Er war von hoher, schön gebauter Gestalt. Sein lang herabwallender, grauer Vollbart war sehr, sehr dünn, als ob die Natur nicht genug guten Willen vorgefunden habe, das auszuführen, was sie wollte. Er sah, daß ich bei den minderwertigen Pferden länger verweilte, als bei den guten und an dem Stiefelbraunen so gleichgültig vorüberging, als ob er ein ganz gewöhnlicher Gaul sei. Da machte er eine Bemerkung gegen Tifl, die jedenfalls keine hochachtungsvolle war, denn er warf dabei den Kopf verächtlich nach hinten auf die Seite. Auch die Diener lächelten über mich, wenn auch nicht so auffallend, daß ich es hätte bemerken müssen, wenn ich nicht besonders aufgepaßt hätte. Mir war das recht. Je weniger man uns zutraute, umsomehr hatte man dann zu bereuen.

Als ich nun langsam auf die Stufen zuschritt, stand Kara Ben Halef auf, der oben auf dem Dache der Halle gesessen hatte. Er rief mir seinen Morgengruß herab.

»Komm herunter, Kara!« forderte ich ihn auf. »Ich höre, daß der Scheik ul Islam gekommen ist. Auch du sollst ihn begrüßen.«

Ich sagte das so laut, daß man es in der Halle hören mußte. Meine Absicht war, der Pedehr möge kommen. Sie wurde erreicht. Er erschien sogleich, kam sämtliche Stufen zu mir herunter und meldete mir den Besuch in ganz der Weise, als ob ich nichts davon gewußt habe.

»Du kennst den Scheik ul Islam also nicht persönlich?« fragte ich ihn halblaut, und wendete mich dabei so ab, daß Tifl und der Kurde meine Worte nicht verstehen konnten.

»Nein,« antwortete er.

»Welcher Dschamiki hat ihn schon gesehen?«

»Ich weiß keinen. Der Scheik ul Islam war früher in Feraghan und wurde erst vor noch nicht einem Jahre in die Nähe seines Stammes versetzt. Nur der Ustad kennt ihn genau. Er ist nicht so bescheiden, wie ich dachte, aber höflich. Daß der Ustad verreist ist, hat er erst in unserem Grenzduar erfahren.«

Während er das sagte, deutete er mit der Hand nach dem Tempelberge hinüber, um glauben zu machen, wir redeten von etwas vollständig Unverfänglichem.

»Wer ist der Kurde, welcher bei Tifl steht?« erkundigte ich mich noch.

»Der Katib des Scheik ul Islam. Er hat bei ihm an seiner Seite zu sitzen, doch blieb sein Platz bisher leer.«

»So komm!«

Wir gingen die Stufen hinauf. Da kreuzte der Katib die Arme und verbeugte sich höflich lächelnd vor mir. »Der Morgen sei dir gesegnet!« grüßte ich, indem ich ihm freundlich zunickte.

»Und dir der ganze Tag!« antwortete er.

Ah, diese Stimme! Und dieses uvulare Schnarren! Er war es, der mit Pekala gesprochen hatte, also der Scheik ul Islam! Er kam gleich hinter uns her und begab sich nach seinem Platze. Die Perser standen auf, als ich erschien, verbeugten sich sehr höflich und blieben hierauf stehen, um meine Anrede zu erwarten. Ich ging bis auf die von der Sitte vorgeschriebene Entfernung auf sie zu, breitete die Arme aus, verbeugte mich, verschlang sie auf der Brust, verbeugte mich wieder, breitete sie mit einer dritten Verbeugung abermals aus, ließ sie hierauf sinken und erhob nur die rechte Hand, um eine verbindliche Geste zu machen und dabei zu sagen:

»Der Mensch kennt nie das Glück des nächsten Tages. Allah allein weiß, was er senden will. Ist er es, der uns mit euch überrascht, so habe ich ihm zuerst und dann auch euch zu danken. Vor dem Scheik ul Islam gibt es nie verschlossene Türen, denn Allah will, daß sein Priester überall nur Freude bringe. Setzt Euch, und weilt, so lange es Euch beliebt!«

Sie verbeugten sich, wie eingeübte Statisten, und der Träger des Riesenturbans sprach:

»Der Scheik ul Islam bin ich, Effendi. Du sollst erfahren, wer meine Begleiter sind.«

Indem er auf jeden Einzelnen deutete, sagte er Namen und Stand desselben. Die geistlichen Herren nannte er vorerst, die Offiziere hinter ihnen. Es war ein Ahalyj-y-Dschennet, ein Wehlijullah, ein Imam-y-Dschuma, ein Särtib-y-Aewwäl, ein Särtib-y-Duwwum, und zuletzt kam noch der Schreiber! Man sieht, der Glanz war da. Ich verbeugte mich vor Jedem, wie auch er sich vor mir; dann setzten wir uns nieder. Die hohen Herren bildeten eine Linie. Nur der Schreiber saß ein wenig zurück, neben dem Scheik ul Islam. Er raunte ihm sehr häufig zu, was er sagen solle. Zwar suchte er die Bewegung seiner Lippen unter dem Barte zu verbergen, doch war dieser so dünn, daß ich sie doch bemerkte. Ich saß grad vor ihnen, rechts von mir der Pedehr, links der Chodj und etwas zurück Kara Ben Halef. Die ersten beiden hatten sich den Persern schon vorgestellt. Kara konnte ich gelegentlich nennen.

Ich schwieg, denn ich hatte meine Pflicht getan, und nun erforderte es die Höflichkeit, den hohen Gast beginnen zu lassen. Er ließ auch gar nicht auf sich warten.

»Ich bin gekommen, mit dem Ustad der Dschamikun zu sprechen,« sagte er. »Mein Wohlwollen leuchtet über ihm. Da hörte ich, er sei verreist und ein Effendi aus dem Abendlande vertrete seine Stelle. Ich kenne weder dich noch deine hohen Würden und Titel und möchte doch nicht, daß ich dir etwas vorenthalte. Darum verzeihe mir, wenn ich vor allen Dingen einige Fragen ausspreche. Welchen geistlichen Rang bekleidest du daheim in deinem Lande?«

»Keinen,« antwortete ich.

»Welche hohe militärische Charge führest du?«

»Keine.«

»So nenne deinen Rang bei der Regierung deines Volkes!«

»Ich habe keinen.«

»Aber was bist du sonst? Was hast du dann?«

»Ich bin nur ich und habe nur mich, sonst weiter nichts.«

Die Absicht, in welcher er seine Erkundigungen ausgesprochen hatte, war leicht zu durchschauen. Ich sollte mich ihm gegenüber so klein wie möglich fühlen! Direkte Unhöflichkeiten aber sucht der gebildete Perser so viel wie möglich zu vermeiden. Darum warf er mir zwar einen sehr deutlich mitleidigen Blick herüber, fuhr aber in gütigem Tone fort:

»Du hättest verschweigen können, daß du so gar nichts bist. Ja, du hättest dir hohe Ehren beilegen können, ohne daß wir an Lüge denken durften. Du bist aber wahr und offen gewesen, und das hat dir bei uns diejenige Achtung gewonnen, die Jedem gebührt, der sich zu lügen scheut. Unsere Würden sind unveräußerlich. Indem wir zu dir niedersteigen, nehmen wir sie mit herab zu dir und ehren dich durch sie. Aber wir möchten doch gern wissen, wie weit die Vollmacht reicht, welche der Ustad dir erteilte.«

»Diese Vollmacht ist die volle Macht. Es ist genau, als ob er selbst vor Euch säße.«

»Du kannst über Alles entscheiden, wenn es dir beliebt?«

»Ja.«

»Und er wird es bestätigen?«

»Unbedingt.«

»So freut es mich, dir mitteilen zu können, welch ein großes, reiches Geschenk ich Euch heut mitbringe. Schon als ich noch in Feraghan war, hörte ich von den Dschamikun sprechen und lernte ihren Ustad am Hofe des Schah-in-Schah kennen. Seit ich mich nun in Chorremabad befinde, habe ich Euch unausgesetzt beobachtet. Ihr strebt nach hohen Zielen. Ihr wollt die Menschen nicht erst dort, sondern auch schon hier glücklich sehen. Und Ihr greift zum besten Mittel, dieses Ziel zu erreichen. Ihr hebt das Volk empor durch guten Unterricht und haltet in jeder Beziehung, auch im Glauben, mit allen Menschen Frieden. Wenn jeder Stamm das täte, so wie Ihr, dann würde es wohl bald den längst ersehnten achten Himmel geben, den Himmel Allahs hier auf dieser Erde! In andern Ländern wird ein solches Bestreben, wie das Eurige ist, verfolgt. Wer Anteil nimmt, muß der Feindschaft unterliegen. Die Priesterschaft verdammt jeden Andersgläubigen und will nichts vom religiösen Frieden wissen. Und wer hoch steht, der haßt die Aufklärung des Volkes, weil sich nur Dumme dumm regieren lassen. Bei uns in Persien aber ist das anders. Wir wissen, daß es nicht nur einen Himmel gibt, und wollen alles Volk durch Schulen und Moscheen zur Ueberzeugung bringen, daß Jedermann des Andern Bruder ist. Bei uns gibt es also keine Verfolgung, sondern Unterstützung. Wir hassen nicht; wir lieben. Hältst du das für richtig? Oder nicht?«

»Ich stimme vollständig bei,« antwortete ich.

»Das habe ich erwartet! Es beweist mir, daß du würdig bist, den Ustad zu vertreten. Ich sagte, daß ich nicht verfolge, sondern unterstütze. Ich weiß, was er von seinen Widersachern erduldet hat. Sie taten Alles, um ihn zu vernichten. Ich aber komme, um ihn zu erheben. Ich will diesen Feinden zeigen, wer der Mann ist, den sie einst von sich stießen. Er soll ein Arbeitsfeld bekommen, welches seiner würdiger ist, als dieses kleine, rings von Gegnern eingeschlossene Gebiet der Dschamikun. Ich will ihm viele Tausende zu Untertanen machen, die er auf seinen Wegen zu seinen Zielen führt. Ich bringe ihm Gewalt und hohe Ehre, viel größer noch, als er sich jemals träumen lassen konnte. Sein Ruhm, sein Glück liegt hier in meiner Hand. Soll ich sie wieder an mich ziehen, ohne daß du nach ihr greifst, Effendi?«

Er hatte mir die Hand mit einer unendlich herablassenden Gebärde entgegengestreckt. Ich ließ ein sehr dankbares Lächeln sehen und antwortete:

»Warum sollte ich eine so gütige Hand von mir stoßen? Aber du sagtest mir noch nicht, welche Gabe es ist, die du für den Ustad bringst.«

»So bist du also bereit, sie anzunehmen? Wohlan, so sollst du es erfahren. Weißt du, daß ich ein Sohn der frommen Takikurden bin, die unverrückt auf Allahs Pfaden wandeln?«

»Ja.«

»Und weißt du auch, daß dieser Stamm die schönsten Berge, die fettesten Weideplätze unsers Landes besitzt? Daß dieser ihr Besitz von allerhöchstem Werte ist, weil er die größte strategische Bedeutung hat?«

»Auch das weiß ich.«

»Nun, dieses reiche Gebiet mit Allem, was darauf wohnt und lebt, soll von heute an in die Hand des Ustad übergehen.«

»In welcher Form?«

»Er soll der Ustad nicht nur der Dschamikun, sondern auch der Takikurden sein!«

Er sagte das langsam und mit ganz besonderer Betonung. Seine Begleiter ließen Ausrufe des Staunens und der Beteuerung hören, daß so ein Geschenk ein ganz außerordentliches sei. Er nickte ihnen wichtig zu und fuhr fort:

»Ja, noch mehr, noch mehr: Der Stamm der Takikurden soll mit dem Stamm der Dschamikun vereinigt werden, und zwar unter dem ganz vortrefflichen Namen der Taki-Dschamikun. Und diese Vereinigung soll sich in der Hand und unter der Aufsicht des Ustad vollziehen. Er wird der Gebieter dieses neuen Stammes sein, den dann an Macht und Einfluß ganz gewiß kein anderer erreichen dürfte. Was sagst du zu diesem meinem Anerbieten, Effendi?«

»Daß ich mich keinen Augenblick bedenke, es anzunehmen,« antwortete ich.

Ein gar so rasches Zugreifen hatte er denn doch wohl nicht erwartet. Er sah mich fragend an.

»Ich bin bereit, auf deinen Vorschlag einzugehen, und zwar sofort,« wiederholte ich.

»Wirklich, wirklich?« fragte er.

»Ja.«

Er schien mir nicht so recht trauen zu wollen; aber der »Schreiber« raunte ihm einen Befehl zu, und so sagte er:

»So ist der Zweck meines Besuches hier erfüllt! Aber wird der Ustad bestätigen, was du tust?«

»Ohne Zweifel.«

»Und sich an die Spitze des vereinten Stammes stellen?«

»Gewiß. Ich gebe dir mein Wort. Das gilt, als hätten er und ich geschworen.«

»So erhebe dich, und gib mir in seinem Namen deine Hand!«

Er stand auf, ich auch. Wir traten aufeinander zu und schüttelten uns die Hände. Er schien zu erwarten, daß ich mich nun in Versicherung unserer Dankbarkeit ergehen werde. Als ich das nicht tat, sagte er, indem sich nun auch seine Begleiter erhoben:

»Ein solches Abkommen muß mit Salz und Brot bekräftigt werden. Bis jetzt haben wir noch nichts genossen. Willst du uns als deine Gäste betrachten, Effendi?«

»Wenn du es wünschest, unverweilt. Ich weiß, was Salz und Brot bedeuten. Wer dann zurücktritt, ist ein Schurke. Ueberlege also wohl, ob ich dies Beides kommen lassen soll!«

»Schicke nur! Ich weiß genau, was ich tue!«

»So nehmen wir jetzt Salz und Brot, und dann erweist Ihr mir die Ehre, die Ghada bei uns einzunehmen!«

»Gern! Und inzwischen reiten wir einmal hinüber nach Eurer Moschee, von welcher aus man eine wunderbare Aussicht haben soll. Ich hörte, daß du krank gewesen seist. Wirst du uns begleiten können?«

Es wäre ihm allerdings lieber gewesen, eine solche Begleitung nicht zu haben, doch antwortete ich:

»Bis dort hinüber werde ich es im langsamen Schritte wagen können, weiter aber nicht. Dieser junge Mann wird mir satteln. Es ist Kara Ben Halef, der Sohn des Scheikes der Haddedihn vom Stamme der Schammar.«

Kara verbeugte sich vor ihm, um dann zu den Pferden zu gehen. Ich rief ihm noch nach, für sich den Ghalib und für den Chodj-y-Dschuna den Bark zu nehmen. Die Gäste waren mit dem ungeahnt schnellen und skrupellosen Ausgange ihres Anliegens überaus einverstanden. Sie wollten sich das freilich nicht merken lassen, doch war es ihnen deutlich anzusehen. Um so ernster war das Gesicht des Pedehr. Er begriff mich nicht. Darum warf ich ihm unbemerkt die Worte zu:

»Nur keine Sorge! Es steht Alles gut. Sie haben nicht mich, sondern ich habe sie gefangen. Schnell Salz und Brot! Dann reitest du mit.«

»Auf welchem Pferde? Die Sahm hat mir der Ustad einstweilen entzogen. Und ein gewöhnliches Pferd kann ich als Scheik doch wohl nicht nehmen.«

»So bleibe hier, und besorge das Essen!«

Nach Kurzem brachte Tifl auf einer Platte ein Häufchen Salz und kleingeschnittenes persisches Brot. Wir traten zusammen. Jeder nahm eines der Stückchen und tauchte es in Salz. Der Mann mit dem großen Turban sprach:

»Das Brot, welches wir essen, wird zum Leibe. Das Wort, welches man uns gibt, wird zur Seele. Es ist nie wieder von uns zu trennen!«

Hierauf aßen wir jeder seinen Bissen und drückten uns abermals gegenseitig die Hände. Das Uebereinkommen war abgeschlossen und besiegelt. Bald hierauf brachten Kara und der Chodj die Pferde. Wir stiegen auf und ritten den Berg hinab. Ich bemerkte, daß ich heut kräftiger war als bei dem ersten Ritte, doch gab ich mir nicht die geringste Mühe, als guter Reiter zu erscheinen.

Die Herren glaubten, erreicht zu haben, was sie hatten erreichen wollen. Darum hielten sie es nicht für nötig, ihre Rücksicht auf mich so weit zu treiben, daß sie im Trauertempo mit mir ritten. Sie wollten vielmehr zeigen, was für Pferde sie besaßen, und jagten durch den Duar und dann die jenseitige Höhe hinauf. Mir war das eben recht. Ich winkte Kara und den Chodj, ihnen nachzueilen und trottelte allein und langsam hinterher. Ich hatte wohl kaum die Hälfte des Weges zurückgelegt, als ich den Hufschlag eines galoppierenden Pferdes hinter mir hörte. Mich umschauend, sah ich, daß es Tifl war. Er ritt die ungesattelte Sahm und jagte an mir vorüber, ohne anzuhalten und zu fragen, ob es ihm erlaubt sei, mit bei den Gästen zu sein. Er hätte das gewiß nicht gewagt, wenn er nicht von irgend Jemand aufgefordert worden wäre, unbedingt mit nach dem Beit-y-Chodeh zu kommen. An mir vorbeigeritten war er, weil er befürchtet hatte, von mir zurückgeschickt zu werden. Eigentlich war es richtig, dies nachträglich zu tun, und zwar vor aller Augen; aber es lag ja in meiner Absicht, nicht für scharfsinnig und energisch zu gelten, und so hielt ich es für geraten, zu schweigen.

Als ich oben ankam, stand der »Schreiber« mit Tifl an einer der Vordersäulen des Tempels. Der Letztere schien dem Ersteren die Gegend zu erklären; sie schenkten mir keine Beachtung. Sonst sah ich von den Gästen keinen. Kara und der Chodj standen bei den Pferden. Ich ritt zu ihnen hin und fragte, wo die andern Perser seien. Der Chodj antwortete:

»Der Heilige, der Selige und der Hauptpriester kriechen in den Rosen herum. Die beiden Generale fragten, ob es weiter oben eine schöne, freiere Aussicht gebe. Ich wies sie nach der großen Hochwaldlichtung; sie sind dorthin.«

Er deutete nach dem Waldwege, auf dem ich am Tage des Festes von Tifl zum Essen geführt worden war.

»Gibt es noch andere Wege nach dieser Lichtung?« erkundigte ich mich.

»Ja. Es sind aber Umwege. Den besten sieht man von hier aus nicht. Man muß über diesen ganzen Platz hinüber und um die Buchenecke gehen. Dann führt er grad hinauf und unter den Tannen am obern Rande des freien Platzes hin.«

»Kann man ihn reiten?«

»Er ist breit genug. Willst du etwa jetzt dort hinauf?«

»Ja. Doch Niemand darf es wissen. Ich muß sehen, was die Offiziere dort machen. Uebrigens dürft Ihr ja nicht glauben, daß sie wirklich Generale seien. Man hat gemeint, den Mund so voll wie möglich nehmen zu müssen. Wenn man Euch fragt, wohin ich geritten bin, so gebt irgend eine Auskunft, die wahrscheinlich klingt; verratet aber ja das Richtige nicht.«

Ich ritt über den Tempelplatz hinüber und bog um die erwähnten Buchen. Dort öffnete sich der mir beschriebene Weg. Man konnte mich vom Tempel aus nicht mehr sehen. Nun trieb ich Assil zu größerer Schnelligkeit an. Ich kam durch hohe Tannen. Nach einiger Zeit wurde es rechts von ihnen licht. Da lag die Waldesblöße. Sie war ziemlich steil. Ich konnte zwischen den Bäumen hindurch die Offiziere sehen. Sie saßen ganz oben am Rande und schienen zu schreiben oder zu zeichnen. Ich war ihnen unsichtbar, weil ich mich unter den Tannen befand. Auch der übrige Teil meines Weges lag so, daß ich nicht zu befürchten brauchte, bemerkt zu werden. Oben angekommen, bog ich nach rechts. Als ich ihnen auf ungefähr siebzig Schritte nahe gekommen war, stieg ich ab. Ich legte dem Hengste die Hand auf die Nüstern und sagte nur das eine Wörtchen »uskut – still!« Nun konnte ich überzeugt sein, daß er sich nicht bewegen, nicht das geringste Geräusch verursachen werde.

Hierauf ging ich weiter. Der weiche Waldesboden machte meine Schritte unhörbar. Als ich anhielt, stand ich nur fünf Meter hinter den beiden Persern. Sie zeichneten; das sah und hörte ich. Und zwar die topographische Lage der sich von hier aus herrlich ausbreitenden Gegend. Dabei sprachen sie miteinander. Sie hielten sich für vollständig allein und taten es also nicht leise. Ich hörte jedes Wort.

»Dieser Effendi ist der unvorsichtigste Europäer, den ich jemals sah,« sagte der angebliche Divisioner. »Er benahm sich geradezu dumm!«

»Dafür machte der Kasi seine Sache um so besser,« bemerkte der Brigadier. »Sein Lob war fest wie Leim; der eitle Mensch blieb daran hängen. Wie blind, daß man uns hier heraufläßt, um die Pässe und Wege zu zeichnen und die ganze Lage des Duar aufzunehmen! Wir hätten nie erfahren, wie leicht er zu umfassen ist, wenn wir es nicht mit eigenen Augen sähen. Nur erst den Ustad von hier fort und hinüber zu den Taki! Dann sind zwei Tage genügend, den Duar wegzunehmen und das ganze Gebiet der Dschamikun einzuverleiben. Dann ist es mit dieser gefährlichsten Art des Christentumes für immer bei uns aus. Allah verdamme es!«

»Jawohl, zwei Tage genügen,« stimmte der Andere bei. »Die vereinigten Taki und Dinarum müssen ja gradezu erdrückend wirken. Sehr gut, sehr gut, daß ein Wettrennen hier stattfindet, an dem sich der Scheik ul Islam unbedingt zu beteiligen hat. Das gibt die vortrefflichste Gelegenheit, Vorbereitungen zu treffen, die uns sonst nicht möglich gewesen wären. Wir sparen Zeit dadurch und schlagen eher los.«

»So weit steht Alles gut. Was aber wird der Schah dazu sagen? Man weiß, daß er den Ustad schätzt und schützt.«

»Das überlaß dem Scheik ul Islam. Er sprach doch gestern von einem Vertrauten, der bei dem Ustad wohnen und alle seine Bücher, Schriften und Geheimnisse untersuchen wird. Dieser Mann soll der beste Muzabirdschi sein, den wir im Lande haben. Er stammt aus Isphahan, wo er vor langer Zeit einen Koch kennen lernte, dessen Tochter jetzt Köchin des Ustad ist. Er wurde in Teheran wegen schwerer und sehr pfiffiger Diebstähle zu mehreren Jahren Gefängnis bestraft, entfloh aber von dort und hielt sich lange Zeit hier in den Ruinen versteckt, wohin ihm die Köchin das Essen heimlich brachte. Wie er da von unserer Seite entdeckt wurde, das habe ich nicht erfahren, aber der Scheik ul Islam nahm sich seiner an und will ihm unter gewissen Bedingungen dazu verhelfen, von seiner Strafe frei zu werden. Welche Bedingungen das sind, geht uns nichts an; ich kann sie mir aber denken. – Nun bin ich fertig mit meiner Zeichnung.«

»Ich fast auch.«

»So beeile dich, damit man nicht auf unsere Abwesenheit aufmerksam wird und Verdacht schöpft.«

Als ich das hörte, zog ich mich schnell zurück. Assil stand noch genau so, wie ich ihn verlassen hatte. Ich stieg auf und ritt denselben Weg hinunter, den ich heraufgekommen war. Hinter den Buchen schlug ich dann noch einen Bogen nach auswärts, so daß es, als man mich kommen sah, den Anschein hatte, als sei ich abwärts, aber nicht aufwärts geritten gewesen. Der Chodj und Kara befanden sich noch an derselben Stelle. Die Perser waren jetzt beisammen. Sie standen im Innern des Tempels, Tifl bei ihnen. Ich stieg am Beit-y-Chodeh ab und ging zu ihnen hinauf. Als ich kam, wendeten sie sich mir zu, und der angebliche Scheik ul Islam fragte, indem er nach den Ruinen hinüberdeutete:

»Weißt du vielleicht, Effendi, was das für ein altes, sonderbares Bauwerk ist, da drüben?«

»Das wollte ich soeben dich fragen,« antwortete ich. »Du weißt ja, daß ich weder Priester oder Offizier, noch Beamter oder sonst Etwas von Bedeutung bin. Wie kann ich also, noch dazu als Europäer, hierüber besser Auskunft geben als du, der als ein Licht des Glaubens hoch über allem Wissen und aller Kenntnis steht!«

Er warf einen lächelnden Blick auf den »Schreiber«, nickte mir wohlwollend zu und sprach:

»Du hast Recht. Für die von Allah Erleuchteten liegt alles klar und offen da, was selbst das scharfe Auge der Wissenschaft niemals erkennen wird. Dieses Bauwerk war der Abgötterei gewidmet, dem Götzendienste, der uranfänglich nur Bilder verehrte, doch zuletzt sogar auch Idole anbetete, welche Menschen gewesen waren. Indem du da hinüberschaust, wirst du an alle Religionen erinnert, nur allein an unsern Islam nicht. Wie kommt das wohl? Weil der Islam die einzige Religion ist, welche Gottes Befehl erfüllt, daß wir uns kein Bild noch irgend ein Gleichnis machen sollen. Oder hast du jemals eine Moschee gesehen, in welcher das Bildnis eines Menschen hängt, um verehrt zu werden?«

»Nein,« antwortete ich im Tone kindlichster Unbefangenheit. »Das habt Ihr doch nicht nötig. Denn eure „Heiligen“ und „Seligen“ werden nicht erst nach dem Tode, sondern schon hier im Leben derart vor andern Menschen ausgezeichnet, daß sie auf spätere Anbetung recht wohl verzichten können.«

Bei diesen Worten machte ich dem Heiligen und auch dem Seligen eine tiefe, ehrfurchtsvolle Verbeugung. Sie bedankten sich mit gütigem Kopfnicken. Der Mann mit dem großen Turbane aber sah mich mit einem zweifelhaft prüfenden Blicke an, ob nicht vielleicht hinter dieser meiner Unbefangenheit etwas Anderes stecke. Wahrscheinlich konnte er in meinem Gesicht nichts Verräterisches entdecken, denn er fuhr fort:

»Wir haben gehört, daß der Ustad beabsichtigt, mit diesem alten Bauwerke aufzuräumen. Er will die Ueberreste aus jenen götzendienerischen Zeiten abtragen. Warum? Wozu will er dieses kolossale Material verwenden, welches er doch nicht einfach verschwinden lassen kann? Wir können uns mit einem solchen Vorhaben unmöglich befreunden. Bis heut schwiegen wir dazu. Nun wir aber den Bund mit dir und ihm geschlossen und besiegelt haben, steht uns das Recht zu, Einspruch zu erheben. Diese Bauten haben zu bleiben, wie sie sind! Sie sind ein Denkmal der Vergangenheit, an welchem nicht gerüttelt werden darf. Denn selbst der Wahn wird heilig, wenn er so lange besteht, daß er durch sein Alter zur Ehrfurcht mahnt. Also, ich warne dich, Effendi, und ich warne den Ustad! Ich habe als Scheik ul Islam die heilige Pflicht, selbst den Irrtum zu erhalten, weil wir nur durch ihn zur Wahrheit kommen. Ihr gehört von jetzt an zu den Takikurden, und was ich als Oberster der Taki will, das hat auch jeder Dschamiki zu wollen!«

Ah! Bisher das weiche Pfötchen; jetzt kam schon die Kralle! Etwas vorzeitig! Sein eigentliches Interesse an der Erhaltung der Ruinen konnte er mir natürlich nicht mitteilen! Glücklicherweise war ich einer Antwort überhoben, denn die beiden »Generale« kamen soeben, und es wurde beschlossen, wieder aufzubrechen. Ich bemerkte gar wohl das befriedigte Lächeln, mit welchem sie dem »Schreiber« heimlich kundtaten, daß ihnen ihr Vorhaben wohlgelungen sei.

Die Heimkehr geschah in derselben Weise, wie der Ritt zum Berge; man ließ mich zurück, und es fiel mir gar nicht ein, mich darüber zu kränken. Als ich heimkam, sah ich, daß man nicht einmal mit dem Essen auf mich gewartet hatte; es war bereits im vollsten Gange. Ich nahm aber in der freundlichsten Weise meinen Platz ein und langte zu. Es gab mir heimlich Spaß, daß sich die Herren schon ganz wie zu Hause fühlten. Der Beturbante tat, als ob er nur so zu befehlen habe. Der Pedehr war hierüber so ärgerlich, daß er fast gar nichts genoß. Nicht etwa, daß man es an Höflichkeit hätte mangeln lassen; o nein! Man schmeichelte uns sogar in jeder Weise; zuweilen so auffällig, daß es gar nicht schwer war, zu erröten. Der Leutseligste von allen war der »Schreiber«. Er sprach nicht viel; aber was er sagte, war stets ein Kompliment für uns, welches Dankbarkeit erheischte. Er war so einfach, so bescheiden, so unendlich wohlwollend. Und all diese Einfachheit, diese Bescheidenheit, dieses Wohlwollen schien er mit Hilfe seines stetig wiederholten Augenaufschlages vom Himmel herabzunehmen. Er brachte Alles so still, so geräuschlos fertig. Die Andern schmatzten als Orientalen überlaut beim Essen; er als der Einzige nicht. Was bei ihnen klapperte und klirrte, das ging bei ihm so leise, so unhörbar von statten, als ob sein ganzer Körper nur von Watte sei. Aber zuweilen, wenn er sich unbeachtet wähnte, schoß aus seinem Auge ein Blick hervor, welcher, im Bilde gesprochen, noch lauter schnarrte, als das Rrrrrr an seinem Gaumen!

Wir erfuhren während des Essens, daß die Perser von uns weg nicht etwa zurück nach Chorremabad, sondern hinüber zu den Takikurden wollten. Man war so unvorsichtig, hinzuzufügen, daß man dies auch getan hätte, wenn unser »Vertrag« nicht zu stande gekommen wäre! Hierbei kam die Rede auf die Pferdezucht der Taki, und da geschah es, daß der »Schreiber« sich zum ersten Male zu einem zusammenhängenden Gespräch mit mir animiert zeigte. Er ahnte nicht, daß er durch dieses sein Interesse für die Pferde verriet oder vielmehr bestätigte, wer er sei. Er sagte:

»Wir haben gehört, daß bei Euch ein großes Rennen stattfindet, Effendi. Wer darf sich daran beteiligen?«

»Jedermann,« antwortete ich.

»Welches sind die Bedingungen, die Preise?«

»Der Sieger gewinnt den Besiegten.«

Da leuchtete sein Auge auf und er fragte auffallend rasch:

»Auch Eure Haddedihnpferde?«

»Ja.«

»Darf man sich den Gegner wählen?«

»Nein. Jeder stellt, was ihm beliebt. Doch es darf kein Angebot abgewiesen werden. Die Ehre allein hat zu bestimmen. Es hat Niemand zu befürchten, daß ihm minderwertiges Material gegenübergestellt wird.«

»Darf ein Pferd nur einmal rennen?«

»Nein, sondern so oft es beliebt.«

»Das ist vortrefflich! Wir haben beschlossen, uns zu beteiligen. Ist es erlaubt?«

»Sehr gern!«

»Müssen wir sagen, mit wieviel und mit welchen Pferden?«

»Nein. Ihr bringt, so viele Ihr wollt.«

»Und Ihr dürft keines zurückweisen?«

»Nein.«

»Muß man vorher melden, wer sie reiten wird?«

»Auch nicht.«

»So setze ich den Fall, daß wir eines unserer Pferde von einem Dschamiki reiten lassen wollen. Würdet Ihr ihn daran hindern?«

»Ganz gewiß nicht. Wer so ehrlos ist, dies tun zu wollen, dem haben wir niemals mehr Etwas zu befehlen oder Etwas zu verbieten.«

»Seine Person bleibt also auf alle Fälle unangetastet?«

»So lange er sich nur als Renngegner, nicht auch sonst als Feind beträgt, ja.«

»Das ist es, was ich wissen wollte. Ich bin befriedigt. Wir betrachten uns also als angemeldet und werden sicher kommen.«

Er sah vor sich nieder, warf dann einen sehr freundlichen, beinahe zärtlichen Blick auf mich und fuhr fort:

»Eigentlich habe ich noch eine Frage. Sie betrifft deinen Glauben. Du bist Christ?«

»Ja. Du doch auch!«

Ich gab diese sonderbare Antwort, weil ich eine lange, unfruchtbare, religiöse Auseinandersetzung erwartete und die Sache so kurz wie möglich machen wollte. Die Zeit des Versteckenspielens war nämlich für mich vorüber. Ich wußte nun genug und hatte keinen Grund mehr, mich und meine Weltanschauung für geistig rückständig halten zu lassen. Er warf den Kopf wie erschrocken in die Höhe und rief aus:

»Ich? Ein Christ? Allah verhüte es! Wer hat dir diese größte aller Lügen weisgemacht?«

»Lüge, sagst du? Ist der Kuran ein Lügner?«

»Nein. Jedes seiner Worte, ist heilig und unsere Auslegungen sind ebenso heilig. Willst du etwa behaupten, das, was du sagst, aus diesen Quellen zu haben?«

»Ja.«

»So beweise es! Was aber kann ein Europäer, ein Christ vom Kuran und seine Auslegungen wissen!«

Er faltete mitleidig die Hände, schlug die Augen auf und holte sich einen Blick des himmlischen Erbarmens herab, den er mir ganz unverkürzt herüberschickte. Ich nahm ihn ruhig hin und fragte:

»Was steht dir höher, der Himmel oder die Erde?«

»Natürlich der Himmel,« antwortete er.

»Das Zeitliche oder das Ewige?«

»Das Ewige.«

»Ein Fürst und Richter über einige Millionen oder ein Fürst und Richter über Alles, was da lebte, lebt und auch noch leben wird?«

»Dieser Letztere.«

»Du verehrst Mohammed. Du glaubst an seine Lehre und richtest hier auf Erden nach den Worten, die er Euch hinterließ. Er ist also der Gesetzgeber aller Mohammedaner. Was aber wird er einst in jenem Himmel sein?«

»Der herrlichste von Allen, die Propheten waren.«

»Hast du von der Moschee der Omajjaden in Damaskus gehört?«

»Ja. Sie ist die prächtigste und hochberühmt, des jüngsten Gerichtes wegen. Denn Isa Ben Marryam wird sich an diesem Tage auf einen ihrer Türme niederlassen, um Alle zu richten, die da sind und waren, die Lebenden und die Toten. Wozu aber diese Fragen, die mir ganz zwecklos und überflüssig erscheinen ?«

»Wie du so fragen kannst, o Katib! Dein Herr, der Scheik ul Islam, welcher neben dir sitzt, wird scharfsinniger sein als du und dir sagen, daß du soeben zugegeben hast, ein Christ zu sein.«

»Ich?« fuhr er zornig auf. »Klüger als ich? Eff –«

Er hielt inne, denn er fühlte, daß er soeben ganz aus seiner untergeordneten Rolle gefallen sei. Sein Blick stieg himmelan, um sich die erforderliche Gemütsruhe herabzuholen, und als dies geschehen war, fuhr er fort:

»Ich verstehe dich nicht. Mach, daß ich dich begreife!«

»Du sagtest, daß Christus der himmlische Herr und Richter sei, der Spender der Seligkeit, dem aber auch die Verdammten zu gehorchen haben. Ich brauche dich gar nicht zu fragen, wer also höher stehe, er oder Mohammed, sondern ich bestätige nur, was du sagtest:

Christus richtet einst Alle, auch die Moslemin. Er ist also Euer höchster Herr, und folglich seid Ihr Christen, so wie wir!«

Er war still. Die Andern auch. Tiefste Verlegenheit in allen ihren Gesichtern.

»Wer von Euch wagt es, mir zu widersprechen?« fragte ich. »Wer von Euch glaubt, in dem Kuran und seinen Auslegungen besser bewandert zu sein als ich, der Christ, der Europäer? Er widerspreche mir, und ich werde ihm mit den Worten des Kurans und seiner Erklärungen antworten!«

Da versuchte der Schreiber eine Ausrede:

»Du bist uns gleich zu hoch gestiegen, Effendi. Man hat von unten zu beginnen. Du aber fängst gleich im Himmel an, beim großen Weltgericht!«

»Wer noch nichts weiß, der mag von unten beginnen. Wir Christen aber sind im Himmel wohlbewandert, denn dort ist unser Vaterhaus, wo Isa Ben Marryam unser wartet. Es gibt keine einzige Religion, über welcher nicht Jener steht, der nach Eurer eigenen Ansicht Tod oder Leben, Verdammnis oder Seligkeit verteilt, und also sind die Menschen alle Christen. Sträubt Euch, so viel Ihr wollt, über diesen Punkt kommt Ihr doch nicht weg! Gebt Eurer Religion den Namen, der Euch beliebt; hoch über allen diesen Namen steht doch der, nach welchem wir uns Christen nennen! Willst du noch mehr Auskunft über meinen Glauben, o Katib ? Ich gebe sie dir sehr gern!«

»Nicht mehr Religion, nichts weiter vom Glauben!« fiel da der angebliche Scheik ul Islam schnell ein, um seinen »Schreiber« aus der sichtlich sehr großen Verlegenheit zu reißen. »Wir befinden uns hier bei den Dschamikun, aber noch nicht im Himmel. Wir sind auf der Erde, und da muß ich dich bitten, Effendi, anzuerkennen, was hier im Lande gilt, nämlich die Oberhoheit Mohammeds!«

Er glaubte, einen Trumpf ausgespielt zu haben; ich aber antwortete:

»Ja, wir sitzen hier bei den Dschamikun und haben uns nach dem zu richten, was hier im Lande gilt. Das ist aber nicht die Hoheit Mohammeds!«

»Doch!« fuhr er auf. »Ihr seid seit heute Taki-Dschamikun und habt also an Mohammed zu glauben! Das ist es ja, was wir erreichen wollten. Wir haben es mit Salz und Brot besiegelt und Ihr könnt nicht mehr zurück. Bei uns gilt das Wort: Ein Schurke, der nicht hält, was er bei Salz und Brot verspricht! Willst du ein Schurke sein?«

Da stand ich langsam auf, steckte die Hände gemächlich in den Gürtel und sprach:

»Was ist uns angetragen worden und was haben wir angenommen und besiegelt? Das ganze Gebiet der Takikurden solle heut in die Hand des Ustad übergehen! Er soll ihr Ustad sein, nichts Anderes! Du sagtest wörtlich: „Die Vereinigung der beiden Stämme soll sich in der Hand und unter der Aufsicht des Ustad vollziehen, und er wird der Gebieter dieses neuen Stammes sein!“ Das ist mit Salz und Brot besiegelt worden. Nun frage ich, wer wird jetzt Schurke sein?«

Keiner antwortete. Da sprach ich weiter:

»Es gibt also für die Taki-Dschamikun keinen andern Gebieter als den Ustad. Und da ich an seiner Stelle vor Euch stehe, so bin ich der Herr, dem man hier zu gehorchen hat, hier und drüben bei den Taki. Wo ist der Andere, der uns befehlen will, was wir zu glauben haben? Er stehe auf wie ich und stelle sich vor mich her! Ich möchte nämlich gern wissen, was für Augen so ein Schurke macht!«

Keiner regte sich. Sie sahen alle vor sich nieder. Aber die Augen des Pedehr funkelten, und der Chodj-y-Dschuna lächelte leise vor sich hin.

»Ihr schweigt,« fuhr ich fort. »So beantwortet wenigstens meine andern Fragen! In wessen Machtvollkommenheit kamt Ihr hierher, um uns dieses vermeintliche Geschenk zu machen? Sandte Euch der Landesherr, der Schah-in-Schah? Wurdet Ihr vom Stamm der Taki-Kurden geschickt, die sich nach unserm Ustad sehnen? Haben sie eine Dschemma abgehalten und beschlossen, daß er ihr Herr und Gebieter werden solle? Seid Ihr die Gesandtschaft, welche sie schicken, uns dies mitzuteilen? Wo ist die Unterschrift des Schah? Wo sind die Siegel der Aeltesten des Stammes? Habt Ihr es denn wirklich für möglich gehalten, daß es Euch gelingen werde, mit uns ein solches Kara göz ojunu aufzuführen? Muß ich es für Wahrheit halten, daß Ihr so töricht waret, über den Fortbestand der Ruinen uns Befehle erteilen zu können? Ich glaubte, es sei ein schlechter Scherz! Welch ein Wahnsinn, zu denken, daß wir auf leere Worte hin Euch sofort alles, was wir sind und was wir haben, gehorsam vor die Füße werfen, um dann im neuen Stamm so viel wie nichts zu sein! Ihr habt ja nichts, doch sage ich: Gebt mir das ganze Land, gebt mir die ganze Welt, so könnt Ihr die Ruinen, die Euch so sehr am Herzen liegen, doch nicht retten! Kommt ihre Zeit, so brechen sie zusammen, denn diese Zeit wird keinen Scheik ul Islam um Erlaubnis fragen!«

Da sprang der »Schreiber« schnell wie eine Spannfeder auf. Seine Augen waren jetzt ganz andere. Sie blitzten mir in plötzlich offenem Haß entgegen, und er rief aus, indem auch die Andern sich erhoben:

»Das, das ist also der wahre, der wirkliche Effendi, nicht der kranke, schwache, der sich so wunderbar zu verstellen wußte! Der Effendi, der nichts, gar nichts ist in seinem Lande und doch hier den Herrn und Pascha spielen will! Ich weiß nun genug von dir, du aber nichts von mir. So will ich dir denn sagen –«

»Daß du der große Scheik ul Islam bist, der zu uns kommt, nur um uns anzulügen!« fiel ich ihm in die Rede. »Ich weiß noch mehr von dir, doch mag schon das genügen. Wer sich für Allahs höchsten Auserwählten hält und heimlich sich als Inbegriff des ganzen Kuran betrachtet, der sollte dies doch offen und ehrlich zeigen und nicht in trügerischer Demut zur Niedrigkeit des Katib niedersinken!«

Da verschlang er die Arme auf der Brust, richtete sich hoch auf und fragte:

»Bist du fertig?«

»Mit dir? Ja!«

»Aber nicht ich mit dir! Denke an das Rennen! Das wird nun ein ganz anderes! Nehmt Euch in acht; wir kommen. Ich sage dir nur einen einzigen Namen: Ich bringe Euch das beste Pferd von Luristan und lasse alle Eure Mähren niederreiten! Und noch ein anderes habe ich. Was das für eines ist, das werdet Ihr zu Eurem Leid erfahren!«

Er wendete sich ab und schritt in stolzer Haltung zur Halle hinaus. Die Andern folgten, ohne ein Wort zu sagen. Sie würdigten uns keines Blickes mehr. Bald ritten sie den Berg hinab, und der Pedehr sorgte dafür, daß sie, wenn auch nur von Weitem, bis zur Taki-Grenze begleitet wurden. Wir gingen zu ihm hinaus in den Hof. Er wendete sich zu mir.

»Das war ein Schlag über sämtliche Köpfe, Effendi!« sagte er. »Wer hätte das gedacht, nachdem du dir vorher Alles so ruhig gefallen ließest! Keiner konnte antworten! Nun reiten sie als offenbare Schurken fort! Das wird man überall erfahren, und Jeder, der auf Ehre hält, wird sich vor ihnen hüten! Aber die Rache nun, die Rache! Fürchtest du sie nicht?«

»Nein,« antwortete ich. »Sie wird ganz denselben Erfolg haben wie ihre heutige Pfiffigkeit – Hiebe über die Köpfe. Nur dürfen wir nicht so tun, wie du wolltest, nicht vorschnell handeln. Wir lauschen, bis wir wissen, was sie wollen. Dann aber warten wir nicht etwa, bis es ihnen beliebt, sondern wir machen es wie jetzt: Wir erheben uns ganz unerwartet von dem Sitze und schlagen derart los, daß sie sofort die Mäuler halten müssen. Der wahrhaft Kluge scheut sich nicht, für übertölpelt angesehen zu werden, weil er schweigt. Er ist nur still, die Feinde zu durchschauen. Doch kommt dann seine Zeit, so schont er selbst den Höchsten nicht, auch keinen Scheik ul Islam, um zu zeigen, wer eigentlich der Schuft, der Tölpel war!«

Eben als ich das sagte, kam Tifl aus dem Garten. Er saß auf der Sahm, die vollständig gesattelt war, und wollte zum Tore hinaus.

»Wohin?« fragte ich, indem ich mich ihm in den Weg stellte und nach dem Zügel griff.

»Ausreiten,« antwortete er. »Die Sahm auf das Wettrennen üben.«

»Du reitest sie nicht. Wozu also das Ueben! Steig ab!«

»Unser Ustad sagte es mir!« entgegnete er, indem er ruhig sitzen blieb.

»Der Ustad bin jetzt ich, und du steigst ab, sofort! Du wirst auf diesem Pferd nie wieder sitzen!«

»Warum?«

Der Mensch sah mich bei dieser Frage so an, als ob er entschlossen sei, mir Widerstand zu leisten. Es fiel mir natürlich nicht ein, mich selbst an ihm zu vergreifen. Ich drehte mich vielmehr zu dem Pedehr, dem Chodj und dem jungen Haddedihn um und forderte den Letztern auf:

»Kara, herab vom Pferd mit diesem Kerl!«

Ein fröhlicher Blitz ging über sein Gesicht. Ein schneller Sprung und Schwung, so saß er hinter Tifl auf der Stute, und im nächsten Augenblicke flog der Lahme herunter auf die Erde.

»Effendi, warum das?« fragte der Pedehr erstaunt. »Unser „Kind“ hat doch die Erlaubnis, jederzeit zu –«

»Warte!« unterbrach ich ihn. Dann wendete ich mich an Tifl, der sich vom Boden aufrichtete und nun ganz verlegen dreinschaute: »Warum hängen an der Sahm die Satteltaschen? Warum trägst du nicht bloß die Mütze, sondern auch das Turbantuch darüber? Warum hast du Schuhe an und auch den Mantel über deiner Jacke? Reitet man so aus, um zu üben?«

Er gab keine Antwort, doch verwandelte sich die Verlegenheit seines Gesichtes in den Ausdruck des Trotzes.

»Wo wolltest du hin?« fragte ich weiter. »Glaubtest du wirklich, nicht durchschaut zu sein und mir die Sahm entführen zu können, du undankbarer Bube? Vergiltst du so die Wohltat mit Heimtücke und Verrat? Du willst den Persern nach, mit ihnen zu den Taki-Kurden hinüber! Du sollst beim Rennen gegen uns und für den Scheik ul Islam reiten! Ich hindere dich nicht; ihr paßt ja gut zusammen. Ich spreche dich von unserm Stamme los und überlasse dich den Feinden drüben. Du magst getrost zum Rennen kommen; es wird dir nichts geschehen. Doch nach demselben trolle dich sofort! Verräter dulden wir in unserm Bereiche nicht!«

Er machte nicht den geringsten Versuch, mich zu widerlegen. Da rief der Pedehr aus:

»Ist das die Möglichkeit? Für solche Wohltat so verfluchter Lohn! Effendi, dieser Mensch sollte gepeitscht werden!«

»Nein! Ich will ihm sogar seinen Fortgang noch erleichtern. Er bekomme eines der zurückbehaltenen Soldatenpferde, doch mögen zwei Dschamikun ihn begleiten, bis er die Perser erreicht. Besorge das sogleich! Jetzt fort mit ihm!«

»Ich selbst werde ihn hinunterbringen. Komm!«

Er faßte ihn beim Mantel und schob ihn vor sich her zum Tore hinaus. Der Chodj-y-Dschuna verabschiedete sich von mir und ging ihnen nach. Zu Kara aber sagte ich:

»Du siehst, was du mir über diesen Tifl sagtest, hat schnelle Frucht gebracht. Heut abend habe ich Etwas vor, was Niemand wissen darf. Halte dich bereit, mit mir nach dem See hinunterzugehen, wenn Alle schlafen!«

Da schaute er in herzlicher Freude zu mir her und sagte:

»Ein Abenteuer, ein verschwiegenes! Mit dir, Effendi! Ich weiß, was dieses Vertrauen bedeutet, und danke dir dafür!«

Er zog meine Hand an sein Herz. Dann ging ich in die Wohnung des Ustad, um die Karte des Schah an ihre Stelle zurückzulegen. Ich hatte sie nicht gebraucht.

Der übrige Teil des Tages war nur dem Schlafe und der Sammlung weiterer, neuer Kräfte gewidmet. Am Abende aßen wir in der Halle. Ich hatte erfahren, daß nach dem Wettrennen eine Beleuchtung sämtlicher Höhen stattfinden solle. Es waren auch schon viele Fackeln angefertigt worden, darunter sehr lange und starke von Palmenfaser, welche mehrere Stunden lang brennen und nur schwer zu verlöschen sind. Ich ließ mir von Schakara heimlich ein halbes Dutzend von diesen geben und nahm sie nach dem Essen mit hinauf zu mir. Schakara wurde überhaupt mit in das Geheimnis gezogen, denn ich brauchte Jemand, der für mich und Kara das Tor offen zu halten hatte. Was ich tun wollte, war nicht ungefährlich. Darum teilte ich es ihr mit, daß ich die Absicht habe, vom See aus in den versteckten Kanal einzudringen, und forderte sie auf, nur höchstens drei Stunden auf uns zu warten und, falls wir da noch nicht zurückgekehrt seien, uns schleunigst Hilfe zu senden.

Als man zur Ruhe gegangen war, nach zehn Uhr, begab ich mich in den Hof. Kara stand bereit; Schakara war bei ihm. Ich wiederholte ihr, wie ich mir ihre etwaige Hilfe dachte. Er nahm die mitgebrachten Fackeln; dann gingen wir. Im Duar gab es kein Licht. Man schlief auch hier bereits. Am Landeplatze fanden wir das Boot. Es war nur angebunden. Die beiden Ruder hingen in den Dollen. Wir stiegen ein und paddelten uns leise nach der Stelle, welche ich untersucht hatte. Es war nicht schwer, die Maueröffnung hinter dem Gestrüpp aufzufinden. Wir stellten das Boot rechtwinkelig dagegen an und gaben hinten einige kräftige Ruderschläge. Es drang mit seiner ganzen vorderen Hälfte ein. Wir nahmen die Ruder in das Boot, bückten uns nieder und krochen unter dem nun auseinandergeteilten Rankengewirr bis an die Spitze des Kahns vor. Nun war der Sternenhimmel über uns verschwunden. Wir befanden uns in dichtester Finsternis. Die Ruder an uns nehmend, tasteten wir mit ihnen rechts und links aus dem Kahn heraus. Wir fühlten harte Wände und stießen uns an diesen so weit hinein, daß auch das Hinterteil des Fahrzeuges durch das Gestrüpp kam. Hierauf zog ich das Schibhata aus der Tasche, um eine der Fackeln anzubrennen. Bei ihrem Scheine sah ich ein ganz vorn im Schnabel des Bootes befindliches Loch, in welches ich sie steckte. Später hörte ich, daß dieses Loch genau zu diesem Zwecke angebracht worden sei, weil die Schamiki des Abends gern rund um den See zum Nur-y-Saratin ruderten.

Der Kanal war hier, am Anfange, sehr schmal. Aber als wir uns eine Strecke weit fortgegriffen hatten, traten die Wände doppelt weit zurück, und auch die Höhe nahm in demselben Verhältnisse zu. Die Luft war kalt und feucht, doch gut und leicht zu atmen. Die Wände und die Decke bestanden aus den schon oft erwähnten Riesenquadern. Nun schoben wir uns statt mit den Händen mit den Rudern fort. Der Kanal ging stetig geradeaus. Das Wasser war tief und schwarz, dabei aber durchsichtig wie Kristall. Das Bild unserer ruhig brennenden Flamme schaute wie aus unergründlicher Tiefe zu uns herauf.

Ich war so vorsichtig gewesen, die Länge des Kanals abzuschätzen, natürlich nur so ungefähr, bloß mit dem Auge. Die Zahl der Quader gab mir den Anhalt hierzu. Vierzig, sechzig, achtzig Meter! Ein solcher Aufwand von Material und Arbeitskraft konnte nicht bloß den Zweck einer einfachen Zu- oder Ableitung des See- oder Bergwassers haben. Es mußte noch ganz andere Gründe gegeben haben, diesen Zu- oder Abfluß nicht oben vor aller Augen, sondern hier unten in der Verborgenheit geschehen zu lassen. Wenn ich mich in die ferne Zeit zurückdachte, in welcher diese Bauten entstanden waren, so drängte mir die von unserer Fackel kaum einige Bootslängen weit durchbrochene Finsternis die Frage auf, ob dieses Wasser wohl als lebenspendendes Element oder aber als verschwiegener, düsterer Helfer des Todes betrachtet worden sei.

Bereits über achtzig Meter waren wir vorgedrungen. Der Duar lag droben hinter uns. Wir mußten uns ungefähr an der Stelle befinden, wo draußen, auf fester Felsenunterlage, die Cyklopenmauer begann. Da hörten hier unten die behauenen Quader auf; der Kanal wurde noch breiter und höher, so daß wir die Ruder bequem ausstrecken und rühren konnten, und die Wände bestanden aus dem mühsam durchbrochenen Gestein des Berges. Die Decke war gewölbt.

Hierauf kamen wir an einen Seitenkanal, welcher rechtsab führte, und lenkten in ihn ein. Er war genau so breit und so hoch wie der Hauptkanal, aber nicht lang. Auch hatte man sich bei der Herstellung weniger Mühe gegeben. Die rechte Seite war Naturgestein, die linke aber Mauer, aus Riesenblöcken ausgeführt, doch nichts weniger als glatt behauen. Es gab hüben wie drüben hervorragende Ecken, Kanten und Spitzen, welche nicht beseitigt worden waren. Da, wo dieser Seitenkanal aufhörte, wich die Decke plötzlich zurück. Wir sahen in eine dunkle Oeffnung hinauf, deren Höhe nicht abzumessen war, weil unser Licht sich hierzu als unzulänglich erwies.

»Was mag da oben sein, Effendi?« fragte Kara. »Ich sinne darüber nach, wo wir uns jetzt wohl befinden. Unter den Ruinen jedenfalls, aber an welcher Stelle?«

»Ich habe soeben auch im Stillen gerechnet,« antwortete ich. »Wenn ich morgen am Tage in den Ruinen nachrechne, werde ich es wissen. Auf dem Rückwege nachher werde ich die Steine, die alle von gleicher Länge und Höhe sind, genauer zählen. Jetzt schätze ich nur so ungefähr, daß grad über uns der unterste Urbau liegt, in dessen Vordermauer die kleinen Oeffnungen sind, welche wahrscheinlich Fenster bilden sollen. Ich schließe das auch aus dem Umstande, daß dieser Bau auf derselben Gesteinsart liegt, aus welcher hier die rechte Seite des Kanales besteht. Die Steine der linken Seite habe ich gezählt. Ich werde es mir notieren.«

Ich nahm mein Buch aus der Tasche, um mir diese Anmerkung zu machen. Da sagte Kara, indem er nach oben wies:

»Dort hängt Etwas an einer Spitze im Gestein. Es sieht genauso aus, als ob Jemand von da oben, wo hinauf wir nicht sehen können, heruntergestürzt sei, wobei ein Fetzen seines Gewandes dort losgerissen und festgehalten worden ist.«

Ich schaute hinauf. Es war so. Der hängen gebliebene Fetzen war ganz mit Kalksinter überzogen und also nicht vermodert.

»Mich schauert, Effendi!«, fuhr Kara fort. »Wenn dieses finstre Loch da oben in der Decke erzählen könnte, wie Viele hier in diesem dunkeln, eiseskalten Wasser sterben mußten – Laß uns umkehren! Mich friert!«

Wir griffen zu den Rudern und brachten uns in den Hauptkanal zurück, welcher nur noch eine kurze Strecke weiterführte und dann auf ein großes, unterirdisches Wasserbecken mündete, an dessen südlichem Ende wir uns befanden. Die Decke war so hoch, daß wir sie bei unserm schwachen Licht nicht sehen konnten. Zu unserer linken Hand verlor sich die natürliche Felsenwand dieses Bassins in tiefe Dunkelheit. Rechts lag die unbewegte und scheinbar ununterbrochene Flut in drohender Finsternis. Die Luft war feuchter als vorher, beinahe nässend und von einer moderigen Schärfe, als ob sich hier Fäulnisprozesse abgespielt hätten, die nun zwar vorüber waren, doch ohne daß der stechende Duft der Verwesung sich vollständig niedergeschlagen hatte. Das war nicht gut zu atmen, doch auszuhalten immerhin. Dabei brannte die Fackel ziemlich hell. Es mußte irgendwo eine Stelle geben, durch welche dieser unheimliche Raum mit der äußeren Atmosphäre in Verbindung stand.

»Das stinkt wie alte, nasse Gräber!« sagte Kara, indem er sich schüttelte. »Mich friert jetzt noch mehr als dort. Ich habe das Gefühl, als müßten in dem Wasser unter uns nur lauter Leichen liegen! Was tun wir jetzt, Effendi?«

»Wir untersuchen dieses Wasserbecken.«

»Meinst du, daß wir uns zurückfinden werden?«

»Ja.«

»Du hattest aber doch Sorge! Das zeigt die Weisung, die du Schakara erteiltest.«

»Ich dachte dabei an ein Unglück durch schlechte, erstickende Luft. Wir können aber doch atmen, und diese natürliche Höhlung ist doch wohl nicht so groß, daß man sich trotz aller Aufmerksamkeit in ihr verirren müßte. Wenn wir bedächtig vorgehen, kann uns nichts geschehen. Bleiben wir zunächst am Rande des Wassers! Hier links ist es alle. Wenn wir nach rechts hinüber diesem Rande folgen, bis wir zur jetzigen Stelle zurückkehren, haben wir seine Ausdehnung kennen gelernt und wissen, was es uns hierauf noch bietet. Komm!«

Wir lenkten vom Kanale rechts ab und fuhren längs der überstark erscheinenden Mauer hin, an deren andern Seite wir uns im Nebenkanale befunden hatten. Ich zählte ihre Quadern. Sie war hier etwas länger als drüben und schloß einen zweiten Seitenkanal mit ein, welcher zu unserer andern Hand nicht durch eine feste, kompakte Wand, sondern durch natürliche Pfeiler eingefaßt wurde, deren Höhe eine so beträchtliche war, daß wir die Decke selbst dann, als ich noch eine Fackel anbrannte, nur undeutlich sehen konnten. Diese Decke reichte auch hier nicht bis ganz an das Ende des Kanales. Es gab auch hier eine dunkel gähnende Öffnung oben, die irgend einen Zweck gehabt haben mußte. Indem ich prüfend emporschaute, äußerte sich Kara:

»Wahrscheinlich stürzte man auch hier diejenigen Personen hinunter in den Tod, die man verschwinden lassen wollte! Es gibt zwar kein bestimmtes Zeichen hierfür, aber – Allah ‚l Allah! Sieh dorthin! Was liegt da auf dem Stein?«

Er deutete nach dem letzten der erwähnten Pfeiler. Dieser ragte in einem Durchmesser von wenigstens sechs Meter aus dem Wasser, verjüngte sich aber sofort in einer Weise, daß dieser Durchmesser kaum noch zwei Meter betrug. Hierdurch entstand eine ebene Platte von vier Meter Breite, und auf dieser lag das, was Kara veranlaßt hatte, seinem Satz ein so erschrockenes Ende zu geben. Wir paddelten das Boot hin und sahen, daß der betreffende Gegenstand ein menschliches Gerippe war, ganz zusammengekrümmt, die Kniee bis an den Leib herangezogen, die eine Hand geöffnet, um nach Hilfe auszufassen, die andere aber geballt, wie in fluchender Drohung ausgestreckt.

»Das ist einer der Unglücklichen, von denen ich sprach!« rief Kara aus. »Er hat schwimmen können und sich über Wasser gehalten, bis er in der Finsternis zufälligerweise an den Pfeiler stieß. Er fühlte die ebene Stelle und kroch hinauf. Da ist er dann elend verschmachtet, verhungert, zu Grunde gegangen. Wie mag er gebetet, geflucht, geschrieen, gewimmert haben in dieser schrecklichen, nassen, erbarmungslosen Unterwelt! Geächzt, gestöhnt, gebrüllt, gezetert in fürchterlichster Qual und Todesangst, bis ihm die Heiserkeit die Stimme raubte, so daß er nur noch innerlich zu fluchen vermochte und mit dem letzten Fluch zu Allah ging, der ihn erhören mußte!«

Ich sagte nichts. Die Untersuchung des Skelettes war mir wichtiger als alle Reflexionen. Es war feucht, aber hart wie Stein, von Kalk ganz durch- und überzogen. Ein ausgewachsener Mann in den kräftigsten Jahren. Eine hohe, breite Stirn. Im Leben wohl ein schöner, kluger Denkerkopf. Der erste Gedanke seines Lebens ein Segen für die Mutter, der letzte eine Verwünschung seiner Geburt! Wie lange lag das versteinerte Gerippe hier an dieser Stelle. Jahrhunderte? Jahrtausende? Welchem Volke, welchem Stande, welcher Religion gehörten die Gräßlichen an, die ihn in einen derartigen Tod geschleudert hatten? Ich vermutete grad über uns den zweiten Werkstückbau mit den beiden Hochreliefs. Also Heiden!

»Fort von hier!« sagte ich. »Ich habe mich absichtlich warm angezogen, weil ich mir sagte, daß es hier unten naßkalt sein werde. Aber ich glaube, hier friert auch mich!«

Das Bassin bog sich von hier nach links, um erst einen dritten und dann noch einen vierten Seitenkanal zu bilden. Und sonderbar: Erstens lagen diese Kanäle meiner Vermutung nach genau unter der dritten und vierten Etage der Ruinen. Und zweitens endete jeder mit einer ähnlichen Deckenöffnung, wie wir bei den beiden ersten beobachtet hatten. Wozu diese schauerliche Verbindung der sonnigen Oberwelt mit dem lichtlosen, unterirdischen Becken? Wasser war da oben doch stets und für alle Bedürfnisse mehr als genug vorhanden gewesen! Waren die Gründe vielleicht ebenso finster und unerbittlich wie die eiseskalte Flut, die unser Boot jetzt trug?

Indem wir wenden wollten und darum die Ruder tief in das Wasser tauchten, brachten wir dieses in lebhaftere Bewegung als bisher. Dieser Wellenschlag vervielfältigte in der Tiefe die Bilder unserer Fackelflammen. Die Brechung des Lichtes bewirkte ein scheinbares Emporsteigen alles Dessen, was sich da unten befand, und so erhob sich vor unsern Augen eine Menge menschlicher Gestalten, welche sich zu bewegen und drohend auf uns zuzuschwimmen schienen. Kara stieß einen gellenden Ruf des Schreckens aus, und auch auf mich wirkte dieser Anblick so, daß mir fast das Ruder entfallen wäre.

»Leichen, nichts als Leichen, über denen wir uns befinden!« preßte der junge Hadeddihn hervor. »Effendi, leben wir noch, oder sind wir gestorben und müssen selbst auch da hinunter?«

»Fasse dich, Kara!« ermutigte ich ihn. »Wir leben, und auch unter uns ist nicht der Tod, sondern etwas ganz Anderes. Was das Verbrechen früherer Zeiten zu verbergen und zu vernichten suchte, das wurde durch das schwer kalkhaltige Wasser in Stein verwandelt, damit man später wisse, was der, welcher wirklich Mensch ist, von dem zu erwarten habe, der sich mit seinem Menschentum nur brüstet. Was du jetzt sahst, war Kalk, war Gips, war aufgelöster, weißer Ruchamstein. Denk dir, es seien bloß nur Marmorbilder, die man hier tief versteckte, damit sie nicht in falsche Hände kommen möchten! Rudern wir ruhig weiter!«

»Ja. Aber brenn noch eine Fackel an, damit es lichter um uns werde! Mir ist, als schaute rings der Tod aus tausend leeren Augenhöhlen zu uns her, und das ist eine Vorstellung, die mich peinigt!«

Ich tat es. Dann setzten wir die Untersuchung fort.

Diese ergab, daß wir es nicht mit einem, sondern mit zwei Wasserbecken zu tun hatten, einem vorderen, in dem wir uns befanden, und einem hinteren, welches wir einstweilen noch unbeachtet ließen, um das erstere vollständig kennen zu lernen. Wir vermuteten über uns eine hohe Wölbung. Sehen konnten wir sie nicht. Sie wurde von natürlichen, regellos stehenden Pfeilern getragen, Ueberreste der Steinwände, deren weiche, erdige Zwischenfüllung das Wasser weg- und in den See gespült hatte. Auch diese Wände waren nach und nach aufgelöst und zerfressen worden, und was von ihnen noch übrig war und von mir als »Säulen« bezeichnet wurde, sah so zerrissen, zerklüftet und durchlöchert aus, als ob es jeden Augenblick zusammenbrechen müsse. Diese Deckenträger hatten alle, ohne Ausnahme, das Aussehen, als ob sie aus weißem Pfefferkuchen beständen, der im Wasser gelegen habe und nur notdürftig getrocknet worden sei, um wenigstens einen Anschein von Festigkeit zu bekommen. Es gab in diesen ausgelaugten Gebilden Stellen, bei deren Anblick es mir war, als ob ich sie laut krachen und prasseln höre und als ob sie sich schon bewegten, um zusammenzubrechen. Wenn ich an die ungeheuren Mauerlasten dachte, welche auf diesem höchst unzuverlässigen Gewölbe ruhten, unter dem ich mich befand, so wollte mich eine Gänsehaut überlaufen, und es prickelte mir ängstlich in allen Fingerspitzen. Kara schien ganz dieselbe Empfindung zu haben, denn er sagte:

»Wer hier auf den Gedanken käme, eine Pistole abzufeuern, der wäre unrettbar verloren, denn der ganze Berg würde von dieser kleinen Erschütterung über ihm zusammenbrechen und ihn unter sich begraben! Wollen uns beeilen, fortzukommen, Effendi! Mir will fast bange werden!«

»Nur noch das hintere Becken!« sagte ich. »Vermutlich ist es nicht so groß wie dieses, und wir werden also schneller mit ihm fertig.«

»Aber, um Allahs willen, nur leise, leise; das bitte ich dich! Ich sehe Alles um und über uns wackeln!«

Daß dieses Gefühl nicht falsch war, das sollte sich uns später mehr als deutlich zeigen! Jetzt aber ruderten wir uns nach dem Hintergrunde, wo wir sonderbarer Weise wieder auf Menschenarbeit trafen. Es gab eine breite Mauer von gewaltigen, unbehauenen Blöcken, welche auf kompaktem Fels errichtet worden war. Es schien, als ob man durch diese Mauer das hintere Bassin habe vollständig verschließen und verbergen wollen. Warum wohl das? Doch bestand dieser Fels aus Kalk. Das Wasser hatte auch hier so auflösend und zerstörend gewirkt, daß nur noch die allerhärtesten Teile von ihm vorhanden waren. Und auf diesen wenigen, leichten Ueberresten lag die ganze Wucht der Riesenmauer! Wie war es doch nur möglich, daß nicht schon längst hier Alles, Alles zusammengebrochen war! Ein Halt war hier nicht mehr zu suchen und zu finden. Er mußte anderswo liegen, seitwärts oder oben, in irgend einem an sich geringfügigen Gegendrucke. Hörte dieser auf, so stand die Katastrophe zu erwarten! Ein Gewitter, ein kleiner Erdrutsch oder etwas dem Aehnliches konnte die letzte, wenn auch unbedeutende Veranlassung zu dem gewaltigen Zusammenbruche sein, welcher längst schon vorbereitet war. Einen längst entwurzelten Baum wirft, sei er noch so groß und stark, schließlich doch ein kleiner Druck schon um.

Wir schlüpften an einer der Stellen, wo die Mauer frei in der Luft schwebte, unter ihr weg und befanden uns dann im hintern Becken. Es war, wie ich vermutet hatte, nicht so groß wie das vordere. Säulen schien es nicht zu geben. Wir umruderten es in kurzer Zeit. Es bildete einen Halbkreis, dessen schnurgerade gebauter Durchmesser die Mauer war. Der Bogen bestand aus lückenlosem Fels, der sich hoch oben nischenförmig zusammenzuneigen schien. Als ich dies bemerkte, fiel mir die Sage von »Chodeh, dem Eingemauerten« ein, welche Schakara mir erzählt hatte. Fast unbegreiflicher Weise war dieser Fels fast glänzend schwarz, so ungefähr wie recht dunkler, polierter Serpentin. Wie das wohl kam?

Nachdem wir nun den Umfang dieses Innenbeckens kennengelernt hatten, beschlossen wir, es auch einmal zu durchqueren. Da stießen wir schon nach wenigen Ruderschlägen auf einen aus dem Wasser ragenden Riesenblock von genau rechteckiger Gestalt. Er war feucht, schlüpfrig, unten weiß überkalkt, je höher hinauf aber um so trockener und dunkler. Seine Kanten waren so geradlinig und scharf, daß ich diese Regelmäßigkeit für Menschenarbeit halten mußte. Seine oberen Linien lagen im Bereiche unserer Flammen. Auch sie waren genau wie nach Schnur oder Wasserwage gebildet. Das Ganze hatte so sehr das Aussehen eines allerdings gewaltigen Sockels oder Postamentes, daß ich eine der Fackeln nahm, mich aufrichtete und in die Höhe leuchtete, um zu sehen, ob sich Etwas darauf befinde, was seinen ganz ungewöhnlichen Dimensionen entsprechend war. Und richtig! Fast glich meine Ueberraschung einem frohen Schrecke! Das Licht fiel auf etwas wunderbar rein weiß Glitzerndes, etwas so schneeig Zartes und Unbeflecktes, daß ich zunächst meinen Augen gar nicht trauen wollte. Dieses lautere, keusche, unschuldige Weiß, auf welchem Millionen Flammenkörnchen brillierten, kam mir nach Allem, was wir hier unten bisher gesehen hatten, so heilig, so unbegreiflich vor, als ob mein Blick auf etwas Ueberirdisches, vollendet Seelisches gefallen sei!

»Siehst du Etwas, Effendi?« fragte Kara unter mir.

»Ja,« antwortete ich, noch immer staunend.

»Was?«

»Etwas wie aus dem Paradiese! Wir haben die Dschehenna hinter uns, den Ort des steingewordenen Erdenfluches. Hier aber ist es mir, als sei der Fluch in Segen umgewandelt, und was dort Kalk im Todeswasser war, das kniet hier erlöst im alabasternen Gebete!«

»Ich höre dich, aber ich verstehe dich nicht!«

»Das glaube ich! Auch ich kann nicht verstehen, wie das, was ich jetzt sehe, hierher gekommen ist. Es kniet hier Jemand, den ich bloß nur ahne. Ein betender Gigant! Mir leuchtet nur das Glied, das er vor Gott, dem Allerhöchsten beugt; das Andre steigt empor in Nacht und Grauen. Hebt er die Hände fordernd auf zum Himmel? Hält er sie still gefaltet in Ergebung? Hebt er kühn seine Stirn? Ist sie gesenkt zur Erde? Wirft er den Blick vertrauensvoll ins Weite? Bedeckt er zaghaft ihn mit demutsvollen Lidern? Was frage ich? Es ist genug, daß ich hier beten sehe!«

Ich ließ die Fackel sinken, steckte sie an ihren Ort und setzte mich wieder nieder. Es war mir, als müsse ich hier bleiben, bis irgend ein Ereignis nahe, diese »Anbetung in der Verborgenheit« nach Matthäus 6 Vers 6 zu beantworten. Aber ich nahm mir vor, recht bald zurückzukehren und diesen Ort so genügend zu beleuchten, daß ich die ganze Figur, die hoffentlich kein Torso war, vollständig und deutlich vor mir stehen hatte. Für heute war unser Werk vollbracht.

Wir verließen das zweite Bassin, nachdem ich mir einige Notizen über dasselbe gemacht hatte. Das vordere nahm ich noch sorgfältiger auf. Und als wir wieder in den Hauptkanal einfuhren, maß ich mit Hilfe einer Leine, die wir im Boote fanden, einen der Steine bis auf den Zentimeter genau, und da diese Quader alle die ganz gleiche Länge und Höhe hatten, so war es später leicht, eine Zeichnung anzufertigen, die es mir ermöglichte, die unterirdischen Linien zu Tage festzulegen. Wir passierten das verschließende Gestrüpp ganz in derselben Weise wie bei unserm Kommen, und als wir dann den Sternenhimmel wieder über uns hatten und die Zeit bestimmen konnten, sahen wir, daß während unsers Aufenthaltes in der Unterwelt doch mehr als zwei Stunden vergangen waren. Die Fackeln hatten wir natürlich verlöscht, bevor wir wieder in das Freie gelangten. Am Landeplatze angekommen, banden wir das Boot fest. Kara nahm die Fackeln, ich die Maßleine, und dann traten wir den Heimweg an.

»Effendi, glaubst du, daß ich froh bin, wieder festen Boden unter den Füßen und den Himmel über mir zu haben?« fragte er. »Dieses fürchterliche, tief verschwiegene Wasser! Diese lügnerischen Säulen! Und dieser unermeßliche Druck von oben, den sie zu halten vorgaben und doch unmöglich halten können! Ich habe fast gezittert, und es ist mir, als ob ich einem beinahe unvermeidlichen und gräßlich heimtückischen Tode entronnen sei!«

Er hatte ganz meine eigenen Gefühle ausgesprochen. Bei mir kam ja noch dazu, daß ich schwer krank gewesen war und für solche Eindrücke also empfänglicher sein mußte als er. Es war eigentlich höchst unvorsichtig von mir gewesen, diese Untersuchung des Erdinnern schon jetzt vorzunehmen; aber die Zeit und die Ereignisse drängten, und glücklicher Weise hatte ich mich weder erkältet, noch fühlte ich mich sonstwie körperlich geschädigt. Es hatte ganz im Gegenteile den Anschein, als ob durch dieses Unternehmen die Energie sowohl des Leibes wie auch der Seele gehoben worden sei. Ich fühlte mich eher gekräftigt als ermüdet oder gar abgespannt.

Schakara freute sich, als wir kamen. Sie sagte, daß sie bereits begonnen habe, um uns besorgt zu werden. Als Kara mich fragte, ob er ihr Alles erzählen dürfe, sagte ich, daß dies ganz selbstverständlich sei, forderte ihn aber auf, gegen Jedermann sonst zu schweigen. Dann ging ich hinauf zu mir, brannte die Lampe an und setzte mich an den Tisch, um die Zeichnung der beiden Bassins jetzt sofort anzufertigen. Die Eindrücke waren jetzt so frisch, daß ich fast jede Einzelheit in größter Deutlichkeit vor mir sah, und als ich fertig war, konnte ich überzeugt sein, mich um keinen einzigen Meter geirrt zu haben. Es galt nur noch morgen am Tage diese Grundebene mit der Neigung des äußern Terrains in Einklang zu bringen.

Ganz von selber versteht es sich, daß die unverlöschlich tiefen Bilder, welche ich mit nach Hause gebracht hatte, mich noch auf das Lebhafteste beschäftigten, als ich mich hierauf zur Ruhe legte. Der Schlaf wollte nicht kommen, und als er sich endlich doch einstellte, nahm er sie mit in jenes seelische Gebiet hinein, welches für uns noch im Geheimen liegt und mit dem Verlegenheitsnamen Traumwelt bezeichnet wird.

Ich träumte, und zwar mit einer Lebhaftigkeit und Deutlichkeit, als ob ich nicht schlafe, sondern wache. Und ich träumte sonderbarer Weise, daß ich nicht ich, sondern der Ustad sei. Ich war völlig identisch mit ihm und kannte jede verflossene Minute seines Lebens und jedes Wort, welches er geschrieben hatte. Und das verwischte sich nicht; das blieb auch nach dem Traume. Sein Inhalt war folgender:

Ich kam als Ustad in das Land der Dschamikun und sah die Bauten hier am Berge liegen. Ich nahm ihr Aeußeres in Augenschein, und was ich dabei sah, das ließ den Wunsch in mir erwachen, auch mit dem Innern genau bekannt zu werden. Ich fragte Jemand, wo der Eingang sei. Da sah er mich mit kalten Augen an und sprach:

»Ich bin kein Dschamiki. Ich bin der Geist, der jeden Nahenden vor der Versuchung warnt, den kühnen Schritt in diesen Bau zu lenken. Wer ihn betritt, der hat für alle Ewigkeit auf sich, auf Leib und Geist und Seele zu verzichten. Wer das nicht tut, verläßt ihn niemals wieder, nicht lebend und nicht tot. Die Schatten dulden nicht, daß sie verraten werden.«

»Die Schatten?« lachte ich. »Wo ist der wesenlose, impotente Sill, der eine wirkliche Persönlichkeit wohl fürchten machen könnte!«

»Frag anders! Frage so: Wo ist die mächtige Persönlichkeit, die Jeden, der ihr dunkles Reich betritt, zum Schatten macht, verzaubert oder tötet? Sie wohnt und herrscht in diesem Riesenbau. Willst du hinein, so halte ich dich nicht; ich habe nur zu warnen, nicht zu zwingen. Unzählige schon hörten nicht auf mich. Die Starken sah ich niemals wiederkehren; die Andern aber waren ihm, dem Zauberer, in andrer Art verfallen. Sie kamen zwar zurück, doch nur als seine Schatten, die geist- und körperlos an mir vorüberschlichen, um vampyrgleich der Menschen Blut zu saugen.«

»Und fand sich Keiner, der ihm widerstand?«

»Nicht Einer!«

»Das schreckt mich nicht. Was Zauber heißt, ist Lüge. Nur wer die Lüge glaubt, ist ihr verfallen. Ich tue so, wie Alle, die nicht hörten: Ich will hinein, ja nun erst recht hinein! Gib mir den Mächtigen zu sehen, von dem du sagst, daß Jedermann dem Tode oder ihm verfallen sei! Ich glaube nicht an seine Macht und auch nicht an den Tod!«

»Du glaubst nicht an den Tod?« fragte er, indem er mich ganz eigen ansah. »Kannst du beten?«

»Ja.«

»Richtig?«

»Ich hoffe es.«

»So geh hinein! Wenn du nicht anders willst! Du bist der Erste, der Einzige, bei dem ich es wage, einen Wink zu geben. Er heißt: Such dir den Rückweg selbst; laß ihn dir ja nicht zeigen!«

Nach diesen Worten winkte er unter sich. Da öffnete sich die Erde, und ich sah die Stufen einer Treppe.

»Ich danke dir! Mich siehst du nicht als Schatten wieder!« sagte ich und stieg hinab.

Da kam ich denn zunächst in jenen Urzeitbau, der auf dem festen Felsengrunde steht. Der Tag gab durch die Maueröffnungen ein falbes Dämmerlicht. Ich wanderte im Innern auf und ab, sah aber nichts; der Raum war völlig leer. Es schien, man habe ihn vollständig ausgeraubt, wie man zum Beispiel hier und da mit gottesdienstlichen und philosophischen Systemen tat. Da werden die Gedanken fortgeschleppt wie Möbelgegenstände, die man, gehörig ausgeklopft und wieder neu poliert, in eine neue Wohnung stellt und auch als neu bezeichnet! Das Ende dieses Baues gegen Süden war zugeschüttet worden. Ich wußte wohl, warum: Das war der Ort des Sturzes in das Wasser.

Auf Binnenstufen ging’s hinauf zum zweiten Bau, der mich an Altiranisches, an Zarathustra mahnte. Auch er war leer, vollständig leer. Kein Mensch, kein andres Wesen ließ sich sehen. Auch ausgeraubt und Alles fortgeschafft! Man sollte doch Vergangnes heilig halten! Nicht es dem eignen Zwecke dienstbar machen und dann die Zeit verdammen, die es schuf! Der Schluß nach Süden war vermauert worden.

Nun ging es wieder stufenauf ins doppelte Geschoß mit den zersprungenen Tafeln. Da lag wohl hier und da ein alter Gegenstand, den man des Raubes nicht für wert gehalten hatte, auch gab es Spuren, die mich schließen ließen, daß Menschen hier zuweilen noch verkehrten, doch jetzt war ich allein. Wirklich? Ganz allein? Wurde ich nicht beobachtet? Der letzte Raum nach Süden war verschüttet, doch nicht bis an die Decke. Man konnte sich da oben wohl verstecken, und in dem losen Schutt sah ich die Spuren, daß man noch kürzlich hier hinaufgestiegen war. Das war zwar ungefährlich für Vertraute, doch nicht für Fremde, die vielleicht hier einen Ausgang suchten; denn jenseits ging der Sturz jäh ins Bassin hinab. Und als ich so von Weitem stand und nach der Decke schaute, schob sich ein Kopf da oben leise vor, um mich in scharfen Augenschein zu nehmen. Das Haar war weiß wie Schnee, der Blick spitz wie die Klinge eines Dolches. Ein Mensch, der solche Augen hat, weiß, was er will, und kennt die Schonung nicht. Er hat sogar den Mut, sich dicht am Abgrund lauschend zu verbergen, wenn es nur Hoffnung gibt, daß dann ein Andrer stürzt. Ich tat natürlich so, als ob er von mir ungesehen sei, und ging zur nächsten Treppe, um nach dem obersten Geschoß, dem vielgestaltigen, emporzusteigen.

Sie führte nicht direkt zu ihm empor. Sie mündete auf eine offene Tür, an welcher eine dunkle Schattenhaftigkeit sich tief vor mir verbeugte und mit gedämpfter, hohler Stimme sprach:

»Wir kennen deinen Wunsch und haben dich erwartet. Du glaubtest gleich hinauf zum Oberbau zu kommen, mußt aber erst durch die Gewölbe hier, als deren Resultat er stein- und ziegelweis entstand. Hier sind die Schätze alle aufgespeichert, die sich der Mensch seit Anbeginn erdacht. Wir trugen sie zusammen, woher, wozu, warum, das wirst du dann erst hören, wenn dich die Gnade unsers Herrn erleuchtet. Er ist bereit, mit dir zu sprechen. Er ist sogar gewillt, dich seinem Dienst zu weihen. Damit du siehst, wie reich er lohnen kann, wie übervoll er spendet, soll ich dich vorher erst durch diese Räume führen. Doch hast du mir dein Wort zu geben, nie zu verraten, was ich dir hier zeige. Von Andern fordere ich den heiligsten der Schwüre, doch von dir weiß ich, daß dein Wort genügt. Willst du es geben?«

»Ja,« antwortete ich, obgleich ein Etwas in mir sagte: »Gib es ihm nicht, und berühre ihn nicht, sonst bist du ihm verfallen!«

»So reiche mir die Rechte!«

Ich tat es. Seine Hand fühlte sich so gegenstandslos weich, so leichenkühl, so gallertglatt und schlangenschlüpfrig an! Es war, als ob er durch diese meine Berührung nun erst Leben und Energie bekäme.

»Komm, folge mir!« forderte er mich in plötzlich befehlendem Tone auf. »Und sprich mit Niemand als mit mir allein! Denn durch die Hand, die du als Schwur mir gabst, bist du mein Eigentum in Gott, dem Herrn geworden. Du hast kein Recht, an Andre dich zu wenden, als nur an mich, den für dich Sorgenden!«

Er faßte meine Hand kräftiger, und darum bemerkte ich deutlicher, daß er mir die Kraft entzog, die von mir auf ihn überging. Dann richtete sich die Gestalt, die sich soeben noch so tief vor mir verneigt hatte, so hoch auf, daß sie mich weit überragte, und fuhr in höchst bestimmter, gebieterischer Weise fort:

»Mein ist dein Geist; mein ist auch deine Seele, und nur der Leib bleibt einstweilen dein, bis ich bestimme, wie und wo er uns zu dienen habe. Aus meiner Hand strömt dir das höchste Glück, das es für Menschen gibt in Zeit und Ewigkeit: Du bist vollständig willenlos und folglich frei von jeder Schuld und Sühne! Tu Alles, was ich sage, ob Gutes oder Böses, der Rechenschaft bist du fortan enthoben, denn ich bin es, der sie zu leisten hat. Auch ich gehorche nur, um frei zu sein. Das tut ein Jeder, bis hinauf zum Höchsten! Im Auftrag meines Herrn belohne ich dir schleunigst jede Tat, durch welche du uns nützest. Und in derselben Machtvollkommenheit verzeihe ich dir Alles, wodurch du Andern schadest, nur nicht uns! Drum sei getrost, mag kommen, was da will! An unsrer Macht geht jeder Feind zu Grunde!«

Hierauf zog sich die, wie es schien, ganz beliebig dehnbare Gestalt in ihre vorherige Bescheidenheit zusammen und begann mit mir den Gang durch die Gewölbe, meine Hand nicht einen Augenblick aus der ihrigen lassend. Es war mir, als ob ich mit ihr durch ein unsichtbares Röhrchen verbunden sei, durch welches der Abfluß meiner Lebensenergie zu diesem Schatten hinüber stattfinde. Es konnte nicht sehr lange Zeit dauern, so war mein Mut dahin und mit ihm auch die Kraft zum Widerstande. Ein Vampyr geistiger Natur! Ein schwammiges Gespenst von unersättlicher Porosität! Durfte ich mir zumuten, ihm die Hand so lange zu lassen, bis ich gesehen hatte, was ich sehen wollte? War ich dann nicht wahrscheinlich schon so willenlos, daß ich sie ihm nicht mehr entziehen konnte? Ich wagte es, denn ich glaubte, mich genau zu kennen! Wer Vampyre entlarven will, der muß es wagen, sie an sich saugen zu lassen, bis sie so voll sind, daß sie ihm nicht entfliehen können!

Es waren viele Räume, durch welche wir kamen, weit mehr, als ich für möglich gehalten hätte. Lange, niedrige Gewölbe mit schmalen Mauernischen, in denen düsterrot die wenigen Fackeln brannten. Alles Wertvolle, was sich einst in den untern Etagen befunden hatte, war hier aufgestapelt. Dazu die köstlichsten Schmuggelwaren aus allen Ländern, Zonen und Gedankenreichen. Ich dachte an unsern Fund im Innern des Birs Nimrud. Aber was wir dort gesehen hatten, war Bettelarmut gegen diesen Reichtum hier! Und dort gab es kein Leben in der Tiefe. Hier aber huschten zwischen diesen Schätzen geschäftige Dämonen hin und her, die alle Hände voller Arbeit hatten. Unhörbar waren alle ihre Schritte, und Alles, was sie taten, erzeugte nicht das mindeste Geräusch. Die Gieresblicke, die sie auf mich warfen, verrieten mir, wie heiß sie mich begehrten. Doch wenn sich einer nahte, die Hand nach mir zu strecken, so schwoll mein Führer zum Giganten auf und schleuderte den Schwachen auf die Seite. Das war die Kraft, die er von mir zu sich hinüberzog. Da er mich hatte und sie aber Keinen, von dessen Uebermacht sie zehren konnten, war er für sie der große Held des Tages, von dem sie sich für heut beherrschen ließen.

Ich wollte wissen, was sie alle taten, und blieb zuweilen stehn, um zuzusehen. Mein Führer glaubte, mich für immer in seiner Hand zu haben, und zeigte mir ganz offen, was man trieb. Es wurde hier gefälscht, gefälscht und nur gefälscht! Das Echte hatte man der Außenwelt entzogen, das Wahre, Reine, Edle hier versteckt. Die Täuschung und den Schein, die Falschheit und Entstellung verfertigte man hier und trug sie dann hinaus als ehrliche, rechtschaffne, gute Ware! Und diese Arbeit ging sehr flott von statten. Ich sah, es war ein glänzendes Geschäft! Ein einziger Verrat, dem es gelang, ans Tageslicht zu kommen, bedeutete für dieses Fälschertum sofortigen Ruin! Daher die einz’ge Wahl: Mitmachen oder Tod! Wozu von Beidem würde ich, wenn man mich zwingen sollte, mich wohl entschließen?

Bei diesem Gedanken entriß ich dem Schatten meine Hand mit einem so unerwarteten, kräftigen Rucke, daß er überaus schnell und klein zusammenfuhr. Er dehnte sich aber hierauf sofort zur riesenhaften Größe aus und donnerte mich an:

»Was fällt dir ein! Diese Hand gehört mir, denn du bist mein Eigentum! Gib sie augenblicklich wieder her!«

Ich wußte, daß jetzt der Kampf zwischen mir und ihm beginnen werde. Und die anwesenden Sillan ahnten das wohl auch. Sie drängten sich herbei. Ich schob sie auseinander, um zur nächsten Nische zu gelangen, ergriff die dort brennende Fackel und drehte mich dann mit ihr nach ihnen um. Was geschah? Sie verschwanden. Sie versteckten sich hinter ihre aufgehäuften Waren; sie waren eben Schatten, die, bei Licht betrachtet, hinter ihre Gegenstände gehören. Nur der Eine blieb. Er allein hatte Mut, nämlich meinen Mut, von mir in seine wesenlose Schwammigkeit hinübergesaugt. Wir standen, beide hoch aufgerichtet, vor einander. Er schaute mir mit einem vernichtend sein sollenden Blicke in die Augen; ich ihm ebenso! Jetzt galt es, Wahrheit gegen Lüge, Person gegen Schatten, Individualität gegen Scheinmenschlichkeit, Licht gegen Finsternis!

Ich sprach kein Wort, er auch nicht. Ich wollte nicht, und er konnte nicht. Ich sah ihn fest und unverwandt an und zuckte mit keiner Wimper. Er wollte diesem Blicke standhalten, mußte aber bald die Augen senken. Ich stand still, fest, unbewegt; er begann zu wanken, zu zittern, endlich gar zu flackern wie die Flamme meiner Fackel. Dann wurde er kleiner, immer kleiner, sank nieder, bis er auf dem Boden lag und kroch da langsam an mir vorüber, um nach hinten zu kommen. Und als er da so vor mir bebte und sich so ängstlich vor mir wand, da fühlte ich, daß die mir gestohlene Kraft und Energie zurückkehrte, bis er nicht mehr eine Spur von ihr besaß und in seiner ganzen Ohnmacht hinter mir am Boden lag. Da drehte ich mich zu ihm um, die Fackel in der Rechten. Er floh zur linken Seite, nach der Wand, und versuchte, sich an dieser aufzurichten. Als ich hinüberschaute, wendete auch er das Gesicht. Denn ein wahrhaftiger und ehrlicher Mensch hat es noch nie erlebt, daß so ein entlarvter Lügner und Betrüger es wagte, ihn offen anzusehen. Diesen Mut besitzt er nur dann, wenn es ihm gelungen ist, sich durch den Diebstahl fremder Charakterhaftigkeit das Ansehen zu geben, daß er auch eine Art von Person und nicht bloß nur ein nichtiger, bedeutungsloser Schatten sei!

Das war der Sieg, in aller Stille, ohne jeden Zorn und ohne alle Worte! Und nun auch dieser Schatten überwunden war, begann ich den Rundgang durch die Gewölbe von Neuem, um besser und tiefer zu sehen, als ich vorher gesehen hatte. Ich war allein. Es getraute sich nichts mehr an mich heran. Wo ich mit meiner Leuchte erschien, verkroch sich jeder Schatten augenblicklich. Der meinige schlich zwar beständig hinter mir her, wagte aber nicht, sich wieder zu erheben.

Bei diesem meinem zweiten Rundgange bemerkte ich, wenn nicht zu meinem Schrecken, so doch zu meiner Ueberraschung, daß die Tür, in welche die Treppe eingemündet hatte, nicht mehr vorhanden war. Ich wußte die betreffende Stelle ganz genau. Die Gegenstände, welche ich bei meinem Eintritte zuerst gesehen hatte, standen und lagen alle noch an ihrem Orte. Aber anstatt der Tür gab es jetzt nur Mauer, starke, dicke, undurchdringliche Mauer! Ich suchte darum mit allem Fleiße nach einem zweiten Ausgange, fand aber keinen andern als nur den am Südende dieses Baues. Auch dieser führte zum jähen Sturz hinunter in das Bassin. Er war weder vermauert noch verschüttet, sondern bestand aus einer hölzernen, unverschlossenen und unverriegelten Tür, welche durch einen leisen Druck geöffnet werden konnte. Das sah so unschuldig aus, ganz genau so, als ob sie in ein weiteres Gemach oder Gewölbe führe; aber wehe dem, der diesem Betruge traute! Ich öffnete sie und leuchtete hinaus. Gleich hinter der Schwelle hörte der Fußboden auf. Der Abgrund gähnte aus dem tiefen Wasser herauf, und eine kalte, feuchte Luft roch nach Verwesungsgasen.

Ich machte wieder zu und wendete mich zurück. Wie hatte der Warnende draußen vor dem Bau gesagt? »Die Starken sah ich niemals wiederkehren!« Ja, sie hatten zwar widerstanden, waren aber nicht auf den Gedanken gekommen, nach einer Fackel zu greifen, um die Schatten von sich abzuweisen. Nach einem Ausgange suchend, waren sie von ihnen zu dieser Tür gewiesen worden und hierauf ahnungslos hinabgestürzt.

Ich dachte an die verkalkten Leichen auf dem Grunde des Bassins, welche grad unter dieser Tür im tiefen Wasser lagen, da hörte ich Schritte, welche vom andern Ende des Gewölbes kamen, und als der Betreffende in den Scheinkreis meiner schon fast ganz herabgebrannten Fackel trat, erkannte ich ihn sofort. Er war der Lauscher mit dem weißen Haare und den Dolchaugen, der mich in der vorigen Etage von dem Schritthaufen aus beobachtet hatte. Hinter ihm eine so große und so dicht zusammengedrängte Menge von Schatten, daß sie gar nicht einzeln unterschieden werden konnten, sondern zusammen eine kompakte Finsternis bildeten. In meine Nähe gekommen, blieb er stehen und rief mich an:

»Was will der Ustad hier in meinem Reiche? Der größte Feind, den ich auf dieser Erde habe! Du suchst nach einer Tür, mir wieder zu entschlüpfen! Für dich, der mich vernichten will, gibt’s keine!«

Er trat noch mehrere Schritte auf mich zu. Indem er dies tat, wurde er höher und immer höher. Nun überragte er mich um Kopfeslänge und auch um eine ganze Schulterbreite. Seine Stimme klang fest, stark, keinen Widerspruch erwartend. Ich sah ihm ruhig in die stechenden Augen, denn es galt hier einen zweiten, aber andern Kampf, und wer siegen will, muß ruhigbleiben können.

»Es wurde dir gesagt, daß ich dich sprechen wolle,« fuhr er fort. »Es sei dir hier die Audienz gestattet. Nun sag, um welche Gunst du mich zu bitten hast!«

»Ich höre, daß ich mich im Schattenreich befinde,« antwortete ich. »Es sei die Wahrheit noch so sonnenklar, der Schatten wendet sie gewiß zur Lüge! Mir fiel es nicht im tiefsten Traume ein, mit dir auch nur das kleinste Wort zu sprechen. Du aber ließest mir durch eines deiner Nichtse sagen, daß du den Wunsch besäßest, mich zu sprechen. Wer ist es nun, der Audienz erteilt? Wer ist der Wünschende, und wer ist der Gewährende? Und eine Gunst? Von dir? Für mich? Du bist verrückt! Doch wird es mir vielleicht ergötzlich sein, zu hören, was die Narrheit von mir fordert. Drum sprich!«

Täuschte ich mich, oder war es wirklich so? Seine Höhe nahm wieder ab, auch seine Breite. Und seine Stimme klang nicht so voll und so gebieterisch wie vorher, als er jetzt erwiderte:

»Du sprichst ja ungeheuer stolz, Ustad! Doch werde ich dich schnell zur Demut bringen. Du bist der Erste nicht und sicherlich auch nicht der Letzte! Ich weiß es, was geschah, als du den Berg betratest, das Reich des Zauberers, des Schwachheitshassenden zu sehen. Man warnte dich. Man sagte dir, daß du nur zwischen Schatten oder Tod zu wählen habest. Du kannst trotz alledem. Nun bist du mir verfallen. Nun wähle!«

»Wählen?« fragte ich. »Wer kann es wagen, mich vor eine Wahl zu stellen, die mir von dem, was mir beliebt, nichts bietet! Gibt es hier eine Wahl, so lautet sie: Du oder ich; nichts weiter. Natürlich wähl ich mich!«

Da trat er mir wieder einen Schritt näher und fragte mich in giftig zischendem Tone:

»Nicht Schatten willst du sein? Der Schatten von mir, der ich der Herr und Meister bin, dem Keiner widersteht?«

»Versuch es doch, ob ich nicht widerstehe!«

»So bleibt dir nur der Tod!«

»Der eine deiner größten Lügen ist!« lachte ich. »Mit diesem Tode konntest du nur jene schwachen Köpfe schrecken, die nicht erkannten, daß er nur ein Hirngespinst zu ihrer Knechtung sei. Indem sie ihren Leib vor dieser Vogelscheuche retten wollten, verfielen sie dem Geist- und Seelenmorde. Zeig mir doch diesen Tod, den lächerlichen Schatten, den nur das Leben der Betrognen wirft, weil ihm das falsche Licht der Lüge leuchtet!«

»Du hast ihn schon gesehen!« rief er aus. »Ich stand von Weitem, als du öffnetest und ihm ins kalte, feuchte Antlitz schautest. Wagst du vielleicht, es noch einmal zu tun?«

Da riß ich die Tür auf, zeigte hinaus und sagte:

»Geh doch voran, zu zeigen, wo er steht! Hast du den Mut? Ich laß nicht auf mich warten!«

Es stieg bei diesen Worten in mir ein Entschluß auf. Woher er kam? Ich weiß es nicht. Wohin er führte? Hier durch diese Tür. Ich fühlte, daß seine Kühnheit mir die Wangen rötete und meine Augen leuchten ließ. Und während ich dies empfand, kam mir im Traume das Bewußtsein, daß ich träume und daß ich ich und nicht der Ustad sei. Sonderbar! Auch in den Zügen meines Gegners ging eine sichtbare Veränderung vor. Er sah mich starren Blickes an, erst überrascht, dann verwundert, staunend, endlich gar betroffen. War es ein Wehe- oder ein Jubelruf, den ich hierauf von seinen Lippen hörte:

»Ustad, Ustad – was ist mit dir?! – Dein Gesicht wird ein ganz anderes! – Du bist nicht mehr der Ustad, nein, nein – nein! – Wer aber bist du denn? Etwa der fremde Effendi, der jetzt bei ihm im hohen Hause wohnt und unten im Birs Nimrud verwegen in die Tiefe stieg, um ihr Geheimnis an das Licht zu bringen?«

»Ja, der bin ich,« antwortete ich. »Doch träumte ich bisher, daß ich der Ustad sei.«

Da sprang er auf mich zu, faßte mich am Arme, schüttelte mich und schrie:

»Du träumst, du träumst und bist ein Anderer! Was soll geschehen; was habe ich zu tun! Ich weiß es nicht; ich weiß es wahrlich nicht! Wach auf; wach auf! Ich öffne dir sofort des Berges Tore! Du sollst nicht Schatten sein und auch nicht sterben! Nur eile fort von hier! Ich selbst will dich hinaus ins Freie lassen, damit dein Traum ein frohes Ende nimmt und du zu deinem Körper wiederkehrst, damit er jetzt erwache!«

Da schob ich ihn von mir, sah ihm ruhig in das erregte Angesicht und entgegnete:

»Dieser Körper ruht in Frieden. Er mag weiterschlafen! Warum soll ich nicht vollenden, was ich begonnen habe? Ich bleibe hier! Grad deine Angst zeigt mir, daß ich es bin, der hier Audienz erteilt! Ich fordre jetzt von dir, daß du erfüllst, was du mir drohtest: Mach mich zum Schatten, oder töte mich! Tu das, was du von Beiden fertig bringst!«

Da zog sich seine Gestalt noch weiter zusammen. Doch versuchte er, seiner Stimme die alte Kraft zu geben, als er mir versicherte:

»Wenn du hierauf bestehst, so bist du verloren, denn ich habe die Macht, Beides wahr zu machen! Indem ich dir folgte, ließ ich sämtliche Fackeln hinter dir auslöschen und verbergen. Du hast die einzige in deiner Hand, und sie ist nur noch ein kleiner Stumpf, der kaum noch einige Minuten brennen wird. Dann kannst du meine Schatten nicht mehr scheuchen. Sie drängen sich an dich und nehmen dir den Willen und die Kraft, bis du das bist, was du nicht werden willst: mein Sill!«

»Wer kann mich zwingen! Verlöscht das Licht, so steht die Tür hier offen!«

»Doch draußen auch der Tod!«

»Deine Scheuche! Mich aber schreckt er nicht!«

Was war denn das? Es ging jetzt wie ein frohes, verklärtes Staunen über sein Gesicht. Und doch klang es wie Angst, als er mich aufforderte:

»Du bist also entschlossen, zu sterben, Effendi! So fordere ich dich auf, dich vorzubereiten. Du stehst vor deinem letzten Augenblick und hast dich dem Gebete zuzuwenden. Falte also deine Hände, und sprich nach, was ich dir vorzubeten habe!«

Er legte die seinigen zusammen und sah mich an, als ob er ganz bestimmt erwarte, daß ich diesem seinem Beispiele folgen werde. Ich aber sprach:

»Meinst du, daß ich dich brauche, dich, dich, wenn ich zu beten habe? Für mich ist das Gebet von göttlicher Natur, und darum ist das rechte, wahre Beten wenn nicht die allergrößte, so doch die schwerste und die heiligste der Künste. Hier aber sah ich nichts als Trug und Fälschung, und darum glaube ich, daß du sogar betrügst, indem du betest!«

Da ballte er die Fäuste wie zum Kampfe und schrie mich an:

»So stirb in deinen Sünden und fahre hin zur Hölle!«

Er holte aus und schnellte sich mit aller Kraft auf mich, um mich hinabzustürzen, der ich in fast unmittelbarer Nähe der Tür stand. Ich aber wich blitzschnell zur Seite.

Die Gewalt des Sprunges trieb ihn also, anstatt mich zu treffen, in die Türöffnung hinein. Er brüllte vor Schreck laut auf und faßte hüben und drüben an, um sich zu halten.

»Voran mit dir, damit ich Wort zu halten habe!« rief ich. »Ich laß nicht auf mich warten!«

Ein Stoß von meiner Faust, und er flog hinaus ins Bodenlose. Die Fackel in meiner andern Hand stand im letzten Flackern. Ich schleuderte sie ihm nach. Von unten klang ein Schrei und dann ein dumpfer Schlag. Vor mir die tiefste Finsternis und hinter mir das Grausen aller Schatten! Ich trat auf die Schwelle. Ein einziges Wort, ein allereinziges, klang betend in mir auf. Dann schnellte ich mich, um nicht am Gemäuer anzuschlagen, mit weitem Sprung hinaus in das, was mir als »Tod« bezeichnet worden war.

Die Beine zusammenhaltend, die Arme angezogen und die Augen geschlossen, fuhr ich in eine Eiseskälte, die mich sofort erstarren machen wollte. Aber sie hatte auch noch eine zweite Wirkung: Es war mir, als ob ich in eine Flut der Kraft, des Lebens tauche, die nur im ersten Augenblick erschrecke, dann aber grad das Gegenteil von der Erstarrung bewirke. Der Sprung war hoch gewesen, so hoch, daß ich bis auf den Boden des Wassers niederkam, zu den Verkalkten, die da unten lagen. Dann breitete ich die Arme aus, tat den bekannten Schlag, um wieder hochzukommen, und legte mich hierauf, leicht paddelnd, auf die Flut. Nun horchte ich.

Hier um mich her war Alles still. Jedoch in einiger Entfernung klang das Wasser. Es war, als schwimme Jemand dort und hole ängstlich Atem. Ich kannte wohl die Stelle, an der ich mich befand, jedoch noch nicht die Richtung. Ich war mit dem Gesicht nach Süd herabgesprungen. Hatte ich das beibehalten, so mußte die Mauer hinter mir liegen. Dort schwamm ich hin und fühlte schon nach einigen Stößen den Stein. Das konnte auch ein Pfeiler sein. Darum griff ich mich an ihm hin. Es war die Mauer. Ich hatte sie rechter Hand und lag also mit dem Kopfe nach dem inneren Bassin hin auf dem Wasser.

Von dorther klang Geräusch. Es rauschte, und es stöhnte. War das der »Zauberer«? Hatte er sich gerettet? Kannte er die Oertlichkeit? Wußte er Etwas von dem Kanal? Wenn nicht, so war er verloren, wenn ich ihn im Stiche ließ. Ich schwamm also hin, leise, leise, um ihn nicht durch Zurufe vor der Zeit in Angst zu bringen. Wenn er mich hörte, mußte er denken, daß ich ihn verfolge, und das konnte ihn verwirren, so lange er noch auf offenem Wasser war. Ich berechnete hierbei jeden Stoß und jeden Schlag, den ich tat, um zu wissen, wo ich immer sei.

Als ich nach meiner Schätzung unter der in der Luft hängenden Mauer hindurchgekommen war, hörte ich ein lautes, schweres Atmen, als ob sich Jemand anstrenge, an irgend Etwas emporzukommen. Das war dort beim Riesenpostamente. Ich näherte mich ihm. Nun hörte ich nichts mehr. Dann aber klang eine halblaute, doch hier in diesem akustischen Raume sehr vernehmliche Stimme:

»Ist er tot? Ich hörte nichts! Mein Gott und Herr, laß ihn doch leben! Erhalte ihn, den Ersten, den Allerersten und den Einzigen, der über unsre „Vogelscheuche“ lachte!«

Das war ja ein Gebet! Und zwar für mich! Kein angelerntes, sondern eingegebenes! Da durfte und mußte ich allerdings antworten!

»Ich lebe, denn es gibt ja keinen Tod!« sagte ich in gewöhnlichem Tone, und doch erdröhnte es, als ob es mit aller Kraft der Stimme hinausgerufen worden sei. Die Schallwellen fluteten unter der hängenden Mauer hinaus in das vordere Bassin, und da hörte ich es von Säule zu Säule durch die Finsternis weiter und weiter klingen: »Keinen Tod – keinen Tod – keinen Tod – keinen Tod – Tod – Tod – Tod!«

»Du bist es, Effendi, du?« fragte er.

»Ja.«

»Komm, rette mich!«

»Sogleich! Wo befindest du dich?«

»Da, wo du mich – mich – mich – ich darf es dir nicht sagen. Das muß von selbst geschehen!«

»Was?«

»Komm herauf!« wiederholte er, ohne auf dieses mein »Was?« einzugehen.

Ich erreichte den Sockel. Im Wachen war er mir ganz unersteigbar vorgekommen; jetzt aber, im Traume, gelang es mir fast leicht, mich hinaufzuschwingen. Er hockte auf der einen Seite der Figur; ich setzte mich auf die andere.

»Sei still!« bat er.

»Warum?« fragte ich doch.

»Warte! Es wird kommen. Wir werden auch noch sehen!«

Ich schwieg also.

Wie kam es doch, daß ich nicht fror, obgleich ich mich in dem eiskalten Wasser befunden hatte und nun so still auf dem ebenso kalten Steine saß? Wohl, weil ich doch nur träumte! Es herrschte die tiefste Stille um uns her, und nur von weitem war es, als ob es draußen im vordern Bassin ein leises, leises Flüstern gebe, wie Gedanken, welche aus dem Wasser steigen und lebendig zu werden beginnen. Und aber dieses Wasser! Und die auf ihm liegende, dichte Finsternis! Wie war es doch mit diesen beiden?! Man spricht von Wärme und Kälte. Je größer die Kälte wird, umso deutlicher fühlt man sie als Wärme. Man sagt dann »meine Ohren brennen«. Ist es mit Licht und Finsternis vielleicht so ähnlich? Kann die Finsternis verdichtet werden, so verdichtet, daß sie die Wirkung des Lichtes bekommt? Das schien jetzt hier von unserm Sitze aus der Fall zu sein.

Das war hier nur so im ganz, ganz Kleinen. Aber so wie hier konnte es, freilich im unendlich Großen, gewesen sein, als sich einst am Anfange das Licht von der Finsternis zu scheiden begann. Das Licht wurde aus seiner Gefangenschaft errettet, aus seiner Latenz befreit, aus seiner Verzauberung erlöst und schwamm zunächst als Phosphoreszenz, so fast wie Wasserleuchten, auf dem Dunkel. Dann zog es Fäden, erst feine, doch immer deutlicher werdende Fäden, die nach und nach Maschen bildeten, in denen es wie von geschliffenen Perlen strahlte. Und in gewisser Höhe darüber erzitterte es von märchenzarten, orangebunten Wölkchen, in denen es von Liliputelektrizitäten beständig wetterleuchtete, bis sich die Luft von aller Finsternis gereinigt hatte und eine Schicht entstanden war, in der man endlich, endlich das, was sich in ihr bewegte, sehen konnte.

Und diese Schicht war es, die uns nach einiger Zeit erlaubte, zu bemerken, daß draußen im vorderen Bassin Wellenkreise geworfen wurden, welche unter der schwebenden Mauer hereinkamen und bis zu unserm Postamente fluteten, an dem sie sich leicht kräuselnd brachen.

»Es beginnt!« flüsterte der »Zauberer«.

Das klang so ängstlich, und ich hörte, daß er sich wie nach innen schüttelte. War das nur die Folge seines Sturzes? Oder gab es außerdem noch andere, wohl innerliche Ursachen?

Die erwähnten Wellenlinien wurden enger und bewegter. Es kam Etwas geschwommen. Wer oder was? Menschen auf keinen Fall! Gab es Tiere hier, größere Tiere? Denn nach dem Radius der geworfenen Kreise konnte es kein kleines sein! Da kam es – unter der Mauer hindurch – ein Totenkopf – zwei Schlüsselbeine – zwei halb im Wasser verschwindende Schulterblätter – zwei Knochenarme, welche nach beiden Seiten ausgriffen, um zu schwimmen – Ich kannte das: Es war das Gerippe von dem Säulensteine am zweiten Seitenkanale. Es kam bis fast an das Postament herangeschwommen, hielt da an, schaute zu uns herauf und sagte:

»Nicht bloß Einer – sondern Zwei?! Ihr armen, armen Menschen! Den Leib gerettet, wie ich einst den meinen – auf einen Stein, der kein Erbarmen kennt –! Doch nur für kurze Zeit, bis Ihr verschmachtet, verfluchend niedersinkt und zum Skelette werdet, so wie ich!«

»Wer bist du?« fragte ich ihn.

»Ich bin der erste Fluch, der hier erschallte. Und du?«

»Ich bin vielleicht, vielleicht der erste Segen.«

Da tat das Gerippe mit den entfleischten Armen einen Schlag auf das Wasser, daß es bis an die Lendenwirbel emportauchte, und rief aus:

»Verstehe ich dich recht? Du willst nicht fluchen, sondern segnen, segnen?«

Seine Stimme drang in das vordere Bassin hinaus. »Segnen – segnen – segnen – segnen!« ertönte es dort von Säule zu Säule, wie ein Befehl für die Toten, zu erwachen.

»Das wird sie wecken,« sagte er, »sie alle, alle, alle. Denn solches Wort ist hier noch nicht erklungen!«

Und sie kamen, Viele, Viele, Viele! Unhörbar, vollständig unhörbar! Kopf an Kopf versammelten sie sich hinter ihm! Kopf an Kopf zog ihre Menge sich unter der Hängemauer in die Unsichtbarkeit hinaus. Wie mich das packte, so ungefähr muß es den letzten Menschen sein, wenn der Hammer aushebt, um die Stunde des Gerichtes zu schlagen. Segen oder Fluch? Seligkeit oder Verdammnis! Still war es, still. Keiner der Köpfe regte sich und keines der Wasser bewegte sich mehr. Nur der »Zauberer« hier oben bei mir bebte; denn alle, all die leeren Augenhöhlen waren starr herauf nach uns gerichtet. Und das Gerippe sprach:

»Heut ist der erste Tag des neuen Mondes, der Tag, an dem wir stets aus unserm Schlaf erwachen, um zu vollenden, was wir einst beschlossen. Der Tag der Arbeit an dem Werk der Rache!«

Er gab dem letzten Worte einen solchen Nachdruck, daß der Schall desselben im vorderen Becken wie eine Brandung wirkte. »Rache – Rache – Rache – Rache!« wiederholte dort das Echo brüllend. Es folgte ihm ein lautes Knarren, Knattern, Knirschen, als ob der Fels vor dem Zerbersten stehe, und dann klang jener langgezogne, fauchend scharfe Ton, der warnend übers Eis erklingt, wenn Risse sich erzeugen.

»Habt Ihr’s gehört, wie mächtig schon das Wort an Säulen rüttelt?« fragte er zu uns empor. »Wie müssen sie dann erst vor unsrer Kraft erzittern! Wir wuschen seit Jahrtausenden sie aus, zernagten ihre Stärke und kratzten an dem alten Gleichgewicht, bis von ihm nur so viel noch übrig war, daß es verschwinden wird, sobald wir wollen! Das ist die Hälfte unsers Werkes, die Zerstörung!«

»Zerstörung – Zerstörung – Zerstörung – Zerstörung!« donnerte draußen der Widerhall, und das gefährliche Fauchen ging von Neuem durch das zerbröckelnde Gestein der Decke. Denn daß sie bröckelte, hörten wir am Klange des Wassers, in welches die Bruchstücke fielen. Das Gerippe lauschte auf diese Geräusche, bis nichts mehr zu hören war, und sprach dann weiter:

»Doch wir zerstören nur, um zu erzeugen. Vernichten wir da draußen allen Trug, so fordern wir in diesem Traum die Wahrheit. Sinkt dort der Fels zertrümmert in den Tod, so geben wir ihm hier Gestalt und Leben. Und an demselben Tag, da drüben Alles stürzt, wird hier das Wunder neu geboren werden, daß Steine schreien, wenn man Gott nicht hört! Ihr wißt es nicht, bei wem Ihr Rettung suchtet. Es ist der Fluch, an dessen Fuß ihr hockt! Der Fluch, der Fluch, der hier so oft erklungen, daß er des Steines Seele werden mußte! Wir wuschen diesen Stein mit unsern Tränen aus. Wir meißelten mit unsern Fingernägeln. Und von dem Blute Derer, die bei dem Sturz zerschmetterten, bekam der Hintergrund die dunkle Farbe. Nun ist es bald vollbracht. Nur noch zwei Mondestage, den heut und dann noch einen, so sinkt der falsche Segen in die Nacht, und unser Fluch, die Wahrheit, tritt zu Tage! Doch fehlt uns noch das Wort für seinen Sockel, die Zeilen, welche droben sagen sollen, was wir dann nicht mehr selber sagen können, weil wir da draußen mit zerschmettert werden. Und diese Zeilen fordre ich von Euch.«

»Von uns?« fragte ich. »Warum?«

»Es wurde so beschlossen. Der Letzte, der vor der Vollendung kommt, hat auch das Letzte für das Werk zu geben. Das ist die Schrift. Wer ist es von Euch Beiden?«

»Hier mein Gefährte ging voran; ich folgte hinterher.«

»So, also du! Was du bestimmst, wird auf den Sockel kommen. Doch höchstens nur vier Zeilen, keine mehr!«

»Und wenn Euch nicht gefällt, was ich bestimme?«

»Es hat uns zu gefallen und muß genommen werden.«

»Muß?«

»Ja, muß! Jedoch bedenke Eins: Die Seele dieses Bildes ist der Fluch; die Unterschrift wird ihm den Geist verleihen. Gibst du ihm einen Geist, der ihm die Seele stört, so wird das Werk ein Bild des Wahnsinns sein und du zwingst uns, von Neuem zu beginnen. Hast du gehört? Und hast du auch verstanden?«

»Beides.«

»So sprich nun du!«

Ich folgte dieser Aufforderung sehr gern, stand auf, lehnte mich, um nicht hinabzuschlüpfen, an die Figur des Beters und begann:

»Heut ist der erste Tag des neuen Mondes, der Tag, an dem er aus dem dunkeln Schatten der Erde tritt, um wieder ihr zu leuchten. Und dieser Tag, so hoffe ich, soll auch für Euch das wiederbringen, was Euch der Schatten dieser Erde nahm – der Sonne goldnes Licht!«

Ich hatte so laut gesprochen wie er, und darum wurde das letzte meiner Worte auch hinausgetragen zu den morschen Säulen, an denen es auch ganz dieselbe Wirkung hervorbrachte, nur daß die glucksenden und klatschenden Geräusche der fallenden Steine dieses Mal viel, viel länger anhielten als vorher. Und hierauf ging statt jenes fauchenden Geklinges ein tiefes Rollen am Gewölbe hin, wie wenn am Horizont ein fernes Donnergrollen das Nahen schwerer Wetter uns verkündet.

»Habt Ihr’s gehört?« so fragte ich hinunter. »Wenn schon mein Wort um so viel stärker wirkt, um wieviel mehr wird erst die Kraft Euch überlegen sein! Ihr selbst gestandet ein, daß Euer Wort Euch mit zerschmettern werde. Glaubt an das meinige, so werdet Ihr von ihm hinaus zur Sonne und an das goldne Tageslicht geführt!«

»An die Sonne? An das Tageslicht?« fragte das Gerippe! »Niemals, niemals werden wir sie beide wiedersehen! Auch du nicht! In keiner Ewigkeit!«

Er hauchte das verzweifelt vor sich hin.

»In keiner Ewigkeit – in keiner Ewigkeit!« so seufzte es ihm nach von Kopf zu Kopf.

»Was höre ich? Ihr gebt ja mir schon Licht!« fuhr ich fort. »Um wieviel mehr kann ich nun Euch es bringen! Nur die Verzweiflung war’s, die Euch zur Rache trieb. Das liegt in Sonnenklarheit hier vor meinen Augen! Die Hoffnungslosigkeit ließ Euch den Fluch ersinnen! Du nanntest uns: „Ihr armen, armen Menschen“; ich aber sag: Ihr armen, armen Geister! Ihr kamt zu diesem Berg, mit Schatten Euch zu streiten. Ihr nanntet Wahn, was Ihr vernichten wolltet. Und doch war es ein noch viel größrer Wahn, der es für möglich hielt, daß es auf Erden Strahlung ohne Schatten und Wahrheit ohne Täuschung geben könnte! Ihr hättet alle Wesen töten und jedes Licht im All verlöschen müssen, und damit nur erreicht, daß dieses All in Finsternis versank. Dann freilich gab es keine Schatten mehr; an ihre Stelle war der eine, einzige, der ewige getreten! Und nicht bloß Wahn, nein, Wahnsinn ist’s gewesen, und Wahnsinn ist es noch in diesem Augenblick, daß Ihr den Schemen flucht, anstatt der eignen Torheit! Wer zwang Euch denn, hinauszutreten in den Schlund, wo jeder Menschengeist den festen Halt verliert?«

»Gab es denn einen andern Weg ins Freie?« fragte er. »Der Eingang war verschwunden!«

»Auch ich sah ihn nicht mehr. Doch wußte ich, daß er sich dem Gebete zeigen werde, auf welches mich der Warnende verwies. Hat er nicht auch zu Euch davon gesprochen?«

»Er sagte es, doch beteten wir nicht!«

»Warum nicht?«

»Ist das Gebet für so erhabne Geister, die wir waren?«

»Für so erhabne Geister! Ach so! Entschuldigt mich! Verzeiht, daß ich, der arme, kleine Mensch, es wage, zu Euch zu sprechen, die Ihr so erhaben seid, daß Ihr nicht einmal mehr mit Gott, dem Höchsten, redet! Wie sehe ich Euch doch so groß und herrlich hier in den Fluten Eures Irrsinns liegen! Ihr kamt mit Ueberhebung zu dem Berge, gingt stolz erhobnen Hauptes durch die Schatten und hobt in selbstbewundernder Vermessenheit den Fuß, auch noch die letzte Türe zu durchschreiten. Und nach dem Sturz in dieses Geistesdunkel, was tatet Ihr? Was habt Ihr unternommen? Ihr wurdet von dem Warnenden auf das Gebet verwiesen. Es hätte Euch sofort das Licht gebracht. Habt Ihr gebetet? Nein, geflucht, geflucht! Und wem habt Ihr geflucht? Etwa dem eignen Wahnsinn, der Euch stürzte? Nein, sondern denen, die sich wehren mußten, weil Ihr es ihnen nicht einmal erlaubtet, zu bleiben, was sie waren – arme Schatten! Ist Einer unter Euch, der etwa glaubt, sich gegen mich verteidigen zu können?«

Es blieb eine Weile still; dann sagte das Gerippe:

»Du wirfst uns vor, daß wir nicht beteten, damit der Eingang sich uns wieder öffne. Sag, betetest denn du?«

»Nein.«

»Hast also ganz dasselbe unterlassen und darum nicht das Recht, uns anzuklagen!«

»Ich unterließ es nicht; ich kam nur nicht dazu. Mich führten überhaupt ganz andre Gründe als Euch in dieses drohende Gemäuer. Ich kam nicht, zu verderben, nein, sondern zu erretten! Auch hatte ich das Ende wohl bedacht und war nicht so verrückt, die Bodenlosigkeit für festen Grund zu halten. Ich habe Alles, was ich sah, studiert, kalt und gemessen, wohlbedacht und ruhig. Und eben als ich damit fertig war, erschien der Zauberer und –«

»Du erschrakst und sprangst herab zu uns!« fiel das Gerippe schnell ein.

»Nein. Ich blieb stehen, ließ ihn herankommen und sprach mit ihm.«

»Du bliebst – stehen? Du sprachst – sprachst mit ihm? Das hat Keiner, Keiner, kein Einziger von uns gewagt! Hast du denn nicht gewußt, daß dieser Zauberer der Wahnsinn ist? Auf wen sein fürchterliches Auge fällt, der wird verrückt, verrückt – sofort verrückt! Wir alle, alle flohen, als er von fern erschien, und das Entsetzen trieb uns hier herunter. Und du bliebst stehn! Hast gar mit ihm gesprochen! Mensch, solche Kühnheit ward noch nicht gesehen!«

»Da wiederhole ich: Ihr armen, armen Geister! Wo bleibt da die Erhabenheit, wenn jeder Unsinn sie in Wahnsinn stürzt!«

»Du kamst doch auch herab!«

»Jawohl, ich kam. Doch aber nicht vor Schreck! Ich sprang aus freiem Willen, ganz ohne Zwang herunter, damit er sehen möge, daß ich nicht ihn und auch den Tod nicht fürchte.«

»Selbst – selbst – selbst heruntergesprungen!« stieß das Gerippe hervor, und das Wasser, in dem es lag zitterte, als ob an und in dem Skelette alles in Erschütterung sei.

»Selbst – selbst – selbst heruntergesprungen!«, so klang es von Kopf zu Kopf bis weit hinaus ins vordere Gewölbe.

»Er fürchtet nicht den Tod!« sagte das Gerippe.

»Nicht den Tod – nicht den Tod – nicht den Tod!« ertönte es hinter ihm weiter und weiter.

»Warte, warte, warte! Wir kehren bald zurück!«

Diese Worte galten mir. Dann setzte sich die ganze Schar in unerwartet schnelle Bewegung, um aus dem hintern Wasserbecken zu verschwinden. Durch das vordere aber ging ein Flüstern, Raunen, Murmeln und Summen wie von vielen Tausenden, die nicht auf dem Wasser, sondern unten auf dem tiefen Grunde miteinander sprächen. Nach einiger Zeit kehrten sie wieder, genau so, wie sie zuerst gekommen waren. Das Gerippe nahm seine alte Stellung dem Sockel gegenüber ein und sprach:

»Heut ist der erste Tag des neuen Mondes, der Tag, an dem er aus dem dunkeln Schatten der Erde tritt, um wieder ihr zu leuchten. Und dieser Tag, so hoff ich, soll auch uns das wiederbringen, was uns die Erde nahm, der Sonne goldnes Licht! Du hörst, ich spreche schon mit deinen Worten. Vielleicht geschieht es noch, daß wir nach diesen Worten handeln. Kennst du die Sage vom verzauberten Gebete?«

»Nein,« antwortete ich.

»Nicht! So dürfen wir dir um so mehr vertrauen! Der Letzten einer, welche zu uns kamen, herabgestürzt wie wir, durch eigne Schuld, war vorher drüben in dem Land gewesen, wo seit fast ungezählten, vielen Jahren ein wunderbarer Geist in tiefer Höhle wohnt. Man nennt ihn darum Ruh-y-Kulian, doch, steigt er einmal zu den Menschen nieder, so naht er sich in weiblicher Gestalt, trägt weißes Haar, fast bis zur Erde nieder, und führt den Namen Marah Durimeh. Er traf auf sie in ärmlich kleiner Hütte und sprach mit ihr vom großen Menschheitsweh. Doch war ihm ihre Rede nicht begreiflich, denn was sie sagte, klang so wirr, so falsch, daß er sehr bald sich ärgerlich entfernte, vollständig überzeugt, daß er mit einem alten, verrückten Weib gesprochen habe. Als aber er am nächsten Tag erfuhr, daß ihm das seltne Glück beschieden sei, den Ruh-y-Kulian gesehn zu haben, erschien ihm jedes Wort in andrem Lichte. Er dachte nach, und wie er weiterdachte und das, was sie gesagt, sich wiederholte, stieg in ihm mehr und mehr die Ahnung auf, daß er im Irrtum sei, nicht aber sie. Sie gab ihm, als er ging, die Sage vom verzauberten Gebete auf den Weg. Doch er, der sich für klug und weise hielt, warf sie von sich, als lächerliches Märchen. Erst hier, im allertiefsten Erdenweh, stieg diese Sage wieder in ihm auf, und als wir einst hier an dem Bilde schafften, erzählte er von jenem andern Bilde und von der Greisin Marah Durimeh. Das war für uns der erste Mondestag, nach welchem wir, still hoffend, schlafen gingen. Was wir bisher für ganz undenkbar hielten, das war nach dieser Sage Möglichkeit! Doch schwer, unendlich schwer, weil nicht an eine, nein, an soviel Bedingungen geknüpft, daß sie ein Mensch fast nicht erfüllen konnte. Denn merke wohl, ein Mensch war vorgeschrieben, ein Einziger, der aber Alles tat! Und ohne Ahnung hatte er zu handeln, genau wie du, der nichts von Allem weiß!«

Wie sonderbar! Das klang ja wie ein Märchen!

»Hab ich denn schon bereits Etwas getan, was in der Sage vorgeschrieben ist?« fragte ich.

»Du kamst nicht, um die Schatten zu vernichten. Du hieltest jenem Zauberer fest Stand. Du schenktest dem Gebete vollen Glauben. Du hattest vor dem Tode keine Angst. Du sprangst aus freier Absicht in die Tiefe. Das Uebrige muß noch verschwiegen bleiben, weil du ja ohne Wissen handeln mußt. Doch sag uns jetzt das Eine, furchtbar Eine, vor dem wir beben, sei es „ja“, seis „nein“! Wer stürzte diesen Andern zu uns nieder, der noch kein Wort bisher gesprochen hat?«

»Ich. Er wollte mich hinaus ins Dunkle stoßen. Ich wich ihm aus und gab ihm einen Hieb, daß er es war, der zu Euch niederflog.«

»Und dann?«

»Dann warf ich ihm den Stumpf der Fackel nach und folgte hinterher.«

»Warum, warum, warum sodann auch du?« fragte er schnell und dringend.

»Um ihn vielleicht zu retten.«

»Zu retten! Ihn – ihn – ihn!«

Er warf den Knochenarm als Zeichen der Verwunderung empor und fragte dann fast schreiend:

»Wer ist er aber denn? Sag, wer, wer, wer!«

»Wer, wer, wer!« rief jeder Kopf, und »Wer – wer – wer – wer!« scholl es hinaus, daß alle Säulen dröhnten.

»Der Zauberer!« antwortete ich.

»Der Zauberer!« wiederholte das Skelett, und mit versinkender Stimme fügte er hinzu: »Also doch er, er, er!«

»Er – er – er – er –« verklang es hier im Bassin. Draußen aber war es still, unheimlich still!

Jetzt drehte sich das Skelett den Köpfen zu. Es ging ein hier oben bei mir unverstehbares Wispeln und Lispeln herüber und hinüber. Dann wendete es sich mir wieder zu und sagte:

»Ich weiß, du hattest uns noch viel zu sagen, um uns zu überzeugen, was wir waren, und daß wir durch Jahrtausende hindurch nur unserm Wahn und Hirngespinste dienten. Du hättest uns wohl niemals überführt; da kam die Sage Marah Durimehs und zeigte uns, was wir vorher nicht sahen. Nun muß ich dir gestehn: Du hast gesiegt, gesiegt, noch ehe du zu Ende bist! Soll ich es dir beweisen?«

»Nein. Ich kenne den Beweis.«

»Mensch! Du bist unheimlich!«

»Das glaube ich! „Erhabenen Geistern“ wird es stets beklommen, wenn auch der Mensch einmal zu denken wagt, und können sie nicht auf Gedanken kommen, so wird dann gütigst er um Rat gefragt! Euer Beweis ist der Zauberer. Wenn er in andrer Weise unter Euch geraten wäre, so würdet Ihr statt Geister Teufel sein. So aber steht er unter Menschenschutz und ist darum selbst hier am Bild des Fluches der Menschlichkeit, der früheren, empfohlen!«

»Du sprichst so spitz, wie seine Augen blickten. Du triffst so tief, wie wir ihn treffen wollten. Wir haben es verdient. Vergib uns unsre Schuld!«

»Vergib uns unsre Schuld – vergib uns unsre Schuld!« klang es von Kopf zu Kopf und auch hinaus ins vordere Bassin.

Da bog ich mich in großer, großer Freude so weit wie möglich vor und sprach:

»Was habe ich gehört? Das war ja ein Gebet! Die Seele naht, die Seele Eures Bildes. Der Fluch kann niemals, niemals Seele sein. Und soll der Stein an Gottes Stelle reden, der nichts und nichts und nichts als segnen kann, so gebt ihm Hände, welche benedeien!«

»Und du, gib ihm die Worte für den Sockel!«

»Wann?«

»Jetzt, sogleich!«

»So hört!«

Sie drängten sich zusammen und kamen näher herbei. Dadurch wurde Platz für noch viele von denen, welche draußen waren. Sie kamen herein. Ich sagte, nicht überlaut, doch langsam und vernehmlich:

 »Gesegnet sei, wer nach der Wahrheit suchte
Und ihr zu Füßen auch den Irrtum fand.
Drum leg ich ihn, den ich bisher verfluchte,
Mein Gott und Herr, in deine Gnadenhand!«

Nach diesen Worten gab es da unten im Wasser eine so tiefe Stille, daß ich den befreiten, seligen Atemzug hörte, der mir von drüben, wo der »Zauberer« saß, zugeweht wurde, und hierauf die leise, leise Wiederholung:

»Mein Gott und Herr – in deine Gnadenhand –! Den Irrtum – also mich – mich – mich! Nun nur noch Eins, noch Eins!«

Da regte sich das Gerippe, und es klang wie schluchzend zu mir herauf:

»Er flucht dem Irrtum und der Täuschung nicht! Aber er segnet sie auch nicht, sondern er gibt sie in Gottes Hand! So, genau so will es auch die Sage! Diese Worte müssen unbedingt, unbedingt eingegraben werden! Noch haben wir zwei Mondestage Zeit, des Bildes Rachefaust verzeihend zu gestalten. Es soll die Seele haben, die du ihm geben willst!«

Da stand der Zauberer von seinem Platze auf, hielt sich am Alabaster fest und machte eine Bewegung, als ob er sprechen wolle. Ich aber kam ihm zuvor und fragte hinab:

»So ist also der Rache nun entsagt, und Ihr verzichtet auf den Fluchgedanken?«

»Ja,« antwortete das Gerippe, und »ja, ja – ja!« ertönte es im ganzen Chore nach.

»So habe ich mein letztes Wort zu sagen.«

Ich bog mich hinüber, griff nach des Zauberers Hand und sprach:

»Hier halt ich ihn, den unbedacht Verfluchten. Was er an Andern tat, ist nicht von mir zu richten. Daß er auch mich bedrohte, verzeihe ich ihm gern. Denn ich will ihn aus seiner Finsternis hinaus zum Lichte leiten! Er sei von dieser Schuld erlöst, sei von ihr – frei!«

»Das, das, das war es, das Eine, Eine noch!« hörte ich ihn leise sagen. »Aber was werden nun diese, diese tun da unten?!«

Da schob sich das Gerippe noch einmal weiter vor und richtete seine Worte nicht an uns, sondern an seine Wahngefährten:

»Auch was er uns getan, verzeihen wir ihm gern. Er sei erlöst von seiner Schuld, sei von ihr – frei!«

»Er sei erlöst von seiner Schuld, sei von ihr – frei!« riefen alle, alle Köpfe. Kein einziger war, der schwieg.

»Frei – frei – frei – frei!« erschallte das Echo draußen von Wand zu Wand, von Säule zu Säule.

Und nun erhob auch der Zauberer seine Stimme. Sie klang nicht etwa gedrückt, beklemmt oder gar unterwürfig, sondern hell, rein, klar und selbstbewußt, als ob er es sei, der zu verzeihen habe:

»Ihr gebt mich frei, sagt Ihr? Laßt das die letzte Torheit sein, die hier von Euch geschieht! Wer stürzte Euch? Nicht ich! Es war die Angst vor mir, die Furcht vor dem Gespenste! Dazu der Stolz, der sich zu beten schämte! Ihr dünktet Euch so groß und so erhaben und wagtet es doch nicht, mir Stand zu halten, daß ich euch sagen konnte, wer ich sei! Und wenn ich es nun jetzt Euch sagen wollte, so könntet Ihr es doch unmöglich fassen, weil Geisterwahn nicht schnell, nicht plötzlich heilt. Doch merkt Euch das erlösend wahre Wort: Wer keinen Schatten wirft, der kann kein Wesen sein und wird vom Menschheitskörper nicht empfunden. Wenn eine Schuld, ein Frevel auf mir ruht, so seid Ihr wohl die Letzten, Allerletzten, an die ich mich um Gnade wenden würde. Denn daß Ihr’s wißt: Wer mir verzeiht, hat nur sich selbst verziehen. Und weil Ihr dies getan, so will ich Euern Wahn und Euern Selbstbetrug nicht länger strafen. Ihr habt gesühnt; so geb ich Euch denn Eure Schatten wieder: Es werde also Licht!«

»Licht!« rief ich. »Licht!« rief das Gerippe. »Licht, Licht, Licht!« wiederholten alle die Geister, und »Licht – Licht – Licht – Licht!« klang es hinaus bis in den tiefsten Winkel, und alle Säulen zitterten und bebten.

Da plötzlich war die lichte Schicht verschwunden, die auf der dunkeln Flut gelegen hatte, und Finsternis lag wieder um uns her. Doch es erklang ein Ton, so weich und doch so hell, so lind und mild und doch so siegreich klar. Wo kam er her, und wo ließ er sich nieder? Aus einer andern Welt – im Bilde neben mir. Erst war er nur zu hören, doch bald dann auch zu sehen, ein wunderbarer, heilger Farbenton! Wie Sonnengold, vermählt mit Himmelsblau! Wo seine Quelle lag? Im Alabaster! Das Bild ward nicht von außen her beschienen. Es trug das Licht in sich und warf darum auch keine Spur von Schatten. Erst leise, wie ein Morgenhauch beginnend, entwickelte die reine, keusche Klarheit sich nach und nach zum tageshellen Glanze, so daß es war, als leuchte uns die Sonne. In dieser Helligkeit erschien mir das Gerippe und Alle, die in tiefem Staunen lagen, so fratzenhaft, so schrecklich widerwärtig, daß ich mit meinem Blick von ihnen floh und ihn an der Figur nach oben sandte.

Was ich da sah, das ward noch nie gesehen, weil keine Kunst noch je so Schönes schuf! Doch leider stand ich ja so dicht am Bilde, daß jetzt nur seine Größe auf mich wirkte. Wie klein, wie klein kam ich, der Mensch, mir vor!

Da sprach der Zauberer:

»Es wurde Licht! Soll es nun wachsen, bis es Euch verzehrt? Flieht schnell hinaus, der Schatten wird Euch retten!«

»Es gibt ja keinen Weg; wir sind für ewig, ewig eingeschlossen,« antwortete das Skelett. »Wird dieses Licht zur Schattenlosigkeit, so sind wir alle, alle hier verloren! Die Sage zwar erzählt von diesem Einen, daß er den Schlüssel Hephata besitze, und bis zu diesem Augenblick ist Alles, was sie sagte, eingetroffen, doch diese Felsen und Gigantenmauern sind für das Hephata ja wohl zu stark!«

Da rief ich aus:

»Ich habe ihn, den Schlüssel, und keine Stärke kann ihm widerstehen! Ich war schon einmal hier; da wurde er erprobt. Gebt Raum für uns da unten! Wir kommen jetzt hinab und führen Euch hinaus!« – »Hinaus, hinaus!«, jauchzte das Gerippe.

»Hinaus, hinaus, hinaus!« jubelten die Andern.

»Hinaus – hinaus – hinaus – hinaus!«, frohlockte es im vorderen Bassin, daß alle Säulen dröhnten und Stein um Stein sich vom Gewölbe löste.

Ich sprang in das Wasser, der Zauberer mir nach. Indem die Köpfe sich bemühten, eine Gasse für uns zu bilden, schaute ich zurück und aus dieser weiteren Entfernung an dem Bilde hinauf. Es strahlte schon so stark, daß mich sofort die Augen schmerzten. Da wendete ich mich schnell wieder zurück und griff mit beiden Armen aus, um durch die Wasserflut der Lichtflut zu entgehen. Der Zauberer hielt sich an meiner Seite. Die Andern folgten; Keiner blieb zurück!

Der Glanz drang unter der hängenden Mauer auch in das vordere Becken und verbreitete dort eine Art von Dämmerung, welche mir den Weg genügend deutlich zeigte. Ich schwamm nicht an den Seitenkanälen vorüber, sondern quer zwischen den Säulen hindurch gleich nach dem Hauptkanale, wo der letzte Lichtreflex verloren ging und wir uns infolgedessen in dieser tiefsten Finsternis befanden. Das konnte aber nicht stören, weil der Weg uns durch die engen Seitenmauern vorgeschrieben war. Wir konnten weder rechts noch links abweichen, sondern nur immer vorwärts, vorwärts, vorwärts, und daß die Andern folgten, das hörten wir an ihrem Schwimmgeräusch, welches in dieser steinernen Röhre wie dumpfes Meeresbrausen rauschte.

Viel leichter als früher mit dem Boote kam ich durch das Gestrüpp hinaus ins Freie, in den See. Um Platz zu machen, schwamm ich da erst eine Strecke gerade aus und drehte mich dann um. Der Zauberer war bei mir. Vor mir hielt das Gerippe. Hinter ihm sah ich seine Scharen, die so zahlreich waren, als ob der Kanal sich gar nicht entleeren könne. Es kamen immer mehr, immer mehr aus ihm hervor. Ich sah sie deutlich, denn die Sterne leuchteten, und die schmale Sichel des ersten Viertels stand grad über uns am Himmel. War es möglich, daß alle, alle diese Vielen, die ich erblickte und die noch immer nachdrängten, sich da drin im Berg befunden hatten? Kann es wirklich eine solche Menge von Geistern gegeben haben, die von ihrer Gedankenhöhe stürzten, weil ihnen plötzlich dort der feste Boden schwand?

Endlich, als die Letzten erschienen waren, erhob das Skelett seine Stimme und sprach:

»Heut ist der erste Tag des neuen Lebens, der Tag, an dem das Licht uns wiederkehrte. Wir sind voll Dank und sagen Lob und Preis. Schaut dort hinauf, zur halben Bergeshöhe! Der Mondesstrahl zeigt uns die Rosensäulen; ein Tempel ragt, geweiht dem Dienste Dessen, den unser Hochmut einst nicht anerkannte. Wir haben es gebüßt, jedoch nicht bis zum Ende. Noch ist das Werk des Fluches nicht vollbracht, den wir in Segen umzuwandeln haben. Es soll und muß geschehen, uns zur Buße. Wir haben nun den Schlüssel Hephata. Und was uns tödlich war, des Bildes Eigenlicht, wird sich im Bergesdunkel schnell verlieren. Dann kehren wir zurück und lassen jene Faust, die sich im Grimm des Fluches ballen sollte, zur offnen Hand des Fürgebetes werden. Jetzt aber kommt mit mir hinauf zum Tempel! Adan, der Stern der Erdenmitternacht, erglüht grad über uns am Firmamente. Wir haben also heilge Geisterstunde und müssen dort hinauf, dem einzig Einen zu sagen, daß wir wieder beten werden!«

Er wendete sich schwimmend der Stelle des Ufers zu, von welcher aus man nach dem Weg zum Beit-y-Chodeh kam. Die Andern folgten ihm. Ich aber blieb zurück. Wenn Geister beten, sei der Mensch bescheiden; er kann ihr Kyrie doch nicht verstehn!

Auch der »Zauberer« blieb halten. Wir sahen ihnen eine kleine Weile nach; dann fragte ich:

»Kommst du mit mir ans Ufer?«

»Nicht nur ans Ufer,« antwortete er. »Ich gehe mit dir heim, hinauf in deine stille Denkerklause. Da setzen wir uns an das Sternenlicht, und ich erkläre dir, warum es Schatten gibt und Fehler bei den Menschen. Komm!«

Wir schwammen nach der Landestelle und – sonderbar! als ich da aus dem Wasser stieg, war ich nicht naß; auch mein Gewand war trocken. So auch bei ihm. Er nahm mich bei der Hand. Wir wandelten durch den Duar, den Weg zum Haus empor. Das Tor war zu. Es öffnete sich selbst, sobald wir es berührten. Die andern Türen auch, bis wir in meinem Mittelzimmer standen. Da hörte ich von rechts her ein Geräusch, als ob ein Schlafender sich anders wende. Ich wollte schnell hinaus; er aber hielt mich fest und flüsterte mir zu:

»Du darfst dich noch nicht wecken! Ich habe dir so viel, so Wichtiges zu sagen, daß du erstaunen wirst, wie sicherlich noch nie im ganzen Leben.«

Wir traten auf das platte Dach hinaus und schauten nach dem Beit-y-Chodeh hinüber. Der Sterne Glanz lag auf dem ganzen Tal; der Tempel aber stand in jenem Lichte, das aus dem Alabaster hell ertönte – im Sonnengold, mit Himmelsblau vermählt. Die Geister lagen alle auf den Knieen. Ein süßer Rosenduft umwehte uns. Kam er von drüben? Sollte er es sein, der uns die leise, leise Strophe brachte:

»In allen Himmeln leuchten heut die Sonnen;
Auf allen Erden wird zum Tag die Nacht,
Denn was der Wahn im blinden Haß begonnen,
Wird von der Wahrheit segensreich vollbracht!«

»Hörst du?« fragte der »Zauberer«. »Du wirst es nicht begreifen; ich aber will dir sagen, was sie meinen. Doch sollst du es nicht nur hören, sondern auch sehen. Schau mich an!«

Ich tat es. Was ging da mit ihm vor? Seine Gestalt begann, zu verschwinden, sich wie in Nebel zu verwandeln. Doch nahm dieser Nebel sehr rasch wieder Formen an, und wer, wer stand da vor mir? Nicht mehr er, der »Zauberer«, sondern der »Warnende«, mit dem ich gesprochen hatte, ehe ich in den Berg gestiegen war. Ich sah nicht mehr den weißbehaarten Kopf mit stechend scharfen, kalten Feindesaugen, nein, sondern jene freundlich ernsten Züge und jenen weichen, väterlichen Blick, der bei der Frage, ob ich beten könne, besorgt und doch voll Hoffnung auf mir ruhte.

»Du wunderst dich,« sagte er. »Und doch ist nichts geschehen, was zum Verwundern wäre! Wer geistig Mündel ist, den mag der Vormund warnen. Doch den Erwachsenen, den reifen Denker, den warnt des Irrtums eigne, andre Stimme, die stets die volle, reine Wahrheit spricht. Und dieser ist kein Vormund überlegen! Du hast dein Wort gehalten. Bist weder meinem andern Ich noch jenem Wahn verfallen, der aller Welt den Schatten rauben will, weil er sich selbst für ohne Schatten hält. Du hast mich nicht besiegt und aber doch besiegt. Ich fühle mich verschuldet und werde quitt mit dir, indem ich dich in das Geheimnis führe, daß Beide, Licht und Finsternis, den Tod bedeuten würden, wenn sie sich nicht versöhnt die Hände reichten, grad ihn in ewges Leben zu verwandeln. Darum die Wahl, die keine Lüge war, obgleich es Tod nicht gibt und doch kein Schatten lebt: Tod oder Schatten!«

Er setzte sich; so tat ich’s also auch. Und nun begann er zu erzählen: Ein Menschenleben, ein Geistesleben, und aber doch das ganze Menschheitsleben. Die Sterne wanderten am Himmel weiter; ich sah es nicht; die Zeit war wie für mich nicht mehr vorhanden. Die Sterne schwanden; auch dieses sah ich nicht. Ich achtete allein auf seine Worte. Im Osten stieg der Morgen bleich empor, doch schaute ich nicht hin. Mir war ein andrer Morgen aufgegangen. Nun aber kam der erste Sonnenstrahl und fiel verklärend auf sein Angesicht. Da sprang er auf, zog mich zu sich empor, berührte mit den Lippen meinen Mund und sprach:

»Hier diesen Kuß für den, der drinnen schläft! Komm mit hinein, daß er dich wiederhabe! Du wirst gebraucht. Und ich –? Wohl noch viel mehr!«

Er nahm mich bei der Hand. Schon unter der Tür blieb er nocheinmal stehen und sagte leise:

»Er liegt so still und schläft; ich höre seinen Atem. Sobald du dich ihm nahst, wird er zu träumen haben, was du bei mir erlebtest. Geh langsam, langsam hin, und gib ihm meinen Kuß! Nicht übereilt sei deine Wiederkehr, weil er des Traumes sich nach dem Erwachen genau erinnern soll. Kein Wort sei ihm verloren!«

Ich folgte dieser Weisung und ging nur Schritt um Schritt quer durch das Mittelzimmer, dann durch die offne Tür ins Schlafgemach, in welches grad mit mir der Sonne Licht auch trat. Sein Angesicht begann, sich geistig zu beleben, und dieses Leben ward um so bewegter, je näher ich ihm kam. Nun war ich dort und bog mich zu ihm nieder, gab ihm den Gruß des »Zauberers«, der an der Tür noch stand, und –

– – und erwachte aus dem Schlafe, riß beide Augen auf, sah mich aber schon nicht mehr stehen, sprang eiligst aus dem Bett und dann schnell durch die Tür hinaus ins Mittelzimmer. Der Zauberer war fort, das Zimmer leer und auch das platte Dach!

»Geträumt, geträumt!« rief ich. »Und aber wie geträumt! So deutlich ist noch nie ein Traum gewesen? War das vielleicht ein sogenannter Wahrheitstraum? Es ist ganz so, als hätte ich’s erlebt, als hätte ich es wirklich durchgemacht. Ich sehe Alles noch. Ich höre jede Silbe. Ich werde es mir rekapitulieren. Dann setze ich mich her, es zu Papier zu bringen. Man kann nicht wissen, ob –«

Infolge dieser Arbeit war es ziemlich spät, als ich mein Frühstück nahm. Dann ging ich hinab, um zunächst mit Schakara zu sprechen. Sie saß in der Halle, ganz allein, sich einen Schleier säumend.

»Hat dir Marah Durimeh vielleicht einmal die Sage von dem „verzauberten Gebet“ erzählt?« fragte ich sie.

Sie sann nach und antwortete dann:

»Nicht mir, sondern einem Fremden. Das war im Dorfe Ohtian des Stammes Bulanuh.«

»Wer war der Fremde?«

»Das weiß ich nicht mehr, habe es vielleicht auch gar nicht gewußt. Er gefiel mir nicht. Es war eine alte Frau gestorben, die weit draußen vor dem Dorfe in einer elenden Hütte lebte. Niemand bekümmerte sich um die Leiche, weil sie eine Tumasa gewesen war. Da nahm Mara Durimeh mich mit; wir hielten Totenwache. Ich war noch klein und erst seit Kurzem ihre Schülerin. Der Fremde reiste durch das Dorf und hielt da draußen vor der Hütte an, denn Marah Durimeh saß vor der Tür und fiel ihm auf. Als er auf einige Fragen Antwort bekommen hatte, stieg er vom Pferde, um noch weiter mit ihr zu sprechen. Er kam auch einmal herein, spuckte aber vor der Leiche aus. Warum, das weiß ich nicht. Das, was er sagte, war so gelehrt, daß ich es nicht verstehen konnte, und so hochmütig, daß ich die Tote leise bat, ja nicht auf ihn zu hören, weil es die Sammlung störe, die ihr jetzt nötig sei. Das war der Mann, dem Marah Durimeh die Sage, bevor er weiterritt, mit auf die Reise gab.«

»Also ist es noch gar nicht so lange her, daß jene „Letzten“ in die Tiefe stürzten!«

»Ich verstehe dich nicht. Was meinst du da?«

»Das erzähle ich dir nachher. Kannst du mir die Sage wohl berichten?«

»Leider nein. Ich merkte sie mir nicht. Ich war so jung, sie aber tief und mir ganz unverständlich.«

»Wie schade, jammerschade!«

»Warum.«

»Leg deine Arbeit weg, und komm mit mir hinaus zur Pferdeweide! Da sind wir ungestört. Ich träumte heut, und wenn der Geist in solcher Weise träumt, kann er es seiner Seele nicht verschweigen.«

Wir gingen durch den Garten nach dem Steine, an dem wir schon einmal gesessen hatten. Dort setzten wir uns nieder. Ich erzählte. Sie hörte zu, ganz still, ganz still, doch zeigte sich in ihren dunkeln Augen, den wunderbaren und geheimnisvollen, von Zeit zu Zeit ein Glanz, der mich an jenes Eigenlicht des Alabasters mahnte  – wie Sonnengold, vermählt mit Himmelsblau. Und auch als ich geendet hatte, blieb sie noch immer still. Sie hatte ihren Kopf zur Seite an den Stein gelehnt und hielt die Augenlider fest geschlossen. Ich störte sie in ihrem Sinnen nicht und wartete geduldig, bis sie sprach. Sie tat es, ohne ihren Blick zu öffnen:

»Ich sehe eine Linie, von rechts nach links gezogen. Am Ende rechts gibt’s eine Sonnenglut, die Alles, was da lebt, verbrennen würde, wenn es so unbesonnen wäre, sich ihr zu weit zu nähern. Das linke Ende taucht in eine Finsternis, die jeder Kreatur mit augenblicklicher Vernichtung droht. Die Linie ist unser Menschenleben. Zu weit nach rechts, zu weit nach links bringt sicheres Verderben. Grad in der Mitte liegt die Unverletzlichkeit und auch die Durchschnittslänge der geworfnen Schatten. Wer diesen Durchschnitt haßt, der wendet sich nach einer von den Seiten. Nun denke nach, Effendi, denke nach! Stehst du vielleicht grad in der Mitte?«

»Ich hoffe es nicht,« antwortete ich.

»So bist du also kühn, vielleicht sogar verwegen! Betrachte deinen Schatten! Wird er zu klein? Wird er zu groß! In beiden Fällen ist’s um dich geschehen! Weißt du es nun, wozu die Schatten sind? So sag ich nur als Mensch, als ungelehrtes Weib. Die Allmacht aber wird wohl noch ganz andre Gründe haben, warum sie Finsternis und Licht vermählte und beiden die Erlaubnis gab, im Zwielicht unfaßbare Schemen zu erzeugen und an der Sonne jene äffenden Gebilde, die uns als Schatten sagen, daß wir sind.«

Nun schlug sie die Augen auf, sah mir so lieb, so herzlich in die meinen, hielt mir das kleine, aber feste Händchen her und sagte:

»Gib mir jetzt einmal deine Hand!«

Ich tat es. Da fuhr sie fort:

»Erlaube mir, daß ich für diese Schatten bitte! Verfahre nicht so streng, wie du wahrscheinlich wolltest. Du weißt ja wohl, daß Schatten keinen Willen haben!«

Da mußte ich doch lächeln!

»So ist es also wahr, daß sich die Seele immerdar erbarmt, selbst wenn der Geist auch nicht den kleinsten Grund zur Milde findet! Wer keinen Willen hat, den darf man billig schonen, doch aber den, der ihm den Willen nahm, den trete man zu Boden!«

»Trotz deines Traumes heut –? Und trotz des Zauberers –?« fragte sie.

»Trotz alledem! Ich glaube, daß ich diesen Traum verstehe. Er kam zwar aus dem Schattenreich zu mir, doch war er keinesweges selbst ein Schatten. Ich träumte ihn beim ersten Sonnenstrahl und fühlte ihn verschmolzen mit mir selbst, von gleicher Wesenheit mit meinem eignen Wesen. Er hat mich viel gelehrt und handelt in mir weiter. Der Schatten, der mich vor sich selber warnt, ist Menschenfreund, ist ohne Falsch, ist ehrlich. Er rettet mich vor fremden Gaukeleien und auch vor meinen eignen Truggebilden, und Wahnsinn wäre es, wenn ich ihn hassen wollte. Für ihn hast du gebeten, Schakara. Du siehst, es war nicht nötig! Gebeten aber hast du nicht für Andre, für welche ich dein Auge schärfen möchte. Ich meine jene pfiffigen Gesellen, die sich als Schatten stellen, doch aber keine sind. Die stets verführten – Verführer! Die in Demut zerfließenden – Tyrannen! Die tugendreinen – Sünder! Die opferbereiten – Feinde! Die aufrichtigen – Heuchler! Die arglos treuherzigen – Schlangen! Und noch viele, viele tausend Aehnliche, die sich sofort als Schatten des nächsten Gegenstandes in Sicherheit bringen, wenn du zur Fackel greifst, sie anzuleuchten. Sie flüchten sich vollständig waffen-, wehr- und willenlos in irgend eines Starken Schutz und Schirm. Er sinkt und sinkt und sinkt; sie aber steigen. Und dann, wenn er am Abgrund steht, von aller Welt verlassen, nur nicht von Dem, der liebevoll den Fuß erhebt, um dankbar ihn vollends hinabzutreten, erkennt er endlich, aber viel zu spät, daß sie nichts weniger als arme Schatten waren. Die Willenlosigkeit war höchste Energie, die Schwäche nur die Maske der Gewalt, und jede Bitte, welche er gewährte, in Wahrheit ein Befehl, dem er gehorchen mußte. Das Allerschlimmste aber ist, o Schakara, daß diese Büberei nie eignen Schatten wirft, weil sie ja stets im Schatten Andrer schwelgt. Darum erscheinen diese Fleckenlosen der heiligen Einfalt drei- und zehnmal heilig, und wenn sie noch dazu so glücklich sind, vor ihrem Tode nicht entlarvt zu werden, so glaubt die liebe, liebe Unvernunft, daß sie an ihnen viel, sehr viel verloren habe, der Himmel aber viel, sehr viel gewonnen! Wenn die Ruinen da erzählen könnten! Ich sah im Traume, wie man sich verkroch! Da ging ich ruhig weiter. Doch, sollte das Geträumte sich erfüllen, so wird statt nur gefackelt, dann geleuchtet! Du weißt, wie gut wir hier versehen sind: an Fackeln fehlt es nicht!«

Hier wurde unser Gespräch unterbrochen. Drüben in den Ruinen, im obern Teile derselben, erschien nämlich Kara Ben Halef. Er sah uns sitzen und winkte uns zu, daß er zu uns kommen werde. Er ging nicht grad auf dem Glockenpfade, sondern er stieg über das Gestein gleich quer herab und kletterte an einer verwitterten Mauerstelle zu uns herauf.

»Effendi, ich habe einen Gefangenen!« sagte er.

»Wie? Einen Gefangenen?« fragte ich. »Hat man hier im tiefsten Frieden Gefangene zu machen?«

»Ist das Friede, wenn Jemand sich nicht friedlich zu mir verhält?«

»Wer ist es?«

»Kein Dschamiki, sondern ein Fremder. Ich kenne ihn nicht, und er weigerte sich, Auskunft zu geben.«

»Wo?«

»Da drüben, in einer der alten Kirchen. Ich ging heut schon sehr früh wieder einmal durch die Ruinen. Man spricht im Duar davon, daß es dort wohl noch versteckte Plätze und verborgene Dinge gebe, die man noch nicht entdeckt habe. Ich bin derselben Meinung. Die vertriebenen Massaban, die in dem Gemäuer hausten, kennen es wahrscheinlich besser als wir, da sie dort ihre Schlupfwinkel hatten. Und wer zu dieser Sorte von Menschen gehört, weiß besser Bescheid, als jeder Dschamiki. Darum muß uns jeder Fremde, der die Ruinen ohne unser Wissen betritt, verdächtig erscheinen. Folglich war ich sofort argwöhnisch, als ich in so früher Morgenzeit Schritte hörte, die sich der Stelle näherten, in der ich mich befand. Das war in dem runden Quaderturme, der trotz seiner starken Mauern schon fast in sich zusammengestürzt ist. Es führt nur eine Tür hinein, keine andere hinaus. Ich stand in der Nähe derselben und drückte mich fest an die Wand, um nicht sogleich gesehen zu werden. Der, welcher kam, trat ein. Ein hagerer Mann, nicht groß, aber stark; das habe ich dann gespürt. Er fühlte sich so sicher, daß er sich gar nicht umschaute, und ging zum nächsten, großen Brocken der eingefallenen Mauer, um sich da niederzusetzen. Dabei drehte er sich um und mußte mich nun sehen. Ich war schnell an den Eingang getreten, um ihm die etwaige Flucht zu versperren. Er erschrak, nahm sich aber zusammen und fragte mich, wer ich sei und was ich hier wolle. Das klang so gebieterisch, als ob er der Herr an diesem Orte sei. Und als nun aber ich Auskunft forderte, wurde er grob und warf sich plötzlich auf mich, um zu entkommen. Dabei hatte er ein langes Messer gezogen und schrie mich an, daß er mich sofort erstechen werde, wenn ich nicht darauf verzichte, ihn festzuhalten. Er stach auch wirklich zu. Schau hier, den Schlitz im Aermel! Das war auf das Herz abgesehen! Ich entging der Gefahr aber durch eine schnelle Wendung, entriß ihm die Waffe, warf sie fort und rang ihn auf den Boden nieder. Das war aber nicht leicht. Dieser Mensch besaß viel Kraft und Gewandtheit. Er rang meisterhaft, ruhig, still, den Atem berechnend und jeden Griff genau überlegend, ohne dabei ein einziges Wort zu sagen. Es scheint mir, als habe er schon oft in dieser Weise um seine Freiheit oder gar um sein Leben ringen müssen. Er hatte Uebung! Aber er kam trotz aller Mühe nicht auf; ich hielt ihn unter mir, bis seine Kräfte schwanden und ich dadurch eine Hand frei bekam, ihm die Halsader zusammenzudrücken. Da stockte ihm das Blut im Kopfe; er wurde ohnmächtig. Zwar nur für ganz kurze Zeit, aber das genügte mir, ihn zu binden.«

»Womit?«

»Die Arme, nach hinten gezogen, mit den Flügeln seiner eigenen Perserjacke. Die Beine schnallte ich ihm mit seinem Gürtel zusammen. Er kann sich nicht befreien.«

»Untersuchtest du seine Taschen?«

»Ja. Sie waren leer. Er hatte nichts bei sich gehabt, als nur das Messer. Dann eilte ich fort, um dir diesen Vorgang zu melden. Als ich in das Freie kam, sah ich dich hier sitzen. Nun bestimme, was geschehen soll, Sihdi!«

»Zunächst das Eine: Kein Mensch darf davon wissen, am allerwenigsten Pekala. Ich ahne, wer dieser Fremde ist, nämlich ein entflohener Verbrecher, welcher uns im Auftrage des Scheik ul Islam ausspionieren soll. Ich muß ihn selbst sehen. Du führst mich also zu ihm, holst aber vorher einige feste Riemen oder Stricke aus dem Hause, doch heimlich. Für so einen Menschen genügen die jetzigen Fesseln nicht.«

Kara ging nach dem Hause. Ich fand es sehr erklärlich, daß Schakara mich bat, uns nach dem Turme begleiten zu dürfen, und erlaubte es sehr gern. Mein Plan war schon fertig. Dieser Spion verriet uns freiwillig sicher nichts. Er mußte gezwungen werden. Und da gab es ein Mittel, welches vielleicht sogar dem Teufel den Mund geöffnet hätte! Aber das konnte nur im Geheimen angewendet werden, und darum war es mir lieb, daß Schakara mitging. Ihre Anwesenheit gab der Sache den Anschein eines bloßen Spazierganges, der keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen hatte.

Als Kara wiederkehrte, schlenderten wir also nach dem Glockenwege und dann auf schmalem, aber bequemem Wege bis grad zum Quaderturm, um den es sich handelte. Sein eigentliches Tor war längst schon zugemauert. Wir konnten nur durch das Nebengebäude zu der Tür gelangen, von welcher Kara gesprochen hatte. Als wir durch sie getreten waren, sahen wir den Gefangenen liegen. Der Blick, den er auf uns richtete, war nicht etwa verlegen, sondern trotzig, und geradezu unverschämt klang es, als er uns sofort entgegenrief:

»Ihr habt mich augenblicklich freizugeben! Ich bin ein hochgestellter Mann, kein Lump, den man in dieser Weise behandeln darf! Gib mich frei, Effendi!«

Ah, der kannte mich ja schon! Also scharfe Augen und feine Ohren! Aber pfiffig war es keinesweges, es mir zu verraten! Ich blieb vor ihm stehen und fragte ruhig:

»Wer bist du?«

»Das sage ich nur dir allein!«

»Woher?«

»Auch das nur dir!«

»Was willst du hier?«

»Auch das darf Niemand wissen, als nur du!«

»So? Dann mag ich es überhaupt nicht wissen! Kara, binde ihn fester, aber so, daß ihm die Schwarte knackt! Wer uns mit solcher Frechheit kommt, der sehe zu, was für ihn daraus entsteht!«

Der Hadeddihn kniete zu ihm nieder, zog das Zeug aus der Tasche und begann, ihn fester zu schnüren. Da rief der Fremde aus:

»Ich bin ein Abgesandter des Schah-in-Schah!«

»An wen?«

»An den Ustad, also an dich!«

»Und kommst nicht offen und direkt zu mir, sondern versteckst dich hier wie ein Verbrecher?«

»Ich habe meine Gründe!«

»Das glaube ich. Aber auch ich habe welche, und diese gelten, nicht die deinigen!«

»Ich kam zu Eurem Glück zu Euch!«

»Und stichst mit dem Messer auf meine Leute? Wir danken für solches Glück!«

»Du bist ein Christ. Darum sage ich dir: Ich komme als Missionar!«

»Willst uns wohl Frieden predigen? Heil verkündigen?«

»Ja!«

»Das kennen wir! Sorg für dein eignes Heil; das unsere liegt in den besten Händen!«

Das brachte ihn zum Schweigen. Er schien zu überlegen. Kara vollzog seine Arbeit so gut, daß dem »Missionar« alle Glieder zu schmerzen begannen.

»Er hat das Messer gegen dich gezogen, um dich zu erstechen,« sagte ich. »Das bestrafe ich mit dem Tode. Wirf ihn dort hinter die Steine! Da mag er liegen, bis er in den Duar geschafft wird, um gehenkt zu werden.«

Hierauf wendete ich mich nach der Tür, scheinbar um zu gehen. Das wirkte.

»Bleib hier, Effendi!« bat er. »Ich werde antworten!«

Ich ging weiter. Da schrie er auf:

»Effendi, Effendi, geh nicht fort! Ich gebe dir Auskunft, und du wirst dich freuen!«

Da drehte ich mich um, langsam, wie widerwillig, und befahl:

»So antworte kurz auf das, was ich dich frage! Anderes mag ich nicht wissen. Seit wann bist du jetzt hier?«

»Seit dieser Nacht. Ich kam, als in dem Duar schon alle Leute schliefen.«

»Warst du schon öfters hier?«

»Vor einem Jahre zum ersten Male. Seitdem in jedem Monat nur einmal.«

»Sonst nicht?«

»Nein.«

»Du warst also vor einem Monate zum letzten Male da?«

»Ja.«

»Kamst heut in dieser Nacht und weißt doch so genau schon, wer ich bin? Wer täuschen will, muß besser lügen können!«

»Ich wußte nicht, wer du bist; ich vermutete es nur. Effendi, glaube mir!«

»Gibt es bei uns Jemand, auf den du dich berufen kannst?«

»Pekala und Tifl.«

»Wer noch?«

»Niemand.«

»So ist es schlecht um dich bestellt. Tifl ist ein Abtrünniger und Pekala eine Plaudertasche, die Alles verraten wird, was sie von dir weiß!«

»Das mag sie immerhin! Sie weiß von mir nur Gutes. Ich habe eine Mission vom Schah und bin sein Diener, bin sein Auserwählter. Als Bote seiner Liebe und auch zugleich der wahren Menschenliebe, bin ich gekommen –«

»Um deine eigentliche Absicht zu verstecken,« fiel ich ein, »hier Jahre lang von unsrer dummen Pekala zu leben und dann den Frieden deines falschen Schah uns mit dem Messer vorzuschreiben!«

»Meines falschen Schah?« fragte er. »Ich verstehe dich nicht!«

»Wenn du mich nicht verständest, wärest du sogar noch dümmer als Pekala, die es gewiß und wahrhaftig glaubt, daß ihr Aschyk imstande sei, ihr bei dem Schah die Wonnen aller Paradiese zu vermitteln. Doch mich betrügst du nicht mit dieser deiner Seligkeit! Uns ist der Schah in Wirklichkeit bekannt, doch in den Löchern Teherans, in denen du und deinesgleichen steckst, lernt man ihn niemals kennen. Dich schickt der Scheik ul Islam, doch nicht der Schah-in-Schah!«

Da reichte seine ganze Frechheit nicht aus, den Schreck zu verbergen, der über sein Gesicht zuckte.

»Der – Scheik – ul – Islam –!« wiederholte er. »Wie kommst du auf diesen Gedanken?«

»Ich habe es aus seinem eignen Munde, und wenn ich dir das sage, so ist es wahr! Willst du es eingestehen?«

»Nein, denn es ist Lüge!« schrie er zornig auf.

»Es ist wahr! Und ich sage dir: Nur kurze Zeit, so wirst du mich auf deinen Knieen bitten, die Beichte anzuhören, welche du mir jetzt verweigerst. Für hier und jetzt bin ich mit dir fertig!«

Kara hatte ihn derart gefesselt, daß an einen Fluchtversuch gar nicht zu denken war. Dieser Verführer unserer strahlenden »Festjungfrau« versuchte zwar noch immer, uns zu einem andern Verhalten gegen ihn zu bereden, doch vergeblich. Er wurde zwischen die hier liegenden, hohen Steinhaufen gesteckt, und dann gingen wir. Als wir dann draußen im Freien standen, sagte Schakara, indem sie mich fast ängstlich anschaute:

»Wie streng du sein kannst, Effendi, wie unerbittlich kalt und streng! Das wußte ich noch nicht.«

»Meine Freundin, es handelt sich hier nicht um mich, sondern um das Wohl und Wehe vieler, vieler Menschenkinder,« antwortete ich. »Da hat etwas ganz Anderes zu sprechen, als das, was man „das Herz“ zu nennen pflegt. Auch ist das Schicksal dieses Mannes ja noch nicht fest bestimmt. Es steht in seiner Hand. Er kann sich retten, wenn er Reue zeigt. Und grad das, was ich mit ihm vorhabe, ist geeignet, ihn am schnellsten zu dieser Reue zu führen.«

»Was wird das sein?«

»Ich gebe ihm ein Gefängnis, wo er sich zu entscheiden hat: Wahnsinn oder Reue. Weiter gibt es dort nichts.«

»Wo?«

»Unten im Bassin, im finstern Bergesinnern, ein kalter, nasser Sitz auf jenem Stein, auf dem wir das Skelett gefunden haben. In solcher Art Gesellschaft wird man mürbe!«

»Entsetzlich, entsetzlich! Effendi, bist du ein Mensch?«

»Schakara, Schakara! Ich will ihn retten. Und wer den Ausweg aus der innern Hölle nur durch die äußre Hölle finden kann, dem muß man diese öffnen. Mit Baklawa das Raubtier zähmen wollen, ist Unsinn und bringt doppelte Gefahr. Wir lassen ihn bis nachts im Turme liegen und schaffen ihn sodann an Ort und Stelle. Ich wette, daß es gar nicht lange dauert, so tut er das, was ich ihm voraussagte: Er bittet mich um die Genehmigung, mir seine ganze Schuld gestehn zu dürfen. – Was sehe ich da unten im Duar? Ist etwa Pferdemarkt?«

»Nicht Markt, doch aber Schau, und zwar für unser Rennen. Der Chodj-y-Dschuna hat sie anbefohlen. Ein jeder Dschamiki, der sich beteiligen will, muß sich mit seinem Pferde bei ihm melden. Hierauf wird dann die Rennbahn abgesteckt, und Jeder kann sich üben nach Gefallen.«

»So gehen wir hinab! Ich machte sehn, was sich für Kräfte stellen.«

»Wird dich das nicht zu sehr anstrengen?« fragte Schakara.

»Keinesfalls. Ich fühle, daß ich neues Blut besitze, und neues Blut bringt immer neue Kraft, im Körper wie im Geiste. Ich fand noch nie bei einem andern Kranken, daß die Genesung sich so wunderbar beeilte, wie sie bei mir es tut. Was ich noch vor drei Tagen für ganz unmöglich hielt, das kommt mir jetzt, wo ich die Fläche überblicke, die vielen Pferde unten stehen sehe und rechts da drüben meinen Assil schaue, in meiner Stimmung recht gut möglich vor – ihn gegen unsre Feinde selbst zu reiten.«

»Effendi, welch ein Gedanke!« rief Kara aus, indem seine Augen leuchteten. »Wenn das mein Vater hört, läßt es ihn schnell genesen!«

»Nur nicht sogleich entzückt! Ich bin noch viel zu schwach, kann höchstens daran denken, jedoch bestimmen nichts. Trotzdem, trotzdem, trotzdem! Nimm die Begeisterung, die Euch beseelen wird; denk auch ans Andere: daß wir geschlagen werden, von Ritt zu Ritt besiegt von solchen Gegnern, und stelle dich dann vor die letzte Tour, die das Verlorne wiederbringen kann, so werfe ich mich auf den schlimmsten Gaul und reite mit, daß alle Knochen fliegen, die seinen und die meinen, bis miteinander wir zusammenbrechen, wir beide tot, jedoch am Ziel – als Sieger!«

Wir kehrten nicht erst nach dem hohen Hause zurück, sondern gingen in entgegengesetzter Richtung hinüber nach den Steinbrüchen und den dortigen, breiten Weg hinunter in den Duar. Das war ein Jubel, als man uns bemerkte! Die Begeisterung, von welcher ich gesprochen hatte, schien sich schon heute eingestellt zu haben. Es gab so viele, fernwohnende Dschamikun, die mich noch nicht gesehen hatten. Die drängten sich alle, alle herbei, und jeder von ihnen hatte es ganz besonders darauf abgesehen, uns zu versichern, daß wir das Rennen unbedingt gewinnen würden.

Wir gingen mit dem Chodj von Pferd zu Pferd. Ein jeder Besitzer war bemüht, uns von den Vorzügen des seinigen zu überzeugen. Darum freute es mich, daß der Chodj sich als vortrefflicher Kenner zeigte. Er ließ sich nicht durch Worte enthusiasmieren, blieb kalt, bedächtig, überlegen und wies Alles zurück, was keinen Erfolg versprach. Aber grad dadurch erreichte er, daß unser Vertrauen stetig wuchs, und als wir zu Ende waren und er uns nach unserm Urteile fragte, konnte ich ihm zu seiner wie auch meiner Freude sagen:

»Das Material ist gut. Nicht nur im gewöhnlichen Sinne, sondern sogar in Beziehung auf den ungewöhnlichen Zweck. Nachdem ich diese Pferde gesehen habe, bin ich unbesorgt. Ich habe nicht gewußt, daß die Dschamikun so viel des edelsten Blutes besitzen, und kann die Gegner nicht begreifen, daß sie gewagt haben, mit uns anzubinden.«

»Der Grund ist leicht einzusehen,« antwortete er. »Sie prahlen mit ihren Pferden, geben ihnen hochtrabende Namen, wie zu Beispiel „das beste Pferd von Luristan“, bringen die Stammbäume derselben unter das Publikum und verbreiten über ihren unschätzbaren Wert so viele und so vollmäulige Geschichten, daß es schließlich Niemand mehr wagt, daran zu zweifeln. Jeder, der doch vielleicht noch den Mut besitzt, eine Wette einzugehen, tut dies aber unter dem Drucke der Angst, höchst wahrscheinlich besiegt zu werden, und da die Angst niemals zum Guten führt, so stellt sich stets auch hier die Niederlage ein. Man verliert; aber nicht das Pferd ist schuld, sondern die Furcht, welche die Energie und Geistesgegenwart des Reiters lähmte. Bei uns aber ist das anders. Wir sprechen nicht von unserer Zucht; ja, wir halten sie sogar und ganz geflissentlich geheim. Und besondere Stammbäume? Wozu diese, wenn überhaupt alles edel ist? Und das ist es ja, was wir erreichen wollen und erreichen werden! Auch wissen wir nur allzu gut, wie oft solche Stammbäume täuschen, zumal bei fortgesetzter Binnenzucht. Darum greifen wir fleißig nach außen hin, um zu verbessern, zu veredeln. Sodann hüten wir uns vor prunkenden Namen. Sie sind doch bloß nur Sand, den man schließlich sich selbst in die Augen streut. Kein vernünftiger Mensch glaubt mehr an Namen. Darum wählen wir zur Benennung grad unserer allerbesten Pferde nur Worte, welche möglichst schüchtern, ja oft sogar herabsetzend klingen, dabei aber eine bessere, tiefere Bedeutung haben, die nur von uns selbst, aber von keinem Fremden verstanden wird. Das wirst du noch sehen. Denn unsere Hauptrenner sind heut noch gar nicht hier, weil eine Prüfung bei ihnen nicht nötig ist. Aus allen diesen Gründen ist man über das, was wir besitzen, fast gar nicht orientiert. Frag draußen im ganzen Lande herum, ob wir imstande sind, ein großes Rennen gegen auswärtige Pferde zu gewinnen. Man wird lächeln, sogar über Sahm, deren Name übrigens der einzige ist, der nicht verschwiegen klingt, und dir sagen, daß man uns Ritt auf Ritt besiegen würde. Doch mögen sie nur kommen. Wir wissen, was wir haben, und verstehen, es zu reiten. Und was die Angst betrifft, nun, lähmen wird uns nichts. Weißt du, wer unser bester Reiter ist?«

»Wohl du?«

»O nein, o nein, sondern der Ustad selbst. In dem Augenblicke, an welchem er den Sattel berührt, ist er nicht mehr der Ustad der Dschamikun, sondern etwas ganz, ganz Anderes. Er gleicht dann einem plötzlich jung gewordenen Djinni, dem jede Faser des Pferdes untertänig ist, und wer es mit ihm aufnehmen will, der wagt mehr, als er denkt! Hierbei fällt mir ein, dir zu sagen, daß der Scheik ul Islam einen Eilboten heim nach Chorremabad geschickt hat, natürlich nicht von hier, sondern von unterwegs aus, denn wir sollten höchst wahrscheinlich nichts davon erfahren. Aber dieser Bote traf auf einen unserer Pferdehirten, begann aus Rache für unser Verhalten hier ein Wortgefecht mit ihm und war dabei so unvorsichtig, sich zu verraten. Er rief dem Hirten höhnisch zu, daß wir verloren seinen, weil Ghulam el Multasim zum Ustad der Takikurden erhoben werde. Hältst du das für möglich oder nur für eine Lüge, um uns zu ärgern, Effendi?«

»Ghulam el Multasim, der Bluträcher, der Ertappte und Ueberführte, der vollständig Ehr- und Gewissenlose – Ustad der frommen, kurangerechten Takikurden? Warum soll das nicht möglich sein? Ich halte es sogar für sehr wahrscheinlich, nachdem ich den Scheik ul Islam kennen gelernt habe. Dergleichen Leute sind zu Allem fähig. Warten wir es ruhig ab! Geschieht es wirklich, so kann es uns nur nützlich sein.«

»Nützlich? Uns? Dieser Mensch an der Spitze unserer neidischesten Feinde?«

»Ja. Denn wird man einmal zum Kampf gezwungen, so ist es besser, man hat den ganzen Pöbel hübsch beisammen, weil man die Hiebe dann umso dichter fallen lassen kann. Es sollte mich freuen, wenn es würde!«

Da begann es in den buschigen Brauen des Chodj-y-Dschuna zu spielen; seine Augen leuchteten auf, und er sagte in frohem Tone:

»Dank sei Chodeh! Ich sehe immer mehr, daß wir uns keinesfalls zu sorgen brauchen. Ich habe dir bereits gesagt, daß ich hier verschiedene Stellen bekleide. In gewissem Sinne bin ich auch so etwas Aehnliches wie Sypahsalar und weiß also genau, was es bedeutet, wenn wir das „Dschamikun in Waffen!“ rufen. Ich wittre Krieg. Hast du vielleicht den Wunsch, einmal Heerschau zu halten?«

»Allerdings; aber ich versage mir seine Erfüllung. Es würde Aufsehen erregen, und ich wünsche aber sehr, daß man uns für unvorbereitet halte. Man soll unbedingt der Meinung sein, uns vollständig zu überrumpeln. Sei noch verschwiegen! Wir werden uns zur rechten Zeit besprechen, sobald ich meine, daß sie gekommen sei. Die Fäden sind bereits in meinen Händen.«

Da kam der Pedehr, zur Schau leider zu spät, doch versicherte er, sich der Sache umso eifriger anzunehmen. Er war oben im Walde in seiner Jagdhütte gewesen und versprach mir in liebenswürdigster Weise, gleich neben der seinigen auch für mich eine bauen zu lassen und sie mir zu schenken.

Hierauf trennten wir uns, und ich ging mit Schakara und Kara Ben Halef heim. Der Letztere hatte seinen täglichen Uebungsritt zu machen, und die Erstere bat ich, von jetzt an ein Auge auf Pekala zu haben und sie zu verhindern, etwa nach den Ruinen zu gehen. Oben angekommen, besuchte ich meinen Halef und seine Hanneh.

Sie hatten sich da oben auf dem ebenen Dache der Halle vortrefflich eingerichtet und freuten sich über diese meine erste Visite hier in ihrem »Duar«, wie sie es nannten. Ich sage »sie«, denn Halef schlief nicht, sondern war wach. Als ich mich zu ihm gesetzt hatte und ihm zärtlich über die abgemagerten Hände strich, sagte er:

»Mein lieber, lieber Sihdi! Ich habe gehört, daß jetzt du der Herr des hohen Hauses bist. Wie kannst du das Alles nur versorgen, ohne daß ich imstande bin, dir mit zu helfen!«

Seine Stimme klang verhältnismäßig kräftig; sein Atem versagte nicht mehr, und seine Augen hatten wieder Leben.

»Sorge dich nicht!« antwortete ich. »Ich brauche keine Hilfe.«

»Aber du bist ja selbst noch krank und schwach!«

»Krank nicht mehr, sondern gesund, vollständig gesund. Und was die Schwäche betrifft, so fühle ich, daß sie mit jeder Stunde geringer wird. Ich erhole mich mit einer Schnelligkeit, die zum Erstaunen ist, und hoffe, daß dies nun auch bei dir der Fall sein werde.«

Als ich hierauf von der Pferdeschau erzählte, war es, als ob das zugleich heilende Medizin und stärkende Nahrung sei. Und das wirkte augenblicklich. Seine Wangen bekamen Farbe und seine Züge fast lebhafte Beweglichkeit. Das Wettrennen war der Punkt, an welchem für ihn die Spannkraft neu geboren zu werden schien. Darum blieb ich mit ihm bei diesem Gegenstande, bis er ermüdete und schließlich die Augen schloß, um mitten im Gespräche einzuschlafen. Inzwischen war es Mittag geworden, und ich aß mit Hanneh und Schakara in der Halle.

Dann, als ich hinauf in meine Wohnung kam und das Tal überschaute, sah ich zahlreiche Reiter ihre Pferde auf der Rennbahn tummeln, was von jetzt an jeden Tag und zwar von früh bis abends geschah. Ich blieb den ganzen Nachmittag oben, auch zum Abendessen, welches ich mir heraufbringen ließ. Kara wußte Bescheid. Ich hatte ihm denselben während unserer Heimkehr von der Pferdeschau erteilt. Er stand, als alle Andern, Schakara ausgenommen, schliefen, mit neuen Fackeln unten im Hofe bereit.

Wir gingen erst hinab nach dem Landeplatze, um die Fackeln in das Boot zu legen. Es war der zweite Tag des neuen Mondes, die Sichel am Himmel schon breiter und heller als gestern. Sie leuchtete uns. Nun benutzten wir den schon früh erwähnten, breiten Steinbruchweg, von welchem aus die hier ebene Fläche bis zu dem Quaderturm hinüberführte. Da dieser eingestürzt war und also oben offenstand, war es auch in ihm mondeshell. Für den Nebenbau, durch welchen wir mußten, hatte Kara ein Talglicht mitgenommen, welches angebrannt wurde.

Der »Aschyk« lag noch genau so, wie wir ihn verlassen hatte. Es war ihm unmöglich gewesen, sich zu bewegen. Man sollte denken, daß diese Qual, verzehnfacht durch den Schmerz, den die scharfen Fesseln verursachten, ihn veranlaßt hätte, sich gefügig zu zeigen. Das war aber keinesweges der Fall. Am Morgen hatte er seine Zuflucht schließlich doch zur Bitte genommen; nun aber schien er sich das wieder anders überlegt zu haben. Er empfing uns mit Vorwürfen, sprach von seiner »Botschaft des Friedens«, nannte sich wiederholt den »Auserwählten«, den »Missionar«, ohne dessen Hilfe wir verloren seien, und erdreistete sich endlich gar, zu sagen, daß er uns verzeihen und bei dem Schah-in-Schah für uns bitten wolle, wenn wir unsere Fehler einsehen und sofort verbessern würden. Ich machte durch dieses blöde, prahlerische Geschwätz einen Strich, indem ich ihn summarisch fragte:

»Kennst du den Scheik ul Islam persönlich?«

»Nein, nein, nein!« behauptete er zornig.

»Hast nichts, gar nichts mit ihm zu tun?«

»Nichts, nichts und dreimal nichts!«

»Bist nicht in seinem Auftrag hier bei uns?«

»Nein, nein und tausendmal nein!«

»Gut! Jetzt bin ich überzeugt; aber wovon, das wirst du sehen. Wir geben dir jetzt die Füße frei, doch weiter nichts. Du hast mit uns zu gehen, gehorsam, still, wenn du den Tod vermeiden willst. Wir wissen mit entsprungenen Verbrechern umzugehen und kehren uns nicht daran, daß sie im Schutz des Scheik ul Islam stehen! Merkst du etwas?!«

Da sagte er nichts mehr! Kara nahm ihm die Riemen von den Beinen und ließ ihn aufstehen. Er wankte infolge der Blutstockung so, daß er gehalten werden mußte. Doch als wir ihn erst einmal draußen im Freien hatten, bekam er nach und nach immer festern Schritt. So kamen wir den Berg hinab und an die Landestelle. Als er aufgefordert wurde, in den Kahn zu steigen, weigerte er sich und begann, wieder laut zu werden. Da warf ihn Kara einfach nieder, zwang ihm ein Stück mitgebrachtes Zeug als Knebel in den Mund, fesselte ihm die Beine wieder und schob ihn dann hinüber in das Boot, um ihm dort die Augen zu verbinden. Dann stiegen wir ein und ruderten nach dem Kanale.

Als wir das Gestrüpp am Eingang desselben hinter uns hatten, wurde die Fackel angebrannt und in das erwähnte Loch gesteckt. Erst schoben und dann ruderten wir uns weiter, bis wir das vordere Bassin erreichten. Der Aschyk sollte nicht wissen, wo der Weg zur Freiheit zu suchen sei, denn es war meine Absicht, ihn von den Fesseln zu befreien, und er konnte vielleicht ein guter Schwimmer sein, obgleich dies von einem binnenländischen Perser, dessen Mutter Erde ihn so trocken behandelt, nicht zu vermuten war. Darum trieben wir das Boot in das Becken hinein, bis der Kanal nicht mehr zu sehen war, und nahmen ihm dann die Binde von den Augen. Der Knebel verhinderte ihn am Sprechen und sein Gesicht lag so im Schatten, daß wir weder die Augen noch das Spiel der Mienen beobachten konnten, doch nahm ich an, daß der Anblick dieses schauerlichen Ortes von nicht geringem Eindruck auf ihn sein werde. Um diesen zu verstärken, nahmen wir uns die Zeit zu einer vielfach verschlungenen Rundfahrt. Da er auf dem Boden des Fahrzeuges lag, sah er nur, was oben war, und mußte also die Größe des Beckens in hohem Grade überschätzen. Das wollte ich!

Als ich meinte, daß es genug sei, hielten wir bei dem Steine an, auf welchem das Gerippe lag, dasselbe Gerippe, welches in meinem Traume so vorzüglich schwimmen konnte und so viel gesprochen hatte. Nun aber war es still. Die Beine eng und fast bis zu den Rippen emporgezogen, grinste es uns an, als ob es sich trotz seines Schweigens freue, einen Gesellschafter zu bekommen, der diese entsetzliche Einsamkeit mit ihm zu teilen habe. Er aber sah es nicht und ahnte es auch nicht.

Wir schoben, damit er das Skelett nicht sofort bemerken möge, das Boot nach der andern Seite des Steines. Kara legte den obern Teil seines Anzuges ab, um ihn nicht zu beschmutzen, und kletterte hinauf. Ich packte den Gefangenen am Genick und richtete ihn empor. Er war fast so starr wie eine Mumie und hatte die Augen zu. War das Ohnmacht, Schreck oder nur Verstellung? Kara faßte ihn von oben; ich schob nach; so brachten wir den Aschyk mit größerer Leichtigkeit hinauf, als zu vermuten gewesen war. Ich hatte angenommen, daß er sich möglichst widersetzen werde. Nun wurden ihm die Fesseln ab- und der Knebel aus dem Munde genommen. Dann stieg Kara wieder zu mir herunter und wickelte ein Paket auf, welches mit den Fackeln zusammengebunden gewesen war. Es enthielt für mehrere Tage Brot. Er warf es hinauf.

Bis jetzt hatte der Gefangene ruhig gelegen; nun aber regte er sich. Er tastete zunächst wie blind umher. Dann richtete er, auf die Hände gestützt, den Oberkörper auf, starrte erst rundum in die gähnende Finsternis hinein und dann zu uns herunter und stieß dann einen Schrei aus, dessen Echo wie aus Wahnsinnstiefen von allen Säulen widerklang.

»Was ist das hier, was, was, was, was?« heulte er. »Die Hölle, in die wir unsere Opfer stürzten! Die Finsternis, über welche wir lachten, wenn wir von oben herablauschten und die Körper auf das Wasser schlagen hörten! Und da liegt Brot, Brot, Brot! Gibt es denn hier noch gute Geister, die sich sogar des Teufels noch erbarmen, wenn er in der Verdammnis zu sich kommt?«

Er betrachtete uns. Sein Gesicht war vor Angst verzerrt, doch nahm es allmählich einen andern Ausdruck am. Die Wirkung des Schreckes begann zu weichen. Er besann sich.

»Du bist es, Effendi, du!« rief er in fast frohem Tone aus. »Also doch anders, anders als ich dachte! Was soll ich hier? Warum habt Ihr mich an diesen Ort gebracht?«

»Du gehörst hierher,« antwortete ich. »Der Mörder zu den Ermordeten!«

»Ich, ich – mordete nicht! Das waren Andere! Diese meine Hand ist frei davon. Ich habe sie nie, nie, nie zum Sturze hergegeben! Sie ist vom Morde rein, rein, rein!«

Er hob die Hand wie zum Schwure empor.

»Aber geliefert hast du die Opfer und schadenfroh auf ihren Fall gelauscht. Was ist wohl teuflischer als das! Nun hast du Zeit zum stillen Weiterlauschen! Sie kommen, sie kommen, diese Opfer; darauf verlasse dich! Du wirst sie hören, du Friedensbote unseres Schah-in-Schah! Es ist dir hier der ganze Raum und alle Zeit gegeben für das, was sie mit dir zu reden haben. Wir lassen dich allein; wir werden dich nicht stören!«

Ich griff zum Ruder, Kara auch.

»Halt, halt! Bleibt!«,schrie er auf.

Das Boot begann, sich zu bewegen.

»Nicht fort, nicht fort – nicht fort ohne mich! Ich muß mit, mit, mit!« bat er.

Ganz so, wie wir unten um die Säule bogen, kroch er oben in gleicher Richtung weiter. Da sah er das Skelett und brüllte förmlich auf:

»Der Tod, der Tod – leibhaftig, als Gerippe! Hinweg, hinweg, hinweg! Das halte ich nicht aus!«

Er erhob sich auf die Kniee, streckte uns die Hände nach und flehte:

»Erbarmen, Effendi, Erbarmen! Hier gehe ich zu Grunde!«

Da hielt ich an und antwortete:

»Was habe ich dir heut früh vorausgesagt? Du werdest auf den Knieen liegen und mich um was für eine Erlaubnis bitten?«

»Dir mein Geständnis machen zu dürfen!« jammerte er.

»Nun gut! Ich habe mein Wort erfüllt. Was tust du nun, um dich zu retten?«

»Die Wahrheit sagen. Weiter kann ich nichts!«

»So sprich!«

Ich tat einen Ruderschlag, um ihm wieder näher zu kommen. Sobald er dieses Zeichen der Geneigtheit sah, kehrte ihm der verlorene Mut zurück. Noch vor dem Gerippe schaudernd, von dem er sich ab- und zu uns wendete, wagte er doch, von Neuem zu lügen und zu leugnen:

»Ich weiß, du prüfst mich nur, Effendi. Du willst sehen, ob ich ein Mensch bin, der sich Unwahres ersinnt, um sich zu retten, und wirst mich dann, wenn ich es nicht tue, nur um so höher schätzen. Ich habe mit dem Scheik ul Islam wirklich nichts zu tun. Nimm mich jetzt wieder mit, und führe mich in dein Haus, so werde ich dir die Beweise geben, daß ich nur zu Euerm Glück zu Euch gekommen bin. Ich teile dir alle Geheimnisse dieser Ruinen und die sämtlichen Absichten Eurer Feinde mit. Ihr wandelt schnurgerad in das Verderben. Ich aber zeige Euch den Rettungsweg! Die Faust ist hoch erhoben, die Euch treffen soll. Wenn nicht schon heut, so fällt sie doch ganz sicher morgen auf Euch nieder. Ich aber, der ich Alles weiß, werde als Euer Beschützer bei Euch wohnen und –«

»Und dann mit deiner Pekala beim neuen Schah in Isphahan erscheinen!« fiel ich da ein. »Du Narr! Das war die letzte deiner falschen Karten. Zu denken, daß wir diesem Trumpfe glauben, nachdem wir alle andern schon als falsch erkannten, ist nicht mehr Wahnsinn, ist Vermessenheit! Fort, Kara, nur fort!«

Uns von ihm abwendend, senkten wir die Ruder. Einige kräftige Schläge und der Stein lag schon im tiefsten Dunkel.

»Halt, halt! Ich will gestehn, gestehn – gestehn!« schrie es hinter uns, und alle Säulen hallten es wider.

Wir kehrten uns nicht daran und überließen ihn der Finsternis, die nicht nur um ihn, nein, auch in ihm gähnte. –

  1. Band III pag. 267.