Viertes Kapitel.

Der Scheik ul Islam hatte seine letzten Worte so laut und mit solchem Nachdrucke gesprochen, daß sie von der Decke dumpfgrollend wiederhallten. Seine Gestalt schien gewachsen zu sein. Er hielt den Kopf herausfordernd zurückgeworfen und strich sich mit beiden Händen den langen, dünnen Bart, als ob in diesen Haaren die Kraft gelegen habe, endlich einmal den Mut der Aufrichtigkeit zu zeigen. Seine Leute verhielten sich zuwartend. Der Aemir – ja, was war denn das? Der setzte sich ganz ruhig auf den nächsten Stein, putzte die Schuppen von den Kerzen und sagte in einem Tone, als ob er ein höchst gleichgültiges Gespräch fortzusetzen habe:

»Es ist also nicht nötig, daß ich dir hier noch Etwas zeige?«

»Nein, keineswegs!« antwortete der Andere, noch immer scharf.

»Dann könnte ich ja gehen!«

»Allerdings!«

»So möchte ich vorher wissen, wie diese deine Leute hier hereingekommen sind! Wir ließen sie am Bach zurück, wo unsere Pferde jetzt noch stehen!«

»Ich liebe die Geheimniskrämerei ebenso wie du. Darum sage ich dir: Ich verwandelte sie in Geister und rief sie durch die Mauern,« antworte der Scheik ul Islam höhnisch.

»Das klingt sehr leicht begreiflich. Du treibst also als Scheik ul Islam Hokuspokus! Eine neue, sehr interessante Seite von dir! Jedenfalls bist du ein außerordentlich begabter Mensch! Wahrscheinlich lässest du sie ganz in derselben Weise, wie sie gekommen sind, auch wieder gehen?«

»Ja.«

»Und was geschieht mit dir selbst?«

»Nichts Anderes. Ich werde Geist und lasse mich verschwinden.«

»Darf man das sehen?«

»Nein, denn du bist noch nicht so unsterblich wie wir. Für Euch Irdische ist so Etwas nicht!«

»Wirklich nicht? Solltest du dich da nicht irren? Auch wir Irdische verstehen Etwas von Eurer Magie, wenn auch nicht Alles. Ich habe es zwar nicht so weit gebracht, mich selbst verschwinden zu lassen, aber mit Andern bringe ich es doch schon fertig. Und ich verfahre dabei nicht so geheimnisvoll wie du. Wenn ich nächstens einmal meinen Zauberstab schwingen werde, so lade ich dich dazu ein. Ja, ich bin sogar sehr gern bereit, dich selbst verschwinden zu lassen. Zunächst aber haben wir uns morgen bei den Taki drüben zu treffen?«

»So wurde ausgemacht, und so hat es zu bleiben!«

»Und Freitag auf den Dschebel Adawa?«

»Auch da. Du natürlich als Aemir!«

»Den du aber nicht kennst?«

»Sei unbesorgt! Es liegt in meinem eigenen Interesse, keinen Menschen erfahren zu lassen, daß ich dich entlarvte.«

»Und diese Leute hier?«

»Sind verschwiegen!«

»So gehe ich jetzt!«

Er stand vom Steine auf.

»Meine Pistole!« gebot er, die Hand ausstreckend.

Der, welcher sie noch in der Hand hielt, gab sie ihm.

»Hier liegt meine Maske und dort meine Peitsche. Soll ein Kaiser sich bücken?«

Das klang so zwingend, daß man beide aufhob und ihm gab. Er steckte Larve und Waffe zu sich, hieb mit der Peitsche verächtlich hinter sich und sagte:

»Also nun los mit dem Hokuspokus! Hier und überall! Ich aber liebe den festen Weg zum Pferde. Wollen sehen, wer eher in den Sattel kommt, Ihr oder ich! Vergeßt aber nicht, die Lichter zu entfernen! Ihr seid ja Dunkelmänner. Und wenn auch nur der geringste Schimmer zurückbleibt, entdeckt man Euer Tun und Treiben und klopft Euch auf die Finger. Also macht es finster – finster – finster!«

Er schwippte noch einmal mit der Peitsche und ging.

»Nun schnell diese Tür wieder auf!« gebot der Scheik ul Islam. »Wir wollen ihm doch zeigen, daß wir noch eher bei den Pferden sind als er; ich sehe nach, ob er sich auch wirklich entfernt.«

Bei diesen Worten eilte er hinter dem Aemir her. Wir hörten unter uns dasselbe Steinschlürfen und sahen die drei Männer nicht mehr. Sie standen unter der Empore bei der Bundeslade. Da kam er wieder herein und berichtete:

»Er ist wirklich fort; ich sehe ihn schon nicht mehr. Merkt Euch hier Folgendes! Die Dschamikun werden natürlich glauben, daß wir von außen kommen. Demzufolge besetzen sie die Zugänge zu dem Tale. Wir aber dringen durch diesen Gang heimlich in die Ruinen, verbreiten uns da leise, bis alle beisammen sind, und fallen dann über sie her. Nun weg mit den Kerzen, und rasch fort durch den heiligen Stein! Wer weiß, wie Vielen er schon als letzte Ausflucht diente, wenn sich die Menschen hier von Zeit zu Zeit die Auserwählten Allahs nicht mehr gefallen lassen wollten!«

Es wurde dunkel; die Steine schliffen wieder, und dann war nichts mehr zu hören. Die Vorsicht gebot mir, noch zu warten.

»Effendi, es ist vorbei. Wollen wir nicht gehen?« fragte der Aschyk halblaut herüber.

»Nein« antwortete ich. »Der Aemir verhielt sich zuletzt derart, daß ich seine Rückkehr vermute. Also still!«

Es verging nach meiner Schätzung wohl über eine halbe Stunde, und schon griff ich in meine Tasche, um die Kerze herauszunehmen und anzubrennen. Da gab es draußen ein Geräusch. Man blieb dort stehen, um Licht zu machen, und kam dann herein. Es waren zwei Männer, beide mit unverhüllten Gesichtern. Der Eine war der Aemir. Der Andere trug das Licht. Wahrscheinlich war er der von dem Aemir ausgestellte Wächter, von dem gesprochen worden war. Er mußte das Vertrauen Ahrimans in hohem Grade besitzen und in Alles eingeweiht sein, weil der Letztere die Larve nicht wieder vorgenommen hatte, um sich unkenntlich zu machen.

»Zu denken, daß ich zurückkehren und nachforschen werde, dazu war der Kerl trotz seiner sonstigen Geriebenheit zu dumm!« fuhr der Aemir in dem jedenfalls draußen und unterwegs geführten Gespräch fort. »Ich entfernte mich gar nicht, sondern stellte mich einfach draußen hinter die Wasserbeckensäule, um welche ich nur langsam zu kreisen brauchte, als er nach vorn ging, um hinauszuschauen. Es genügte ihm, daß er mich nicht mehr sah. Da ging er wieder hinein. Ich folgte ihm bis an die Tür, wo ich alles sah und jedes Wort verstand.«

»So kennen wir also die Geheimnisse dieses alten Gemäuers doch noch nicht ganz genau!« meinte der Andere.

»Nein. Aber ich habe es mir auch nicht eingebildet, daß wir sie alle kennen. Diese Taki sind so voller Ränke und Schliche, daß man allwissend sein möchte, um hinter Alles zu kommen. Es ist nicht Zeit, ihr bisheriges Verhältnis zu diesen Ruinen zu erörtern. Heut gilt es nur, zu erfahren, was sie jetzt mit ihnen bezwecken. Da habe ich denn gehört, daß sie heimlich hereinbrechen wollen durch den Gang, welcher hier mündet. Das ist aber ganz gegen meine Verabredung mit dem Scheik ul Islam. Er will mich betrügen, mich, uns, Euch! Nach unserm Plane werden die Dschamikun mit einem Schlage und von allen Seiten überfallen, ohne daß sie vorher Etwas ahnen. Ich komme mit meinen Schatten von Osten. Sollte unsere Absicht durch irgend einen Zufall verraten werden, so besetzen sie die Pässe des Hasen und des Kuriers. Von dort drängen wir sie in den Duar zurück. Die Taki kommen von Nordwest und die Dinarun über die neue Zugbrücke am Tale des Sackes. So nehmen wir die Dschamikun von allen Seiten. So drängen wir sie rund um den See zusammen und treiben sie in das Wasser. Sie können der gänzlichen Vernichtung unmöglich entgehen. In Betreff der Ruinen aber habe ich extra die strenge Bedingung gestellt, daß sie von Niemand berührt werden dürfen, weil ich sie als unser Eigentum betrachte. Die Massaban, welche von den Dschamikun von hier vertrieben wurden, gehörten zu uns; sie sind mir untertan. Ich habe sie in ihr Eigentum zurückzuführen. Der Scheik ul Islam ist auf diese Bedingung eingegangen. Er hat mir zugesagt, daß keiner seiner Takikurden die Ruinen betreten werde. Vorhin nun stellte er aber, als ich ihn zur Offenheit zwang, plötzlich die Behauptung auf, daß der Taki-Orden diese Bauten errichtet habe und noch heut der Eigentümer ist. Er bezeichnete die Taki als die wirklichen Personen, uns aber als ihre Schatten, ihre Insekten, die für sie zu arbeiten und zu sammeln haben. Und als er glaubte, daß ich fort sei, sagte er zu seinen Begleitern, daß die Taki durch den Gang hier kommen würden, um die Ruinen zu besetzen. Wozu dieser heimliche Plan gegen meine Bedingung? Der Besitz der Ruinen ist ihm wichtiger als sein gegebenes Wort und der Sieg über alle Dschamikun. Sie, sie will er vor allen Dingen haben. Und zwar aus Angst, daß wir doch noch entdecken möchten, was wir bisher noch nicht gefunden haben. Das laß ich mir um keinen Preis gefallen! Besetzt er sie, besetze ich sie auch! Und tut er es geheim, so greife ich zu derselben Heimlichkeit und komme ihm dabei sogar zuvor. Verläßt er sich auf den geheimen Gang, so werden wohl auch wir die Mittel finden, noch eher da zu sein, als er mit seinen Leuten!«

»Stellt das nicht unser ganzes Werk in Frage, Aemir?«

»Wieso?«

»Muß es nicht infolge dieser gegenseitigen Eigenmächtigkeiten hier in den Ruinen zwischen dir und ihm zum blutigen Kampfe kommen? Wenn die Verbündeten in dieser Weise beginnen, sind die Dschamikun gerettet, und das ganze Land wartet vergeblich auf den Schlag, welcher den Schah entthronen soll!«

»Wie irrig! Du behauptest, mich zu kennen und traust mir doch noch Knabenstreiche zu! Ich sehe weiter als du. Ich habe das Naheliegende festzuhalten, um das Fernerliegende zu erreichen. In den Ruinen hier spielt nur die erste Episode. Die eigentliche Frage ist: Wer soll der Herrscher sein? Der Scheik ul Islam oder ich? Der Taki-Orden oder meine Schatten? Der Scheik hat mir frech in das Angesicht gesagt, daß ich nichts, als nur sein Geschöpf bedeuten werde. Ich schwieg dazu, doch stand es augenblicklich fest in mir, daß er mit diesem Wort sich selbst gerichtet habe. Er glaubt, mich fest in seiner Hand zu haben, und krümmt sich doch schon unter meiner Faust! Wie schnell gehorchte er doch meinen Zähnen, die ich ihm zeigte, um sein Inneres aus ihm herauszulocken! Die Krallen waren augenblicklich da! So läßt sich nur der Schwächling übertölpeln! Ich war dann um so ruhiger, je drohender er sprach!«

»Aber wenn du dich gleich anfangs mit ihm verfeindest, geht dir die Hilfe seines ganzen Ordens und Aller, die zu ihm halten, verloren!«

»Das glaube nicht! Nur darf die Feindschaft keine halbe sein. Sie darf nicht zögern, keine Ausflucht lassen. Sie muß sofort die Faust zusammendrücken, daß Alles kracht, was sich in ihr befindet! Wenn er mit seinen Taki hier erscheint, so fasse ich ihn stracks bei dem Genick und schüttle ihn wie eine tote Katze da unten über unserm Wasserloch. Ich sage dir, er wird um Gnade heulen und alles tun, was ich von ihm verlange!«

»Es aber dann nicht halten!«

»Nicht? Du denkst, ich lasse ihn so auf Versprechen frei? Daß ich ein solcher Tor, ein solcher Stümper wäre! Ich hänge ihn am glatten Felle auf, bis ich die lieben Seinen nicht mehr brauche, und werfe ihn dann immer noch ins Wasser! Doch sprechen wir hierüber späterhin. Ich halte dir hier eine lange Rede und sehe doch, daß unser Licht dabei nur kleiner wird!«

»Ich habe noch einige.«

»Dann gut! Schau dir diesen Stein an! Er scheint massiv zu sein, ist es aber nicht. Ich sah ihn offenstehen, und zwar nach innen. Leuchte nieder, daß wir ihn betrachten!«

Weder ich noch der Aschyk konnten sehen, was sie jetzt taten. Aber wir hörten ihre Worte, und das war genug.

»Hier diese Vorderseite hat ringsum an den Kanten ein Relief, fast wie ein Bilderrahmen,« sagte der Aemir. »Die eingefaßte Platte aber ist vollständig glatt. Es fehlt Alles, was auf Bewegbarkeit schließen läßt. Folglich ist es nur der einfache Druck, dem sie gehorchen wird. Versuchen wir es!«

Wir hörten ein lautes Atmen, wie wenn sich Jemand anstrengt, und dann das schon bekannte Schleifen der Steine.

»Sie weicht!« rief der Aemir. »So, jetzt ist sie völlig offen! Der Gang kann nicht unbequem sein, denn als ich jenseits an den Bach kam, wo mein Pferd bei den ihrigen stand, waren alle vier schon da, und der Scheik ul Islam höhnte mich damit, daß ich ihn immerhin verschwinden lassen möge; er werde sicher ebenso schnell wieder erscheinen wie jetzt. Krieche hinein, und untersuche die Innenseite!«

Der Andere tat es. Wir hörten seine dumpfe Stimme:

»Hier hat die Platte eine Handhabe.«

»Das konnte man sich denken. Und der Gang? Ist er niedrig?«

»Warte!«

Er hatte, wie wir am Schatten sahen, das Licht mit hineingenommen und untersuchte. Dann kam er wieder an die Oeffnung und berichtete:

»Nur drei Schritte niedrig, dann aber gleich ziemlich hoch, höher als ein Mann. Das scheint ein natürlicher Innenriß des Berges zu sein, dessen Mündung man vermauerte, um ihn zu diesen Heimlichkeiten auszunützen.«

»Und die Luft?«

»Wie es scheint, besser als drin bei dir.«

»So geh zurück; ich komme!«

Ein leises Rascheln, hierauf das Schlürfen der Platte, welche zugeschoben wurde, dann war es wieder finster und still im Allerheiligsten. Ich wartete diesmal nur kurze Zeit; dann machte ich Licht.

»Jetzt fort?« fragte der Aschyk.

»Ja.«

»Nicht warten, bis sie fertig sind, und dann den Gang auch untersuchen?«

»Nein. Wer weiß, was sie alles noch tun und wann sie wiederkommen. Ich halte diese Luft hier nicht mehr aus. Ich muß hinaus!«

Wir stiegen hinab und löschten das Licht aus. Er nahm seine Leiterstange; wir gingen. Draußen blieb ich stehen und holte mit Wonne Atem. Die Luft da drin im einstigen Heiligtum war nichts als Gift gewesen! Noch war der Mond nicht hinter dem Berg verschwunden. Die Ruinen lagen in seinem gelblich silbernen Glanze. Ein Lauscher war nicht zu sehen. Wir gingen nach dem Steinbruche, wo wir uns zu trennen hatten, blieben aber noch einige Minuten im Schatten beieinander stehen.

»Ehe ich den Scheik ul Islam durchschaute, mußte ich Dich für einen Sill halten,« sagte ich. »Was aber bist du nun?«

»Weder Sill noch Taki. Mein Wunsch aber ist, ein Dschamiki werden zu dürfen.«

»Fürchtest du nicht den Leumund, wenn man erfährt, was du gewesen bist?«

»Was man verachtet, kann man doch nicht fürchten! Gute Menschen verzeihen; was die Andern tun, kommt nicht in Betracht. Sobald Ihr mich hier nicht mehr braucht, werde ich mich bei der Behörde zur Strafe melden, der ich mich durch die Flucht entzogen habe. Ist sie verbüßt, so kehre ich als neuer Mensch zurück. Vielleicht nimmt mich dann der Ustad auf!«

»Ist das dein Ernst, dein wirklicher Ernst?« fragte ich.

»Ja, Effendi. Ich habe es mir reiflich überlegt. Ich bin dazu entschlossen und tue es unbedingt.«

»Aber bedenke! Es stehen dir mehrere Jahre Gefängnis bevor, schweres, bitteres Gefängnis! Du kannst das sehr leicht vermeiden, indem du dich einfach nicht meldest. Es sucht ja kein Richter und keine Polizei mehr nach dir. Das Gesetz hat dich also aufgegeben. Und hier, wo du dich befindest, ist dein Name unbekannt. So laß ihn doch gestorben sein, und nimm einen andern an! Dann bist du auch ein anderer Mensch, und deine Vergangenheit ist vollständig vergessen!«

Es versteht sich ganz von selbst, daß ich das nur sagte, um ihn zu prüfen. Er schüttelte den Kopf und antwortete:

»Ich kann nicht glauben, daß deine Worte wirklich so gemeint sind, wie sie klingen. Ich muß mich ausliefern; ich muß, ich muß, ich muß! Noch bis vor wenigen Tagen hätte ich diesen Gedanken freilich für Wahnsinn gehalten, für die blödeste Albernheit, die es nur geben kann. Aber da unten, neben dem Gerippe, in der schrecklichsten aller Finsternisse, in der innerlich laut heulenden tiefen Stille, die äußerlich um mich lag, an der zwar nur leise, leise, aber umso entsetzlicher in sich knirschenden Säule, die von Augenblick zu Augenblick über mir einzustürzen und mich zu zerschmettern drohte, ist mir das rechte, wahre Licht hierüber aufgegangen. Ich will und will und will die Strafe haben, um mit mir selbst, mit meinem Gewissen quitt zu werden. Indem ich ihr entgehen wollte, habe ich mir eine noch viel fürchterlichere auferlegt. Ich flüchtete mich doch nur aus dem einen in das andere Gefängnis, in die Gefangenschaft des Bösen. Und was das heißt, und welche Qualen das bringt, davon hast du keine, keine, keine Ahnung, Effendi!«

Er bewegte den tief gesenkten Kopf schwer und langsam hin und her und fuhr dann fort:

»Der Scheik ul Islam versprach mir, sich für meine Begnadigung zu verwenden. Dieser Tor! Wie unverzeihlich dumm ist er doch in Beziehung auf die Menschenseele, er, der doch behauptet, daß ihm tausende von Seelen von Allah anvertraut worden seien! Oder war es nicht Dummheit, sondern gewissenslose Hinterlist? Neue Verbrechen zu den alten fügen, um Gnade zu erlangen! Dann wäre mir zwar die äußere Strafe erlassen worden, aber die zur Gigantin erwachsene Schuld in mir hätte nur um so lauter nach Rache, nach Vergeltung aufgebrüllt! Aeußerlich gerettet, innerlich aber für immer verloren, so hätte es mit mir gestanden! Ja, ich weiß es, und ich fühle es: die Gnade ist der Sühne gleich, der vollständigen Sühne. Sie hat vielleicht sogar noch größere Macht als diese Sühne; aber es ist ganz unmöglich, daß sie auf bösem Wege zu uns niederkommen kann. Wenn mir der Scheik ul Islam heut, jetzt, die Erlassung meiner Sünden und meiner Strafe brächte, ich würde sie nicht annehmen!«

»Wirklich nicht?«

»Nein; denn eine Gnade aus solcher Hand wäre nichts als Spiegelfechterei, die mich um mich selbst betrügen würde!«

»So sag, was würdest du wohl tun, wenn ein Anderer sie dir brächte? Nicht auf bösem, sondern auf gutem Wege?«

»Ein Anderer? Wer könnte das wohl sein?«

»Das weißt du nicht?«

»Nein!«

»Weil man dir weisgemacht hat, daß die Gnade nur durch ein Vermittelungsgeschäft zwischen dir und dem Schah-in-Schah zu erlangen sei! Es kann sie dir nur Einer bringen, ein Einziger, und der bist du selbst! Bleib nur nicht stehen! Geh auf dem Wege weiter, den du jetzt beschritten hast! Er ist gut, und die Augen des Schah-in-Schah sind scharf. Es bedarf keines Menschen, der sich mit seinem erlogenen Einflusse auf den Schah vor dir und Andern brüstet. Ich sage dir vielmehr, und du kannst es mir glauben, denn ich bin wohlunterrichtet: Der Herrscher kennt den Scheik ul Islam ganz genau. Die Fürbitte grad dieses Mannes wäre nicht etwa zu deinem Heile, sondern zu deinem Verderben ausgefallen. Sie hätte dich als sein Geschöpf bezeichnet und damit nur bewiesen, daß du der Gnade gar nicht würdig seist.«

Er senkte den Kopf noch tiefer als vorher. Dann hob er ihn mit einem schnellen, energischen Ruck empor und sagte:

»Also so steht es, so, so, so! Wohlan, Effendi, ich gehe diesen neuen, guten Weg! Ich gehe ihn selbst! Ich lasse mich nicht führen! Von keinem Menschen, auch nicht von dir! Allah will das Gute, nur das Gute, und er gibt jedem Menschen die nötige Kraft, es zu tun. Ich will doch sehen, ob er nicht auch mir diese Kraft verliehen hat, es zu vollbringen, ohne daß ich sie mir von Andern zu leihen und zu borgen brauche! Er sei mein Schutz und meine Hilfe, er allein, in Zeit und Ewigkeit!«

Er schluchzte. Da konnte ich mich nicht halten; ich legte ihm die Hände an beide Wangen und sprach:

»Das ist das einzig Richtige! Laß es dir nicht wieder nehmen; von keinem, keinem Menschen! Es wächst jetzt eine Säule in dir auf, in der es nie und nie so knirschen wird wie in der andern unten in dem Wasser. In ihr liegt Gottesstärke. Vertraue ihr und ihm!«

Ich ging.

»Gottesstärke –!« erklang es hinter mir. »Das war sie – das ist sie – schon jetzt, schon jetzt – die Gnade!«

Auf dem Nachhauseweg war mir nicht wohl. Ich hatte das Gefühl des Schwindels, und meine Lunge war nicht mit mir einverstanden. Meine Beine schienen Kraft verloren zu haben, obgleich ich die ganze Zeit über doch nur gesessen hatte. Ich dachte darum an nichts, als nur daran, mich schnell niederzulegen, und freute mich, als dies geschehen war, über die gute, reine Luft, welche durch Türen und Fenster freien Zutritt hatte. Aber ich konnte nicht einschlafen. Der Grund lag wohl weniger in dem, was ich gesehen und gehört hatte, denn das konnte mich nicht beunruhigen, sondern die Ursache war eine körperliche, keine geistige. Und als der Schlaf dann erst gegen Morgen kam, war er kein ruhiger und erquickender. Ich wachte von Zeit zu Zeit immer wieder auf, und weil das quälender als das Wachen war, so zog ich es vor, das Lager zu verlassen.

Als ich hierauf den Weg nach dem Brunnen hinunterstieg, fühlte ich ein wirkliches, ausgesprochenes Unwohlsein. Da traf ich Schakara. Ich sah, daß sie bei meinem Anblicke erschrak.

»Was ist mit dir, Effendi?« fragte sie hastig. »Dein Gesicht ist ganz graugelb, und deine Augen liegen tief. Du bist krank!«

»Ich war heut Nacht mehrere Stunden lang drüben im Allerheiligsten,« antwortete ich. »Das scheint mir nicht gut bekommen zu sein.«

»Mehrere Stunden lang? Im Allerheiligsten?« rief sie aus. »Diese Luft hält kein Gesunder aus, viel weniger ein Genesender! Du kannst dir sehr leicht einen Rückfall in den Typhus geholt haben, und dann, dann ist es nicht möglich, dich zu retten! Komm, wir müssen sofort zum Ustad!«

Sie führte mich hinauf zu ihm. Er hatte mein spätes Heimkommen gehört und darum auch schon Sorge gehabt. Schakara brauchte ihm gar nicht zu sagen, weshalb wir zu ihm kamen; mein Aussehen schien sprechend genug zu sein. Auch er zeigte sich, sobald wir eintraten, sofort über dasselbe bestürzt. Ich mußte mich hinsetzen und erzählen. Als ich mit meinem Berichte zu Ende war, sagte er sehr ernst:

»Effendi, was du gehört und gesehen hast, beunruhigt mich nicht im Geringsten, aber daß du gezwungen gewesen bist, die krankheitsschwangere Atmosphäre des Sacrosanctum einzuatmen, das kann Folgen nach sich ziehen, denen wir sofort vorzubeugen haben. Dein Blut ist bereits wieder mit Stoffen geschwängert, welche unbedingt entfernt werden müssen. Zum Glück ist Alles vorhanden, was wir dazu brauchen. Ich bitte dich, mich wieder als deinen Arzt zu betrachten! Denke von jetzt an nur an dich selbst, an deine Genesung; alles Andere schlage dir aus dem Sinn! Das bist du dir, mir und uns Allen schuldig!«

»Aber der Aschyk? Mein Syrr? Der verborgene Gang, welcher untersucht werden muß?« warf ich ein.

»Das ist es eben, woran du jetzt nicht denken sollst!« antwortete er. »Ich gebe dir die Versicherung, daß du dich nicht zu sorgen brauchst. Habe ich während meiner Abwesenheit dir vertraut, so vertraue du nun auch mir!«

Er hatte Recht, und so ließ ich denn mit mir machen, was er für geboten hielt. Er verordnete zunächst ein Bad, so heiß wie möglich. Während desselben hatte man mein Lager heraus auf die Plattform geschafft, damit ich nur die beste Luft atmen möge. Ein Leinendach war angebracht worden, um Schatten zu geben. Der für seine Muttersprache begeisterte Germane nennt so ein Dach »Marquise«. Dort legte ich mich nieder und trank einen Tee, welcher alle Poren öffnete und mir aber dafür die Augen schloß. Ich schlief ein.

Als ich erwachte, war es Nacht. Veilchen dufteten, drüben an der Balustrade saß Schakara, vom Monde hell beleuchtet. Ich sah, daß sie die Augen auf mich gerichtet hielt.

»Dschanneh, wo sind die Veilchen her?« fragte ich. »Im Garten und auf der Weide blühen sie nicht mehr.«

»Ich ließ sie von hoch oben holen,« antwortete sie.

»Jenseits des Alabasterzeltes hören sie gar nicht auf, zu blühen und zu duften. Du hast sehr gut geschlafen und sehr regelmäßig geatmet. Nun sag, kannst du klar und deutlich denken? Oder macht es dir Mühe, Gedanken zu fassen und festzuhalten?«

»Gar keine Mühe! Es liegt Alles bestimmt und scharf vor meinem Geiste. Ich könnte dir ohne die geringste Anstrengung jedes einzelne Wort wiederholen, welches drüben im Allerheiligsten gesprochen worden ist.«

»Das ist gut, sehr gut! Deinem geistigen Körper sind die Ansteckungsstoffe also fern geblieben, und aus dem leiblichen werden wir sie schnell wieder herausbekommen.«

»So ist also wohl kein Rückfall zu befürchten?«

»Da es so steht, nicht. Der Ustad ist derselben Meinung wie ich. Er war öfters hier; erst wieder vor einigen Minuten.«

»Nun aber schläft er wohl?«

»Schlafen? Was nennst du Schlaf, Effendi? Ich schlafe wohl auch, indem ich hier bei dir wache; aber so oft du die Augen öffnest, wirst du die meinen auch offen sehen. Du nennst mich ja Dschanneh!«

Das waren so tiefe Worte! Sie sagten so viel über Leib und Geist und Seele. Ich dachte über sie nach und schloß dabei die Augen. Da rauschte Schakara’s Gewand. Sie war aufgestanden, kam zu mir her, legte mir die Hand auf die Stirn und sagte:

»Ich fühle, daß mein Bruder denkt. Er will den Sinn ergründen, der in meinen Worten liegt. Das ist aber nicht möglich, weil er noch so viele Stufen zu steigen hat, bis er dahin kommt, wo er mich verstehen kann. Und, weißt du, vergebliches Bemühen des Geistes bereitet der Seele Schmerzen. Darum zog es mich von dort auf und zu dir her. Bitte, denke nicht mehr darüber nach! Wir gehen ja, sobald hier Alles vollendet ist, hinauf zu unserer Marah Durimeh! Das sind die Stufen, die du zu steigen hast. Sind wir oben, so wirst du sie und mich und dann wohl auch dich selbst begreifen. Jetzt schlaf – schlaf wieder ein! Dschanneh will es; du wirst es also tun!«

Ich verstand jedes ihrer Worte, war also vollständig wach. Ich fühlte, daß von ihrer Hand ein süßer Friede, eine selige Ruhe auf meine Stirn herüberfloß und sich von da aus über mein ganzes Wesen breitete, und wenn man das so deutlich, so scharf beobachtend empfindet, so kann man doch wohl nicht schon eingeschlafen sein! Und aber doch und doch – denn ich führte meine Hand zur Stirn, um sie auf die ihrige zu legen und ihr zu danken, da sagte sie:

»Effendi, ich berührte dich, um dich zu wecken. Es nahen uns Gäste, die du vielleicht gern kommen sehen möchtest.«

Die Augen wieder aufschlagend, sah ich sie im hellsten Sonnenlichte vor mir stehen. Es war fast Mittagszeit!

»Du staunst?« fragte sie, schalkhaft lächelnd. »Du wirst dich wohl noch öfters wundern, bis du weißt, was Dschanneh ist und was sie kann! Agha Sibil ist mit seiner Familie angekommen und hat schon begonnen, sein Zelt zu errichten. Und vor einigen Minuten berichtete ein Bote aus dem Grenzduar, daß deine Bagdader Freunde dort übernachtet haben und gegen Mittag hier sein werden. Wenn du sie sehen willst, darfst du aufstehen, doch nur für ein Stündchen, und ohne hinunter zu gehen oder sie heraufkommen zu lassen.«

»Kennt Agha Sibil die Zeit ihrer Ankunft?«

»Nein, wir verschwiegen es ihm. Er wird zwar in seinem Zelte wohnen, ist aber für heute Mittag unser Gast. Wir richten es so ein, daß ihn sein Schwiegersohn hier in der Halle beim Essen überrascht.«

»So stehe ich freilich auf und mache es wie Hadschi Halef, der sich jedenfalls auch ganz vorn aufs Dach postieren wird, um unseren „früheren Bimbaschi und jetzigen Mir Alai“ zu begrüßen.«

»Und ob er das tun wird!« antwortete sie heiter. »Er sitzt wohl schon jetzt bereit, denn Hanneh war im Hofe, als der Bote kam, und hat es ihm sofort berichtet. Der Ustad ist mit Dschafar Mirza dem Mir Alai entgegengeritten. Errätst du, auf welchem Pferde?«

»Auf der Sahm?«

»Nein, sondern auf dem Assil Ben Rih.«

»Wirklich, wirklich?« fragte ich, nicht verwundert und nicht erstaunt, aber außerordentlich erfreut.

»Ja; er hat den Rappen gleich schon gestern vorgenommen, als du hier oben eingeschlafen warst. Er muß sich doch für den Fall vorbereiten, daß du auf jede Teilnahme am Rennen zu verzichten hast, und grad auf Assil sind Hoffnungen gesetzt, die wir nicht täuschen dürfen. Jetzt gehe ich hinab, um dir dein Frühstück zu bereiten und Syrr für dich mit Aepfeln zu erfreuen.«

»Syrr! Daß ich nicht zu ihm hinunterdarf!«

»Sorge dich nicht um ihn. Er steht in meiner ganz besonderen Pflege und – er denkt an dich.«

Ich lächelte. Da fuhr sie fort:

»Er war während des gestrigen Tages unruhig, weil er dich nicht zu sehen bekam. Am Abend wollte er sich nicht niederlegen. Da holte ich deine Kamelhaardecke, unter welcher du so oft geschlafen hast. Ich hielt sie ihm zusammengefaltet vor die Nüstern. Da schnaubte er froh und leckte mir dankbar die Hand; hierauf tat ich sie auf den Boden, doch ohne sie auszubreiten. Da ließ er sich sogleich nieder und legte den Kopf auf sie. Als ich heute früh wiederkam, lag er noch ebenso und hatte aber den Kopf bis an die Augen in die Decke hineingewühlt. Und schau hierher!«

Sie ging dorthin, wo meine arabische Jacke lag, und zog drei Aepfel aus jedem Aermel.

»Die bringe ich ihm jetzt hinab,« sagte sie. »Das habe ich gestern zweimal und heut auch schon einmal getan. Diese frißt er; aber andere mag er nicht, auch wenn sie von demselben Baume sind. Nun wirst du glauben, daß er dich nicht vergessen hat.«

Sie ging. Als sie fort war, stand ich auf. Da sah ich denn, daß man unten am See sehr fleißig gewesen war. Man hatte am Fuße des nördlichen Berges die für uns bestimmte Tribüne vollständig fertiggestellt. In ihrer Nähe wurde jetzt das große Verkaufszelt Agha Sibils errichtet. Auf den höchsten Punkten der umliegenden Gebirgszüge waren Leute beschäftigt, mächtige Holzstöße für die geplante Höhenbeleuchtung aufzuhäufen. Auch an tiefer liegenden, aber hervorragenden Punkten wurde das Gleiche getan. Um den See kreisten die verschiedensten Reittiere in lebhaftester Uebung. Kamele trugen Holzscheite zum Beit-i-Chodeh hinauf, denn auch der Tempelplatz sollte erleuchtet werden. Was ich von meinem Dache aus nicht sehen konnte, schloß ich aus dem Umstande, daß ich viele auch mit Brennstoff beladene Maultiere und Esel auf dem steilen Pfade nach dem Alabasterzelte erblickte: Dort sollten ebenfalls die Festesflammen lodern.

Ein Teil der Tribüne war jetzt von der Dschemma besetzt, welche sich unter dem Vorsitze des Pedehr in einer, wie es schien, sehr wichtigen Beratung befand. Vor ihr hielten wohl über zwanzig mir unbekannte, sehr wohlbewaffnete Männer, welche von ihren Pferden gestiegen waren und dem Chodj-y-Dschuna zuhörten, der eifrig zu ihnen sprach. Das waren die Anführer der verschiedenen, nicht seßhaften Abteilungen des Dschamikun, die von unserm »Kriegsminister« ihre Instruktion entgegennahmen. Zu meiner Genugtuung bemerkte ich dort auch den Scheik der Kalhuran, der also nun genesen war und sich wieder an die Spitze seiner mit uns verbündeten Krieger stellen konnte.

Grad unter mir erschien jetzt Schakara, welche nach dem Weideplatze ging, um Syrr die Aepfel zu bringen. Er nahm einen nach dem andern, langsam und prüfend, nachdem er jeden vorher erst berochen hatte. Sie schaute zu mir herauf und nickte mir zu. Als der letzte verzehrt worden war, faßte sie den Kopf des Glanzrappen und richtete ihn so, daß er nach oben, herauf zu mir sehen mußte. Ich hatte die Jacke angezogen und den Fez aufgesetzt. Um den Blick des Pferdes auf mich zu lenken, bewegte ich die Arme. Syrr sah es; er stutzte. Seine Ohren begannen zu spielen; der prächtige Schweif wurde gehoben. So stand er eine kleine Weile prüfend still; dann schob er die Vorderbeine breit auseinander und schmetterte mir ein so frohes Wiehern herauf, daß gar nicht daran zu zweifeln war: er hatte mich erkannt. Aber hiermit war es noch nicht genug; er jubelte wieder und wieder, so daß ich mich gezwungen fühlte, zurückzutreten und mich seinem Auge zu entziehen, damit seine weithin schallende Stimme nicht die Aufmerksamkeit Unberufener auf ihn lenken möge.

Während ich dann frühstückte, richtete Schakara mir einen so hohen Sitz her, daß ich über die Brüstung hinunter in den Hof sehen konnte, ohne stehen zu müssen. Hierauf ließ sie mich allein, weil ich es so wünschte. Der Mittag war nahe. Da kam Agha Sibil mit den Seinen. Sie wurden in die Halle gewiesen.

Nur kurze Zeit später bemerkte ich, daß im Duar eine Bewegung entstand, die sich südwärts richtete. Sie galt den Bagdader Gästen, welche nun eingetroffen waren. Der kleine Zug kam den Berg herauf und dann durch das Tor geritten. Voran der Ustad und der Mirza, in ihrer Mitte mein alter Freund, der Mir Alai. Hinter ihnen einige Packpferde mit den Effekten des Offiziers. Hierauf ein Kamel mit der größten Sänfte, welche man hatte auftreiben können. Sie war rundum verhangen. Wer nicht wußte, wer drin saß, mußte also denken, daß es sich um etwas »ewig Weibliches« handle. Hintendrein die Dschamikun, welche den Besuch geholt hatten.

Weil die Aufmerksamkeit des Agha Sibil nicht sofort auf die Ankömmlinge gelenkt werden sollte, war befohlen worden, ihr Eintreffen hier oben in aller Stille und möglichst unbeachtet geschehen zu lassen; aber die liebe Neugierde hatte trotzdem zwei Personen herbeigezogen, die sich den ersten Anblick der Erwarteten auf keinen Fall versagen wollten – Tifl und Pekala.

Als die ersten drei Reiter zum Tore hineinkamen, flog der scharfe Blick des Ustad zu mir herauf. Er sah mich. Ich winkte ihm schnell, den Polen nicht auf mich aufmerksam zu machen. Er nickte mir zu, daß er mich verstanden habe. Dann legte er beide Schenkel an, stemmte die Hände in die Seiten und ließ Assil in der prächtigsten Natnata el mutarid, die ich jemals gesehen habe, über den Hof hinüber und nach der Weide gehen, wo er abstieg. Er tat dies meinetwegen. Ich sollte sehen; daß Assil bei ihm gut aufgehoben sei. Wer eine so schwere Natnata in so meisterhafter Weise zu reiten vermag, dem kann man auch das kostbarste Pferd gern anvertrauen.

Dschafar Mirza und der Mir Alai stiegen ab. Der Erstere war unterrichtet. Er nahm den Letzteren bei der Hand und führte ihn nach der Halle, in welcher es gleich darauf sehr laut zu werden begann. Auch die begleitenden Dschamikun waren abgestiegen, um sich zunächst mit den Packpferden zu beschäftigen. Da rief ihnen Pekala zu:

»Und das Kamel laßt Ihr stehen? Man sieht doch, daß eine vornehme Harema drin sitzt! Soll diese Madama etwa warten, bis es Euch beliebt?«

Die Angeredeten lachten! Darum wendete sie sich an Tifl und sagte:

»Gib dem Kamele das Zeichen zum Niederknieen; du verstehst das besser als ich! Die Madama darf von keiner Männerhand berührt werden. Ich werde ihr also selbst heraushelfen.«

Tifl tat, wie ihm befohlen worden war; das Kamel gehorchte. Die hohe Sänfte bekam die drei bekannten, fürchterlichen Rucke; dann lag sie wieder still. In ihrem Inneren grunzte es. Pekala schob den Seitenvorhang auf, schaute hinein und meldete dann:

»Sie schläft. Aber ich muß sie wecken, sie mag es mir übelnehmen oder nicht.«

Sie griff hinein und zupfte am Gewande. Da bewegte es sich drin.

»Ich bitte dich, steig aus; du bist am Ziel!« rief sie hinein. »Du brauchst nur langsam herabzurutschen; ich helfe dir dabei!«

Indem sie das sagte, trat sie einen Schritt zurück und breitete die Arme weit aus, um ihr Versprechen wahr zu machen. Da ächzte es in der Sänfte; da stöhnte es; da murmelte es. Dann kamen zwei große, rote Pantoffel zum Vorscheine. Ein weites, faltenreiches Gewand wurde Falte um Falte herausgestopft. Man erkannte trotz dieser Falten die Umrisse von zwei Knieen. Hierauf wurde die Sache immer breiter und immer umfangreicher. Nun entwickelten sich mit Mühe und Not zwei Arme. Ueber ihnen erschien ein rotes, gelb befranstes Keffije, welches vorn nur um eine Lücke geöffnet war. In dieser Lücke gab es einen Mund und eine Nase; sonst sah man weiter nichts.

Jetzt war die »Madama« auf dem »toten Punkte« angekommen. Sie lag im vollsten Gleichgewicht mit dem Rücken auf der unteren Sänftenkante. Der nächste Augenblick hatte darüber zu entscheiden, ob sie herunterrutschen oder rücklings wieder hineinfallen werde. Da bat die Festjungfrau in ermunterndem Tone:

»Fasse Mut. Gieb dir nur noch den einen kleinen Ruck, dann sinkst du grad in meine Arme. Ich fange dich auf!«

Das half! Der »Ruck« stellte sich ein. Was von der Gestalt noch in der Sänfte steckte, das quoll vollends heraus. Die Sache kam in Schuß. Zuerst die Pantoffel, doch allerdings separat. Dann tat es einen gewichtigen Plumps. Die Masse stand auf den nackten Füßen, genau zwischen den beiden Pantoffeln. Sie wankte hin und her, ungewiß, nach welcher Seite sie sich zu neigen habe. Die Arme streckten sich aus, um sich irgendwo festzuhalten. Da trat Pekala schnell wieder näher, und im nächsten Augenblicke hielten sich Beide innig umschlungen, so fest und so lange, als ob sie nie, nie wieder von einander lassen dürften. Erst nach einer Weile klang es aus der Umarmung heraus:

»Wie glücklich bin ich, daß du gekommen bist! Niemand soll dich mir wieder nehmen! Komm mit mir, du Liebling meiner Seele! Ich führe dich in meine Küche!«

»Küche – Küche – Küche?!« fragte es da schnell und dreimal hinter einander.

»Ja. Beeile dich, sonst nimmt man dich mir weg!«

»Mich? Dir? Niemals, niemals, niemals! Komm schnell; ich habe Hunger – Hunger – Hunger!«

Die Umarmung ging nur halb auseinander. Die Hände hielten wie unzertrennlich zusammen. So schritten beide, eng aneinander geschmiegt, die eine Gestalt strahlend vor Wonne und Glück, die andere unter dem Keffije hustend und pustend, in seliger Eintracht über den Hof hinüber, um in der Sphäre zu verschwinden, der sie mit Leib und Seele angehörten. Ich aber lächelte ihnen mit innigster Befriedigung nach. Wer seinen Lebenszweck im niedern Stoffe sucht, den läßt man gern in diesem Stoff verschwinden!

Tifl stand da und schaute die Pantoffel an. Sie lagen noch da, weil Kepek, der Dicke, vor Freude über das Wort »Küche« gleich barfuß fortgelaufen war. Das »Kind« machte ein höchst bedenkliches Gesicht und kratzte sich unter der Spinnenmütze. Er war mit irgend Etwas nicht einverstanden, aber womit, das sagte er den Pantoffeln nicht. Er hob sie schließlich auf, betrachtete sie hin und her, warf sie wieder hin, hob sie abermals auf, schüttelte den Sand heraus und trug sie dann langsamen Schrittes nach der Küche, den einen in der rechten und den anderen in der linken Hand, beide aber nur mit den äußersten Fingerspitzen festhaltend.

Da kam der Ustad durch den Garten.

»Wie geht es dir?« fragte er zu mir herauf.

»Gut, sagte Schakara,« antwortete ich.

»So darf ich ruhig nach der Halle gehen?«

»Ganz unbesorgt. Widme dich deinen Pflichten und deinen Gästen. An mich soll man nicht denken, doch grüße den Mir Alai von mir!«

Hierauf sah ich Schakara nach der Weide gehen. Sie fütterte den Syrr und dann auch den Assil Ben Rih, nachdem sie ihm das Reitzeug abgenommen hatte.

Einige Zeit später erschienen vier fremde Reiter auf dem Hofe, welche nach dem Ustad fragten. Sie waren Dinarun, wie ich nachher erfuhr. Ihr Scheik Ben Hidr befand sich selbst dabei. Sie waren unten im Duar von dem Pedehr als vermutliche Feinde sehr kurz behandelt und herauf an den Ustad gewiesen worden. Darum stiegen sie gar nicht ab, als dieser aus der Halle trat, und Ben Hidr rief ihm in beinahe verletzender Weise die Meldung zu, daß sie gekommen seien, ihre Teilnahme am Wettrennen anzusagen, weiter nichts! Jeder Andere als der Ustad hätte sie nun in ganz derselben Weise sofort entlassen. Dieser aber war menschenfreundlich und klug genug, sich zu beherrschen. Er ging auf sie zu, reichte ihnen die Hand und lud sie ein, mit hinauf in seine Wohnung zu kommen. Das überraschte sie. Sie sahen einander fragend an und sprangen dann doch von ihren Pferden, um ihm zu folgen.

Sie waren wohl zwei Stunden lang bei ihm in seinem Zimmer. Auf den Balkon führte er sie nicht, weil sie Syrr nicht sehen sollten. Ich hatte mich inzwischen wieder niedergelegt und hörte ihre Stimmen unter mir, konnte aber nicht verstehen, was gesprochen wurde. Als sie sich entfernt hatten, kam er herauf zu mir und sagte mir, wer diese Leute gewesen seien und was er mit ihnen verhandelt habe.

»Das sind die sogenannten Klugen,« fügte er hinzu. »Sie lächeln nach beiden Seiten und sagen einstweilen zu Allem „Ja“, um abzuwarten, nach welcher Seite sich der Zeiger neigen werde. Dann aber sind sie die Schlimmsten, die Unerbittlichsten, die keine Schonung kennen. Ich bin überzeugt, daß sie unsern Feinden ihre Hilfe zugesagt haben, und daß sie aber dennoch heut zu uns kamen, um nachzuschauen, ob es nicht vielleicht doch geraten sei, sich den Weg zum Rückzuge offen zu halten. Ich habe sie bedient, wie man so unsichere Kantonisten zu bedienen hat: Kein Wort zu wenig, aber auch keins zu viel. Sie werden sich zum Rennen einstellen; ob sie sich aber dann auch beteiligen, steht noch in Frage. Erst waren sie zornig über den Empfang, den sie im Duar gefunden hatten; dann wurden sie immer freundlicher und zutraulicher, um von mir so viel wie möglich zu erfahren, was ihnen aber natürlich nicht gelang, und zuletzt bot mir Ben Hidr die Hilfe seines ganzen Stammes an, die ich aber sehr höflich ablehnte, weil ich an die Feinde, von denen er gesprochen habe, unmöglich glauben könne. Noch am Schlusse behauptete ich mit aller Bestimmtheit, daß es ganz gewiß keinen einzigen Menschen gebe, der die Absicht habe, uns hier zu belästigen oder gar zu überfallen. So sind sie also in der festen Ueberzeugung fortgeritten, daß wir von der Gefahr, die sich in diesen Tagen um uns zusammenziehen soll, nicht das Geringste ahnen. Aber ich habe ihnen die goldene Karte des Schah-in-Schah gezeigt und sie dann noch viel Wichtigeres ahnen lassen. Nun haben sie Angst!«

Wir unterhielten uns noch einige Zeit, besonders über Assil Ben Rih, für den er ganz begeistert war. Dann kam Schakara, um mir die Grüße des Mir Alai zu bringen. Er ließ mir sagen, er sehe nun ein, daß es nichts Herrlicheres gebe als so einen Glauben und so ein unerschütterliches Gottvertrauen, dem nichts auf Erden widerstehen könne.

Sehr erfreulich war es mir, daß der Ustad sich über mein Befinden höchst befriedigend äußerte, doch behauptete er, mich erst Freitag, also übermorgen, aus seiner Behandlung entlassen zu können. Ich hatte mich zu fügen und tat es gern.

Als es dunkel werden wollte, nahm ich mein Abendessen ein und sank dann dem auch in Kurdistan und Persien sehr wohlbekannten Morpheus in die Arme. Er hielt mich möglichst fest, konnte es aber doch nicht verhindern, daß ich, grad wie gestern in der Nacht einmal für kurze Zeit erwachte. Das geschah auf eine ganz eigentümliche Weise. Ich träumte nämlich nicht, und doch war es, als flüstere mir Jemand leise in das Ohr, aber nicht in das äußere, sondern in das innere:

»Wache auf! Ich komme nur für einige Augenblicke wieder, um dir Etwas zu zeigen, worüber du dich herzlich freuen wirst!«

Das hörte ich ganz deutlich. Da schlug ich die Augen auf. Die Sterne leuchteten hell. Ich schaute hinüber, wo Schakara gesessen hatte. Da kniete Einer im Gebete. Er hatte die gefalteten Hände auf die Ballustrade gelegt und das Gesicht emporgehoben. Ich erkannte ihn. Ich sah sogar, daß er die Lippen bewegte. Es war der Aschyk. Ich wußte genau, daß ich wach sei, und doch hörte ich die leise Stimme in meinem Ohre weitersprechen:

»Er betet für dich! Das ist der beste Dank, den wir in Euerm Erdenleben kennen. Schlaf wieder ein!«

Weiter vernahm ich nichts. Die Lider wurden mir plötzlich so schwer, daß sie niedersanken. Dann wußte ich nichts mehr, weder von mir noch von sonst Etwas. Man nennt das »Schlaf«. Das richtige Wort hierfür hat sich erst noch zu finden!

Dann war es, grad auch wie gestern, gegen Mittag, als ich wieder erwachte. Jetzt saß Schakara da. Sie sah mich an, nickte mir lächelnd zu und sagte:

»Noch eine solche Nacht, Effendi, dann ist die Gefahr vollständig überstanden.«

»Hast denn auch du dich ausgeruht?« fragte ich.

»Ich wollte nicht. Dschanneh wacht gern für dich. Ich saß schon hier. Da kam der Aschyk vom Glockenwege herüber. Er hatte Einiges für dich aufgeschrieben und wollte es dir in das Zimmer legen. Er bat so nachhaltig und so rührend, meine Stelle hier einnehmen zu dürfen, daß ich es ihm erlaubte. Bist du mir bös darüber?«

»O nein! Ich wachte auf und sah ihn beten. Dann schlief ich sogleich wieder ein.«

»Und ich kam gegen Morgen wieder, als er fort mußte. Da sagte er mir, daß er für dich gebetet habe. Es sei dann ein Gefühl des Glückes über ihn gekommen, wie fast noch nie in seinem ganzen Leben.«

»Wo ist das, was er für mich aufgeschrieben hat?«

»Ich trug es dem Ustad hinunter, weil du mit solchen Dingen jetzt noch nicht behelligt werden sollst. Horch! Was ist das für ein Rufen im Hofe? Es kommt Jemand, den man begrüßt.«

Sie stand auf und schaute hinab.

»Kara Ben Halef!« fuhr sie fort. »Aber der Reitknecht des Mirza ist nicht bei ihm, sondern ein Anderer. Man sieht ihm an, daß er kein Diener, sondern ein Herr ist, und zwar ein vornehmer. Kara ist stehend abgesprungen; das andere Hedschin aber muß sich legen, damit der Fremde bequem herunter kann. Jetzt kommt der Ustad. Er staunt, doch ist sein Erstaunen ein freudiges. Sie kennen einander. Ihre Begrüßung ist eine herzliche. Jetzt schaut der Ustad herauf. Er sieht mich. Er winkt, daß ich kommen soll. Ich muß also fort, Effendi, werde dir aber bald berichten.«

Sie ging. Es dauerte über eine Stunde, ehe sie wiederkam. Sie hatte dem neuen Gaste die im Wartturme unter Dschafars Wohnung liegenden Gemächer herrichten müssen. Nun sagte sie:

»Es ist ein Hauptmann der kaiserlichen Leibwache. Er besitzt das Vertrauen des Schah-in-Schah und wurde von ihm gesandt, um sich unter den Befehl des Ustad zu stellen. Es kommen hundert Mann der Leibgarde nach, lauter auserlesene Krieger, die hoch im Range stehen. Der Reitknecht des Mirza wird ihr Führer sein, weil er den Weg nun kennt. Kara ist sehr gut aufgenommen und auch mit einem Ehrenkleide beschenkt worden. Er hat ein eigenhändiges Schreiben an den Ustad mitgebracht und der Hauptmann ein ebensolches an Dschafar Mirza. Den Inhalt wird dir der Ustad selbst mitteilen. Jetzt speisen sie. Dann wird ein weiter Außenritt rund um das Tal gemacht, denn der Hauptmann will hinter den Bergen rekognoszieren, weil dies jetzt noch unbemerkt geschehen kann. Die Gegner sollen nämlich erst im letzten Augenblick erfahren, wer er ist und wozu er sich bei uns befindet. Der Ustad wird jetzt nicht zu dir kommen. Ich habe ihm Bericht über dein Befinden erstattet und soll dir sagen, daß du dich als genesen betrachten darfst. Doch hat er Gründe, zu wünschen, daß du noch für krank gehalten wirst. Er läßt dich also bitten, dich den Leuten so wenig wie möglich zu zeigen, bis er dich hier aufsucht und dir Alles sagt. Er gab mir eine große, starke Papierrolle mit, die ich dir herein auf den Tisch gelegt habe. Es sei, um dich zu beschäftigen, meinte er.«

Jawohl, es war eine Beschäftigung, und zwar was für eine! Als Schakara wieder gegangen und ich aufgestanden war, öffnete ich die Rolle, welche aus mehreren größeren und kleineren Blättern bestand. Das erste große Blatt war eine Federzeichnung, welche die jetzige westliche Seite des Sees darstellte, von der Mitte desselben aus gesehen. Unten der Duar, links der Weg nach dem Tale des Sackes und rechts der Pfad nach den Gebieten der Takikurden und der nördlichen Dschamikun. In der Mitte, am Berge aufsteigend, die Ruinen, trotzig, düster, verschwiegen, ohne eine Spur innern oder äußern Lebens. Südlich von ihnen das Haus des Ustad, auf hoher Gigantenmauer, den Stürmen ausgesetzt. Von ihm ausgehend der Glockenpfad hinauf zum Alabasterzelt. Indem ich dieses Blatt betrachtete, kam mir der Gedanke, es zeige viel zu viel und dennoch fehle Alles! Ich griff also zum zweiten.

Was sah ich da? Nicht mehr die massige Materie, sondern an ihrer Stelle das Geistige, das Seelische. Die Veränderung erstreckte sich nur auf die Ruinen, und doch hatte sie alles Fehlende gebracht. Die Hand des Menschen hatte dem Gestein eine andere Gestalt und mit ihr ein neues Leben gegeben. Da, wo jetzt der Landeplatz lag, führten hier sehr breite Stufen durch die geöffnete Mauer nach dem freien Platze, der durch den Wegfall der Etagen entstanden war. Rosen, viele Rosen, nichts als Rosen blühten hier, grad wie drüben vor dem Beit-y-Chodeh. Alle Wege, die es zwischen ihnen gab, führten nach einer gradezu imposanten, prächtigen Säulenhalle, zu deren Bau die sämtlichen Kolossalquader der Ruinen verwendet worden waren. Ich dachte an Baalbek, an den Kailafa von Ellora, an die aztekischen Teocalli; aber alle diese berühmten Bauten schienen von dieser einen Halle in den Schatten gestellt zu sein. Ihr Hintergrund bildete eine hohe, runde, dunkle Nische mit einem Riesenpostamente, welches jedenfalls bestimmt war, eine entsprechend große Figur zu tragen.

Die Halle trug kein eigentliches Dach, sondern, ähnlich wie die schwebenden Gärten der Semiramis, eine zweite, umfangreiche Blumenanlage, aus welcher zu meinen frohen Erstaunen ganz genau jenes kleine Dorfkirchlein emporstieg, dessen Bild in meiner Schlafstube hing, darunter die kindlich einfachen Worte:

»Kirchlein mein, Kirchlein klein,
Könnt so fromm wie du ich sein!
Deine Höhe zu erreichen,
Will ich dir an Demut gleichen.
Kirchlein mein, Kirchlein klein,
So wie du will stets ich sein!«

Man sollte denken, daß diese kirchliche Bescheidenheit sich auf so gigantischer Unterlage gradezu lächerlich habe ausnehmen müssen; das war aber keineswegs der Fall. Es schien mir vielmehr ganz im Gegenteile, als ob es gar nicht anders sein könne. Ein von Gottes Felsen getragenes Menschenwerk wird nur dann lächerlich, wenn es sich mit dem Anscheine brüstet, auch aus Gottes Felsen zu bestehen!

Das war die Mitte des Berges, von dessen Höhe, genau über der Spitze des Kirchturmes, das Alabasterzelt herniederschaute. Auf den beiden Flanken lagen in fruchttragenden Gärten zwei villenähnliche, freundlich blickende Häuser. Unter dem einen war das Wort »Pfarrhaus«, unter dem andern aber »Schulhaus« zu lesen.

Die übrigen Blätter enthielten die architektonischen Risse und Zeichnungen zu diesen drei Gebäuden. Sie interessierten mich dermaßen, daß ich mich sofort hinsetzte und sie zu studieren begann. Zu einer so klaren, liebevollen Beantwortung alter, düsterer Ruinenfragen kann man doch wohl keinen Augenblick lang gleichgültig sein! Ich ließ mich darum nur kurze Zeit durch das Essen stören und saß noch gegen Abend rechnend, messend und kalkulierend da, als der Pedehr kam, um, wie er sagte, mir etwas Wichtiges mitzuteilen.

Es war nämlich ein Bote dagewesen, welcher gemeldet hatte, daß der Scheik ul Islam und Ahriman Mirza gemeinschaftlich und in höchster Eintracht mit einander den hochverdienten Ghulam el Multasim zum Ustad der Taki-Kurden ernannt hätten. Man gebe uns das zu wissen, weil er beim Rennen auch erscheinen werde und dieser seiner Würde entsprechend von uns zu empfangen und zu behandeln sei. Unser Ustad war von seinem Ritte noch nicht heimgekehrt, und so hatte der Pedehr es für geboten erachtet, diese Neuigkeit herauf zu mir zu bringen. Ich sagte ihm:

»Das hat nicht die geringste Wichtigkeit für uns. Man mag diesen »Henker« zum Kaiser von China oder gar zum Dalai Lama ernennen, so ist es uns doch im höchsten Grade gleichgültig. Er kann dem Schicksale, welches er sich selbst bereitet hat, durch keine Spiegelfechterei entgehen. Er griff zum Messer, um mich zu vernichten. Womit man sündigt, damit wird man bestraft. Wir haben es noch hier, unten in der Rumpelkammer. Warten wir ruhig ab, was geschieht!«

Da ging er wieder. Hätte mich Jemand gefragt, warum ich ihn grad mit diesem Bescheide gehen ließ, so wäre es mir wohl nicht gelungen, eine zufriedenstellende Erklärung abzugeben. Es soll vorkommen, daß der Mensch grad dann am klarsten spricht, wenn er sich selbst ein Rätsel ist!

Bald darauf sah ich, daß der Ustad mit dem Hauptmann heimkehrte. Er ließ sich nach dem Abendessen für kurze Zeit bei mir sehen. Wir sprachen nur über den geplanten Kirchenbau; alles Andere wurde vermieden. Doch bevor er ging, sah er mir lächelnd in das Gesicht und sagte:

»Ich belästige dich nicht mit Dingen, die ich verpflichtet bin, auf mich selbst zu nehmen. Du sollst nicht Arbeiter sein bei mir, sondern mein lieber, hochwillkommener Gast, den ich nur dann mit der Bitte um Hilfe belästige, wenn ich sie nötig habe. Die geistige Gastfreundschaft hat genau dieselben Rücksichten zu nehmen wie die materielle. Ich weiß, daß du verstehst, was ich meine, und bin deiner Approbation gewiß!«

Da reichte ich ihm die Hand und antwortete:

»Du denkst da ebenso tief wie richtig. Du fragtest mich früher einmal, wer ich eigentlich sei; jetzt höre ich, daß du es weißt. Wollte man doch endlich einmal begreifen, daß der soi-disant Menschengeist kein Spezialblock ist, an dem die sogenannte Erziehung herummeißeln kann, wie es ihr beliebt! Wir sind mit einander verbunden und dennoch nicht nur Einer. Sobald du mich brauchst, bin ich du!«

Er sah mich an, sann einige Augenblicke nach, nickte dann und sprach:

»Sehr richtig! Du treibst doch immer und immer Psychologie! Bisher war ich mir ein Rätsel. Kamst du, um mich zu lösen?«

»Ein Jeder löse sich selbst! Er hat ja Augen und Ohren und um sich herum eine ganze, ganze Welt, die ihn über sich selbst belehren soll und kann! Jetzt, gute Nacht, mein Freund. Du hast außer mir noch andere Gäste, deren Hände gestalten helfen, was zu gestalten ist. Hoffentlich sind es nur gute!«

»Sie sind es. Mit den bösen rechnen wir in den nächsten Tagen ab. Du hörst, ich psychologiere nun auch!«

Soll ich nun wieder erzählen, daß und wie ich geschlafen habe? Es ist eigentlich eine Schande, von Tag zu Tag sagen zu müssen, daß man erst gegen Mittag aufgewacht sei; aber ich muß dieses Geständnis schon wieder machen, wünsche aber, zum letzten Male. Jedenfalls war mir dieses ausgiebige Schlafen sehr nötig gewesen; der Erfolg bewies es mir. Nun aber war es genug! Ich ging hinab, ohne erst um Erlaubnis zu fragen.

Zu wem? Natürlich zunächst zu Syrr, nach welchem ich mich förmlich sehnte. Wer aber kam da eiligen Schrittes gelaufen? Der Ustad!

»Willst du gleich wieder hinauf!« lachte er. »Schau dir die Welt von oben an! Unten darf man ja noch gar nicht wissen, wie gesund und energisch du bist!«

»Ja, richtig; daran hatte ich gar nicht gedacht! Aber arretiere mich nicht sofort, sondern erlaube mir, Syrr vorher einige Aepfel zu holen!«

»Das werde ich tun, und zwar bringe ich seine Lieblingssorte. Schakara hat sie mir verraten.«

Während er nach dem Garten ging, war es gradezu rührend für mich, zu sehen, wie der Glanzrappe sich darüber freute, daß ich wieder einmal bei ihm war. Er gab mir das nicht etwa in drolliger Weise zu erkennen, sondern so still, so ruhig, fast möchte ich sagen, so innig oder so herzlich, als ob es eine menschliche Anmaßung sei, daß Tiere absolut keine Seele haben sollen. Man pflegt ihnen höchstens sogenannte »psychische Funktionen« zu gestatten. Nun wohlan, die psychischen Funktionen meines Syrr waren ehrlich, aufrichtig und ohne eine Spur von Falschheit oder Verstellung. Hoffentlich ist das bei den Menschenseelen in entsprechend höherem Grade ebenso der Fall!

Als er wiederkam, reichte er Syrr einen der Aepfel hin. Das Pferd roch die Frucht gar nicht einmal an. Es legte die Ohren nach hinten und wich einige Schritte zurück. Der Ustad tat einen zweiten Apfel zu dem ersten und folgte nach. Syrr ging abermals rückwärts, und der Ustad avancierte wieder, ihm die Aepfel hinhaltend. Da drehte sich der Rappe um und hob den hintern Fuß, zum Zeichen, daß er sich nun wehren werde.

»Was? Schlagen will er mich!« verwunderte sich der Ustad. »Er ist also wirklich edler als Assil, der keinen Unterschied macht zwischen mir und dir!«

»Ja. Der höchste Adel zeigt sich eben darin, daß er distinguiert, nicht aber in den Fransen und Quasten, mit denen der Herr ihm Zaum und Sattel behängt. Teilen wir die Früchte zwischen beide Pferde!«

Wir taten es. Der Ustad gab Assil die eine Hälfte; die andere bekam Syrr von mir. Er nahm sie jetzt ohne Weigern, und ich liebkoste ihn dafür. Indem wir dann fortgingen, sagte der Ustad:

»So; nun gehst du wieder hinauf, doch nicht, ohne daß ich dich für deine Folgsamkeit belohnen werde. Du sollst dich am Tage so wenig wie möglich zeigen; aber heut Abend reiten wir im Dunkel mit Kara zusammen nach dem Dschebel Adawa, um zu versuchen, Etwas über die dortige Zusammenkunft zu erfahren. Ist dir das recht?«

»Sogar sehr, falls du glaubst, daß ich nicht zu schwach zu diesem Ritte bin.«

»Zu schwach?« fragte er lächelnd. »Nach einer so ausgiebigen Schlafmützigkeit? Uebrigens wird es interessant, auch wenn wir nichts Neues sehen und hören. Du reitest den Syrr, ich den Assil und Kara den Barkh. Das gibt heimwärts ein Vorrennen, welches uns zeigen wird, wie weit wir in unsern Berechnungen gehen dürfen.«

Ich war mit dem geplanten, abendlichen Ritte natürlich sehr gern einverstanden. Man wird sich erinnern, daß der Fürst der Schatten seine Päderan für heut um Mitternacht nach dem Dschebel Adawa, dem »Berge der Feindschaft«, bestellt hatte, um ihnen seine letzten Weisungen zu erteilen. Zwar kannten wir die Stelle nicht, an welcher diese Unterredung stattfinden sollte, doch bot uns der alte Hollunderbaum, in dem Kara die Agraffe gefunden hatte, einen Halt, den wir benutzen konnten. Als ich das dem Ustad jetzt sagte, antwortete er:

»Das ist ganz derselbe Gedanke, den auch ich verfolgen will. Ahriman Mirza wird kommen, um seine Agraffe abzuholen. Wenn wir uns vorher dort verstecken und ihm dann heimlich nachschleichen, wird er unser Führer sein, ohne es zu ahnen.«

»Aber die Gefahr, in welche wir uns begeben?«

»Gefahr? Wie drollig dieses Wort klingt, wenn man es aus deinem Munde hört! Wo du nicht ängstlich bist, kann ich es doch ebensowenig sein. Uebrigens bewaffnen wir uns gut und legen andere Kleider an.«

»Welche?«

»Die Anzüge vom Schah. Ich habe ja auch einen. Du sagtest, Ahriman Mirza sei genau so gekleidet gewesen. Er wird es wahrscheinlich wieder sein. Ich glaube zwar nicht, daß man uns sehen wird. Aber sollte es doch geschehen, so wird man vermuten, daß wir zu der persischen Begleitung gehören, die mit ihm bei den Taki angekommen ist. Es ist dann sogar möglich, daß man glaubt, er selbst habe – Ah,« unterbrach er sich da, »vielleicht ein guter Gedanke: Ich nehme seine Reitpeitsche mit, in welcher die schwarze Larve steckt! Kommt dann noch die Agraffe dazu, so kann man jede Gefahr in ihr gerades Gegenteil verwandeln, indem man sich für den Aemir-y-Sillan ausgibt. Meinst du nicht auch?«

»Welch eine Idee! Woher mag sie dir gekommen sein? Derartige Gedanken sind niemals Sondergeburten irgend eines menschlichen Gehirnes, sondern sie stammen aus einem verborgenen Zusammenhange, in welchem ihre Resultate vorherberechnet werden und dann einzufügen sind. Tue es, mein Freund, tue es! Ich bin überzeugt, daß du damit einer Absicht folgst, die weiter schaut als wir.«

Er ging, und ich stieg zu mir hinauf. Wie kam es doch nur, daß ich nun während des Tages so oft an diese unsere Verkleidung denken mußte? Ich legte sie an und wieder ab – um sie zu probieren, redete ich mir ein. Der Mensch sieht eben nicht weiter, als er kann! Als Schakara mir das Abendessen brachte, lächelte sie mich verständnisvoll an. Ich hatte mich nämlich schon umgezogen, und sie kannte den Grund, der ihr vom Ustad mitgeteilt worden war.

»Sobald du gegessen hast, wird er kommen, um dich abzuholen,« sagte sie. »Die Pferde werden von Kara heimlich gesattelt.«

»Mein Syrr aber nicht,« fiel ich ein. »Sage ihm das! Ich tue es selbst. Bereithalten mag er das Zeug; angelegt wird es nur von mir.«

Ich hatte meine geladenen Revolver bereitgelegt. Als der Ustad kam, steckte ich sie zu mir. Er war der Verabredung nach gekleidet und hatte den langen Bart unter den Anzug geknöpft und das Haupthaar unter die Lammfellmütze emporgekämmt, so daß beides nicht zu sehen war. Die Reitpeitsche des Mirza steckte im Gürtel. Eben wollten wir gehen, da erschien der Aschyk unter der Tür. Er erschrak, als er uns stehen sah, denn er hielt uns im ersten Augenblicke für wirkliche Perser. Als er uns aber erkannte, rief er aus:

»Allah sei Dank! Fast glaubte ich, Ahriman Mirza sei mit hier! Warum tragt ihr diese Kleidung, Effendi?«

»Um nicht erkannt zu werden, falls man uns sehen sollte,« antwortete ich. »Wir wollen nach dem Dschebel Adawa hinüber.«

»Und ich komme geraden Weges von dorther! Ich bringe zwei wichtige Neuigkeiten, eine schriftliche und eine mündliche. Der Scheik ul Islam glaubt, ich sei hier Euer Gast und komme nur zu ihm, um Euch zu verraten. Ich besitze darum sein Vertrauen und habe Euch aufgezeichnet, was ich heut von ihm erfuhr. Es sind die Orte, an denen losgeschlagen werden soll, sobald der Streich gegen Euch gelungen ist. Auch die Namen der Anführer stehen dabei, lauter fromme, hochangesehene Männer.«

Er reichte auf meinen Wink das Verzeichnis dem Ustad hin und fuhr dann fort:

»Die andere Nachricht wird Euch wahrscheinlich noch mehr erfreuen. Ist Euch ein junger Taki-Kurde bekannt, welcher Ibn el Idra heißt?«

»Sehr gut sogar,« antwortete der Ustad. »Du nennst ihn jung, er sitzt aber schon seit Jahren in der Dschemma. Sein Vater, der reichste Mann des Stammes, ließ ihn in Teheran studieren und dann weite Reisen machen. Er ist unterrichtet, klug und ehrlich. Man sagt, daß er ein heimlicher Gegner des Scheik ul Islam sei und unter den Taki einen nicht unbedeutenden Anhang besitze. Er war schon einigemale hier, mein Gast, und ich meine, daß wir beide Wohlgefallen an einander gefunden haben.«

»Hältst du ihn einer Hinterlist für fähig?«

»Nein, auf keinen Fall.«

»So kann ich dir sagen, daß er eine Unterredung mit dir wünscht.«

»Wann?«

»Heut.«

»Wo? Hier bei mir?«

»Nein. Dazu hat er keine Zeit, wegen der wichtigen Sitzungen, welche die Dschemma jetzt fortwährend hat, sogar heut nach Mitternacht. Auch soll diese Unterredung eine heimliche sein. Er läßt dich bitten, zwei Stunden nach Mitternacht an den Bach des Dschebel Adawa zu kommen, du allein und er allein. Von der Quelle an zählst du die fünfte große Windung des Wassers. Dort steht ein einzelner hoher Baum, unter dem er dich erwarten wird.«

»Sonderbar! Wie kommst du zu diesem Manne? Wäre es ein Anderer, so würde ich einen Hinterhalt befürchten, obgleich ich nicht wüßte, wozu ihm das nützen sollte!«

»Ich kann dir nicht zürnen, wenn du an mir zweifelst. Aber ich darf dir auch nicht antworten, denn ich habe Ibn el Idrak Verschwiegenheit geloben müssen, um Euch nützen zu können. Behalte mich hier, und gib Befehl, daß ich erschossen werde, wenn dir Etwas geschieht!«

»Daß ich ein Tor wäre! Ich glaube dir und ihm und werde also kommen.«

»Ich danke dir! Auch dein jetziger Anzug paßt. Es gibt jetzt am Dschebel Adawa mehr Leben und Verkehr als sonst. Man könnte dich sehen und erkennen. Darum sollte ich dich bitten, nicht deine gewöhnliche Kleidung anzulegen. Ich kam auf einem seiner Pferde herüber. Darf ich wieder zurück, um ihm Nachricht zu bringen?«

»Ja. Sag ihm, daß ich kommen werde, zwei Stunden nach Mitternacht, an die betreffende Stelle. Bin ich verhindert, pünktlich zu sein, so soll er dennoch warten. Ich bleibe nicht aus.«

Hierauf entfernte sich der Aschyk. Auf meinem Tische lag der Chandschar, den ich von Dschafar geschenkt bekommen hatte. Der Ustad sah ihn und fragte:

»Nimmst du den Dolch nicht mit?«

»Nein,« antwortete ich. »Ich wollte, halte es aber nun doch nicht für nötig.«

»So erlaube ihn mir! Ich kann vielleicht in eine Lage kommen, in welcher eine still wirkende Klinge besser ist als ein laut krachender Schuß. Geh jetzt immer hinab. Ich will erst das Verzeichnis vom Aschyk zu mir tragen, um es einzuschließen. Dann komme ich nach.«

Er schob den Chandschar in den Gürtel und ging hinaus. Ich aber steckte fürsorglich einige Lichter zu mir, obgleich ich keinen Grund hatte, sie für nötig zu halten, und stieg dann den Glockenweg zum Weideplatze hinunter, wo ich Kara, persisch gekleidet, bei den Pferden fand.

Assil und Bark waren schon gesattelt, Syrr noch nicht. Ich tat es selbst. Sonderbar! Als ich ihm das Mundstück einschieben wollte, weigerte er sich, seine Zähne zu öffnen. Ich bat ihn; er tat es trotzdem nicht; ihn aber zu zwingen, fiel mir gar nicht ein. Der Ustad kam grad dazu, als ich Kara beauftragte, den einfachen Halfter zu holen.

»Bloß mit Halfter willst du ihn reiten?« fragte er. »Des Nachts? Dort hinüber, wo vielleicht sehr viel davon abhängig ist, daß wir unserer Pferde vollständig sicher sind?«

»Laß Syrr seinen Willen!« antwortete ich. »Ich habe nur nötig, ihn zu dem meinigen zu machen, dann kann uns nichts geschehen. Ein Reiter, der sich weniger auf das Pferd als vielmehr auf die Zäumung verläßt, bringt schließlich auch trotz dieser letzteren nichts fertig. Ein edles Pferd, welches Grund hat, den eisernen Zwang zu fürchten, kann seinen Herrn unmöglich liebgewonnen haben.«

»Fast hättest du gesagt – kann ihn nicht achten!« lächelte der Ustad. »Natürlich denkst du hierbei neben dem Pferde an noch etwas ganz Anderes. Ich kenne dich!«

Syrr bekam also nur den Halfter; dann ritten wir fort, über die Ruinen, an den Steinbrüchen hinunter und dann nach links, wo es hinauf zur jenseitigen Ebene ging, welche der Dschebel Adawa hoch überragte. Der Ustad war schon so oft dort gewesen, daß wir uns auf seine Terrainkenntnis vollständig verlassen konnten.

Er schlug klugerweise nicht die gerade Richtung ein. Wir ritten erst nach Norden und bogen dann in einem rechten Winkel nach Westen. Falls wir nun ja gesehen wurden, hatte es nicht den Anschein, als ob wir von den Dschamikun herüberkämen. Und das war gut. Denn wir hatten noch kaum die Hälfte des Weges zurückgelegt, so bemerkten wir auf der mondbeschienenen Fläche vor uns einen Reiter, welcher zwar stutzte, als er uns erblickte, aber doch nicht aus seiner bisherigen Richtung wich. Er mußte uns begegnen. Wir taten natürlich, als ob auch wir ihn nicht zu scheuen hätten, und hielten still, als er uns erreichte und grüßte.

»Wo kommst du her?« fragte der Ustad.

»Von daher, wo Ihr hinreitet,« antwortete er. »Man sieht Euch doch gleich an, daß Ihr zu Ahriman Mirza gehört. Bringt Ihr gute Nachrichten aus Isphahan?«

»Vortreffliche. Man braucht dort nur noch die Zeit zu erfahren, so fährt der Säbel aus der Scheide.«

»Das klingt gut! Und die Zeit ist mir bekannt. Ich habe sie soeben von dem Mirza gehört und den Massaban von Feraghan entgegenzutragen, welche schon auf dem Wege sind. Wißt Ihr vom Rennen bei den Dschamikun?«

»Wir wissen Alles. Das Fest beginnt am Sonntag. Das Vorrennen findet am Montag statt, und das Hauptrennen wird am Dienstag sein.«

»Das stimmt. Nun aber komme ich mit meiner wichtigen Kunde: Nämlich die Umschließung der Dschamikun findet am nächsten Tage, also Mittwoch, statt. Sie muß am Donnerstag früh vollendet sein. Sobald der Tag graut, schlagen wir von allen Seiten auf sie los. Diese Nachricht habe ich den Massaban zu bringen, und zwar eilig. Darum verzeiht, daß ich nicht länger halten kann!«

Er ritt weiter; wir ebenso. Keiner von uns bezweifelte, daß wir diese hochwichtige Nachricht nur unsern persischen Anzügen zu verdanken hatten.

Nun kam es darauf an, den Gefahren des Gesehenwerdens für uns vorzubeugen. Die Helligkeit erlaubte es nicht, uns etwaigen Beobachtungen vom Dschebel Adawa aus zu entziehen. Unser einziger Schutz bestand in der Vortäuschung, daß wir vom Lager der Takikurden nach dem Berge kämen. Daher umritten wir ihn in einem weiten Bogen, bis wir an seine westliche Seite gelangten, wo auch das Wasser floß, an dem sich Ibn el Idrak einstellen wollte. Dieser Bach war weit hinaus mit Buschwerk besetzt und bot uns also die beste Gelegenheit, uns unter guter Deckung anzunähern. Das glückte uns aufs Beste. Wir folgten den Windungen des Wassers und kamen also auch an diejenige, wo die Unterredung mit Ibn el Idrak stattfinden sollte. Es stimmte, daß ein einzelner, hoher Baum da stand. Nun brauchte der Ustad diesen Ort nicht später erst zu suchen.

Jetzt handelte es sich zunächst um eine verborgene Stelle für unsere Pferde, bei denen ich zu bleiben hatte, weil Kara mit hinauf mußte, um dem Ustad den hohlen Hollunderbaum zu zeigen. Sie sollte sich bald finden. Als wir eine Strecke längs der Südseite des Berges geritten waren, schnitt eine schmale Schlucht tief in die Felsenmassen ein. Sie war nicht offen, sondern durch eine hohe, starke, uralte Mauer abgesperrt, deren obere Kante höchst unregelmäßig verlief, weil die Werkstücke von dort herabgestürzt waren und nun unten wirr durcheinander lagen. Diese Mauer hatte zu ebener Erde eine schmale Toröffnung, auf welche der Ustad zuritt, indem er sagte:

»Das ist die Diwar-y-Mugasa. Weshalb sie so genannt wird, weiß ich nicht. Wahrscheinlich hat sie einst als eine Art von Talsperre gedient. Jetzt ist dieser Ort so verrufen, daß man ihn am hellen Tage meidet, wie viel mehr also jetzt, des Nachts. Du wirst hier ungestörter sein als an jeder andern Stelle, Effendi. Man behauptet, wenn der Teufel eine Seele hole, so schaffe er sie des Nachts hierher, um sie zu zerreißen.«

»Angenehme Wartestation!« lachte ich. »Bei der bekannten Leichtgläubigkeit der frommen Taki-Kurden bin ich da allerdings im höchsten Grade vor menschlichen Besuchen sicher. Andere aber können mich nicht stören.«

Wir stiegen ab, führten unsere Pferde zwischen den Steinen hindurch dem Tore zu und befanden uns, als wir dasselbe passiert hatten, zunächst in einem oben zugebauten Raume, in dem es vollständig dunkel war.

»Daran habe ich nicht gedacht,« fuhr der Ustad fort. »Wir hätten Licht mitnehmen sollen.«

»Habe ich,« sagte ich, indem ich eines aus der Tasche nahm und anbrannte.

Man hatte einen viereckigen, mit einem Dache versehenen Anbau an die Mauer gefügt. Hinten ging eine Oeffnung in die Schlucht; sie war von außen dicht verwachsen. In der Mitte der Dunkelkammer lag eine große Steinplatte. Weiter war nichts zu sehen. Da uns die Vorsicht verbot, die Pferde gleich hier unterzubringen, wo es im unerwünschten Falle weder ein Verbergen noch ein Entrinnen gab, versuchten wir, durch die Oeffnung hinaus in das Freie zu dringen, doch ohne die hindernden Büsche, welche diese Tür verstopften, in auffälliger Weise zu verletzen. Es gelang. Draußen war es halbdunkel, denn die Sterne fehlten dieser schmalen Schlucht, deren Felsenwände ganz beträchtlich in die Höhe stiegen. Es war keineswegs ein einladender Ort, an dem wir uns befanden. Seine Düsterheit stimmte ganz zu der teuflischen Idee, von welcher der Ustad gesprochen hatte. Wir führten die Pferde ein beträchtliches Stück in die Enge hinein und ließen sie sich niederlegen. Dann wurde es für Kara und den Ustad Zeit, ihren Gang nach der Bergeshöhe anzutreten. Ich bat sie, das Gebüsch an der Tür zu schonen, damit wir nicht durch abgebrochene Zweige verraten würden; dann entfernten sie sich. Ich aber setzte mich zu Syrr, doch so, daß ich jeden Nahenden eher bemerken konnte, als er mich.

Es verging Viertelstunde um Viertelstunde. Die Mitternacht kam. Also befanden sich meine beiden Kameraden jetzt wahrscheinlich oben auf ihrem Lauscherposten. War es ihnen gelungen, den Ort der Zusammenkunft zu entdecken? Eben legte ich mir diese Frage vor, da sah ich zwei Gestalten, welche langsamen Schrittes von der Mauer her nach hinten kamen – persisch gekleidet; sie waren es. Da stand ich auf.

»Bleib ruhig sitzen!« sagte der Ustad. »Wir haben über eine Stunde zu warten, ehe ich nach dem Bache gehen kann.«

»Eure Absicht ist nicht gelungen?« fragte ich.

»Nein,« antwortete er, indem wir uns niedersetzten. »Wir lagen gut versteckt beim Hollunderbaum. Da kam Ahriman Mirza mit noch Einem. Wahrscheinlich war dies der Vertraute, den du in unsern Ruinen bei ihm gesehen hast, denn der Mirza hatte sich nicht vor ihm verhüllt. Sie sprachen miteinander, nicht lange und auch nicht laut, doch so, daß wir jedes Wort verstanden.

Ahriman hatte die Reitpeitsche in der Hand. Er mußte erst kürzlich einmal hier gewesen sein, denn er nahm eine Larve aus dem hohlen Baume, die nicht drin gewesen ist, als Kara ihn untersuchte. Er band sie vor das Gesicht und zog dann eine Agraffe aus der Tasche seines Rockes, um sie an die Mütze zu stecken. Dabei sagte er:

„Die habe ich noch von drüben, bei den Dschamikun. Ich fand keine Zeit, sie zu verstecken, weil ich wegen des Scheik ul Islam schnell um den Berg herum zu meinem Pferde mußte. Die hiesige kann also steckenbleiben, vielleicht für immer, denn ich glaube nicht, daß ich sie hier noch einmal brauchen werde. Heut mache ich es kurz. Die Befehle zur Umzingelung am Mittwoch Abend sind schnell gegeben. Dann gehe ich im »Utaq-y-Scheijtan« noch einmal die beiden Dokumente durch, ehe ich dem Scheik ul Islam das seinige in der Dschemma wiedergebe. Jetzt komm! Dieser Lieblingsesel Allahs ahnt gar nicht, daß er sich mit der Unterschrift der Kaiserurkunden vollständig in meine Hand geliefert hat!“

»Sie gingen, und wir krochen aus unserm Versteck hervor, um ihnen zu folgen. Da dies aber höchst leise und vorsichtig geschehen mußte, taten wir es nicht schnell genug und suchten dann vergeblich, eine Spur von ihnen zu sehen oder zu hören. Um wenigstens nicht ganz ohne Resultat zu dir zu kommen, kehrten wir zum Hollunder zurück, aus dem wir die Agraffe genommen haben.«

»Warum? Wozu? Kann das nicht üble Folgen haben?«

»Möglich! Aber ich hatte das Gefühl, daß ich dieses glitzernde Ding nicht steckenlassen dürfe. Ich kenne diese Empfindung; sie hat mich immer richtig geführt. Denke an unsere Anzüge, ohne welche wir von dem Boten jedenfalls nichts erfahren hätten!«

»So mag es sein. Auch ich folge derartigen Eingebungen stets gern. Ist dir der Name Utaq-y-Scheijtan bekannt?«

»Nein. Ich habe ihn noch nicht gehört. Aber ich habe jetzt unterwegs darüber nachgedacht und vermute, daß er hier mit dieser Mauer in Verbindung zu bringen sei. Der Name »Teufelsstube« harmoniert mit dem Aberglauben, daß der Teufel hier die von ihm geholten Seelen zerreiße. Sollte Ahriman Mirza mit diesem Utaq-y-Scheijtan den finstern Raum dort gemeint haben, durch den wir mußten, um hierher zu kommen?«

»Mir kommt dies fast wahrscheinlich vor.«

»Mir ebenso! Er will da die beiden Kaiserdokumente noch einmal prüfen. „Kaiserurkunden“! Also das Allerwichtigste, was man ihm entreißen könnte! Aber entreißen? Nein. Es müßte klüger angefangen werden. Bitte, sprecht jetzt nicht auf mich! Es kommt mir ein Gedanke. Könnte er richtig ausgeführt werden, so wäre er unvergleichlich!«

Er schwieg hierauf, um nachzudenken. Darum waren wir auch still. Nach einiger Zeit sprang er plötzlich auf und sagte:

»Was das nur ist? Es läßt mir keine Ruhe. Komm mit, Effendi! Ich muß vor an die Mauer. Es ist Etwas in mir, was mir sagt, daß Ahriman Mirza bald erscheinen wird.«

Wir gingen mit einander nach vorn, bis zu der mit Büschen besetzten Tür. Wir schoben das Gesträuch mit den Händen zurück, um in den Raum zu treten. Da flüsterte der Ustad:

»Da – da – da, schau! Wie recht die Stimme in mir hatte! Siehst du ihn?«

Allerdings sah ich ihn. Er war soeben gekommen und stand draußen vor dem Eingange, im Sternenschein, um sich umzusehen. Die Reitpeitsche in der Hand, die schwarze Maske vor dem Gesicht, die Agraffe an der Mütze. In seinem Gürtel flimmerte der Griff seines Chandschar, welcher dem meinigen glich. Das war Alles sehr deutlich zu sehen. Da fragte mich der Ustad leise:

»Kennst du die Sage vom Chodem des Menschen?«

»Ja,« antwortete ich ebenso leise.

»Ich weiß, daß der Mirza an diese Sage glaubt, und werde ihn bei ihr fassen. Halte die Büsche zurück, wenn ich zu ihm hineinschlüpfe und auch dann, wenn ich wiederkomme!«

Er nahm die Maske aus dem Peitschengriffe und band sie sich vor das Gesicht. Dann holte er die Agraffe aus der Blechkapsel und steckte sie an die Mütze. Hierauf steckte er auch meinen Chandschar genau so, wie der Mirza den seinigen im Gürtel trug. Und nun wartete er.

Ich wußte nicht eigentlich, was er beabsichtigte, obwohl ich die Bedeutung des Chodem kannte. Chodem ist das persische Wort für »ich selbst«. Die dortigen Metaphysiker aber bezeichnen mit diesem Worte etwas noch Anderes, ungefähr so eine Art dessen, was wir »Doppelgänger« nennen, aber in viel höherem, edlerem Sinne. Sie lehren, daß der Mensch zwar auch einen Geist besitze, den die Seele nach und nach aus den Stoffen des Körpers heraus- und emporzubilden habe, aber dieser rein menschliche Geist sei abhängig und werde geleitet von einem Geiste aus höheren Regionen, der Gott mit seinem eigenen Schicksale dafür verantwortlich sei, daß der ihm anvertraute Mensch seine Bestimmung erreiche. Dieser hohe Geist eigne sich sämtliche Aggregatszustände seines Menschen an und sei also imstande, ihm und auch Anderen persönlich zu erscheinen, und zwar ganz genau in derselben Gestalt und Kleidung wie der Betreffende selbst. Erscheine er Andern, so habe das nichts Schlimmes zu bedeuten; lasse er sich aber vor seinem eigenen Menschen sehen, so sei das ein sicheres Zeichen, daß er ihn für immer verlassen werde, also entweder des nahenden Wahnsinns oder des zu erwartenden Todes. Denn ein Mensch, der von seinem höhern Geiste, von seinem Chodem aufgegeben wird, muß entweder sofort sterben oder in geistiger Nacht langsam versiechen.

Das ist die Sage oder die Lehre, auf welche der Ustad sein jetziges Verhalten stützen wollte.

Ahriman Mirza kam herein. Er brannte ein mitgebrachtes Licht an und ging an die Steinplatte, um es dort fest anzutropfen. Als dies geschehen war, zog er zwei zusammengefaltete, große Papierbogen aus der Tasche, schlug sie auseinander und beugte sich zum Lichte, um zu lesen. Da schob sich der Ustad leise, zwischen Gebüsch und Wand hinein, schlich unhörbaren Schrittes zu ihm hin, bis er hinter ihm stand, und berührte ihn mit der Reitpeitsche. Der Mirza zuckte zusammen, richtete sich schnell auf, drehte sich um und – stieß einen Schrei aus, wie ihn nur der größte Schreck oder gar das wirkliche Entsetzen aus der Lunge zu pressen vermag. Dann stand er starr wie Stein, vollständig bewegungslos.

Mir selbst, der ich doch wußte, woran ich war, erschien die Szene beinahe grauenhaft. An der gespenstigen »Mauer der Vergeltung« – in der »Teufelsstube«, wo der Satan die von ihm geholten Seelen zerreißt – ein kleines Licht, nur zwei, drei Schritte weit schimmernd – ein Menschen- und ein höherer Geist – sich schwarz aus der Schwärze des ringsum herrschenden Dunkels herausgestaltend – nicht nur einander ähnlich, sondern von unbedingt ganz gleicher Wesenheit – der Eine ganz genau das Augenbild des Andern – vom Kopf bis zu dem Fuß herab ein einziges »Ich« und doch in zwei Personen! Wenn es mich dabei wie kalt überlief, wie mochte es da erst dem Mirza zu Mute sein!

Sonderbarer, aber psychologisch doch ganz richtiger Weise gab er seinem Entsetzen nach dem ersten Schrei nicht etwa einen Totalausdruck, sondern er richtete es auf Einzelheiten, die ihn an sich selbst irr machten.

»Meine Agraffe!« rief er aus, mit der Hand nach des Ustad Mütze deutend. »Meine Larve – mein Chandschar – meine Peitsche!«

Seine Finger öffneten sich. Die beiden Papierbogen flatterten zur Erde nieder. Ich sah ihn zittern. Seine Kniee wankten; sie brachen zusammen. Er sank zu Boden, hielt sich am Steine fest, hob die andere Hand abwehrend empor und schrie:

»Mein Chodem – mein Chodem – mein Chodem! Was hast du mir zu bringen?«

Der Ustad antwortete, und seine Stimme klang genau so dumpf wie diejenige des Mirza unter der Larve hervor:

»Keine Krone und kein Kaiserreich! Wähle: Tod oder Wahnsinn!«

»Den Tod? Nicht ihn, nicht ihn! Ich will nicht sterben, nicht sterben! Ich muß leben, leben – leben!«

»So hast du gewählt. Der Wahnsinn sei der Geist, der dich nun packt wie alle deine Schatten! Hinaus mit dir, hinaus! Such Schutz bei deinen Massaban! Knie vor den heiligen Scheik des Islam nieder! Verlaß dich auf die ganze Macht der Lüge! Er hat die Faust soeben ausgestreckt. Er faßt dich beim Genick wie eine tote Katze. Er schleppt dich hin, bis wo der Abgrund gähnt, und schüttelt dich hoch über –«

»Tote Katze, tote Katze!« unterbrach ihn der Mirza, indem er schaudernd aufbrüllte, als er diese seine eigene Drohung hörte. »Du weißt Alles, Alles, Alles! Aber ich mag deinen Wahnsinn nicht; ich will ihn nicht! Behalte ihn hier bei dir; ich aber eile fort, fort – fort!«

Er schnellte sich auf und sprang zur Tür hinaus. Der Ustad hob die Dokumente auf, faltete sie zusammen und steckte sie zu sich. Dann trat er vorsichtig in das Freie hinaus, um dem Fliehenden nachzuschauen.

»Komm, mein Freund!« forderte er mich dann auf. »Komm, wenn du einen Menschen sehen willst, der vor dem Wahnsinn flieht und ihm aber nun ganz unmöglich entgehen kann!«

Ich ging zu ihm hin. Der Mirza rannte, wie von Furien gejagt, geraden Weges in die Ebene hinaus, wo er doch nicht das Geringste zu suchen und zu finden hatte.

»Ist das nicht schon geistige Störung?« fragte der Ustad. »Jeder Andere würde dahin gehen, wo er seine Leute trifft; dieser aber weiß schon nicht mehr, was er tut! Für uns aber ist es geraten, uns schleunigst zu entfernen. Holen wir die Pferde!«

Wir taten es. Dann ritten wir fort, ohne das Licht ausgelöscht zu haben. Der Ustad wollte es so.

Er führte uns um den Berg herum und dann weit gegen Norden, wo wir nicht gesehen werden konnten. Dort stiegen wir ab und setzten uns nieder, denn die Zeit der Unterredung mit Ibn el Idrak war noch nicht da.

Keiner von uns sprach. Ich hatte kaum Raum genug für die Gedanken, welche mir kamen und gingen. Ist es wirklich nur Sage, oder giebt es einen Chodem für Jeden, der ein geistiges Leben führt? Da legte der Ustad seine Hand auf meinen Arm und sagte:

»Du denkst, und ich weiß, worüber. Grüble nicht, sondern warte! Der Mensch ist ja gewöhnt, nur das zu glauben, was er mit seinen körperlichen Augen sieht. Weißt du noch, daß ich Hadschi Halefs Seele durch die besondere Betonung seines vollständigen, langen Namens zurückrief. Hätte ich das nicht getan, so wäre er gestorben, so aber zwang ich ihn, „sich auf sich selbst zu besinnen“, wie man sich leider auszudrücken pflegt. Meinst du vielleicht, daß nur die Seele zu zwingen sei? Warte es ab! Die sogenannte „Erziehung“ zwingt Millionen Geister in Schablonen. Sollte es denn gar so unmöglich sein, von diesen Millionen wenigstens einen einzigen aus dieser Schablone wieder herauszuzwingen?«

Wie das so eigenartig klang! Ich sollte nicht denken, sondern warten. Wer das wohl fertig brächte!

Als die Zeit gekommen war, ritten wir wieder näher an den Berg und dort in eine kleine Bodenvertiefung hinab, die uns vor unberufenen Augen schützte. Dort hatte ich mit Kara zu bleiben. Der Ustad aber ging zu Fuß hinüber nach dem Bach, wo Ibn el Idrak wahrscheinlich schon auf ihn wartete. Ich war nicht ganz ohne alle Besorgnis um den Freund, doch versicherte er, es mit einem ehrlichen Manne zu tun zu haben. Das mußte ich gelten lassen. Natürlich hatte er Larve und Agraffe schon längst wieder abgelegt.

Es verging weit über eine Stunde; da kam er wieder, mit schnellen, kräftigen Schritten, wie Jemand, der eine gute Botschaft bringt.

»Dieser Aschyk ist ein Prachtmensch geworden!« rief er uns zu, noch ehe er uns erreicht hatte. »Ich muß ihn dem Schah-in-Schah unbedingt zur Begnadigung empfehlen, und zwar sofort, wenn wir jetzt heimgekehrt sind. Denn es muß wieder ein Eilbote fort.«

»So hast du also Gutes gehört?« fragte ich.

»Sehr Gutes! Wir müssen noch vor Tages Anbruch daheim sein, damit man deinen Syrr nicht sehe. Darum habe ich mich jetzt nur kurz zu fassen. Unsere Renngegner treffen heut schon ein, um ihre Pferde mit der Bahn vertraut zu machen. Was ich nur ahnte, ist mir jetzt gewiß: Ibn el Idrak hat einen so bedeutenden Anhang unter den Taki, daß er im Stande ist, die Pläne des Scheik ul Islam zu durchkreuzen, und dazu ist er unbedingt entschlossen. Von ihm ist der Gedanke ausgegangen, daß ich Ustad der Taki werden soll, und er hält ihn sogar jetzt noch fest. Der Scheik ul Islam hat ihm aber in schlauer Weise vorgegriffen, um entweder die Ausführung ganz unmöglich oder mich zu einem seiner willigen Geschöpfe zu machen. Seit er seinen Ghulam als Ustad eingeschmuggelt hat, haben mehrere stürmische Sitzungen stattgefunden. Zu ihm halten die denkschwachen Fanatiker, welche Fatima noch über Muhammed selbst setzen, und die jüngeren Babi, die den Kaiser tief unter sich wissen wollen. Das sind unsere Gegner, die sich zunächst am Rennen und dann auch am Kampfe beteiligen werden. Ich will sie einstweilen die Ultra-Taki nennen. Die Andern sind die Friedfertigen. Sie haben uns beobachtet und nie eine Ueberhebung, eine Falschheit bei uns gefunden. Sie verlangen, uns als Menschen achten zu dürfen, nicht aber um des Glaubens willen uns hassen und befeinden zu müssen. Sie wollen Mohammed verehren, aber nicht den Scheik ul Islam anbeten. Sie wollen dem Schah-in-Schah gehorchen und keine willenlose Puppe an seiner Stelle sehen. Sie haben Ibn el Idrak beauftragt, diese ihre Wünsche in der Dschemma vorzutragen, sind aber mit einer so hochmütigen und beleidigenden Rücksichtslosigkeit abgewiesen worden, daß sie beschlossen haben, nun auch ihrerseits nicht die geringste Rücksicht mehr zu nehmen und ihre Wege ebenso heimlich zu gehen wie die Andern. Die erste Folge dieses Entschlusses ist die jetzige Unterredung mit mir. Ich bin mit Ibn el Idrak so aufrichtig gewesen, wie es mir geboten erschien. Er staunte über das, was er erfuhr. Als ich ihm schließlich aber auch noch mitteilte, daß ihr neuer Ustad der blutige, gewissenlose Henker der Sillan sei und daß der Oberste der Schatten Kaiser werden solle, war er ganz außer sich über dieses betrügerische Spiel und nahm sich vor, diese Hinterlist mit gleicher Münze zu bezahlen. Die Ultra-Taki werden also nicht das Geringste von dem erfahren, was die Friedfertigen und Regierungstreuen zu tun gesonnen sind. Der gegen sie gerichtete Schlag wird über sie kommen wie ein Blitz aus wolkenlosem Himmel.«

»Und worin wird dieser Schlag bestehen?« fragte ich.

»Man wird kein Wort gegen den Kampf mit uns sprechen, sie aber im letzten Augenblick einfach sitzen lassen. Greifen sie uns dann trotzdem an, so geschieht ihnen, was sie verdienen. Das sind die allgemeinen Gesichtspunkte; über das Besondere sprechen wir später. Jetzt müssen wir fort, denn der Osten wird schon licht.«

»Also nun der Proberitt! Ich denke, es wird noch Niemand so schnell hinübergekommen sein, wie gegenwärtig wir. Reitet ihr voran!«

»Voran? Warum?«

»Weil ihr mich sonst bald aus den Augen verlieren würdet!« lachte ich.

»Uebermut! Willst du Kara’s Barkh und sogar deinen Assil kränken?«

»Nein. Darum eben bitte ich Euch, eine Vorgabe anzunehmen.«

»So sei es! Aber ich sage dir: Wir wenden, um uns nicht einholen zu lassen, sogar das Geheimnis an, und dein Syrr hat ja keines!«

»Er braucht keins, weil er selbst Geheimnis ist. Macht los! Ich steige nicht eher auf, als bis ich Euch nicht mehr sehen kann; dann aber komme ich!«

Sie schwangen sich über die Bügel, nahmen gleichen Anlauf und ritten in die Ebene hinaus, westwärts, schneller, immer schneller, bis ich sie in fliegenden Galopp fallen sah. Syrr war verwundert. Er sah bald mich an, bald hob er den Kopf, um den Forteilenden nachzuwinden. Er warf ihn auf und nieder; er schüttelte ihn. Er schnaubte; er scharrte den Boden. Er wieherte endlich gar. Da streichelte ich ihn, und sofort wurde er vollständig ruhig. Aber er richtete die Augen unablässig nach vorwärts, wo die beiden Reiter immer kleiner und kleiner wurden.

Nun verschwanden sie. Ich setzte den Fuß in den Bügel. Da drehte Syrr den Kopf herum und ließ jenen tiefen, fast grunzenden Baßton hören, dem man es deutlich anhört, daß er sagen soll: »Na, endlich, endlich, endlich! Aber nun!« Noch saß ich nicht fest, so flog ich schon. Ich brauchte nichts zu sagen, ich brauchte nichts zu tun. Er wollte ja selbst, was er sollte! Ein solcher Ritt läßt sich leider nicht beschreiben. Wenn ich die Augen schloß, war es mir, als ob ich nur so schwebe!

Schon nach einigen Minuten sah ich den Ustad und Kara wieder. Sie ritten noch beisammen. Ich näherte mich ihnen zusehends. Jetzt mußten sie sich umgeschaut und mich bemerkt haben, denn ich erkannte aus den Bewegungen ihrer Pferde, daß die Geheimnisse in Anwendung kamen. Da bog ich mich vor und berührte Syrrs Hals, leise streichelnd. »U – u – u!« machte er und griff sodann in einer Weise aus, als ob die bisherige Schnelligkeit so viel wie nichts gewesen sei. Wir rückten vor, kamen näher, immer näher. Kara war schon zurückgeblieben, denn mein Assil war dem Barkh überlegen. Noch zehn Pferdelängen – noch fünf, noch drei, noch eine – Jetzt hatte ich ihn eingeholt und ritt neben ihm.

»Ma’assalami – lebe wohl, Kara!« lachte ich ihm zu. »Gieb dem Barkh doch das Geheimnis!«

»Ich gab es ja bereits!« antwortete er.

»So komm hübsch langsam nach!«

Syrr wieherte, als ob er diesen Scherz verstanden habe, in sich hinein, schnellte sich mit zwei, drei fast unbegreiflichen Sprüngen über Barkh hinaus, warf den Kopf für einen Augenblick herum, um zu sehen, ob er ihn auch wirklich überholt habe, und nahm dann nur noch Assil in die Augen. Dieser war ungefähr zwanzig Pferdelängen voran.

»Sabah bil-cher – guten Morgen!« rief ich nun dem Ustad zu. »Mach schnell, sonst wird es Tag!«

Er antwortete nur, indem er den Arm in die Luft warf, denn etwas Anderes hätte den Lauf seines Pferdes leicht hemmen können. Dennoch wurden aus den zwanzig Längen fünfzehn – zehn – fünf – zwei  – eine – jetzt hatte ich ihn! – wieder einige federschnellende Sprünge meines Syrr – da war ich voraus –

»Gibst du zu, daß du bald weit hinter mir sein wirst?« fragte ich.

»Warum das ausdrücklich zugeben?« antwortete er.

»Weil ich dann innehalte. Ich möchte meinen Assil nicht kränken. Er schämt sich, wenn er überholt wird.«

»Das ist brav von dir! Ja, dein Syrr ist uns über, sogar weit über. Hemmen wir also den Lauf!«

Indem wir dies taten, holte uns Kara schnell ein. Da war es geradezu rührend, daß alle drei Pferde vor Freude darüber, daß sie nun wieder beisammen waren, laut aufwieherten, eines wie das andere, fast »wie aus einem Munde«, wie man zu sagen pflegt. Und nun sahen wir, wie unglaublich schnell uns dieses Proberennen vorwärts gebracht hatte: Die Ebene war zu Ende; die Berge der Dschamikun lagen vor uns. Wir hatten nur noch hinunter in das Tal und drüben wieder hinaufzureiten, um an den Steinbruchweg und also heimzukommen. So leicht, so schnell kommt der Mensch vom Bösen auf das Gute, wenn er die Kräfte zu benutzen weiß, die ihn nach oben und heim zu tragen haben!

Wir konnten mit dem Resultate dieses Proberittes im höchsten Grade zufrieden sein. Hatten wir uns schon vorher nicht vor dem Rennen gefürchtet, so waren wir nun vollständig überzeugt, wenn nicht alle, so doch wenigstens die Haupttouren sicher zu gewinnen. Bei uns angekommen, sorgten wir zunächst für die herrlichen Tiere; dann trennten wir uns. Ich ging sogleich schlafen und wachte erst am späten Morgen auf.

Als Schakara mir das Frühstück brachte, sagte sie mir, daß noch während der Nacht ein Eilbote des Schah gekommen und dann mit der Antwort des Ustad wieder fortgeritten sei. Er habe sich absichtlich so gekleidet gehabt, daß Niemand erraten konnte, wer oder was er sei. Der Herrscher hatte nichts weiter als den Befehl geschickt, womöglich Blutvergießen zu vermeiden. Der Ustad war erfreut gewesen, bei dieser Gelegenheit dem Schah zunächst das von dem Aschyk erhaltene Verzeichnis und sodann auch die heut nacht erlangten beiden Kaiserdokumente senden zu können. Damit waren der Scheik ul Islam und Ahriman Mirza ein für allemal vernichtet. Und zugleich hatte er auch ein Gnadengesuch für den Aschyk beigelegt. Ich dachte, als ich dies hörte, an seinen Ausspruch, daß der Aschyk ein prachtvoller Mensch geworden sei. Er hatte sich hierüber nicht weiter geäußert; nun aber erfuhr ich von Schakara, daß der Aschyk sich Ibn el Idrak freiwillig zur Verfügung gestellt und eine gradezu erstaunliche Geschicklichkeit und Ausdauer entwickelt habe, die Taki zu überzeugen, daß man durch lichtscheuen Ungehorsam gegen den Schah nichts als den eigenen Untergang erreiche. Uebrigens sei der Ustad der Meinung, daß die dortigen Ultra’s den Mut nicht haben würden, den sie zeigten, wenn sich nicht grad jetzt der Scheik ul Islam, der Mirza und die Gul-i-Schiras bei ihnen befänden, in deren Interesse es liege, diese Leute in ihrem stupiden Fanatismus zu bestärken.

Ich war noch nicht draußen auf meinem Freidache gewesen. Jetzt bat mich Schakara, mit ihr hinauszukommen, weil sie mir Interessantes zu zeigen habe. Sie meinte da zunächst ein großes, herrschaftliches Zelt, welches, schon fast fertig, drüben in den Ruinen errichtet worden war. Nicht weit davon sah ich andere Leute beschäftigt, ein zweites, auch großes, aber nicht so prächtiges herzustellen. Auf meine Frage, für wen diese beiden Zelte seien, antwortete sie:

»Das so schön ausgeschmückte ist für die Gul-i-Schiras bestimmt. Sie handelt da jedenfalls im Auftrage des Ahriman Mirza, der hierdurch der Besetzung der Ruinen durch die Taki vorauskommen will. Ihre Leute kamen schon kurz nach Tagesanbruch hier an, um den Bau sogleich zu beginnen. Der Scheik ul Islam scheint so etwas gewußt oder wenigstens geahnt zu haben, denn er hat sich beeilt, auf diesen Schachzug einen ähnlichen zu tun. Seine Diener kamen mit dem zweiten Zelte, und wie du siehst, wird sich nun die himmlische Tugend eng neben dem irdischen Laster niederlassen, und zwar beide, ohne uns vorher um unsere Ansicht hierüber gefragt zu haben.«

»Will das der Ustad dulden?«

»Er wartet noch. Kommt seine Zeit, so wird er zu handeln wissen. Und nun schau dort hinaus, jenseits des Sees! Da baut man ein drittes, großes Zelt. Das ist für Ahriman Mirza. Er hat, auch ohne zu fragen, diese Stelle gewählt, weil seine Schatten und Massaban von jener Seite heranziehen werden. Der Anfang zu der Umzingelung wird also schon heut gemacht. Aber ebenso von heute an sind auch schon unsere nahen und fernen Posten ausgestellt, welche dafür sorgen, daß wir jede feindliche Annäherung rechtzeitig erfahren. Die sämtlichen Dschamikun stehen bereits unter Waffen, wenn sie es auch nicht sehen lassen, die hiesigen wie auch die auswärtigen. Ebenso auch die Kalhuran, mit denen wir verbündet sind. Sie haben bereits ihre besten Reiter und Rennpferde gesandt. Da schau hinab, wie sie schon üben! Was der Ustad für einen Verteidigungsplan entworfen hat, das weiß ich nicht; aber er sagte mir, ich solle Marah Durimeh nicht um Hilfe bitten; wir seien stark genug. Diese Zuversicht ist höchst beruhigend. Ich habe aber trotzdem einen Boten an sie gesandt, und ihre noch nie besiegten, wohlgewappneten Reiter werden zur rechten Zeit erscheinen. Du weißt ja,« fügte sie lächelnd hinzu, »die Seele ist selbst dann noch gern für den Geist besorgt, wenn er meint, seiner Sache vollständig sicher zu sein!«

Eben als sie dies sagte, bemerkten wir eine lebhafte Bewegung, welche sich schnell über den ganzen Duar verbreitete. Die Ursache war ein jetzt aus dem Osten angekommener Reiter, welcher allen, die es hören wollten, eine Neuigkeit verkündete und dann herauf zum hohen Hause lenkte. Als er durch das Tor kam, erkannten wir ihn. Es war der Reitknecht unseres Dschafar Mirza. Er hatte der Hilfe des Schah als Führer gedient und war ihr eine Strecke vorausgeritten, um zu melden, daß hundert Mann der Ghulman-i-Schahi im Anzuge seien. Er brachte das Pferd des Hauptmanns mit. Zu gleicher Zeit kam die Gul-i-Schiras mit ihrem Hofstaate auf unserm gestrigen Wege links heraufgeritten, und in kurzem Abstande folgte ihr der Scheik ul Islam mit seinem hochtrabenden weltlichen und geistlichen Stabe. Sie ritten direkt nach den Ruinen, von denen sie Besitz ergriffen, als ob sie da zu Hause seien. Ihre Rennpferde wurden ihnen nachgeführt.

Schon nach einigen Minuten schien sich zwischen den beiden Parteien ein Streit über den Platz entspinnen zu wollen, kam aber für dieses Mal nicht ganz zum Ausbruche, weil die Aufmerksamkeit der sich Entzweienden nach Osten abgelenkt wurde, wo jetzt die Leibwache auf der Bildfläche erschien. Diese außerordentlich gut berittenen und bewaffneten, glänzend uniformierten Hundert erregten Verwunderung. Wie kam der Ustad zu der noch nie dagewesenen Auszeichnung, vom Kaiser eine so direkte Unterstützung zu empfangen?! Aber diese Verwunderung verwandelte sich wohl gar in Schreck, als hinter dieser Leibkavallerie noch ein Artilleriezug von zwanzig Zambureks erschien, dem eine ganze Reihe Bagage und Munition tragender Kameele folgte. Zwanzig Kanonen! Wenn auch nur so kleine! Wenn solche Abwehrmittel den Dschamikun zur Verfügung standen, so war es doch wohl nicht so leicht, mit ihnen anzubinden, wie man gedacht hatte! Und wozu oder warum waren dem Ustad diese Truppen geschickt worden? Er wußte doch nicht das Geringste von dem geplanten Angriff gegen ihn! Er sollte doch vollständig überrascht werden! Sollte er doch vielleicht Etwas erfahren haben? Aber von wem? Es galt vorsichtig zu sein! Vor allen Dingen gegen die eigenen Verbündeten!

Jetzt stieg der Hauptmann hier oben zu Pferde, um hinabzureiten und die zwar kleine, aber kriegerisch gewichtige Schar zu empfangen und seinen Absichten gemäß unterzubringen. Ihre Ankunft hatte auch da draußen bei Ahriman Mirza Aufsehen erregt. Er kam am See herbeigeritten, anscheinend um der Prinzessin seinen ersten Besuch in ihrer neuen Wohnung zu machen, denn er hatte sein Gefolge bei sich, genau dieselben Personen, die am Sonntag voriger Woche drüben am Beith-y-Chodeh mit ihm unser Fest gestört hatten. Das war eine Art von Demonstration, die wir ihm gönnen konnten, da er uns unvorsichtiger Weise durch sie verriet, daß seine Unteranführer bei ihm angekommen seien. Er ritt, ohne im Duar anzuhalten, direkt nach den Ruinen. Als er vor dem Zelte abstieg, kam die Gul heraus, ihn zu begrüßen. Hierbei sah ich sie zum ersten Male. Sie führte ihn hinein. Seine Begleiter blieben im Freien. Nach einiger Zeit ließ man den Scheik ul Islam kommen. Auch er verschwand in dem Zelte.

Nun bemerkte ich erst, daß Syrr nicht zu sehen war. Ich fragte Schakara nach ihm, fast beschämt über diese meine Unaufmerksamkeit. Man hatte ihn im Garten untergebracht, damit er von den Zelten da drüben aus nicht gesehen werden könne. Ich bat meine »Seele«, ihn ja gut zu versorgen.

Jetzt traten die drei hohen Persönlichkeiten wieder aus dem Zelte und gingen mit einander quer durch die Ruinen, dem Glockenwege zu.

»Sie wollen herüber zu uns!« sagte Schakara. »Das muß ich dem Ustad augenblicklich melden. Unser liebes Haus muß rein von solchem Zuspruch bleiben! Er wird sie abweisen!«

»So bitte ihn, dies womöglich hier unter meinem Dach zu tun. Ich möchte die Gul kennen lernen und darum gern hören, was und wie sie spricht.«

Schakara eilte hinab. Ich beobachtete die Nahenden, doch so, daß sie mich nicht sahen. Die Prinzessin war eine hohe, volle Gestalt. Sie hatte ihre Kleidung überreich mit Schmuck beladen. Einen Schleier trug sie nicht, hatte sich also von der in ihrem Kreise gebotenen, schamhaften Zurückhaltung emanzipiert. Ihr Haar war vorn abgeschnitten und bedeckte die Stirn, ganz nach Art unserer sogenannten Simpelfransen, zuweilen auch Ponyfrisur genannt. Die persischen Haremsfrauen lieben es nämlich sehr, ihrem Gesichte hierdurch einen zwar geistlosen, dafür aber um so begehrlicheren Ausdruck zu geben.

Hinten hingen die Zöpfe fast bis auf den Boden herab. Sie waren mit goldenen Schnuren, Fransen und Trotteln durchflochten, also sehr wahrscheinlich nicht echt. Bezeichnenderweise trug sie in der Hand eine Reitpeitsche, ganz so, wie Ahriman Mirza auch. Sie schwippte mit derselben im Gespräche bald hin und bald her und war überhaupt in allen ihren Bewegungen so lebhaft, so bestimmt und so gebieterisch, so wegwerfend und, ich möchte sagen, so keck, wie ich bisher noch keine einzige Orientalin zu sehen bekommen hatte.

Sie erreichten die Pferdeweide und blieben einige Zeit bei Assil, Barkh und Sahm stehen. Sie sprachen dabei sehr lebhaft über die Pferde. Was, das konnte ich nicht hören, aber ihren Gestikulationen nach konnte es nicht sehr lobend sein. Da trat die Prinzessin zu Assil heran und faßte ihn am Maule, um es zu öffnen und seine Zähne zu sehen. Er wollte das nicht dulden. Da schrie sie ihn zornig an und schlug ihn an die Ganaschen. Im nächsten Augenblicke lag sie am Boden, von einer kräftigen Kopfbewegung des Rappen niedergeschleudert. Sofort sprang Ahriman Mirza hinzu, hob die Peitsche empor und holte aus, um ihn zu züchtigen – kam aber nicht dazu. Assil war schneller als dieser Mensch. Er machte eine blitzschnelle Schwenkung, warf sich hinten in die Höhe und schlug nach ihm aus. Der Huf traf den Kopf des Persers, welcher mit einem lauten Schrei zusammenbrach. Der Hengst wieherte herausfordernd auf und stellte sich zur weiteren Gegenwehr bereit. Der Scheik ul Islam aber und auch die Prinzessin, welche sich wieder aufgerafft hatte, traten zu Ahriman hin, um zu sehen, mit welchen Folgen er getroffen worden sei. Er stand mit ihrer Hilfe wieder auf, hielt aber den Kopf in beiden Händen. Es schien glücklicher Weise nur ein Streifhieb gewesen zu sein. Der Kopf wurde betastet, begutachtet und endlich wieder freigegeben. Dann setzten sie den unterbrochenen Weg zu uns fort, sichtlich im höchsten Grade erzürnt, aber langsam, sehr langsam, weil Ahriman nur schwankend und nicht schneller gehen konnte.

Schakara hatte den Ustad geholt. Sie standen mit einander grad unter mir und hatten den Angriff auf das Pferd und dessen Verteidigung gesehen. Nun kamen die Drei heran. Sie blieben vor ihnen stehen. Ein eigenartiges Zusammentreffen! Es wurde zunächst kein Wort gesprochen; aber Auge tauchte sich in Auge. Dann begann die Prinzessin zu fragen:

»Von wem werden wir hier empfangen? Wer bist du?«

Ihre Stimme klang hart, hochmütig, verächtlich.

»Ich bin der Ustad der Dschamikun,« antwortete er gelassen.

»Und wer ist das Geschöpf an deiner Seite?«

»Geschöpf?« wiederholte er ihren beleidigenden Ausdruck, aber lächelnd. »Ja, du hast recht gesagt, ohne es zu wollen: Sie ist ein Geschöpf Gottes, des Allerhabenen, des Allreinen; sie wurde von ihm erschaffen in seiner Weisheit und Güte. Du aber bist kein Geschöpf. Du wurdest nicht von dieser Weisheit und Güte erschaffen, sondern von sündigen Menschen in Sünde erzeugt und geboren. Darum wird sie, die körpergewordene Reinheit der Frauenseele, sich jetzt von uns entfernen, weil die Tugend geht, sobald das Laster naht!«

Er trat zur Seite, um Schakara an sich vorüberzulassen. Sie senkte errötend das liebe Gesicht und ging. Die Prinzessin schien vor Erstaunen über diese Verwegenheit keine Worte finden zu können. Sie schnappte förmlich nach Luft. Ihre Augen funkelten; ihre Lippen bebten; die Peitsche zitterte in ihrer Hand; die Antwort aber blieb aus. Da nahm sich der Scheik ul Islam der Beleidigten zornig an:

»Du scheinst nicht zu wissen, wen du vor dir hast. Diese hochgeborene, edelgepriesene Fürstin ist unsere allverehrte Schahsadeh Khanum Gul, welche gekommen ist, dich mit ihrer beglückenden Gegenwart zu erfreuen.«

»Das weiß ich wohl. Ich weiß sogar noch mehr, nämlich daß auch du sie kennst und dich trotzdem nicht schämst, ihre Gegenwart beglückend zu nennen. Wehe dem Volke, dessen geistliche Väter, deren Obersten einer du bist, sich mit den Töchtern des Fleisches verbinden, um dann die Männer beherrschen zu können! Scheik des heiligen Islam lässest du dich nennen? Und nimmst dich, schlau berechnend, des geraden Gegenteils von heilig an? Erscheint dir die Schande nur deshalb so verdienstlich, weil du sie durch die goldene Naddara betrachtest, mit welcher du leichtsinnige Köchinnen zu belohnen pflegst? Dort steht die Tür zu meiner Küche offen. Deine Freundin Pekala und dein Vertrauter Tifl sind bereit, den Segen des heiligen Mannes und des unheiligen Weibes zu empfangen! Du brauchst dich ihnen nicht wieder in der Demut des Schreibers zu nahen. So dumm sie sind, als Meisterstück des Islam erkennen sie dich an!«

Sein Gesicht erbleichte. Er krallte mit den Händen in seinen langen, dünnen Bart, als ob er sich da festhalten wolle. Er stand wie ein Schulknabe da, der Prügel bekommen hat und sich noch extra dafür bedanken soll. Eine Erwiederung fand er nicht. Dafür aber ergriff nun der Mirza des Wort. Er hatte sich mit den Händen wiederholt nach der schmerzenden Stirn gegriffen. Jetzt sammelte er sich und brach los:

»Mensch, was ist mit dir, daß du es wagst, in dieser Weise mit uns zu reden! Die Allerhöchsten des ganzen Reiches stehn vor dir! Ist denn hier bei Euch Alles verrückt geworden, die Menschen sowohl wie auch die Tiere? Wir sind es nicht gewöhnt, daß jede Bestie nach uns schlägt! Sei froh, daß ich jenes Vieh dort nicht sofort erschossen habe!«

Er zog bei diesen Worten als nachträgliche Drohung seine Pistole halb aus dem Gürtel. Da schüttelte der Ustad lächelnd den Kopf und sagte:

»Heb diese deine Kugel für Euren Iblis auf! Es ist doch –«

»Iblis?« unterbrach ihn da der Mirza schnell. »Wer hat dir verraten, daß ich den Iblis, den Unbesieglichen, mitgebracht habe? Wer, wer?«

Da bohrte sich des Ustad Blick in seine Augen, und langsam, schwer, bedeutungsvoll erklang die Antwort:

»Dein eigener Chodem sagte es dem meinigen!«

Da fuhr sich der Mirza mit beiden Händen schnell wieder an den Kopf und rief aus:

»Mein Chodem – Chodem – Chodem! Auch hier wieder, auch hier! Warum läßt er mir seit dieser Nacht keine Ruhe! Ich bin doch fort von ihm! Ich habe ihn stehen lassen! Warum läuft er mir nach, überall, überall! Warum dieser Schlag des Pferdes an meinen Kopf! Der war von ihm, von ihm! Ich soll wahnsinnig werden, verrückt, verrückt! Ich werde es auch, wenn er mir keine Ruhe läßt. Fort, fort! Ich lasse ihn wieder stehen! Mag verrückt werden, wer da will, aber nur nicht ich, nicht ich!«

Er drehte sich um und lief von dannen, »mit gleichen Beinen,« wie man zu sagen pflegt, mehr als eilig und immer mit der Peitsche um sich herumfuchtelnd, über die Weide – aber dann nicht nach dem Wege – sondern er kletterte, als ob er gejagt werde, gleich an der Mauer nach den Ruinen hinunter – rannte nach dem Zelte der Khanum Gul, warf sich dort auf sein Pferd und jagte derart davon, daß ihn sein sofort auch aufbrechendes, verwundertes Gefolge unmöglich einholen konnte.

Was aber die Prinzessin und den Scheik ul Islam betrifft, so machten auch sie sich wieder von dannen, ohne noch ein weiteres Wort zu sagen, Beide besiegt und beschämt, wie vielleicht in ihrem ganzen Leben noch kein einziges Mal. Dann schaute der Ustad herauf zu mir und fragte:

»Denkst du noch an meine Worte? Dieser Geist beginnt bereits seine Schablone zu verlassen. Wie bald, so haben wir es nur noch mit einem stupiden Menschen zu tun. Das ist das Schicksal aller Fürsten der Schatten!«

Er kehrte in das Haus zurück, und ich kam mit ihm heut gar nicht mehr zu sprechen. Seine Zeit war zu sehr in Anspruch genommen, doch ließ er mich durch Schakara über alle Geschehnisse schnell und ausführlich unterrichten!

Zu meiner Ueberraschung wurde mir heut das Mittagessen nicht von ihr allein gebracht. Pekala kam mit. Sie hatte das gewünscht, um mir Etwas mitteilen zu können. Da stand sie nun vor mir, glühend vor Verlegenheit und nach den passenden Worten suchend. Als ich ihr Mut machte, begann sie endlich:

»Effendi, ich bitte dich, es mir zu glauben: Ich dachte, daß es eine Madama sei, eine echte, richtige, wirkliche Madama! Sie war ja so dick! Aber als sie sich in der Küche niedersetzte, gleich auf den Boden, mit einem solchen Plumps, da nahm ich ihr das Tuch vom Kopfe und – und – und da erschrak ich so fürchterlich, daß ich ganz gewiß auch niedergefallen wäre, wenn ich mich nicht an ihr festgehalten hätte – nein, nicht an ihr, sondern an ihm, denn sie war ein Mann. Denke dir! Und sie hatte solchen Hunger! Und er aß so schön, und so schnell, und so viel! Und dann schlief sie ein! Und dann aß er weiter und schlief wieder ein! Sie aß mir fast Alles weg, was ich für Andere machte, denn er war ganz ausgehungert von der Reise. Nun ist sie endlich satt, und weil es ihm bei mir so schmeckt, sind wir mit einander übereingekommen, daß wir uns niemals, niemals wieder trennen werden. Was sagst du dazu, Effendi? Bist du einverstanden?«

»Du bist doch deine eigene Herrin und kannst also machen, was du willst!«

»Das weiß ich wohl. Und ich würde mir auch nicht dreinreden lassen; aber die Höflichkeit erfordert doch, daß ich wenigstens so tue, als ob ich frage. Darum bin ich schon beim Ustad gewesen. Er hat mich freigegeben, vollständig frei. Nun komme ich auch zu dir. Lässest auch du mich gehen?«

»Sehr gern!«

»Aber ich komme nicht wieder, gar nicht!«

»Das wünsche ich auch!«

»So! Also auch du! Ich dachte, man würde weinen. Aber es fällt keinem Einzigen ein, es zu tun. Und ich habe doch so gut gekocht! Darum räche ich mich. Ich gehe nämlich sofort. Agha Sibil hat einige Retourkamele nach Isphahan zu schicken. Da setzen wir uns auf, ich, mein Kepek und auch mein Tifl. Es geht schon in einer Stunde fort. Mein Kepek hat seit heut früh immerfort gegessen und wird es also aushalten bis zur nächsten Station. Ich will also Abschied von dir nehmen, für immer und für ewig, und reiche dir meine Hand!«

»Behalte sie! Sie gehört nicht mir, sondern deinem Kepek, für immer und für ewig.«

Diese völlige Gleichgültigkeit schien sie zu erzürnen. Sie ging nach der Tür, blieb dort noch einmal stehen und sagte:

»Es gibt hier Keinen, der ein edles Frauenherz begreift. Mein Kepek ist der Einzige. Aber der Ustad hat mir meinen Lohn gegeben und auch noch ein großes Bakschisch dazu. Nun bin ich mit Euch allen quitt und mag nie wieder Etwas von Euch wissen. Mich seid Ihr los, ganz gründlich, gründlich los!«

So ging sie hinaus.

Wie das so schnell gekommen war! Ob ein Aschyk oder ein Kepek, ist ganz gleich; nur die Kochkunst muß er bewundern, und erziehen muß er sich lassen! Auch eine Art derjenigen weiblichen Wesen, welche sich rühmen, die »Seelen« oder gar die »Engel« ihrer Männer zu sein! Genau eine Stunde später sah ich, daß ihre Sachen hinunter nach Agha Sybils Zelt geschafft wurden. Dann gingen sie selbst, Pekala an ihres Kepek Seite, eine voluminöse Eßwarenliebe, voran Tifl, der dünn Aufgeschossene. Nicht lange Zeit hierauf humpelten die Lastkamele aus dem Duar, welche die »Festjungfrau« mit ihrem neuen, erkochten Glück von dannen trugen. Kein einziger Dschamiki gab ihnen das Geleite. Das war die ganz natürliche Folge ihrer unbedachten Schwätzereien!

Am Nachmittag erfuhr ich durch Schakara, daß der Ustad den geheimen Weg vom Allerheiligsten auch untersucht hatte. Er war sogar auch unten im Bassin gewesen, hatte mir aber nichts davon mitgeteilt, um mich nicht über ihn zu beunruhigen.

Ich hatte mir die Dschamikun in einer gewissen, nicht sehr hohen Zahl vorgestellt. Als sie sich aber heut, am Vortage der morgenden Feier, einstellten, einzeln, in größeren Trupps und in ganzen Scharen, sah ich zu meinem Erstaunen, wie dicht bevölkert diese so abgelegene Gegend war und wie bedeutend der geistige Einfluß, den der einsame Duar rundum gewonnen hatte. Man sah die Zelte, Jurten, Laubhütten und offenen Lager überall und eng aneinander entstehen. Sie bedeckten nach und nach das ganze Tal, stiegen an allen Höhen empor, krochen unter die Bäume der ringsum ragenden Wälder und kletterten über die Berge hinüber, um sich über die Hochebene dort weit auszubreiten. Man hatte mir nicht zuviel gesagt; es kamen Tausende, und selbst als es schon dunkel geworden war, hörte dieser Zufluß noch nicht auf.

Am Abend ließ der Ustad mir sagen, daß ich möglichst zeitig schlafen gehen möge, weil er beabsichtige, mit mir in frühester Morgenstunde auszureiten. Ich tat es und erwachte, als es noch nicht vier Uhr morgens war. Der Tag begann, leise zu grauen. Von meinem Vorplatze aus sah ich, daß er schon unten bei den Pferden war. Er sattelte die Sahm. Daher beeilte ich mich, zu ihm hinabzukommen, wo ich erfuhr, daß ich den Syrr reiten sollte. Sitz und Halfter lagen schon bereit; ich brauchte beides nur an- und aufzuschnallen.

»Heut wirst du die Sahm kennen lernen,« sagte er. »Dein Assil hat sie besiegt. Wollen aber sehen, wie du nach einigen Stunden hierüber denkst.«

»Stunden?« fragte ich, denn ich bemerkte, daß die Satteltaschen mit Proviant gefüllt waren. »Willst du an diesem Gedenktage so lange von hier fortbleiben?«

»Hierüber später,« antwortete er, indem er aufstieg.

Ich folgte diesem Beispiele; dann ritten wir – nicht etwa durch das Tor oder über die Ruinen, sondern den steilen, schmalen Glockenweg empor zum Alabasterzelt, er voran, ich hinterher, ein nicht ganz ungefährlicher, aber wunderbarer Ritt!

Das Tal war noch nicht erwacht. Kein Mensch schaute zu uns empor. Die Sahm ging unter ihm so leicht, so sicher, als ob sie Flügel habe und ausgleiten dürfe, ohne je zu stürzen. Und Syrr? Er tat, als ob er jeden Schritt dieses kühnen Weges kenne. So fest und dabei so elastisch federnd stieg doch die Stute nicht!

Hoch oben wich der jetzige Pfad von dem früheren ab, welcher quer über die schon einmal erwähnten, lockern Geröllmassen geführt hatte. Diese waren in Bewegung gekommen und hatten sich so weit vorgeschoben, daß sie in die Tiefe zu stürzen drohten.

»Das macht mir schwere Sorge,« sagte der Ustad. »Dem Zelte zwar kann nichts geschehen, denn es steht auf unerschütterlichem Felsen; aber wenn diese gewaltigen, haltlosen Massen rechts und links von ihm aus irgend einem Grunde einmal in Schuß geraten, so steht für die Ruinen da unten eine Katastrophe bevor, der sie nicht widerstehen können. Ich vermute, dann ist es mit der ganzen, steinernen Vergangenheit zu Ende! Ich nehme an, daß du gern hin zum Zelte möchtest, bitte dich aber, für heute zu verzichten. Da, schau, es ist von Holzstößen umgeben, welche angebrannt werden sollen. Das muß man von unten aus sehen, nicht von hier.«

Wir ritten also von weitem vorüber, bis auf die zurückliegende, höhere Kuppe des Berges, von welcher aus man das ganze Gebiet der Dschamikun im ersten Morgenlichte liegen sah.

»Mein liebes, kleines Reich!« sagte er. »Man will es mir nehmen. Wie töricht das ist! Fast eine Hanswurstiade! Man zieht von allen Seiten bewaffnet gegen uns heran. Darum starren nun auch wir in Waffen; mein guter, kriegerischer Chodj-y-Dschuna hat es so gewollt. Wie überflüssig! Die Rädelsführer befinden sich ja ganz in meinen Händen. Ich brauchte sie nur festzunehmen und abzuliefern, wie ich die Beweise abgeliefert habe. Aber wie mich die Liebe der Meinen gezwungen hat, zu der heutigen Gedenkfeier ein Ja zu sagen, so will ich ihnen auch den Willen lassen, zu zeigen, daß sie nicht nur in guten, sondern auch in gefährlichen Tagen treu zu mir stehen. Es würde von mir undankbar sein, ihnen die Vorfreude auf den Sieg zu zerstören. Aber für heut verlasse ich sie. Wir kommen erst am Abend wieder. Man mag gegen mich schreien und zetern, gegen mich schreiben und sprechen, gegen mich lügen und schwindeln, fälschen und verzerren, fabeln und fingieren – ich weiche keinen Schritt, keinen einzigen, von dem Platze, den mir der Unverstand nicht gönnen will. Aber wo ich gelobt oder gar gefeiert werden soll, da ist meine Stätte nicht. Die Erfahrung hat mich gewitzigt. Ich kenne das Lob der Menschen, welche nur rühmen, um auszunützen. Die Huldigung wird schnell zur Eloge, der Triumphbogen zum kaudinischen Joch, welches den soeben Gefeierten zwingt, beim nächsten Schritte den stolzen Nacken vor ihnen zu beugen. So lobte mich der Scheik ul Islam gegen dich, damit ich seine Kreatur, der Prügeljunge seiner Partei werden möge. Die Liebe meiner Dschamikun ist zwar echt; sie kommt direkt aus vollen, ehrlichen Herzen und scheut sich keinen Augenblick, sich für mich aufzuopfern. Die Dankbarkeit eines Jeden von ihnen ist für mich reines, lauteres Gold; ihr Wert tut meinem Herzen wohl, wenn es im Stillen zu mir kommt, wie der Duft von einer Blume, die nicht redet. Heut aber will man mir öffentlich danken. Tausende wollen sprechen, laut, nur von mir, von mir! Das ist grad das Gegenteil von dem, wonach ich strebe! Ich konnte die Erlaubnis zu diesem Feste nicht verweigern; aber als ich sie erteilte, wußte ich, daß ich heut nicht daheim sein dürfe, weil es mir eine Profanation dessen bringt, was ich im tiefsten Innern sorgsam pflege. Darum bin ich geflohen.«

Ich wollte eine Bemerkung machen, doch schnitt er sie mir schnell ab, indem er fortfuhr:

»Habe keine Sorge! Ich bin nicht leichtsinnig gegangen, denn ich weiß am Besten, wie nötig ich grad jetzt da unten bin. Es ist Alles wohl besorgt. Der Umstand, daß ich mich scheinbar ganz unbedenklich entfernt habe, wird im Gegenteile unsere Feinde nur noch sicherer machen. Sie ahnen nicht, was ich inzwischen tue. Wir umreiten nämlich heut unser ganzes Gebiet. Ich besichtige die ausgestellten Posten. Das ist unumgänglich nötig. Also komm!«

Um an der andern Seite des Berges hinabzukommen, mußten wir die Pferde führen, bis wir den Bach im Tale erreichten, wo er mir die verborgene Stelle zeigte, an welcher der geheime Gang aus dem Allerheiligsten hier mündete. Dann ging es drüben wieder bergan, nach der Taki-Hochebene, und auf dieser nach Norden. Da trafen wir in gewissen Abständen je zwei Dschamikun, welche bei ihren Pferden saßen und uns Bericht erstatteten. Beim nördlichsten dieser Doppelposten begrüßte uns ein Kurde von Schohrd in voller Kriegsausrüstung. Er war soeben erst angekommen und meldete uns, daß die Hilfstruppen Marah Durimehs nur einen Tagesritt von hier ständen und um Weisungen bäten. Das überraschte den Ustad; ich teilte ihm aber mit, was Schakara mir gesagt hatte, und so gab er den Befehl, Dienstag Abend hier an dieser Stelle einzutreffen und das Weitere zu erwarten.

Von da wendeten wir uns ostwärts. Das war das Gebiet der nördlichen Dschamikun. Wir fanden da Alles so, wie wir es wünschten. An das äußerste ihrer Lager schloß sich die Wachtlinie der Kalhuran, welche hinter den Pässen des Hasen und des Kuriers nach Süden verlief. Hier erteilte der Ustad die Weisung, die Massaban und die Sillan hindurchzulassen, ihnen aber heimlich zu folgen, um den Ring immer enger zu schließen. Um die Mittagszeit machten wir an einem Wasser halt, um uns auszuruhen, zu essen und die Pferde grasen zu lassen. Dazu ließen wir ihnen zwei volle Stunden Zeit. Hierauf ging es weiter, quer über jenes unbewohnte Land, durch welches ich und Halef mit den Massaban gekommen waren. Da trafen wir auf die breite Fährte der Dinarun, die nordwärts nach unserm Lager führte, und auf einen einzelnen Reiter, welcher auf dieser Fährte zurückgeritten kam. Es war zu unserer Verwunderung der Scheik der Dinarun selbst.

Auch er erstaunte, als er den Ustad erkannte, schien aber hierüber nicht unerfreut zu sein. Die Höflichkeit erforderte, abzusteigen und uns mit ihm niederzusetzen. Im hierauf folgenden Gespräch erfuhren wir etwas für uns sehr Erfreuliches. Er war nämlich heut früh mit seinem Trupp bei uns angekommen und hatte sofort den Scheik ul Islam aufgesucht, welcher sich, ebenso wie Ahriman Mirza, grad bei der Ghul befand. Hier erhielt er seine Weisungen für die folgenden Tage, und da stellte sich denn heraus, daß er mit seinen Dinarun nur ausersehen war, mit auf uns einzuschlagen, natürlich bloß um der lieben Religion willen; einen praktischen Nutzen aber schlug man ihm rund ab. Dazu kam, daß man ihn von hoch oben herunter behandelt hatte, wie einen Menschen, für den es eine Gottesgnade ist, mit solchen Auserwählten überhaupt nur reden zu dürfen. Er hatte klugerweise zu Allem Ja gesagt, sich aber in seinem Grimm hierüber augenblicklich vorgenommen, die Lanze umzudrehen und zu uns überzugehen. Um sich aber das Für und Wider vorher reiflich und ungestört überlegen zu können, hatte er sich später auf das Pferd gesetzt und den einsamen Ritt gemacht, auf dem er hier mit uns zusammengetroffen war.

Da gab es denn für uns kein Bedenken mehr. Der Ustad legte seine Zurückhaltung ab und erzählte ihm Alles, Alles. Wie staunte dieser Mann! Er hatte ja nicht geahnt, für was für Menschen er das Blut seiner Dinarun vergießen sollte, um nicht die geringste Entschädigung dafür zu erhalten, nicht einmal ein höfliches Wort! Für jetzt war er nur mit den Rennpferden und der dazu gehörigen Mannschaft gekommen; seine eigentliche Kriegerschar aber hatte nachzufolgen. Er bot sie uns an und hielt uns beide Hände hin, in welche wir sehr gern die unseren schlugen. Da er nun wußte, welchen Zweck unser Ritt hatte, bat er, uns begleiten zu dürfen; der Ustad willigte ein.

Es ging also nun zu Dreien weiter, westwärts, zu den südlichen Dschamikun, die sich ebenso wohlverbreitet zeigten wie alle Andern. Hierbei wurde das Gesicht des Scheikes immer ernster. Was er bisher von uns nur gehört hatte, das sah er nun, nämlich die große, tödliche Schlinge, welche sich hinter ihm und seinen Leuten zusammengezogen hätte, wenn er auf der Seite unserer Feinde geblieben wäre. Auch in Beziehung auf das Rennen wurde er bedenklich. Die Sahm ging unvergleichlich. Welch ein Unterschied zwischen heut und damals, als der Pedehr sie ritt! Der Araber sagt: Das Pferd ist ein Prozeß; wird er gut oder schlecht geführt, so wird er gewonnen oder verloren! Und nun gar der Syrr! Nur am Halfter! Der Scheik war ganz Bewunderung für ihn, fragte aber nur einmal und dann nicht wieder, als er hörte, daß hier ein Geheimnis obwalte, von welchem nicht gesprochen werden dürfe.

Unsere Runde war grad beendet, als es dunkel zu werden begann. Wir kamen durch das Tal des Sackes und hielten hüben an, weil drüben die Brücke aufgezogen war, der jetzigen Unsicherheit wegen. Es hatte ein Posten drüben zu stehen; wir riefen hinüber; er war aber nicht da.

»So müssen wir hier warten, bis er kommt,« sagte ich, über diese Nachlässigkeit erzürnt.

»Ja, warten wir,« lächelte der Ustad. »Ich erzähle dem Scheik inzwischen von dem verwegenen Sprunge, den nur dein Assil glatt zuwege brachte.«

Er gab den Bericht, ohne von seinem Pferde zu steigen. Als er bei dem betreffenden Augenblicke angekommen war, lenkte er die Sahm nach der Stelle, an welcher wir zum Sprunge ausgeholt hatten. Sich immer noch stellend, als ob er nur erzählen wolle, sprach er weiter. Dann aber warf er plötzlich den Arm hoch empor und rief ganz dasselbe Wort wie wir: »Jatib, jatib, ia Sahm – spring, spring, o Sahm!« Da schoß die Stute vorwärts, packte die Kante des Abgrundes mit sicherem Hufe und flog über ihn hinüber, so glatt, so frei, so leicht, daß der Schrei des Schreckes, den ich ausstoßen wollte, sich in einen jubelnden Ruf der aufrichtigsten Bewunderung verwandelte. Dann stieg er drüben ab, ließ die Brücke nieder und forderte uns auf, gemächlich nachzukommen.

»Nun, was sagst du jetzt zu meiner Sahm?« fragte er mich, indem seine Augen froh in die meinen glänzten.

Ich umarmte ihn; das war genug; eine andere Antwort hatte ich nicht. Der Scheik der Dinarun aber schüttelte sich noch nachträglich vor Entsetzen und versicherte:

»So Etwas sah ich noch nie! Da mag man immerhin das beste Pferd von Luristan und auch den vielgerühmten Iblis bringen, Ihr reitet sie doch nieder. Meine Dinarun aber können froh sein, daß Ihr mir auch noch dieses zeigtet. Wir werden uns hüten, gegen Euch zu wetten!«

Hierauf baten wir ihn, allein nach dem Duar zu reiten und aber ja den Syrr gegen Niemand zu erwähnen. Das Uebrige war schon vorher besprochen worden. Wir beide dagegen blieben auf dem Bergwege durch den Wald und kamen unbemerkt bei unserm Wartturme an. Im Hofe war kein Mensch. Wir ritten schnell über ihn hinweg, brachten unsere Pferde an Ort und Stelle und schlichen uns dann wohin? Hinauf zu unserm Hadschi Halef Omar, wo wir erwartet wurden, denn Schakara war da, welche von dem Ustad in das Vertrauen gezogen worden war. Sie hatte gesagt, daß wir diesen Abend hier im Verborgenen zubringen wollten, und dann den Hof für uns so frei gehalten, daß Niemand von unserer Heimkehr Etwas merkte.

Wir aßen da. Wovon und wie wir uns dabei unterhielten, kann man sich denken. Halef wußte, daß er morgen zum ersten Male hinunter in den Duar dürfe. Es war für ihn auf der Tribüne ein besonderer, höchst bequemer Platz errichtet worden, wo er mit seiner Hanneh das ganze Tal überschauen konnte, ohne sich anstrengen zu müssen. Er freute sich wie ein Kind darauf.

Als die Zeit dazu gekommen war, ging der Ustad mit hinauf zu mir. Wir setzten uns auf das Vordach, um die nun beginnende Höhenbeleuchtung von diesem allerbesten Punkte aus zu genießen. Sie geschah unter einem allgemeinen Feuerwerke, an dem sich Jedermann nach Kräften beteiligte. Der Kurde liebt es ebenso wie der Perser, bei derartigen Veranlassungen, Pulver und Bärlapp nicht zu schonen. Wir blieben vollständig unbeachtet, denn man nahm an, daß der Ustad noch nicht heimgekommen sei. Darum konnte das, was wir sahen, ohne Störung auf uns wirken.

Es wurde Licht allüberall, wohin wir schauten. Die Nacht erhellte sich. Was oben brannte, brannte auch im See. Und all die Menschen, die das Tal erfüllten, erschienen uns wie Wesen einer Welt, die sich im Licht von oben nach aufwärts reflektiert. Und wir zwei Einsamen, die wir hier oben blieben, obgleich man unten auf uns wartete? Nur nicht ins Lob der Tiefe niedersteigen; dann findet sich ihr Tadel nicht herauf! Wir sahen zwar zu, aber was wir dabei mit einander sprachen, das war nicht bestimmt, wie Feuerwerk zu verknallen oder wie totes Holz zu Asche zu verbrennen. Und als die Feuer nach und nach erloschen und Licht um Licht im Tal verglimmen wollte, da stand der Ustad auf, gab mir die Hand und sprach:

»Nun gehn auch wir zur Ruhe. Zur Ruhe! Glaubst du das? Schließ dreifach dich in deinem Zimmer ein, und lege leiblich dich zum Schlafen nieder! Ich komme doch zu dir, wie ich heut morgens kam, und hole dich zum Flug um unsere Grenzen. Auch dort hält mancher Posten für uns Wacht, um uns Bericht und Auskunft zu erstatten. Und kehren wir von unserm Fluge heim, so lassen wir vor Menschen uns nicht sehen, ganz so, wie wir es jetzt am Abend taten. Denn was für diese Welt der Abend ist, das ist für jene andere der Morgen. Schlaf wohl, doch – komme mit.« –

Als ich am andern Morgen auf mein Vordach trat, sah ich, daß der gestrige Tag die vorherige Zahl der Menschen verdoppelt hatte. Draußen an Ahriman Mirza’s Zelt waren die Pferde zu sehen, welche von ihm, den Schatten und den Massaban zum Rennen gestellt wurden. In den Ruinen standen diejenigen des Scheik ul Islam und der Takikurden. Unten am See, rechts, konnte man die Renner der Dinarun besichtigen, und links, unweit der Tribüne, waren die unserigen untergebracht. An diesen Orten wimmelte es von wirklichen und eingebildeten Kennern, welche es für höchst nötig fanden, ihre Urteile hören zu lassen. Mit Ibn el Idrak und dem Scheik der Dinarun hatte der Ustad gleich heut früh das heimliche Abkommen getroffen, daß sie alle ihnen abgenommenen Pferde zurückbekommen würden. Sie konnten also ruhig den Anschein beibehalten, daß sie unsere Gegner seien. Zu bemerken ist, daß die eigentlichen Matadore des Rennens, wie die Sahm, Assil, das »beste Pferd von Luristan« etc. etc. sich nicht bei diesen heut schon ausgestellten Pferden befanden. Weil der Feind seine Trümpfe nicht sehen ließ, taten auch wir es nicht.

Es gab mir Spaß, daß ich Hadschi Halef mit Hanneh schon unten auf seinem Platze sitzen sah. Der Gute hatte es nicht aushalten können. Und womit war er bekleidet? Natürlich mit dem Ehrengewande vom Schah-in-Schah! Auch hatte er alle seine Waffen bei sich. Ich sah später sogar die bekannte Nilpferdpeitsche in seiner Hand. Sie kam dem »Henker« dann zu statten!

Nach dem Frühstück ging ich zu meinen Pferden und dann zum Ustad, bei dem ich den Hauptmann der Leibgarde fand. Sie sprachen über den, den ich soeben erwähnt habe, nämlich über Ghulam el Multasim, den Henker. Diesem dreisten Patrone war alles bisher gegen uns Unternommene noch nicht genug gewesen. Er hatte zunächst drüben bei den Taki öffentlich und in der schandbarsten Weise gegen den Ustad gesprochen und dieses gestern sogar bei uns hier fortgesetzt. Er war mit seinem Anhange bald hier, bald da im Tale aufgetaucht und hatte immer ganz genau dieselbe einstudierte Rede gehalten, in welcher der Ustad als ein Mensch bezeichnet wurde, vor welchem man Andere nur warnen müsse. Dieser Ustad gebärde sich als ein treuer Anhänger des Schah-in-Schah, sei es aber nicht. Auch gebe er sich den Anschein, daß ihm nur das Wohl der Dschamikun am Herzen liege, sei aber in Wahrheit nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht. Vor solchen Leuten habe man sich mehr zu hüten, als selbst vor den allerschlimmsten Massaban, und so möge man sich nicht darüber wundern, daß er – nämlich der Henker – es für seine Pflicht erachte, diesen höchst gefährlichen Verführer des Volkes endlich einmal zu entlarven. Er fordere hiermit sämtliche Dschamikun auf, ihren Ustad fortzujagen, der sich zwar rühme, Menschen glücklich machen zu wollen, aber höchstens nur imstande sei, unglückliche, beulige und schwärige Pferde in die Welt zu setzen. Er – nämlich der Henker, – werde das am Kiss-y-Darr beweisen!

Weil ich erst am Schlusse dieser Unterredung kam, teilte mir der Hauptmann das Resultat derselben mit:

»Ich habe den Ustad gebeten, sich ja nicht an diesem unsaubern Patron zu beschmutzen, sondern die Sache lieber mir zu überlassen, der ich die Polizei des Schah-in-Schah vorstelle. Für eine so zügellose und „abgrundtiefe“ Anmaßung und Frechheit ist einzig nur die Peitsche richtig. Er wird sie bekommen, ganz bestimmt! Wann und in welcher Weise, das lehrt der Augenblick. Gebt mir nur die von ihm zurückgelassenen Kleidungsstücke, bei denen sich auch das Messer und das geheime Alphabet befindet. Weiter brauche ich nichts.«

Er bekam diese Gegenstände, und dann ging ich mit dem Ustad und Dschafar Mirza hinunter an den See, weil die Zeit gekommen war, die Preisrichter zu wählen. Das ging sehr schnell. Oberrichter wurde der Hauptmann der Leibgarde. Die Andern waren Dschafar, Hadschi Halef, Ibn el Idrak und der Pedehr. Andere Konkurrenten gab es nicht, ein sehr triftiger Grund, auf allen Seiten mit dieser Wahl einverstanden zu sein.

Hierauf wurden die Bedingungen vereinbart. Sie waren sehr einfach: jede Aufforderung ist gegenseitig anzunehmen, weiter nichts! An diesen Verhandlungen nahmen auch der Scheik ul Islam, Ahriman Mirza und die Khanum Gul teil. Letztere hatte ihren Tribünenplatz zwischen den beiden Erstgenannten, doch nicht in unserer Nähe. Besonders aber war der Henker wegen des beabsichtigten Mordanschlages auf Dschafar Mirza stets von uns fern und unter strenger, aber unbemerkbarer Aufsicht zu halten.

Punkt zwölf Uhr sollte das Vorrennen beginnen, zunächst das heitere. Die Lastkamele, Esel, Ziegenböcke, Schafe und sonstige Konsorten standen schon bereit. Neben der Tribüne war ein erhöhter Stand errichtet worden, von welchem aus die einzelnen Touren angesagt werden sollten. Eine Kärna hatte das Zeichen dazu zu geben. Eben erscholl der Ton dieses trompetenartigen Hornes, und der Ausrufer wollte hinansteigen, da blieb er aber unten stehen, weil er verhindert wurde. Nämlich von Ghulam el Multasim, dem Henker, welcher auf seinem turkmenischen Tiukihfuchs6 geritten kam und grad an dem erhöhten Stand halten blieb. Er führte an einer langen Leine ein zweites Pferd, welches einen ebenso lächerlichen wie traurigen Anblick bot. Lächerlich war die Art und Weise, in der man es herausgeputzt hatte, traurig aber der Körperzustand, in dem es sich befand. Sein Alter betrug wohl sicher über zwanzig Jahre. An Schwanz und Mähne absichtlich dünn gerauft, trug es an diesen Stellen anstatt der Haare nur angebundenes Gerstenstroh. Kopf, Leib und Beine waren mit Dutzenden von Pflastern beklebt. Einen Sattel hatte es nicht, und so sah man, wie fürchterlich wund es geritten war. Aber in das Maul hatte man ihm eine jener fürchterlichen Trensenkandaren gezwängt, mit deren Hilfe man sogenannte »Pferdeteufel« entweder zum Gehorsam oder zum Tode reitet.

»Allah verfluche diesen Schinder!« hörte ich des empörten Hadschi Stimme hinter mir. Und Kara, sein neben ihm sitzender Sohn, fügte in gleichem Abscheu hinzu: »Darf man das dulden? Vater, gib mir deine Kurbadsch 3)! Ich fühle, daß ich sie brauchen werde!«

So dachte und fühlte der »unzivilisierte« Sohn der Wüste, nicht aber der sich hoch über ihm dünkende Renegat der christlichen Kirche, denn das war der Multasim! Er schwang sich von seinem Turkmanen, stieg an Stelle des Ausrufers die Stufen hinauf, so daß er von Jedermann zu sehen war, und rief mit lauter, weithin schallender Stimme:

»Das Zeichen wurde gegeben; das lustige Rennen beginnt. Der Scheik ul Islam hat mich beauftragt, den Anfang zu machen, mich, den die Gunst des Schah-in-Schah erfreut, und der ich zugleich die vereinigte Stimme aller rechtgläubigen Anhänger des Propheten bin. Ich fordere jeden Dschamiki hiermit zum lächerlichen Kampf heraus, vor allen Dingen ihren Ustad selbst, von dem ich Euch folgendes zu erzählen habe.«

Und nun begann er, abermals jenen auswendig gelernten Vortrag zu halten, welcher schon mehr als genügend bezeichnet worden ist. Seine Rede strotzte förmlich von Lügen, Verdrehungen und Beleidigungen. Man hörte jedem seiner Worte an, daß es nur daraufhin überlegt und angebracht worden war, der gewissenlosesten Gehässigkeit zu dienen und der ekelhaftesten Freude am Skandal willen zu sein. Es wurde mir fast zum Erbrechen übel! Wie bewunderte ich die Ruhe und Selbstbeherrschung unserer Dschamikun, die ihn vollständig ausreden ließen, ohne daß es einem Einzigen einfiel, ihn auch nur anzurühren! In unserem hochgesitteten Abendlande hätte man solcher Niederträchtigkeit wohl sehr schnell Einhalt getan! Denn da wacht, Gott sei Dank, besonders die öffentliche Presse darüber, daß solchen Prangerknechten und Ehrenhenkern so schnell wie möglich das geschieht, was ihnen zuzukommen hat. Hier aber verhielt man sich bis zum letzten Wort des Vortrages vollständig still. Dann ließ der Scheik ul Islam ein schmetterndes »Ssyhaßyh = bravo, herrlich!« hören. Ahriman schrie: »Chähi, chähi!« was ganz dieselbe Bedeutung hat. Die Ghul schlug die fetten Hände zusammen und rief: »Bäh, bäh!« der gebräuchliche Bewunderungsruf für Taschenspielerkunststücke. Einige nahestehende Taki, Massabahn und Schatten stimmten wohl oder übel mit halber Tonkraft ein; im übrigen aber herrschte Schweigen; kein einziger Laut des Mißfallens war zu hören. Anstatt dieses allgemeine Schweigen kluger Weise für bedrohlich zu halten, nahm der Henker in seiner beispiellosen Verblendung an, daß es ein Zeichen der Zustimmung sei, und fuhr fort:

»Schaut hin! Da sitzt nun dieser Ustad mitten unter Euch, auf Eurem schönsten Platze! Ich frage Euch: Was tut er wohl, indem ich ihn vernichte und zermalme? Er lächelt, lauscht und schweigt! Ich weiß, dies Lächeln soll Euch imponieren, jedoch bei mir verfehlt es diesen Zweck. Es soll den Anschein geben, als ob er mich verachte, ist aber nichts, als nur Verlegenheit! Und warum dieses Schweigen? Wozu hat er den Mund? Wer angegriffen wird und sich nicht schuldig fühlt, der hat doch wohl die Pflicht, sich zu verteidigen! Er aber sagt kein Wort. Er hat geschwiegen und schweigt immer weiter, als ob –«

Er kam nicht weiter. Der Hauptmann der Leibgarde, der sich mit einigen seiner Leute dem Ausruferstande unauffällig genähert hatte, sprang jetzt zu ihm hinauf, faßte ihn beim Genick und rief:

»Er hat geschwiegen, weil er sicher wußte, daß jede faule Frucht von selbst vom Baume fällt! So falle denn! Hinab mit dir, denn deine Zeit ist da!«

Er schleuderte ihn seinen Leuten zu, die ihn sofort packten und in ihr naheliegendes Zelt führten. Da sprang der Scheik ul Islam ebenso wie Ahriman Mirza auf.

»Was soll das sein?!« rief der Erstere aus. »Wer gibt dir das Recht, dich an diesem Ehrenmanne zu vergreifen?! Er steht unter meinem Schutz!«

»Schutz?« lachte der Hauptmann ihm von oben herunter zu. »Wenn du nur fähig wärest, dich selbst zu schützen!«

»Auch unter dem meinigen!« behauptete Ahriman Mirza drohend. »Was hast du überhaupt hier bei den Dschamikun zu suchen?«

»Das will ich dir gern sagen: Ich suche nach dem Obersten der Schatten, der hier seit kurzer Zeit sein dunkles Wesen treibt. Ich denke, daß ich ihn bald finden werde, da ich nun seinen Freund und Henker habe! Setzt Euch nur augenblicklich wieder nieder! Ich möchte sehen, ob es Euch wohl gelänge, so still zu sein und so bewußt zu lächeln, wie es dem Ustad vorgeworfen wurde!«

»Welch eine Frechheit! Ich bin ein kaiserlicher Prinz und kann dich augenblicklich köpfen lassen, von deinen eigenen Leuten!«

»Versuche es!« Er zog den kleinen Lederumschlag aus der Tasche, hielt ihn empor und fuhr fort: »Kennst du wohl dieses Täliq-Alphabet, mit dessen Hilfe ich gewisse Briefe lese? Ich las auch folgenden: An Ghulam el Multasim, meinen Henker! Es ist die Zeit gekommen, daß die Gul-i-Schiraz auf der Brust von Dschafar Mirza zu erblühen hat. Das soll am fünften Tage des Monates Schaban geschehen, zur Zeit des Abendgebetes, keine –«

»Wo hast du das her, woher?!« brüllte Ahriman ihm mitten in den Satz hinein, indem er sich über die Spitze der Tribüne schwang, um ihm das Alphabet zu entreißen.

Da stand der Ustad auf, nahm ihn fest und scharf in das Gesicht und rief ihm zu:

»Schau her zu mir, Mirza; ich kann es dir sagen! Dein Chodem war bei ihm und hat es ihm verraten! Wer aber seinen Chodem von sich läßt, der ist verrückt – verrückt – verrückt!«

Da blieb Ahriman halten, fuhr sich mit der Hand schnell an die Stirn, als ob er da geschlagen worden sei, stieß einen Schrei aus, sprang von der Tribüne herab und verschwand fliehend in der Menge der dastehenden Leute. Es gab nur Wenige, die diese rasche, stille Flucht begriffen.

Das geschah, als der Henker eben wieder aus dem Zelte gebracht wurde. Er war nur mit der Hose bekleidet, und man hatte ihm den Oberkörper und die Arme mit Oel eingerieben. Einer der Trabanten trug den Kleiderpack und das Messer hinter ihm her. Der Hauptmann befahl, diese Sachen zum Scheik ul Islam hinzubringen, und sagte diesem:

»Du nahmst den „Ehrenmann“ in deinen Schutz. Wir haben Mann und Ehre so genau getrennt, wie er es tat, um Henkersknecht zu werden. Der Mann entfloh; die Ehre aber ließ er weislich liegen. Wir hoben sie ihm auf, weil wir ja wußten, daß er wiederkäme. Nun ist er da, und abermals als Henker, mit Oel gesalbt, ein schlüpfriger Gesell! Ich lasse ihn jetzt peitschen, vor aller Derer Augen, vor deren Ohren er die hochberühmte Rede hielt, die du mit deinem Ssyhaßyh belohntest. Heb ihm inzwischen seine Ehre auf, da er dein Schützling ist. Hat dann der Mann die Hiebe überstanden, so ziehe ihm die Ehre wieder an, und gib den Taki ihren Ustad wieder!«

Der Scheik ul Islam sagte kein Wort, als ihm die Sachen hingelegt wurden. Er wäre wohl wie gern fortgegangen, mußte aber bleiben, weil seine Entfernung ihn ja erst recht blamiert hätte. Auch der Henker war still.

Er stand zwischen zwei Trabanten, mit zusammengepreßten Zähnen und funkelnden Augen, deren Blick vergeblich nach Hilfe suchte. Da geschah Etwas, was ihm Gelegenheit zur Flucht zu bieten schien. Er hatte wahrscheinlich schon daran gedacht, sich ganz unerwartet auf sein Pferd zu werfen und davon zu reiten; aber dieses hing ja mit dem »Schundroman« zusammen, und ehe es ihm gelungen wäre, die lange Leine zu lösen, hätte man ihn wieder festgehabt. Da stand nun jetzt der gute, mitleidige Kara Ben Halef von seinem Platze auf und begab sich nach vorn, um nach den Gebrechen des armen Tieres zu sehen. Er untersuchte zunächst die Druckwunden und dann die bepflasterten Stellen.

»Das ist ja alles Lüge!« rief er endlich aus, nachdem der Ausdruck seines Gesichtes immer erstaunter geworden war. »Es ist eine gradezu bodenlose, abgrundtiefe Albernheit, uns diesen »Kiss« als »Darr«, uns diesen »Roman« als »Schund« vorzuführen! Der einzige Schund an diesem zwar alten, aber sonst ganz vortrefflichen Pferde sind die betrügerischen Pflaster, diese frech aufgeklebten Behauptungen, unter den man vergeblich nach gültigen Beweisen sucht. Wäre es nicht so wund geritten, so setzte ich mich jetzt auf, um zu zeigen, daß –«

»Zeige es doch, zeige es!« unterbrach ihn da der Henker. »Deine Dummheit macht mich frei!«

Kara hatte nämlich während seiner Untersuchung des Pferdes die Leine gelöst. Nun sprang der Gefangene zwischen den Trabanten hervor, schwang sich auf seinen Fuchs und jagte davon, auf der Bahn dahin, die für das Rennen vollständig freilag. Jedermann sprang auf, und fast auch Jedermann schrie. Kara aber war nicht im Geringsten verblüfft. Die Kurbadsch seines Vaters noch von vorhin in der Hand, schnellte er sich sofort auf den sattellosen Kiss und rief:

»Ich bin schuld; darum bringe ich ihn auch wieder!«

Ein scharfes, aufforderndes »Chchchchchhhhh« trieb das Pferd vorwärts. – Das erste Rennen begann, aber freilich ein ganz anderes, als wir vermutet hatten.

Nur Diejenigen, welche sich in Hörweite von der Tribüne befanden, wußten, um was es sich handelte, die vielen, vielen Andern aber nicht. Sie hielten die ganze Bahn rund um den See besetzt und drängten sich nur noch enger und dichter zusammen, als sie die beiden Reiter kommen sahen, voran der Henker, für den es erst an dem Ende des Sees eine Aussicht gab, durch die Menschen zu brechen und dann nach einem der Pässe zu entkommen. Hinter ihm Kara, der dies sehr wohl erkannte und sich darum bemühte, ihn vorher einzuholen. Der langbeinige Turkmene griff weite Sätze; der kleinere zierlichere Kiss aber ging trotz seines Alters leichter und schneller. Hierzu kam ein Umstand, an den der Henker nicht gedacht hatte; er schleppte nämlich die lange Leine nach, und da diese am Ringe des Brustschildes festgebunden war, konnte er sich ihrer nicht entledigen. Sie kam dem Fuchs wiederholt zwischen die Beine. Das störte ihn. Er wurde vorsichtig, dann gar bedenklich. Auch die Zuschauer machten ihn irr. Diese sahen, daß der Reiter halb nackt war. Sie sahen ebenso den sonderbaren Aufzug des Kiss und die drohend geschwungene Peitsche des Verfolgers. Diese Umstände sagten ihnen, daß es sich nicht um eine Wette, sondern um eine wirkliche Flucht handle. Sie schrieen einander zu, den Henker nicht etwa ausbrechen zu lassen. Und dieser Lärm machte den Fuchs scheu, nicht aber den anders gearteten Kiss.

So kam es, daß der Letztere dem Ersteren immer näher rückte und ihn grad da einholte, wo es die einzige Möglichkeit gab, zwischen den Bergen hinauszukommen. Kara war klug. Er ritt an der äußeren Seite und hieb mit der Nilpferdpeitsche so auf den nackten Henker ein, daß dieser auf der innern bleiben mußte und also dem See immer wieder zugedrängt wurde. Es hagelte Hieb auf Hieb. Was dabei für Worte fielen, das erfuhren wir erst später. Der Henker bot Himmel und Hölle auf, Kara zu bewegen, ihn entkommen zu lassen, bekam aber als einzige Antwort nur Hiebe und immer nur Hiebe. So wurde er nach der andern Seite des Sees und dieser entlang gepeitscht und getrieben, uns wieder näher und immer näher, rund auf der Bahn, am Tempelweg vorbei, durch den Duar und endlich bis her zur Tribüne. Er war fast von Sinnen. Er schäumte. Da trieb Kara den Kiss noch einmal an, kam vor, entriß Jenem den Zügel, gab einen Ruck, daß beide Pferde sich bäumten. Der Henker mußte herunter; Kara ihm nach, indem er rief:

»Schuft, ich schlage dich tot, wenn du nicht antwortest. Ist Kiss ein Schund oder nicht?«

Der Gefragte stand da, an allen Gliedern zitternd. Er brachte kein Wort hervor.

»Schund oder reines, edles Blut?« wiederholte Kara, indem er ihm die Peitsche über das Gesicht herüberstrich.

»Kein Schund, kein Schund! Edles, reines Blut!« klang da nun das Geständnis.

»Von Euch zum Schund gelogen?«

»Ja – gelogen!« stammelte der Henker aus Angst vor der wieder drohenden Peitsche.

»Das bittest du dem Ustad ab! Sofort, sofort!«

Ein neuer Hieb sauste nieder.

»Ja doch – ja doch – ich bitte; ich bitte!«

Er faltete beide Hände und hob sie flehend empor. Was bildete er doch jetzt, hier unten, für eine ganz andere Figur als vorhin dort oben, wo er auf der schamlos angemaßten, hohen Stufe stand und wie eine unfehlbare Gottheit vom Himmel niederschmetterte! Tausende und Abertausende hatten gedacht, an ihn glauben zu müssen, weil sie Wunder meinten, was ein gefährlicher Multasim zu bedeuten habe, gegen dessen Rachsucht man keine Waffe besitze. Und nun kam hier ein ganz einfacher, junger Mensch und zeigte vor ebenso tausenden von Augen, wie es um die Wichtigkeit dieser Personage eigentlich stehe: Nur der Stand hatte sie verhüllt; in ihrer jetzigen, entlarvten Blöße aber war sie weniger, viel weniger als – nichts!

»So bin ich mit dir fertig. Marsch, fort, zu deinem Richter!« sagte Kara, indem er ihn mit der Peitsche hin zum Hauptmanne trieb, welcher ihn mit den Worten empfing:

»Die Prügel hast du bekommen. Du holtest sie dir selbst. Nun geh zum Scheik ul Islam, deinem Beschützer! Der zieht dich wieder an, um den »Ehrenmann« von Neuem herzustellen. Dann hängen wir dich auf. Der Mir Dschassab steht schon bereit – der Henker für den Henker!«

Das brachte eine seltsame Wirkung auf den Multasim hervor. Sein bisher angstverzerrtes Gesicht nahm einen ganz anderen Ausdruck an. Er kroch in sich zusammen und fragte:

»Gehenkt? Gehenkt soll ich werden? Wirklich?«

»Ja, und zwar sofort, damit ich Dschafar Mirza rette!«

»So flüchte ich mich in den Schutz des Scheik ul Islam, der mich verteidigen muß, wenn er nicht selbst zugrunde gehen will. Ich würde Alles verraten!«

Er rannte hin zu ihm. Dieser aber streckte beide Hände abwehrend gegen ihn aus und rief:

»Bleibe mir fern, du Unvorsichtiger! Warum hast du dich entlarven lassen! Wer nicht einmal das Alphabet der Sillan geheim zu halten weiß, der ist auch imstande, die Absichten des heiligen Islam an das Laientum zu verraten! Du bist ein abtrünniger Christ, also überhaupt Verräter gewesen, seit ich dich kenne. Nun drohst du auch mir mit Verrat. Hebe dich weg! Ich sehe mit Freuden dich hängen!«

Da brüllte der Henker laut auf. Er trat, anstatt sich zu entfernen, ganz nahe an ihn heran, ballte die Fäuste und sprach, infolge seines nicht zu überwältigenden Grimmes in die unbeschränkteste Offenheit verfallend:

»Ja, du hast recht; ich bin ein Verräter, ein Verräter überhaupt! Ich habe nicht nur die Menschen verraten, sondern auch Gott und mich selbst. Ich verriet meinen christlichen Glauben. Ich täuschte sodann den Beherrscher. Ich betrog den Fürsten der Schatten. Ich täuschte auch dich, genau so, wie du selbst täuschest. Aber einmal lüge ich nicht, nämlich jetzt, wenn ich öffentlich beichte! Soll ich gehangen werden, so hänge man gleich Zwei! Die Dritte und den Vierten wird man wohl laufen lassen. Dir aber knüpfe ich die wohlverdiente Schlinge!«

Er wendete sich von ihm ab, zu uns, richtete sich hoch auf und wollte sprechen. Da griff der Scheik ul Islam nach den vor ihm liegenden Kleidungsstücken, bei denen auch das Messer des Henkers lag, faßte es, zuckte es gegen ihn und drohte:

»Schweig, Wahnsinniger, sonst stirbst du an deiner eigenen Klinge!«

»Ob Strick oder Klinge, das ist nun Alles gleich; aber ich spreche!« entgegnete der Multasim, schnell zugreifend, um sich zu wehren.

»Dann fahre hin, und rede in der Hölle, aber nicht hier!«

Im nächsten Augenblicke hatten sie sich gefaßt. Die Khanum Gul schrie vor Entsetzen auf, gab Raum und eilte fort. Niemand schaute ihr nach, denn aller Augen waren auf die beiden Kämpfenden gerichtet, welche einander niederzerrten und dann unter den Sitzen weiterrangen, still, lautlos, wie zwei ineinander verbissene, wilde Tiere.

Da plötzlich gab es einen Blitz und hoch über uns einen lauten Krach. Der Donner rollte. Unsere ganze Aufmerksamkeit war so ausschließlich hier unten festgehalten worden, daß wir die schweren Wetterwolken gar nicht beachtet hatten, welche hinter dem Ruinenberge aufgestiegen waren und nun über dem Alabasterzelte drohend kulminierten. Wir kannten diese Art von Wetter, welche sich in jenen Bergen ganz unerwartet zusammenziehen und alle Gewalt der Elemente entfesselt zu haben scheinen7. Darum wußten wir sogleich, daß wir auf unser lustiges Vorrennen wenn nicht ganz, so doch für jetzt zu verzichten hatten. Es fielen schon gleich einzelne schwere, erbsengroße Regentropfen.

Da war der Kampf auf Leben und Tod zu Ende. Der Scheik ul Islam kam unter den Sitzen hervorgekrochen und richtete sich auf, ganz ermattet, langsam, blutend. Er sah sich mit stierem Blick im Kreise um und rief mit heiserer Stimme:

»Es kam so, wie ich sagte: Er ist zur Hölle gegangen. Dort mag er reden, was er will, so wird es doch nichts schaden. Die Teufel glauben nicht so schnell wie die Menschen! Ich bin verwundet. Bringt mich nach meinem Zelte!«

Einige Taki eilten hinzu, um ihm zu helfen. Man zog den Multasim hervor. Er war tot. Das Messer steckte bis an den Griff in seiner nackten Brust. Da blitzte und krachte es abermals, und der Regen begann in einer solchen Weise sich zu ergießen, daß ich schleunigst nach dem Zelte Agha Sybils eilte, wo ich, der längst Erwartete, von meinem alten Bagdader Freunde und all den Seinen mit herzlicher Freude aufgenommen wurde.

Mein Erstes war, gute Plätze für Halef, Hanneh und Kara zu reservieren, welche natürlich nicht auf sich warten ließen, und dann geschah der Freundschaft und der Vergangenheit ihr Recht, mochte es draußen gießen oder strömen und hier innen tropfen oder träufeln, wie es wollte. Auch Kepek wurde erwähnt. Man hatte ihn wegen seiner unbehilflichen Körperfülle so schnell wie möglich als Fracht nach Isphahan gesandt, wo sein Herr sich für die Zukunft mit ihm niederlassen wollte. Die »Festjungfrau« war als lebenslängliche Köchin in Aussicht genommen, und Tifl hatte dabei als Pendant zu Kepek tüchtig mitzuessen.

Der Regen währte ausnahmsweise stundenlang. Als er einmal eine Pause machte, schickte Schakara für mich und Kara Pferde, für Halef und Hanneh aber eine Doppelsänfte, mit deren Hilfe wir schnell nach Hause kamen. Der Ustad folgte erst später. Wie umsichtig Schakara war, bewies sie jetzt auch wieder dadurch, daß sie unsere Pferde aus dem schweren Regen in das bereits wohlbekannte Gewölbe gerettet hatte.

Der Ustad kam mit Dschafar Mirza, eben als das zurückgekehrte Gewitter mit einer zweiten, noch längeren Entladung einsetzte. Sie hatten im Hause des Chodj-y-Dschuna ein bequemes Unterkommen gefunden und von dort aus Alles beobachtet und nach Kräften dirigiert. Sie nahmen den von dem Unwetter angerichteten Wirrwarr nicht von der tragischen, sondern von der komischen Seite, und so fiel es auch mir nicht ein, mir um irgend Etwas betrübte Gedanken zu machen. Als ich nach der Leiche des Henkers frug, erfuhr ich, daß man sie nach den Ruinen geschafft und dort dem Scheik ul Islam vor das Zelt gelegt habe. Sein Pferd war vom Hauptmanne konfisziert worden; den Kiss-y-Darr aber hatte der Ustad jetzt mitgebracht, um ihn wieder gesund zu pflegen.

Der Regen ließ auch für später nicht nach. So war nichts mehr zu machen, und wir gingen in der Hoffnung schlafen, daß er sich bis morgen ausgegossen haben werde. – Es legte sich heut wohl kein Mensch so hochbefriedigt, so stolz nieder wie Hadschi Halef und Hanneh. Ihr Sohn war unbedingt der Held des heutigen Tages gewesen, und ich hatte ihnen gesagt, daß dies nicht etwa Zufall, sondern in der vortrefflichen Begabung Kara’s begründet sei. Das war eine Wonne für meinen Hadschi, der, als ich am andern Morgen aufstand, soeben in die Sänfte stieg, um sich nach der Tribüne tragen zu lassen, denn Ahriman Mirza und der Scheik ul Islam hatten einen Zusammentritt des Preisgerichtes und der Dschemma gefordert, weil sie gleich heut früh einen wichtigen Antrag zu stellen hätten. Bei einer solchen Beratung mußte der »Scheik der Hadeddihn« natürlich gegenwärtig sein, und wenn er noch so schwach gewesen wäre! Der gestrige Tag aber war ihm außerordentlich gut bekommen, natürlich infolge der Freude über das brave Verhalten seines Sohnes.

Nach einer Stunde, als die Verhandlung vorüber war, welche der Ustad geleitet hatte, kam dieser selbst nach dem Hause herauf, um mich aufzusuchen und abzuholen. Da erfuhr ich denn, welche Wünsche Ahriman Mirza und der Scheik ul Islam vorgebracht hatten. Diesen beiden Herren schien nämlich der Gedanke, sich nach der gestrigen Blamage den ganzen heutigen Tag den Blicken einer so großen Volksmenge auszusetzen, sehr peinlich zu sein. Sie hatten sich also schon am frühesten Morgen darüber geeinigt, daß das Rennen, wenigstens für sie und ihre Zwecke, so kurz wie möglich abzumachen sei. Daher ihr Antrag. Dieser lautete: Die edlen Pferde, welche eigentlich laufen sollten, laufen nicht, werden aber als Gewinne gestellt. Wirklich rennen werden von jeder Seite nur drei. Wer in zwei Rennen siegt, gewinnt sämtliche Pferde. Keiner von diesen drei Matadoren darf zweimal laufen, und sie vorher vorzuzeigen, ist nicht nötig. Die Preispferde müssen gegenseitig von gleichem Werte sein.

Was ich nun erwartete, das war auch geschehen: Die Dschamikun hatten diesen Antrag einstimmig angenommen, und man war unten am See jetzt schon sehr fleißig dabei, die Preise zu taxieren und zu vergleichen. Diese Bedingungen bezogen sich auch auf ein voranzugehendes Kamelrennen, bei welchem die Chancen der Dschamikun freilich nicht günstig standen, weil ihre Tiere mehr in die Berge als für den Schnellauf in der Ebene paßten, während dem Aemir-y-Syllan jedenfalls die besten Eilkamele seiner Schatten und Massaban zur Verfügung standen. Dieser Mangel aber wurde, zumal unter den neuen Bedingungen, durch die beiden Leibkamele unserer Hanneh vollständig ausgeglichen.

Da wir nur Syrr verbergen, sonst aber mit unsern Matadoren nicht Verstecken spielen wollten, gab der Ustad Befehl, die Letzeren für unsere Boten bereit zu halten. Syrr jedoch wurde mit alten Decken behangen und ganz heimlich hinunter zum Chodj-y-Dschuna gebracht und in dessen Hof gestellt, den Niemand betreten durfte. Als wir dann gehen wollten, fragte Schakara, ob sie dieses gewiß seltene Rennen mit ansehen dürfe, und wir freuten uns darüber, ihr einen guten Platz zwischen uns Beiden versprechen zu können.

Was das Wetter betrifft, so war es so, wie wir es uns gar nicht besser hätten wünschen können. Es hatte zwar bis spät nach Mitternacht »wie aus Flußmulden« gegossen; alles Buschwerk hing von der Schwere des herabgestürzten Wassers tief niederwärts; die Stauden und Gräser lagen hart am Boden, und gar mancher Baum war mitsamt den Wurzeln ausgewuchtet worden; aber die Flut hatte sich vollständig in den See verlaufen; die Wege waren schnell wieder getrocknet, und die Rennbahn lag sogar noch besser da als gestern, weil die Wucht der Regenmassen von ebnender Wirkung gewesen war.

Als wir mit Dschafar Mirza, der nun wahrscheinlich seines Lebens wieder sicher sein konnte, hinunterkamen, sahen wir, wie sehr Ahriman und der Scheik ul Islam sich beeilt hatten, ihre Preise zu stellen. Sie waren beide persönlich da, um darüber zu wachen, daß ihnen nur Gleichwertiges gegenübergesetzt wurde, denn es lag ja in ihrer Absicht, uns alles Gute abzugewinnen und dann über den zurückgebliebenen Schund zu lachen und zu lästern. Dadurch hatten sie aber auch sich selbst gezwungen, nur ihr Bestes daranzuwagen, und ich war sehr neugierig darauf, wie dieses »Beste« sich wohl ausnehmen und bewähren werde.

Was zunächst nicht die Pferde und Kamele sondern die beiden genannten Personen betrifft, so machte der Scheik ul Islam heut fast denselben Eindruck, den gestern der »Schundroman« gemacht hatte, ja einen fast noch schlimmeren, weil die vielen Schnittwunden und Schmarren, welche er im Kampfe mit seinem eigenen Schützling erhalten hatte, keine gefälschten, sondern wirkliche waren. Das Messer schien ihm wiederholt entrissen und gegen ihn selbst gerichtet worden zu sein. Besonders hatte er das Gesicht sehr arg bepflastert, und an der einen Wange und dem Kinn fehlte ihm ein großes Stückchen Haut mitsamt dem Bart. Der Rest des letzteren war nun nicht mehr eine Zierde für ihn, sondern vielmehr eine Schande. Er gab sich aber die Miene, als ob ihm das im höchsten Grade gleichgültig sei. Ahriman Mirza zwar war sehr still und in sich gekehrt. Bald hatte sein Gesicht einen geradzu blöden Ausdruck; bald funkelten seine Augen in grimmiger Energie. Alles, was er tat, war unsicher und überhastet, und sehr oft horchte er ängstlich auf oder schaute wie erschrocken hinter sich, als ob er sich von etwas Unsichtbarem ärgerlich beobachtet und beeinflußt fühle.

Sie hatten über dreißig Kamele gestellt. Diese waren vortrefflich, einige davon sogar ausgezeichnet, ausnahmslos nur echte, hochrassige Schuturi Ba’aud. Der Umstand, daß die Dschamikun nur Bergkamele besaßen, die aber als solche von ganz demselben, vielleicht noch höherem Werte waren, wurde von ihnen bereitwillig durch die Zahl ausgeglichen: Sie stellten zehn Stück mehr dagegen. In Beziehung auf die Taki und Dinarun war dies nicht nötig. Diese brachten gegen vierzig Stück zusammen, was die Dschamikun mit ebenso vierzig erwiderten.

In Betreff der Pferde lagen die Verhältnisse umgekehrt. Die Gegner mochten in Beziehung auf ihre Matadore denken, was sie wollten; der Durchschnitt aber stellte sie tief. Sie konnten nicht einmal so tun, als ob sie das leugnen wollten. Ihr Aerger hierüber war groß; sie verschluckten ihn aber im stillen. Sie brachten mit den Dinarun und Taki zwar gegen sechzig Stück »edles Blut« zusammen, wie sie es nannten, mußten es sich aber gefallen lassen, daß wir mit nur vierzig parierten.

Nach Abschluß dieser Verhandlungen wurde das Resultat bekannt gegeben und schnell über das ganze Tal verbreitet. Nun schickten wir nach den beiden Eilkamelen, welche von einem der mitgebrachten Hadeddihn und von Hanneh geritten werden sollten; sie tat das nicht anders; sie wollte auch einmal zeigen, daß man kann, wenn man will! Unser drittes war das schnellste Kamel der Dschamikun, leider aber schon ziemlich alt und dabei eigenwillig. Als die Gegner ihre drei Trümpfe brachten, sahen wir freilich, daß es nicht leicht war, gegen solche Kamele aufzukommen. Der Scheik ul Islam und der Mirza gebärdeten sich sehr siegesgewiß; der alte, bigotte Scheik der Taki ebenso. Sie lachten, als der Dschamiki mit dem seinigen kam. Und sie lachten noch lauter, als unsere Bischarihn-Hedschihn gebracht wurden und sie nun erfuhren, daß eines derselben von einem Weibe geritten werden solle.

Es wurde eine Schnur quer über die Bahn gezogen. An ihr hatten sich die sechs Kamele in einer Reihe neben einander niederzulegen. Sie wurden bestiegen. Sobald das Zeichen gegeben wurde, hatte man die Schnur zu entfernen. Es handelte sich hier um einen Gesamtlauf, während die Pferde zu zweien rennen sollten.

Unsere Hanneh schwang sich mit einer Miene in den Sattel, als ob es sich um etwas ganz Alltägliches handle. Sie hatte nur den dünnen Medrek in der Hand, ein leichtes Stäbchen, mit welchem man dem Hadschihn zeigt, nach welcher Seite es sich zu halten habe. Die Gegner aber waren mit schweren, schmerzenden Hetzpeitschen versehen.

Da ertönte die Kärna. Die Schnur verschwand. Sechs Zurufe erschollen. Aber nur fünf Kamele gehorchten. Dasjenige des Dschamiki sprang nicht auf. Es blieb liegen. Es brüllte vor Zorn über die große Menschenmenge, vor der es sich produzieren sollte. Das paßte ihm nicht. Unsere Gegner lachten; wir aber auch. Der Dschamiki lachte schließlich ebenso mit, stieg ab und gab seinem Kamele so lange gute Worte, bis es aufstand und sich von ihm fortbringen ließ.

Inzwischen waren die drei Gegner sofort im eiligsten Laufe davongeritten, Hanneh und der Hadeddihn aber erst langsam hinterher. Der Scheik ul Islam jubelte laut, denn der Abstand, den es gab, war nach seiner Ansicht bei der nur einmaligen Runde, die es gab, fast gar nicht einzubringen. Aber die Schnelligkeit unserer Hedschihn vergrößerte sich; sie vergrößerte sich auch dann noch, als sie diejenige der Vorläufer erreicht hatte; sie nahm zu, immer zu, als ob sie sich bis in das Unheimliche steigern wolle. Jetzt war der hinterste Gegner erreicht; er wurde überholt. Bald auch der zweite. Der erste war weiter voran. Er schaute sich wiederholt nach dem Verhängnisse um, dem er so gern entrinnen wollte und doch nicht konnte. Es kam; es kam! Es flog an ihm vorüber, weiter, immer weiter, den Geisterhedschahn gleich, von denen man in den Steppen des Sudan erzählt – jenseits am See zurück, vom brausenden Jubel der staunenden Menge begleitet, herbei, herbei, um endlich bei uns zu halten.

Hanneh wartete das Niederknieen ihres unübertrefflichen Tieres gar nicht ab. Sie schwang sich von oben herunter, ging leuchtenden Auges dorthin, wo der Scheik ul Islam und der Mirza saßen, schlug mit ihrem Stabe laut auf die Bank vor ihnen und sagte:

»Ihr lachtet über das Weib; das Weib lacht nicht, aber es siegt!«

Hierauf kehrte sie an ihren Platz zurück, von Mann und Sohn mit Händedrücken empfangen. Ihr Hadeddihn führte die siegreichen Tiere fort. Dann erst kamen die Gegner, einer immer später als der andere. Wir hatten von drei Nummern zwei Gewinner und also die siebzig Kamele und auch die drei Matadore gewonnen. Der Pedehr sorgte dafür, daß sie sofort in Sicherheit gebracht wurden.

Das hatten die Feinde nicht erwartet. Aber anstatt klug und still zu sein, verfielen sie in das Gegenteil und rühmten sich, mit den Pferden Rache nehmen zu wollen. Der Scheik ul Islam rief nach seinem »besten Pferd von Luristan«, gegen welches zunächst zu reiten sei. Es wurde ihm schnell gebracht, und so bekamen wir dieses vielgepriesene Wunder nun endlich einmal zu sehen.

Es war Taki-Zucht, nicht Araber, doch auch nicht Perser, von jeder Rasse ein Muskel oder ein Knochen. Aber gut, sehr gut sah der Kerl aus! Doch nicht für die Augen des Kenners, der sich vielmehr sagen mußte: Trügerische Formen, Paraderenner, aber nicht für den Ernst!

»Den nehme ich getrost mit meiner Sahm!« sagte der Ustad. »Er verdient keinen berühmten Gegner.«

Wir hatten nach Hause geschickt und unsere »Trümpfe« kommen lassen. Sie standen in der Nähe und wurden von den Gegnern in ausgiebigster Weise behaßäugelt. Der Scheik ul Islam erklärte, daß er sein Pferd selbst reiten werde, und so stellte sich ihm der Ustad mit der Sahm als Gegenpartner vor. Beide Pferde und beide Reiter wurden ausgerufen, und es ging wie ein Rauschen von Mund zu Mund und laut um den See, wen man jetzt im Kampfe zu sehen bekommen werde. Beide Reiter warfen ihre Oberkleider ab und stiegen auf. Sie hielten neben einander. Der Hornist hob die Kärna zum Munde, um das Zeichen zu geben. Noch aber erscholl es nicht, so jagte der Scheik ul Islam schon davon. Es galt für die drei Pferderennen je eine Doppelrunde.

Man schrie laut auf über diese Unehrlichkeit; aber der Ustad rief:

»Ich protestiere nicht! Aber ich reite ehrlich! Heraus mit dem Zeichen!«

Die Kärna schmetterte. Die Stute ging regelrecht fort, erst Schritt, dann Trab, dann Galopp. Es sah aus, als reite der Ustad nur spazieren. Das »beste Pferd von Luristan« aber flog da draußen, als sei es aus einem Böller geschossen worden, denn der Scheick ul Islam hatte das Geheimnis schon gegeben. Tiefe Stille herrschte. Die Sahm lag jetzt in glattem Galopp. Ich sage mit Absicht, sie »lag«. Wie eine jener einst so hochberühmten amerikanischen Briggs mit ihrer Schonertakelage, die man nicht »gehen« sieht, wenn sie vor dem Winde »liegt«, und aber doch nie einzuholen ist! Und sie »blieb liegen!« Die Entfernung der beiden Pferde blieb die gleiche, fort und fort, und um den See. Das Rennen kam von drüben wieder herüber – an uns vorbei. Der Scheik ul Islam, mit tiefgeröteter Gesichtshaut zwischen den weißen Pflastern. Sein Pferd troff von Schweiß, und weiße Flocken flogen ihm vom Maule. Dann der Ustad, mit unveränderter Miene, uns vertraulich zunickend. Die Sahm war trocken und noch ganz bei Atem. Sie arbeitete nicht, sondern sie »lag« noch immer.

»Er siegt!« sagte Schakara neben mir. »Er hat das Geheimnis ja noch gar nicht angewendet!«

Es war, als ob er in innerer Verbindung mit der Sprecherin sei, denn kaum hatte sie es gesagt, so warf der Ustad den Arm hoch empor, und die Sahm bekam einen Ruck, dessen Schnellkraft nicht etwa verschwand, sondern von jetzt an ununterbrochen weiterwirkte. Und nun begann der bisherige Abstand, sich zusehends zu verringern. Das »beste Pferd von Luristan« war zu früh gezwungen worden, herzugeben, was es hatte. Die Kräfte ließen nach; die Lunge versagte den Dienst. Der fliegende Galopp verwandelte sich in ein unregelmäßiges Springen. Die Sahm aber »lag« nun wieder, aber im Geheimnisse! Sie holte den Gegner ein; sie schoß an ihm vorüber. Noch eine kleine Weile, so nahm der Ustad das Geheimnis wieder ab, um sie zu schonen, denn er hatte zurückgeschaut und bemerkt, daß das Pferd des Scheikes nun nicht mehr rannte, sondern sich gegen seinen Reiter sträubte, weiter zu gehen. Er schlug mit der Peitsche zwar unbarmherzig auf das arme, so töricht ausgepumpte Tier los, aber vergeblich. Es blieb einfach stehen, so daß er ihm schließlich seinen Willen oder vielmehr Unwillen lassen mußte und langsam durch den Duar herbeigeritten kam. Als er die Tribüne erreichte und abstieg, saß der Ustad schon längst wieder an seinem Platze! Der Besiegte ließ »das beste Pferd« stehen, ging, ohne ein Wort zu sagen, zu seinem Sitz und sank ermattet auf demselben nieder. Ahriman Mirza aber sprang auf, warf ihm einige grimmige Worte in das Gesicht und verkündete hierauf laut, daß jetzt der unbesiegbare Iblis erscheinen und uns eines ganz Anderen belehren werde!

Natürlich war man allgemein gespannt, dieses Pferd zu sehen. Es wurde gebracht. Wir gingen hin. Ahriman stand bei ihm und pries es mit überschwenglichen Worten. Schakara sah ihn dabei aufmerksam an und sagte uns dann leise:

»Nehmt Euch in acht! Ich fühle eine schlimme Absicht, die er hat; nur weiß ich nicht, welche.«

Wir wußten, daß der Iblis eine Khorassan-Schecke sei. Dieses Pferd hier war eine Schecke, ja, aber auf keinen Fall aus Khorassan stammend! Freilich, man konnte uns falsch berichtet haben, und sie war dann doch der Iblis. Aber da sagte der Mirza, daß sein »Freund« sie reiten werde, und da stand es bei uns fest, daß ein Betrug oder wenigstens eine List beabsichtigt werde. Der Ustad war der Meinung, man wolle uns verleiten, unsern besten Trumpf an dieses vorgeschobene Pferd zu verschwenden, und es stellte sich dann auch heraus, daß dies richtig war. Da keiner der Matadore zweimal rennen durfte, hätte dann der echte Iblis keinen ebenbürtigen Gegner gehabt. So wenigstens hatte Ahriman gerechnet, dabei aber nicht angenommen, daß schon das erste Rennen für ihn verloren gehen könne. War er denn gedankenschwach geworden? Er sah doch unsere Rappen stehen, gegen welche diese Schecke unmöglich aufkommen konnte! Wenn sie dieses zweite Rennen verlor, wurden wir Sieger und brauchten gar nicht weiter mitzumachen! Wir fragten unsern Kara, ob er es übernehmen wolle, den angeblichen Iblis mit dem Barkh behaglich um die Ecke zu reiten, und er war mit Wonne bereit dazu.

So wurden also diese beiden Pferde und ihre Reiter ausgerufen. Wir sahen, daß der »Freund« jener Vertraute war, der mit dem Obersten der Schatten den geheimen Gang in den Ruinen untersucht hatte. Er stieg auf und schaute von seiner Schecke herab, als ob er die Absicht habe, seinen Gegner sofort in Grund und Boden zu reiten. Es kam aber anders!

Hatte nämlich der Ustad mit dem Geheimnisse gespart, so tat Kara jetzt das Gegenteil. Kaum waren nach dem gegebenen Zeichen die Pferde in Gang, so gab er es und war schon in der nächsten Minute dem »Freunde« so weit voraus, daß alle Zuschauer staunten. Und das wuchs und wuchs! Die Schecke lief gut; sie lief, was sie nur konnte; aber sie kam gegen unsern Rappen nicht vorwärts, trotz ihres guten Willens. Auch der Reiter gab sich alle Mühe, doch umsonst. Als Kara, die zweite Runde beginnend, an uns vorüberkam, hatte er das Geheimnis bereits wieder ausgelöst; die Schecke war aber noch jenseits draußen vor dem Duar, dessen ganze Ausdehnung also schon zwischen ihnen lag. Und nun tat Kara weiter nichts, als daß er diesen Abstand unausgesetzt erhielt, bis er nach der zweiten Runde das Ziel erreichte.

Zwei Touren gewonnen von Dreien! Wir waren also Sieger! Da aber erhob Ahriman Mirza von dem Ausruferstand, den er bestieg, lauten Einspruch. Das erste Rennen gelte nichts, weil der Scheik ul Islam unehrlich gewesen und vorgeritten sei. Er beschimpfte also seinen eigenen Partner und drang auf die dritte und letzte Tour. Nur wer diese gewinne, sei Sieger, sonst aber Keiner! Die Preisrichter nahmen diese Frage vor und entschieden für uns, denn man könne die Unehrlichkeit doch nicht belohnen und der Ustad habe ausdrücklich erklärt, daß er nicht protestiere. Die Gegner aber standen zum Mirza und wollten sich nicht fügen. Schon standen wir in Begriff, mit Gewaltmaßregeln zu drohen, da geschah etwas sonderbar Seltsames. Schakara verließ nämlich, ohne uns vorher hierüber zu verständigen, ihren Sitz, stieg die Stufen zum Stand hinauf und winkte Schweigen. Das Erscheinen eines Mädchens da eben verwunderte. Man war still. Da begann sie zu sprechen, kurz, klar, bestimmt. Sie forderte Ahriman Mirza auf, seinen Chandschar mit zu den Preisen zu legen, dann werde das dritte Rennen sofort stattfinden, und wer es gewinne, der habe gesiegt. Sie tat sogar noch mehr: Sie setzte gegen den Dolch die bereits gewonnenen Kamele, so daß also dem Sieger dieser letzten Tour der ganze Gewinn und dazu der Chandschar zu gehören habe.

Wir staunten! Der Mirza auch! Woher nahm dieses sonst so bescheidene, zurückgezogene Mädchen den Mut, hier in dieser Weise öffentlich aufzutreten? Uns allen in einer so wichtigen Sache ohne Erlaubnis vorzugreifen? Da drückte mir der Ustad die Hand und sagte:

»Erschrecke nicht! Du weißt, sie kommt von Marah Durimeh! Sie hat geheime Gründe! Wenn der Mirza darauf eingeht, tue ich es gern. Du hast ja den Syrr!«

Da verließ Ahriman seinen Platz. Mit weit geöffneten Augen Schakara anstarrend, schritt er langsam zu ihr hin, löste den Chandschar vom Gürtel und reichte ihn ihr hinauf. Sie nahm ihn. Nun legte er sich beide Hände vor die Augen und stand eine Weile still, doch mit zuckendem Körper. Hierauf nahm er die Hände hinweg, richtete sich kerzengerade empor, warf beide Arme in die Höhe und rief aus:

»Meinen Chandschar, meine Waffe, mein Höchstes! Nicht um ein Reich zu beherrschen, sondern für Pferde und Kamele! Aber ich muß, ich muß! Sie hat ihre Augen! Sie hat ihre Gestalt, ihre Stimme! Und sie hat auch ihre Gedanken und ihre Macht! Da bin ich nichts; da muß ich gehorchen! – Wohlan! Holt mir den Teufel! Aber den echten, den wahren, den wirklichen, nicht den falschen, den gelogenen! Es gilt ein Reiten, wie es wohl noch nie geritten worden ist! Denn wenn Marah Durimeh mich zwingt, in den Sattel zu steigen, um meinen Chandschar zu retten, so stellt sie mir auch jenes von der Hölle gehaßte Geschöpf, aus dessen Haar beim Ritt die Funken springen! Also den Teufel her, den Iblis! Und schnell, denn es hat Eile!«

Wen oder was meinte er mit jenem »Geschöpf, aus dessen Haar die Funken springen«? Hatte er das nur figürlich gemeint? Oder war er bereits verrückt? Vielleicht das Letztere, denn sein Gebaren glich augenblicklich ganz dem eines Irren, der auf Etwas warten muß und es doch nicht erwarten kann. Und als man das verlangte Pferd brachte, sprang er auf dasselbe zu, schnellte sich in den Sattel und rief aus:

»Das ist er, das, der schnellste aller Teufel! Und ich bin Ahriman, sein Meister und sein Herr! Wo ist der Mensch, der sich an mich und diesen Satan wagt?«

Wir gingen hin, um das Pferd in Augenschein zu nehmen, konnten uns aber nicht ganz nähern, denn die Bestie duldete das nicht. Sie biß und schlug nach Jedem, den sie erreichen konnte. War das natürliche Bosheit oder Dressur? Ja, diese Schecke war ein echtes Khorassanvollblut, starrsinnig und bis zur Glühhitze kalt, wie das Klima ihrer heimatlichen Salzwüsten! Die Ohren groß, mit hängenden Spitzen, wie die gewissen Hunderassen. Die Stirn verschwindend niedrig, doch knochig, höckerig und überbreit. Das Auge boshaft, aus dem Weißen schielend. Das knorpelige Maul mit Borsten stark besetzt. Die Brust sehr schmal, das Ideal einer Rennerlunge andeutend. Die Muskeln der Vorarme und Schenkel vortrefflich geübt und gestählt. Die Beugesehnen, Kötengelenke, Fesseln, Kronen und Hufe geradezu unvergleichlich. Schopf, Mähne und Schwanz aber häßlich dünn, ohne Glanz, mit absterbenden Haarspitzen. Das Alles zusammen ein Pferd, welches ein Fragezeichen für jeden Kenner war, sobald es ruhig stand, dann aber schon bei der kleinsten Bewegung ahnen ließ, daß höchst wahrscheinlich ganz Ueberraschendes in ihm stecke.

Ich hatte, sobald der Mirza nach seinem Teufel rief, Kara fortgeschickt, auch Syrr zu bringen. Er kam mit ihm, grad als Ahriman die Frage, wer mit ihm anzubinden wage, zum zweitenmal wiederholte. Da trat ich vor und sagte nichts, als – »ich!« Da lachte er fast brüllend auf und rief zu seiner Khanum Gul hinüber:

»Hast du es gehört? Er – er – derselbe! Fast dachte ich es mir! Denn dieser Mensch scheint mir dazu geboren, stets da zu sein, wo ihn kein Teufel braucht!« Er strich mit der Reitpeitsche quer gegen mich hernieder und fuhr dann fort: »Kein Anderer käme mir so recht wie du! Ein Ausgestoßener des Abendlandes, der uns das schöne Morgenland vergällt, um sich in seiner Heimat wieder einzuschmeicheln! Du wärst der Mann, den Chandschar mir zu nehmen! Ich habe wohl gehört von deinem Rappen, mit dem du prahlst, wohin du immer kommst. Assil Ben Rih, der Hengst der Hadeddihn, der dort bei euern andern Kleppern steht! Hol ihn herbei! Ich weiß, er ist doch Eure letzte Hoffnung!«

»Er?« antwortete ich. »Nein, den reite ich nicht.«

»Wen sonst? Etwas Besseres habt Ihr ja nicht!«

»Wir haben nicht nur ihn, sondern auch seinen Chodem. Den reite ich. Schau dich um!«

Da fuhr er scharf zusammen, riß seine Schecke herum und starrte Syrr an, der, von Kara gehalten, hinter ihm gestanden hatte. Man sah, wie er erschrak, als er ihn erblickte.

»Syrr! Der Syrr! Das Lieblingspferd des Schah!« entfuhr es tonlos seinen Lippen. »Oh, nun weiß ich Alles! Das ist dein Werk, Marah Durimeh, das deinige! Du, du und nur du kannst den Schah-in-Schah veranlaßt haben, den Syrr zum Chodem des Assil zu machen! Aber, sei es denn! Er geht ja keinen Schritt mit einem Fremden! Und gar den Halfter nur, nicht Trense und Kandare! Verrückt, verrückt, verrückt! Fast sollte ich mich schämen, des Teufels Ruhm mit einem Sieg zu schänden, den jedes Kind vorauszusehen hat. Doch, weil es meinem Chandschar gilt, bin ich gezwungen, diese Tour zu reiten, blamiert vom Syrr, der stehenbleiben wird!«

Er trieb den Teufel an die Schranke. Ich stieg auf, um ihm zu folgen. Syrr aber ging keinen Schritt. Wollte er heut nicht! Oder war ihm die Schecke so zuwider, daß er sich weigerte, sich in gleiche Linie mit ihr zu stellen! Als Ahriman dieses Weigern bemerkte, lachte er siegessicher auf und gebot, das Zeichen zu geben. Er hatte schon gleich im Anfange wenigstens fünfzehn Pferdelängen voraus. Die Spannung, welche ringsum herrschte, war eine ungeheure. Die Namen wurden verkündet.

Wir sahen und hörten, daß sie weitergetragen wurden, uns voraus. Dann ertönte die Kärna, und der Teufel flog sofort im Galopp auf die weite, offene Bahn hinaus.

Noch stand Syrr still. Ich trieb ihn an, doch ohne Erfolg. Fast wollte es mir Angst werden. Da streckte er den schönen Kopf aus, ließ seine schmetternde Stimme hören und – ja, was war denn das? Ritt ich, oder flogen alle die doch unbeweglich stehenden Menschen auf mich zu, um hinter mir zu verschwinden? Ich fühlte nichts, als nur den Wunsch, den Teufel zu besiegen, und es war, als säße ich nicht auf einem Pferde, sondern auf diesem Wunsche, dem die Erfüllung entfliehen wollte und aber doch mit immer wachsender Schnelligkeit entgegenkam. Am Ende des Sees war ich dem Iblis schon so nahe, daß ihn der Mirza zu peitschen begann. Im Duar holte ich ihn ein. An der Tribüne fluchte Ahriman schon hinter mir. Bald darauf hörte ich schon den Hufschlag des Teufels nicht mehr. Ich drehte mich nicht um. Aber als ich zum zweiten Male um den See gebogen war; sah ich den Mirza erst an der Biegung ankommen. Er hatte die Peitsche umgedreht und bearbeitete den Kopf der Schecke mit dem schweren Griffe. Der Schmerz veranlaßte sie zu einer letzten Anstrengung; sie kam mir wieder näher. Da gab mir Syrr durch sein tiefes »U – u – u – uh« zu verstehen, daß er das auch sehe, und griff derart aus, daß ich glaubte, ihn zügeln zu müssen. Wieder im Duar angekommen, ließ er schnell nach, ging in hohem parierendem Galopp am Landeplatz vorüber und kam dann, gemächlich schreitend, bei der Tribüne an.

Wie gönnte ich ihm den brausenden Jubel, dessen Bedeutung er gar wohl verstand, wie mir seine spielenden Ohren verrieten. Aber der Kuß, den ich ihm gab, sobald ich abgestiegen war, schien ihm doch lieber zu sein, denn er küßte mich wieder, auf die Wange, fuhr mir in das Haar, nahm bald meine eine, bald meine andere Hand in das Maul, kurz, zeigte mir auf alle mögliche Weise, daß er nur für mich da sei, für nichts Anderes. Und doch war er es, auf dem Aller Augen bewundernd ruhten, nicht etwa auf mir, und das war auch ganz selbstverständlich und richtig!

Und da kam nun auch Ahriman mit dem Teufel, oder vielmehr der Teufel mit Ahriman, denn er ging mit ihm durch; infolge der Hiebe mit der Peitsche. Die Zügel hingen vorn herunter; die Bügel waren leer; der Reiter lag nach vorn und klammerte sich am Halse fest. Aber dieses Durchbrennen war kein gewöhnliches. Es geschah nicht etwa in vollem Jagen und ging auch nicht stets in derselben Richtung, sondern das Pferd verfolgte die sehr bemerkbare Absicht, den Reiter aus dem Sattel und unter die stampfenden Hufe zu bringen. Es bockte und schlingerte, sprang bald nach rechts, bald nach links, rannte dann eine Strecke geradeaus, blieb stehen, um mit gefletschten Zähnen nach rückwärts zu beißen, lief wieder fort, kehrte um, drehte sich im Kreise, kurz, es wollte den Mirza herunterhaben, um sich zu rächen. Den Grund sahen wir, als es sich uns näherte. Es hatte nur noch ein gesundes Auge. Das andere hing aus der blutenden Höhle. Ahriman hatte es ihm ausgeschlagen! Er befand sich in ganz derselben Stimmung wie sein Teufel: Scham, Wut, Rache! Als er uns erreichte, stand die Schecke für einen Augenblick still, um eine neue Tücke vorzubereiten. Da richtete er sich auf und rief:

»Der Chandschar ist verloren, und so sei es denn dieser Satan auch! Ihr habt ihn gewannen. Wohlan, da nehmt ihn hin! Aber nur als Aas für den Schinder!«

Er zog die Doppelpistole aus dem Gürtel, spannte die Hähne, hielt die Läufe an die zwischen den Nickwirbeln liegende Stelle und gab die beiden Schüsse rasch hinter einander ab. Er hätte jetzt schnell abspringen müssen, war aber in seinem Rachedurste für die Vorsicht blind. Der Iblis zuckte unter den Kugeln. Das übriggebliebene Auge schloß sich; der Kopf sank niederwärts, und die Kniee schienen brechen zu wollen. Da aber sammelte sich seine sterbende, dämonische Kraft. Er warf den Kopf empor, ging mit allen Vieren in die Luft, faßte wieder Boden, warf sich aus freier Hand grad auf den Rücken, sprang wieder auf und packte den nun an der Erde liegenden Peiniger mit den Zähnen, und zwar am Kopfe, dessen oberer Teil in dem weit, weit geöffneten Rachen ganz verschwand. Dabei überkam ihn ein Zittern, welches über seinen ganzen Körper lief. Den Kopf des Prinzen festhaltend, brach er zusammen – er war tot!

Man eilte hin. Die schreckliche Gruppe war vor den hilfeleistenden Menschen für einige Zeit nicht zu sehen. Dann teilte es sich. Man hatte Ahriman aus den Zähnen der verendeten Bestie befreit. War es Besinnung oder etwas Anderes, daß er sich aus seiner Ohnmacht halb aufrichtete, um zu sprechen? Er hob die geballte Faust empor, schüttelte sie und rief:

»Mein Kopf, mein Kopf! Immer nur mein Kopf, mein Kopf! Das war der Chodem wieder, der Chodem, der mich aufgegeben hat! Ich soll verrückt werden, verrückt, verrückt! Ich habe gekämpft mit ihm – von der „Mauer der Vergeltung“ an bis hierher! Vergeblich! Er empörte den Teufel gegen mich – er warf mich unter ihn nieder – er faßte mein Gehirn mit des Satans Zähnen – der Biß ging durch und durch – durch den Geist und durch die Seele – es ist aus; es ist aus; es ist aus!« Mit einer letzten, großen Anstrengung aufspringend, schrie er, indem seine Stimme überschnappte: »Freut Euch, Ihr Dschamikun, denn hört, was ich Euch sage – der Fürst der Schatten ist von jetzt an nur ein Aas – ein verwesendes Aas für den Schinder – genau wie der Satan hier – schleppt uns fort; schleppt uns fort – alle Drei, alle Drei – nicht nur die Aase, sondern auch den Verrückten!«

Er ließ den erhobenen Arm sinken, schüttelte sich wie vor innerem Grauen und fiel dann, wieder ohnmächtig, auf den scheckigen Kadaver des Teufels nieder. Auch uns graute; wir wendeten uns ab. Schakara’s Augen aber strahlten in glänzender Freude. Sie reichte mir den gewonnenen Chandschar des Mirza und sagte:

»Nimm sie hin, die Waffe der Feinde, die sich von nun an nur gegen sie selbst zu richten hat! Sie ist in unsere Hand geraten, doch wollen wir den Frieden. Stecke sie in die Scheide! Nimmt man diesen Frieden aber nicht an, so fährt sie wieder heraus. Dann aber gibt es kein spielendes Rennen wie heut, nur um dem Volke den Satan figürlich zu zeigen, sondern wir machen das Spiel zum tödlichen Ernst! Wen unser Rennen nicht warnt, weil er den Geist nicht besitzt, zu begreifen, was es bedeutet, der treibe die Feindschaft weiter, sich selbst zur schließlichen Schande!«

Man räumte den Teufel aus dem Wege und schaffte auch Ahriman fort. Als ich nach den Sitzen der Khanum Gul und des Scheik ul Islam hinüberschaute, waren Beide verschwunden. Die gewonnenen Pferde wurden in Sicherheit gebracht, doch verständigte der Ustad den Scheik der Dinarun und den Takikurden Ibn el Idrak davon, daß sie heut Abend die ihrigen und ebenso auch ihre Kamele heimlich zurückbekommen würden. Die Gegner wurden von jetzt an unsichtbar, einer nach dem andern. Es versteht sich von selbst, daß wir uns unseres Sieges freuten, am meisten aber wohl mein kleiner Hadschi Halef. Er strahlte geradezu vor Glück. Sein Kara ein mehrfacher Sieger! Und gar auch Hanneh, die »lieblichste Blume der Frauen«, ein großes Rennen gewonnen! Das ging ihm über Alles, was er bisher erlebt hatte, sogar auch über das Ehrengewand vom Beherrscher des persischen Reiches!

Großen Jubel gab es, als die Kärna ertönte und dann der Ausrufer verkündete, daß jetzt das gestern verregnete, lustige Rennen beginnen werde. Während dieses vorbereitet wurde, trat die Dschemma mit den Preisrichtern zu einer schnellen Beratung zusammen, um noch mehrere bedeutende, aber friedliche Rennen zu veranstalten, zu denen sich nur Freunde melden durften. Kara bat mich hierzu um den Assil und bekam ihn natürlich sehr gern. Ich aber ritt den Syrr nach Hause, nicht ohne befriedigt über die Worte zu sein, welche Dschafar mir mitgab. Er hatte nicht gewußt, daß Syrr mir gern gehorchte, und war daher auf das Heftigste erschrocken, als ich den Glanzrappen gegen den Teufel stellte. Umso größer aber war nun sein Entzücken über den Sieg, und er nahm sich vor, dem Beherrscher sehr ausführlich Bericht zu erstatten.

Es war rührend, wie wohl sich Syrr fühlte und wie deutlich er seine Freude äußerte, als er aus der Menschenmenge herauskam. Auch ich bin am liebsten allein, und so beschloß ich, bei ihm zu bleiben und mir die nun noch folgenden Ereignisse des Tages von oben anzuschauen. Auf der Pferdeweide angekommen, sattelte ich ab, gab ihm Wasser und Gerste, holte ein Gericht Aepfel für ihn und setzte mich neben ihn dahin, wo ich eine gute Aussicht über das Tal hatte. Später gesellte sich Schakara zu mir. Um es kurz zu machen, sei gesagt, daß der Ustad mit der Sahm einen Preis gewann und Kara mit Assil und Ghalib auch je einen. Das war mehr als genug.

In und bei den zwei herrschaftlichen Zelten drüben in den Ruinen war es während des ganzen Nachmittages sehr still. Der Scheik ul Islam ließ sich nicht sehen und die Khanum Gul auch nicht. Hier und da ritt ein Bote zwischen ihnen und Ahriman Mirza hin und her. Das Gefolge schien nach auswärts gegangen zu sein, jedenfalls um bei der Vorbereitung zu der morgenden Umzingelung mit tätig zu sein.

Gegen Abend kam der Ustad und fragte mich, ob ich ihn zu einer genauen Wiederholung unsers Sonntagsrittes begleiten wolle. Es gelte aber heut nicht, die Posten zu revidieren, sondern die erwähnte, berühmte Umzingelung wieder zu umzingeln. Ich war natürlich sofort und gern bereit. Syrr wurde von Neuem gesattelt, und dann ging es, der Ustad auf der Stute, abermals den Berg zum Alabasterzelte hinan.

Als wir da oben ankamen, blieben wir betroffen, ja beinahe erschrocken halten. Die Wucht und Masse des gestrigen, langen Regens war hier von unheilvoller Wirkung gewesen. Sie hatte das ganze Erdreich von der zurückliegenden Bergkuppe herabgeschwemmt und, mit schweren Steinen vermischt, in eine Art von Moräne verwandelt, welcher das abschüssige Terrain keinen Stillstand erlaubte. Man sah an der glatten Bahn dieses Rutsches ganz deutlich, welchen Weg er bereits zurückgelegt hatte. Es war zwar noch ziemlich weit von ihm bis zu dem schon wiederholt erwähnten, gefährlich lockern Steingeröll; aber wenn er es erreichte, so mußte sein Druck sofort die Katastrophe herbeiführen, welche der Ustad am Sonntage nicht nur erwähnt, sondern sogar befürchtet hatte.

Jetzt freilich war hier nichts zu unternehmen, denn der Abend nahte schon; aber für morgen früh nahm sich der Ustad vor, dem Weiterschreiten der Moräne schnellsten Einhalt zu tun. Wir mußten von hier oben fort, um noch vor Nachts hinüber auf die Nordebene zu kommen. Das gelang uns auch.

Genau an derselben Stelle, wo wir den Boten von Marah Durimehs Hilfstruppen gefunden hatten, erwarteten uns diese, angeführt von dem unternehmenden Scheik von Schohrd, der sich herzlich freute, mich wiederzusehen. Seine Truppen waren mehr als genügend, die Ultra-Taki von hinten zu packen. Er erhielt die nötigen Weisungen für alle möglichen Fälle und dazu das Versprechen, daß wir ihm den uns freundlich gesinnten Taki Ibn el Idrack schicken würden. Dann ritten wir weiter.

Im Norden standen die dortigen Dschamikun nicht mehr zerstreut, sondern schon festgeschart. Sie hatten Fühlung mit dem Scheik von Schohrd und mit den Kalhuran im Osten. Als wir diese erreichten, fanden wir sie in zwei Treffen geteilt, um die von den Kundschaftern bereits erspähten Massaban und Schatten hindurchzulassen und sich dann hinter ihnen wie zwei Torflügel zu schließen.

Im Süden freuten wir uns über die dortlagernden Dinarun, die sich so schnell aus Feinden in Freunde verwandelt hatten. Ihr Scheik war soeben bei ihnen angekommen, hatte ihnen Alles erzählt und war soeben dabei, ihnen auch zu sagen, daß er die verwetteten Pferde und Kamele bereits zurückerhalten habe, und zwar unter Aufsicht des Pedehr, dem dies von dem Ustad übertragen worden war. Als wir ihnen mitteilten, daß es besten Falles gar keinen Kampf geben werde, versicherten sie uns, daß dies ganz gegen ihre Absicht sei, da sie wünschten, uns ihre Freundschaft durch die Tat beweisen zu können.

Wir brachten sie in Fühlung mit den südlichen Dschamikun, die sich im Rücken der Taki und mit dem Scheik von Schohrd zu verbinden hatten. So war unser Ring also geschlossen, mit Ausnahme der Durchzugsstelle für die Massaban und Schatten. Wenn sie so töricht waren, diese Tür zu benutzen, so gerieten sie in eine Falle, aus welcher es kein Entrinnen gab!

Es war mitten in der Nacht, als wir heimkehrten, und doch wartete Schakara auf uns. Sie sagte, sie habe vor Sorge nicht schlafen können, um uns eine Beobachtung mitzuteilen, die vielleicht sehr wichtig sei. Sie war, ehe sie sich zur Ruhe legen wollte, noch einmal zu den Pferden gegangen und hatte sie in einer ganz auffälligen Unruhe gefunden. Besonders waren die Tiere nicht dazu zu bewegen gewesen, sich zu legen. Das deutete auf irgend eine Gefahr, die unter ihnen in der Erde lag. Schakara dachte nach, und indem sie so still dastand und sann, hörte sie, scheinbar unter ihren Füßen, ein dröhnendes Geräusch, dem ein fortrollendes Donnern und Beben folgte. Das machte sie besorgt, und darum beschloß sie, nicht schlafen zu gehen, bevor sie es uns mitgeteilt habe.

»Wir müssen hinunter« – »in das Bassin!« sagte der Ustad und sagte auch ich, beide wie aus einem Munde. Wir holten Fackeln und begaben uns, begleitet von Schakara, die nicht ohne uns bleiben wollte, nach dem Landeplatze, stiegen in das Boot und ruderten nach dem Kanale. Es gab keinen Menschen, der uns sah. Weil der Ustad auch schon hier gewesen war, wußte er Bescheid. Wir bemerkten sofort, daß das Wasser in Folge des langen, bedeutenden Regengusses viel höher stand als früher. Die Ranken waren hier oben dichter; sie ließen uns nur schwer hindurch. Dann brannten wir sogleich zwei Fackeln an und stakten und ruderten uns durch den Kanal in das vordere Becken.

Heut konnten wir die Decken über uns erkennen, wohl wegen des Wasserhochstandes. Diese Flut mußte drücken und heben. Gleich an der ersten Säule sahen wir, daß an ihrer Basis ein großes Stück ausgewuchtet worden war; oben aber prasselte es. Dennoch wagten wir uns weiter. Es bröckelte überall, und zwar in beängstigender Art und Weise. Stein auf Stein fiel klingend oder gluchzend in die Flut. Es war wirklich verwegen, nicht umzukehren! Wir kamen dahin, wo die Säule mit dem Gerippe gestanden hatte. Sie war verschwunden. Nur der untere Stein stand noch, mit dem Skelett darauf. Von hinterher kam ein Aechzen, Knarren und Prasseln. Schakara war bisher still gewesen, überwältigt von der unheimlichen Schrecknis dieser Unterwelt; jetzt aber schrie sie auf und bat uns, Gott ja nicht länger zu versuchen, sondern sofort umzukehren und zu flüchten. Wir taten es, ohne erst noch nachzusehen, ob vielleicht nicht nur diese eine, sondern noch mehrere Säulen zusammengestürzt seien. Die Folge sollte zeigen, daß dies sehr wahrscheinlich der Fall gewesen war.

So standen wir also zwischen zwei drohenden Gefahren: Oben am Alabasterzelte rückte die Moräne vor, und unter uns brach das Innere der Erde zusammen. Glücklicher Weise lag sowohl der Duar als auch unser Haus mit dem Garten und dem Weideplatze zwar nahe, aber doch außerhalb des Bereiches der beiden Katastrophen, von denen nur die Ruinen betroffen werden konnten! Wir waren weder Geologen noch Architekten von Fach, aber es stand dennoch für uns außer allem Zweifel, daß kein Leben bedroht sei außer demjenigen, welches sich von jetzt an noch in das alte Gemäuer wagte.

Darum ließ der Ustad gleich in der Morgenfrühe den Zutritt zu den Ruinen allgemein und bei hoher Strafe verbieten. Auch schickte er Boten nach den beiden Zelten hinüber, um die Bewohner derselben zu warnen. Man ließ ihm aber antworten, daß man die feindseligen Gründe dieser albernen Warnung kenne und über sie nur lache! Hierauf stieg eine Menge Arbeiter zum Alabasterzelte hinauf, um den Absturz der Erd- und Steinmassen zu verhindern. Da sandte uns der Scheik ul Islam ein Stück Papier, auf welchem folgende Zeilen standen:

»Gebt Euch keine Mühe, weder von oben noch von unten! Wir glauben keinen Lügen! Wir halten die Ruinen fest bis morgen; dann werden Alle gehen, die nicht hierher gehören! Hierauf mein Wort als Scheik ul Islam!«

Was unsere Festgäste betrifft, so hatten alle, denen nicht zu trauen war, sich wohlweislich entfernt. Von den andern aber fiel es keinem ein, den Ustad zu verlassen. Sie verhielten sich so, als ob sie vollständig ahnungslos seien, waren aber alle sehr wohl unterrichtet und warteten mit Ungeduld auf den nächsten Morgen, der die Entscheidung zu bringen hatte. Im Verlaufe des Nachmittages kamen Boten zu verschiedenen Zeiten, und als es dunkel geworden war, brachte der letzte von ihnen die Nachricht, daß die Massaban und Schatten in die Falle gegangen seien.

Was die Taki betrifft, so hatte sich Ibn el Idrak schon früh bei dem Ustad eingestellt, um sich mit ihm für Weiteres zu besprechen. So sehr dieser Stamm an seinen alten Vorurteilen hing und so von Allah bevorzugt sich die Angehörigen desselben betrachteten, dieser vermeintlichen Ueberlegenheit ein blutiges Opfer zu bringen, zumal so friedfertigen Nachbarn gegenüber, das erschien ihnen doch als zuviel verlangt. Nur die kleine, halsstarrige Corona, welche sich in den Strahlen des Scheik ul Islam sonnte, hielt fest zu ihm, sonst aber Niemand weiter. Und diese Verblendeten waren es auch, die in den geheimen Gang eindringen sollten, um uns zu überrumpeln. Der Ustad beschloß, sie trotz alledem zu schonen, aber sie in diesem Gange derart festzustopfen, daß sie sich nicht zu rühren vermochten. Ibn el Idrak war hiermit außerordentlich gern einverstanden und ritt dann fort, um den Scheik von Schohrd aufzusuchen. Infolge dessen gingen bei Anbruch des Abends zwei Abteilungen Dschamikun heimlich ab, die eine um von außen her bis zur Hälfte des Ganges vorzudringen, ihn zu verstopfen und sich hinter dieser Barrikade aufzustellen. Der hierzu bestimmte Punkt war natürlich so gewählt, daß ihn keine der beiden zu erwartenden Katastrophen berühren konnte. Die andere Abteilung sollte die Feinde alle eindringen lassen und dann den Ausgang besetzen, um ihnen die Rückkehr unmöglich zu machen. Wenn dies gelang, konnten die Eingeschlossenen keine andere als nur noch eine höchst lächerliche Rolle spielen, und es sei gleich hier gesagt, daß es so gut gelang, wie es gar nicht besser gelingen konnte.

Hiermit waren diese Feinde also kaltgestellt, und es handelte sich nur noch um die Massaban und Schatten, vor denen es uns ebenso wenig bange wie vor Jenen war, denn wir hatten sie ja fest und konnten sie erdrücken, sobald es uns beliebte.

Man hatte während des ganzen Tages wieder Reisig und Holz auf sämtliche Häupter und Vorsprünge der Berge geschafft. Wie das Fest mit einer Höhenbeleuchtung begonnen hatte, so sollte es auch mit einer solchen enden. So wurde gesagt. Die Eingeweihten aber wußten, daß das Aufflammen dieser Feuer für die Umschließung der Feinde das Zeichen sei, daß die Entscheidung einzutreten beginne. Nur eine einzige Stelle war von dieser Bedeutung ausgenommen, nämlich die Kuppe des Alabasterzeltes. Man hatte dort den ganzen Tag sich mit der größten Anstrengung bemüht, der Moräne Stillstand zu gebieten, doch ohne den gewünschten Erfolg. Sie war trotz aller künstlichen Hemmnisse weiter und weiter vorgerückt, um die vorlagernden Geröllmassen zu ergreifen. Das verheerende Schicksal von oben war also mit Gewißheit zu erwarten, doch sah man sich außer Stande, die Zeit genau zu berechnen. Darum standen nun Wächter oben, welche die dortigen Holzhaufen anzubrennen hatten, sobald der gefährliche Augenblick im Nahen sei. Das war es, was die Feuerzeichen von diesem Punkte aus zu sagen hatten.

In Erwartung aller dieser Dinge versicherten wir uns unserer Pferde, welche in das Gewölbe gebracht wurden. Auf der ganzen Breite der Pferdeweide standen Posten, um uns von den Ruinen abzuschließen. Im Hofe etablierte der Ustad eine Art Hauptquartier, zu welchem alle geltenden Personen gehörten, doch aber nicht Ibn el Idrak und die Scheike der Dinarun und Kalhuran, welche sich bei ihren Stämmen befanden und genau wußten, wie sie zu handeln hatten. Je weiter der Abend vorrückte, umso stiller wurde es unten im Tale. Alle Dschamikun verließen den See und stiegen bergauf in die Höhe. Die Schatten sollten kommen dürfen, ohne den geringsten Widerstand zu finden. Aber der Duar selbst blieb umso schärfer besetzt, an jeder Flanke sechs Kamelkanonen, um den Zugang von beiden Seiten des Sees her zu bestreichen. Schon diese Geschütze allein genügten, den Schatten ihre Ohnmacht gegen uns zu beweisen. Die übrigen acht waren zu beiden Seiten des Sees auf dominierende Punkte verteilt, von denen aus wir mit ihnen die ganze Rennbahn beherrschten. Für den Bedarfsfall hatte der Ustad eine Menge von Fackeln verteilen und anfertigen lassen, und draußen am Ende des Sees lagen Späher versteckt, um das Zelt Ahrimans zu beobachten und uns das Erscheinen der Massaban zu melden. Er wollte ja mit diesen die Ruinen besetzen, und so waren sie viel früher als die Schatten zu erwarten.

Als wir die Zeit dazu gekommen glaubten, gingen wir hinunter in den Duar und erfuhren dort, daß der Pedehr so gewissenhaft gewesen war, die Bewohner der Zelte noch einmal zu warnen, und zwar in eigener Person, von ihnen aber ebenso höhnisch abgewiesen worden war wie die vorherigen Boten. Damit hatten wir den Pflichten der Menschlichkeit genügt. Auf dreimaliges Vermahnen nur Spott; mochte für sie nun kommen, was da wollte!

Am Himmel waren die Sterne verschwunden, nicht etwa infolge von Regenwolken, sondern es schien, als habe er sich in einen dichten, undurchdringlichen Schleier gehüllt, um nicht sehen zu müssen, was sich hier unten ereignen werde. Es nahte eine zwar nicht vollständig dunkle, aber fahl obskure Mitternacht, so recht geeignet für Schemen, Phantome und Chimären. Auf dem See bildeten sich Nebel. Sie lagen erst in unbestimmten Umrissen auf dem Wasser. Dann lösten sie sich von ihm, um sich in einzelnen Fetzen aufzurichten und zu individualisieren. Hierauf verdichteten sie sich zu allerlei gespenstischen Gestalten und trachteten dem Lande zu, um, feucht und kalt, wie Geister von Ertrunkenen, sich auf uns zuzuschleichen.

Da tauchte aus ihnen einer der Späher auf und teilte uns mit, daß die Massaban bei Ahriman Mirza angekommen seien. Und bald darauf stellte sich ein zweiter mit der Nachricht ein, der Mirza habe sich an ihre Spitze gestellt und komme mit ihnen anmarschiert, doch leise, ohne Pferde, wie es seine Absicht ja erfordere. Der Ustad wiederholte seine für diesen Fall schon vorher gegebene Weisung, sich so weit zurückzuziehen, daß man nicht bemerkt werden könne, und den Heranschleichenden den Weg nach den Ruinen vollständig freizugeben.

Es dauerte nicht lange, so kamen sie, von den Nebeln gedeckt, die aber auch uns ihnen verbargen. Sie glaubten den Duar im friedlichen Schlafe und zogen vorüber, ohne daß Etwas geschah, was ihnen diesen Glauben benahm. Wir kehrten also in unsere vorherige Stellung zurück. Einige Zeit später erklang in den Ruinen über uns ein lauter, aber kurzer, abgerissener Schrei. Hierauf war es, als ob jemand mit unterdrückter Stimme irgend Etwas kommandiere. Dann war es wieder still.

So ungefähr eine Stunde nach Mitternacht erfuhren wir, daß die Vorhut der Schatten von den Pässen her nahe und draußen in der Ebene halte, um die ganze Horde herankommen zu lassen; die Unteranführer des Mirza seien ihnen entgegengeritten, um sie dann nach dem See zu führen. Und nach einer längeren Pause meldete man uns von der andern Seite des Berges, daß die Ultra-Taki in das Garn gegangen seien und nun in dem Gange stäcken, ohne rück- oder vorwärts zu können; Ibn el Idrak aber habe die ganze Vollzahl der verständigen Taki zu dem Entschlusse gebracht, sich dem Scheik von Schohrd anzuschließen und gegen Morgen bei uns einzutreffen.

Dieser Bote hatte sich eben entfernt, so kam Jemand, an den wir jetzt am allerwenigsten gedacht hätten, nämlich der – Aschyk. Er war oben im Hause gewesen, um uns zu sprechen, und hatte erfahren, wo wir uns befanden. Was er uns mitteilte, war noch interessanter als sein völlig unerwartetes Erscheinen.

»Ich bin öfters bei Euch gewesen, als Ihr denkt,« sagte er, »und von Allem sehr gut unterrichtet. Der Scheik ul Islam hat mich bis heut als seinen Spion betrachtet, der sich in Euer Vertrauen geschlichen habe, um Euch an ihn zu verraten. Darum erntet er aber nun selbst das Unkraut, welches er für Euch säete! Ich war oben auf dem Berge und habe mich überzeugt, daß die Lawine nicht mehr zu halten ist. Ich hielt es für meine Menschenpflicht, es ihm zu sagen, damit er sich entfernen möge. Da lachte er mich aus. Ja, er wurde sogar mißtrauisch, von mir dieselbe Warnung zu hören, wie von Euch, doch durfte ich bei ihm bleiben. Er wanderte unruhig zwischen seinem Zelte und dem Allerheiligsten hin und her, um nachzusehen, ob seine Taki durch den Gang angekommen seien. Sie stellten sich aber nicht ein. Auch seine Bedienung habe ich gewarnt. Sie steht auf dem Sprunge, sich zu retten.«

»Und sein Gefolge?« fragte ich. »Der Heilige, der Selige, der Imam und die Generale!«

»Die sind bei den Taki geblieben und bleiben auch dort, bis der Kampf vorüber ist.«

»Das ist ja höchst bezeichnend!« sagte der Pedehr, der bei uns stand. »Früchte auflesen, aber ja nicht mit schütteln! Wie leicht könnte eine treffen, vielleicht gar eine faule! Sprich weiter! Hast du die Khanum Gul gesehen?«

»Nicht nur gesehen, sondern sogar mit ihr gesprochen. Diese beiden Personen verkehren notgedrungen sehr höflich miteinander, hassen sich aber grimmig. Sie glaubt ebenso wie der Prinz, daß ich der Schatten des Scheik ul Islam sei, und schmeichelt mir, um Gefährliches über ihn zu erfahren. Das zwingt sie, auch ihrerseits mitteilsam gegen mich zu sein, und so werde ich von beiden Seiten unterrichtet, ohne diesen Unterricht selbst bezahlen zu müssen. Mit heut ist aber hierin eine Aenderung eingetreten. Die Khanum Gul hat mir nämlich den Antrag gestellt, in ihren Dienst zu treten. Sie sagte, es gehe mit dem Scheik ul Islam zu Ende und sie werde mir die beste Garantie für meine Zukunft geben, falls ich geneigt sei, Alles zu sagen, was ich über ihn wisse. Das war gegen Mitternacht, denn sie hatte mich für diese Zeit zu sich bestellt, weil sie da Ahriman bei sich erwarte. Er kam, aber nicht allein, sondern mit den Massaban. Als er hörte, worüber wir verhandelt hatten, forderte er mich auf, sofort mit ihm zu gehen, um bewiesen zu sehen, daß es besser für mich sei, zu ihm und zur Khanum Gul, als zu dem Scheik ul Islam zu stehen, der sich grad eben in seinem Zelt befand. Er ließ dieses von den Massaban umzingeln und trat mit den Anführern hinein. Ich durfte mit. Da ich die Unterredung dieser beiden Männer im Allerheiligsten mit belauscht hatte, ahnte ich, was es nun für eine Szene geben werde, und wie ich dachte, so geschah es auch: Der Fürst der Schatten nahm den Scheik ul Islam beim Genick, nicht nur bildlich, sondern auch wörtlich, und schüttelte ihn so lange ab, bis auch der letzte Rest von Hochmut herausgeschlottert war. Dann warf er ihn hin und befahl, ihn auf das Strengste hier zu bewachen, bis der Kampf vorüber sei, und ihn dann zur weiteren Bestimmung vorzuführen. Natürlich trat er während alles Dessen, was ich erzähle, nur als Ahriman Mirza, nicht aber als der Fürst der Schatten auf und gab kluger Weise zu ahnen, daß dieser Letztere sich bei den heranziehenden Sillan befinde. Er ließ hierauf das Allerheiligste besetzen, um die Taki nicht in die Ruinen zu lassen, und kehrte dann nach dem Zelte zurück. Ich hatte vor demselben zu bleiben, bei der Dienerschaft, der ich dann half, Decken und Kissen nach der Vorderkante des Stockwerks zu schaffen, wohin der Mirza und die Gul sich beim ersten Grauen des Morgens setzen wollen, um von diesem allerbesten Platze aus dem Abschlachten der Dschamikun zuzusehen. Das gab mir Gelegenheit, mich zu entfernen. Ich eilte nach Eurem Hause hinüber und wurde da zu Euch hierhergeschickt.«

»Und was tust du nun?« fragte der Ustad.

»Das weiß ich nicht. Gib mir einen Platz, damit ich für euch kämpfe!«

»Wir haben Krieger genug. Bist du ein guter Reiter?«

»Ja.«

»So eile nach dem Hause zurück, und sag Kara Ben Halef, daß schnell gesattelt werden soll. Der Barkh für ihn, der Ghalib für dich und der Assil für mich. Dem Syrr mag Schakara den Sitz auflegen; er ist für den Effendi, doch nur mit Halfter. Dann kommt Ihr herab!«

»Wohin soll es gehen?« fragte ich, indem sich der über diesen Auftrag erfreute Aschyk entfernte.

»Hinauf nach dem Beit-y-Chodeh. Dieser Gedanke kam mir erst soeben. Es gibt kein edles Waffenspiel, keinen Kampf zwischen gleichwertigen Männern, sondern nur ein völlig gefahrloses Kesseltreiben auf niedriges Gezücht. Der Kessel ist gestellt, und Jedermann kennt seinen Posten und das, was man von ihm erwartet. Der Hauptmann mag an meine Stelle treten; er weiß Bescheid für alles Mögliche. Wir aber reiten dort hinauf, weil wir vom Beit den besten Ausblick haben. Sehen wir, daß man uns braucht, so können wir in zwei Minuten wieder unten sein. Nötigenfalls dienen Kara oder der Aschyk uns als Boten.«

Das hatte meinen Beifall, besonders deshalb, weil der zu erwartende Bergsturz, falls er nicht später kam, von dem Säulentempel aus viel besser als an jeder andern Stelle beobachtet werden konnte. Der Hauptmann bekam also seine Weisung, und wir gingen nach dem Bergwege, wo Kara mit dem Aschyk und unsern Pferden sehr bald eintraf.

Der Himmel hatte noch die stumpfe, bleierne Farbe, und auch die Nebel zogen noch dicht über den See und das Tal. Sie waren jetzt so kompakt, daß man nur wenige Schritte weit sehen konnte. Dann aber hörten sie plötzlich auf. Wir waren ihrer Grenze entstiegen und befanden uns in freier, durchsichtiger Morgenluft. Es war zwar noch nicht Tagesanbruch, aber im Osten dämmerte es schon leise, und die Linien unserer Bergesspitzen wurden – Bergspitzen? Ah! Auf der dort im Westen flammten hochlodernde Feuer. Waren sie erst jetzt angebrannt worden, oder hatten wir sie wegen des Nebels vom Tale aus nicht sehen können! Das waren die Warnungszeichen auf der Höhe des Alabasterzeltes. Die Lawine holte zum schrecklichen Sturze aus!

Am Beit-y-Chodeh angekommen, stiegen wir ab. Der Aschyk blieb bei den Pferden; wir andern Drei betraten das Innere und gingen nach vorn, wo wir uns niedersetzten. Da sagte der Ustad:

»Hier war es, hier an diesem Orte, wo der Feind uns herausforderte, so soll es nun auch hier sein, von wo aus wir sehen, was er vermag. Der frechste von ihnen damals, der Henker, ist schon dahin, beseitigt durch sich selbst, durch seine eigene Waffe. Du, auf dessen Person er die Blutrache warf, brauchtest gar nicht einzugreifen. So nun auch ich; ich lasse es dem Verhängnis über!«

Wir waren nicht etwa allein hier oben. Ich habe bereits gesagt, daß sich die ganze, große Menge der heut bewaffneten Festgäste auf die ringsum liegenden Höhen zurückgezogen hatte. Sie waren auch hier am Beit. Sie füllten den ganzen, freien Platz. Ihre Linie lief nach beiden Seiten in den Busch, in den Wald hinein. Und als es nun nach und nach heller zu werden begann und unser Blick über den See hinüberreichte, sahen wir sie auch drüben stehen, fast Kopf an Kopf, den ganzen See entlang – auch eine Lawine, welche bereit war, hernieder zu fahren, in den ethischen Abgrund, in das Heer der Sillan hinein. Diese Gefahr für die Feinde war zwar von hier oben, aber noch nicht von unten aus zu sehen. Denn die Nebel rückten enger und enger zusammen, und immer neue und neue kamen dazu. Sie machten für die Tiefe den Blick nach oben unmöglich. Es war, als ob sich die heranziehenden Schatten in dieses dunstige Geschwader verwandelt hätten, um ihren Angriff vom Lande auf das Wasser zu verlegen. Denn der erste Hauch des Morgens war gekommen, von Osten her, wo die Kalhuran mit den nördlichen Dschamikun nun standen, und schob die Nebel, zunächst langsam zwar, doch unwiderstehlich vor sich her, der Ruinenseite zu. Dort wirrten und wühlten sie sich an den alten Mauern empor, wickelten und wirbelten zu den Türmen hinauf und wagten sich sogar über diese hinüber, wo sie an der Kühle und Ruhe des Felsens erstarben.

So wurde es da draußen gegen Aufgang von ihnen frei und zugleich am Himmel immer heller und heller. Schon wurde die Ebene klar, die nach den Pässen führte. Da sahen wir sie reiten, die Schatten. Sie hatten sich am Zelte des Mirza geteilt, um an beiden Ufern gleichzeitig vorzudringen. Ihre Spitzen steckten schon tief in den Nebeln, aber ihre Zahl war so groß und ihre Kolonne so lang, daß nur ein sehr scharfes Auge den hinterherziehenden Troß zu erkennen vermochte. Wehe ihnen, wenn Ahriman den Befehl gegeben hatte, daß diese ganze Menge den See besetzen solle! Sie konnte sich ja nicht rühren! Sie war genau so eingestopft wie die Ultra-Taki im geheimen Gange, nur daß hier die Flucht nach rückwärts offen stand! Aber was für eine Flucht!

Während wir da hinausschauten, um sie heranziehen zu sehen, kam er hinter ihnen her – der Tag! Er folgte ihnen; er hing die Vorhut seines Lichtheeres an ihre Fersen und sandte uns, hoch über ihnen, den Odem seines Grußes zu. Dieser kraftvolle Atemstrom brach sich am Berge der Ruinen und wühlte dort die Nebel auseinander, um das Gemäuer, wenn auch nur vorübergehend, unsern Blicken preiszugeben. Da lagen die beiden Zelte. Das eine war von den Massaban umzingelt. Bei dem andern sahen wir Niemand. Aber vorn, auf der Mauerkante, saß Ahriman Mirza neben der Khanum Gul, und hinter ihnen standen die Diener. Die Stelle, welche sie sich gewählt hatten, lag so weit zurück, daß es ihnen selbst auch ohne die Nebel nicht möglich gewesen wäre, unsere Aufstellung unten im Duar zu bemerken. Sie befanden sich also noch immer in dem Glauben, daß die Dschamikun in tiefem Schlafe lägen.

Da wieherte bei den Schatten ein Pferd. Ein anderes antwortete – noch eines und noch eines. Das war in der Stille des Morgens weithin zu hören und für Ahriman ein Zeichen, daß seine Schatten angekommen seien. Er hatte sie schon des Nachts erwartet und war ungeduldig geworden. Warum den Duar erst leise und schleichend besetzen, wenn es nur einiger weniger Augenblicke bedurfte, ihn in schnellem Ansturm zu überrumpeln? Der Morgenhauch war zum Winde geworden, welcher die Dünste zur rascheren Bewegung zwang. Er begann, sie zu drängen, zu zerreißen, zu peitschen. Sie flatterten auseinander. Sie stoben nach allen Seiten. Sie flohen in alle Lüfte, um dort zerrissen zu werden. Der lichte Morgen war am See erschienen und räumte mit ihnen auf. Von den Ruinen verschwanden sie zuerst, weil der von der Felsenwand zurückkehrende Luftstrom dort doppelt wirkte. Da sahen wir Ahriman stehen. Er hatte sich hoch und gebieterisch aufgerichtet und eine Pistole in der Hand, um das verabredete Zeichen zu geben. Er schaute hinaus, über den See. Er sah nur Schatten, nichts als Schatten, welche nun alle herangekommen waren und in dichtgedrängter Menge das Tal besetzt hielten. Er sah nicht die Dschamikun auf den Höhen, weil sie sich hinter Felsen, hinter Bäumen und Sträuchern verbargen. Und er sah, wie bereits erwähnt, auch nicht unsere kanonenstarrende Aufstellung unten an der vordersten Ruinenmauer. Darum gab er sein Signal; die Pistole krachte.

Nun war er selbstverständlich überzeugt, daß die Schatten sofort von beiden Seiten in das Dorf dringen würden. Das geschah aber nicht, jedenfalls zu seinem größten Erstaunen. Ihre Spitzen waren nahe genug herangekommen, um zu sehen, was vor ihnen lag. Sie hatten beim Anblicke der ihnen entgegengähnenden Geschütze ihre Bewegung eingestellt, und die Führer schienen sich zu beraten. Da schoß Ahriman den zweiten Lauf ab und winkte mit beiden Armen, indem er laute Befehle rief. Man sah seinen Bewegungen an, daß er zornig geworden war. Jedenfalls hatte er befohlen gehabt, sein Zeichen zu erwidern, denn die Päderan gaben nun auch ihre Schüsse ab, je einen auf beiden Seiten. Weiter vorzurücken aber unterließen sie, indem sie wiederwinkten und nach dem Dorfe zeigten. Ihre Schüsse schienen ein vielstimmiges und nicht enden wollendes Echo erweckt zu haben, und Aller Augen richteten sich nach oben, von wo es herunterklang. Da brannten die Warnungsfeuer zwar noch, aber blaß und fahl im Tageslichte. Die Wächter hatten sich auf dem sichern Felsen am Alabasterzelte zusammengezogen und sagten uns durch die Stimmen der mit hinaufgenommenen Gewehre, daß die Moräne zum Sturze auszuholen beginne. Und zu gleicher Zeit griff nun der Hauptmann in die Szene ein. Seine kommandierende Stimme erscholl. Auf seinen beiden Flanken donnerte je ein Geschütz, für dieses eine Mal nicht scharf geladen, und die acht rund um den See verteilten Kanonen fielen augenblicklich ein. Und nun sprangen auf allen Höhen die Dschamikun hinter ihren Verstecken hervor und ließen ihre Stimmen erschallen und ihre Gewehre ertönen. Das war wie ein einziger Schrei und wie ein einziger Krach, unter dem das ganze Tal und der See in ihm erbebte. Dann trat jene tiefe, den Atem anhaltende Stille ein, welche nur entscheidenden oder gar fürchterlichen Ereignissen voranzugehen pflegt.

Kein Mensch, so weit man sah, schien sich bewegen zu können, mit Ausnahme von nur einem. Das war der Chodj-y-Dschuna. Er ging nach dem Landeplatze, stieg in das Boot und ruderte es so weit vom Lande ab, daß er von Ahriman gesehen werden konnte. Dieser stand, noch immer hoch aufgerichtet, aber wie zu Stein erstarrt, auf seinem Platze. Begriff er das, was vor ihm lag? Oder konnte er überhaupt nichts mehr begreifen? Da erhob sich der brave Lehrer der Dschamikun von der Ruderbank und rief mit weithin hörbarer Stimme zu ihm hinauf:

»Ahriman! Die Sterbestunde deines Reiches naht. Die Mauern unter dir beginnen schon, zu wanken, und über dir will die Lawine stürzen; man gab von dort das Zeichen, daß sie kommt. Du willst dem Schah-in-Schah die Herrschaft stehlen und –«

Ein schmetterndes Gelächter schnitt ihm die Rede ab. Aber nicht der Mirza lachte, der sich immer noch nicht regen zu können schien, sondern die Gul war aufgesprungen, um in dieser Weise zu zeigen, daß das Weib in den Augenblicken der Gefahr oft hoch über dem Manne stehe. Sie riß dem vollständig Ratlosen den Säbel aus der Scheide, trat bis ganz an den Rand der hohen Mauer vor und schrie herab:

»Erzähle keine Fabeln, sondern schau dich nach der Wahrheit um! Die Lawine will nicht erst kommen, sondern sie ist schon da. Sie wird Euch packen, sofort, sofort! Heran, ihr Leibscharen des neuen Schah-in-Schah, heran! Hier blitzt der Stahl; ich rufe Euch zum Siege! Yallah – yallah – yallah!«

Sie schwang den Säbel hoch empor, indem sie diesen Ruf ebenso hinausschmetterte, wie vorher das Gelächter und – war das tollkühne Absicht oder die Folge des unvorsichtigen, zu weiten Vortretens? Sprang sie, oder stürzte sie? Ließ sie die Klinge fallen, oder hielt sie sie fest? Man konnte das nicht unterscheiden, aber – bei dem dritten Yallah flog sie von der Mauer herunter. Das sah genauso aus, als tue sie das, um durch diesen verwegenen Sprung in die Feinde herunter die zögernden Schatten zum Angriff zu begeistern. Und es wirkte!

»Yallah, yallah!« riefen die Päderan, indem sie vorwärts stürmten. »Yallah, yallah!« schrien die ihnen nachdrängenden Schatten. »Yallah – yallah – yallah!« brüllte es, weiterlaufend, rund um den ganzen See. Die beiden Kolonnen drängten nach vorn. Da winkte der Chodj-y-Dschuna vom Boote aus dem Hauptmanne zu. Dieser gab das Zeichen. Es wurde zu beiden Seiten gesehen, und die Geschütze begannen, den Tod in die Feinde zu sprühen, nicht nur die zwölf im Duar, sondern auch die übrigen acht.

Der Donner der Kanonen riß den Mirza aus seiner Erstarrung. Er fuhr sich mit beiden Händen nach dem Kopfe und trat, so wie vorher die Khanum, ganz an den Rand der Mauer vor, um ihr nachzublicken. Aber unsere Augen wurden durch etwas Anderes von ihm und von der Wirkung der Schüsse ab- und in die Höhe gezogen.

Wir konnten vom Beit-y-Chodeh aus das ganze abschüssige Terrain am Alabasterzelte übersehen. Die Moräne hatte das lockere Geröll erreicht und schob es vor sich her. Sie wuchtete selbst die größten Blöcke aus, welche infolge ihrer Schwere ins Rollen kamen und der eigentlichen Lawine vorausstürzten. Das geschah gerade in der Pause nach dem ersten Krachen unserer Kanonen. Die Massaban schauten von der Kampfesszene weg, hinauf nach der Bergeskuppe. Sie wußten von dem Aschyk, daß ein Bergsturz erfolgen werde, und als sie nun Stein auf Stein herniederfallen sahen, ergriffen sie schleunigst die Flucht. Der Duar lag zu nahe am Berge; von ihm aus konnte der Eintritt der Katastrophe noch nicht bemerkt werden. Aber den Schatten draußen am Wasser mußte er unbedingt in die Augen fallen. Sie hielten im Vordrängen wieder inne. Sie schrien nicht mehr »yallah«, sondern ganz anders. Sie richteten ihre Blicke nicht nach vorn, obgleich da unsere Geschütze weiterdonnerten, sondern nach oben, wo die Moräne sich am Felsen des Zeltes in zwei breite, wirbelnde Ströme geteilt hatte und nun herniederschoß. Noch ehe sie unten auftraf, erscholl von allen Punkten des Tales ein vieltausendstimmiger Schrei, dann –

Das war kein Krach, den es gab, kein Schlag, kein Knattern und Prasseln, kein Dröhnen und Rasseln, kein Knirschen und Tosen, kein Brausen und Saufen, kein Zerbersten, Zerspringen und Zerplatzen, kein Knallen, kein Beben, kein Zittern, kein Rollen, und doch aber war es dieses Alles, Alles, Alles, aber in so entsetzlicher und betäubender Weise vereint, daß es ganz unmöglich beschrieben werden kann. Die Wucht des Sturzes dieser schweren Massen erregte einen Luftdruck, der uns hier hüben wie ein unsichtbarer Schlag an die Köpfe traf, drüben aber Alles, was da stand, zu Boden warf. Ahriman Mirza wurde von der Mauer hinweg und weit in die Luft hinausgeblasen. Wohin er fiel, das sahen wir nicht, weil aus der höllischen Verwirrung eine Staubwolke aufstieg, welche zunächst die ganze Ruinenseite des Tales verhüllte und sich dann in der Weise weiter verbreitete, daß wir nur mit Vorsicht atmen konnten. Die Atmosphäre wurde in solcher Höhe und Weite von diesem Staube erfüllt, daß noch einige Tage später der Bergwald am äußersten Ende des Sees aus Grün in Grau verwandelt lag. Das Auftreffen der Lawine hatte eine Bodenerschütterung zur Folge, die als Zittern weiterlief und von einem Geräusch begleitet wurde, als ob ein Kegeljunge alle seine Kugeln auf der Laufrinne hinunterrollen lasse.

Obgleich wir auf dieses Ereignis vorbereitet gewesen waren, konnten wir uns dem Eindrucke seiner elementaren Gewalt doch nicht entziehen. Wie mußte es da erst bei Denen wirken, die es unerwartet traf! Wir sahen das zwar nicht, aber wir hörten umso mehr. Das war kein Lärm, der zu uns heraufdrang, sondern ein überlaut zeterndes Getöse. Menschliche Stimmen erschallten in jeder Klangfarbe des Entsetzens. Pferde wieherten überall, aber in einer mir bisher ganz fremden Weise. Kamele brüllten; Hunde heulten. Auch im Walde wurde es laut. Die ganze Tierwelt, die zahme und die wilde, schien sich in der größten Aufregung zu befinden. Wir mußten hin zum Aschyk eilen, weil unsere Pferde durchgehen wollten.

Als wir sie beruhigt hatten und wieder an unsern Platz kamen, stieß der Ustad einen Ruf der Ueberraschung aus, indem er dort hinüber deutete, von woher die Lawine gekommen war. Auch wir staunten, Kara und ich. Die Staubwolke hatte nicht bis zur Bergeskuppe steigen können, und hier bei uns begann sie, dünner zu werden. Darum sahen wir zwischen den beiden Wegen, welche die Moräne genommen hatte, einen freien, nackten, starken Felsenarm weit in die Luft hinausragen, in dessen gewaltiger Faust die glänzend weiß blinkende Alabasterkrone ruhte. So, genau so hatte ich es mir gedacht, als ich mich zum ersten Male auf dem See befand8. Meine damalige Idee war also keine schnell und spurlos zerplatzende Gedankenblase gewesen!

Wie da drüben die eine Lawine niedergegangen war, so schickte sich nun auch die andere, die kriegerische, an, zu Tale zu rollen. Ueberall, wo der Staub es nicht verhüllte, sahen wir, daß die Dschamikun die Höhen verließen, um in die von der Katastrophe unterbrochene Aktion einzugreifen. Es war vorherbestimmt worden, daß sie nach den ersten Kanonensalven sich unter guter Deckung an die Schatten machen sollten, um sie unter ihr Gewehrfeuer zu nehmen, welches bei den hier gegebenen Verhältnissen denselben Erfolg haben mußte wie ein Hagelwetter auf ein schutzlos stehendes Feld. Dann hatte die zu beiden Seiten des Duar versteckte Reiterei hervorzubrechen, um die Uebriggebliebenen niederzurennen oder, einer unheilvoll wirkenden Schaufel gleich, in den See zu werfen.

Wir erwarteten, daß das Schnellfeuer dieser tausende von Schützen jetzt beginnen und mit seinem ununterbrochenen Rollen jedes andere Geräusch verschlingen werde, bekamen aber nichts zu hören als das dumpf herauftönende Stampfen eilig laufender Pferde. Kein Schuß wollte fallen, weder aus einer Kanone noch aus einem Gewehre. Was war das? Welchen Grund hatte dieses für uns rätselhafte Schweigen?

Unser Freund, der Morgen, beantwortete uns diese Frage. Wie vorher in die Nebel, so fuhr er mit seinem Winde nun auch in die Staubwolke. Er trieb sie vom See hinweg nach dort, woher sie gekommen war, nach den Ruinen, und drückte sie derart gegen die Felsenwand, daß sie zu ersticken begann. Das Tal lag infolge dessen vollständig frei vor unseren Augen, und da erkannten wir, daß uns unser so wohlüberlegter Plan auf das Gründlichste verdorben worden war. Wir sehen einander an und wußten nicht, ob wir lachen oder uns ärgern sollten.

Wie lächerlich von uns, geglaubt zu haben, daß die Schatten unter dem Schutze des Alles verhüllenden Staubes unsern Kanonen standhalten würden! Sie waren nämlich gar nicht mehr da, diese unstäten, schreckhaften Memmen! Wo Lawinen stürzen, bleiben nur herzhafte Männer stehen, nicht aber feige Gesellen, denen das Rückgrat fehlt! Wie aber war das gekommen? Und wie hatte es geschehen können, daß eine so dicht zusammengedrängte Menge sich zu entfernen vermochte, ohne unter sich selbst auch nur eine Spur von Verwirrung anzurichten? O, sehr einfach und leicht! So kompakt sich ihre Masse vorerst zusammengeschoben hatte, es war doch schnell, sehr schnell Platz geworden. Die Hintertreffen hatten gleich bei den ersten Kanonenschüssen das Weite gesucht, denn für eine so grobe Behandlung ist kein Schatten zu haben. Dadurch waren ganz naturgemäß neue Hintertreffen entstanden, welche ganz derselben Meinung waren und auch ganz dasselbe taten; sie machten ebenso Kehrt. So hatte sich ein Hintertreffen nach dem andern gemütvoll abgelöst, um heimlich nach rückwärts zu gehen. Wir sahen diese einzelnen Geschwader schon außerhalb des Tales reiten, um sich dort einträchtig und wohlbehalten wieder zusammenzufinden. Wenn auch nicht ganz, aber doch so ziemlich nahe befanden sich nur noch die beiden lieben Vordertreffen. Sie hatten ganz unerwartet und zu ihrem größten Erstaunen bemerkt, daß sie nun nicht mehr vorn, sondern hinten waren, und sich augenblicklich umgedreht, um wieder nach vorn zu kommen. Ihre Pferde waren es, deren galoppierenden Hufschlag wir gehört hatten. Sie strebten soeben von beiden Seiten dem Zelte Ahriman Mirza’s zu und jagten, als ob ihnen unsere ganze Macht im Nacken säße.

»Schatten!« sagte der Ustad in einem Tone, als ob es ihn ekele. »Und mit solchem Gesindel will man nicht nur uns, sondern sogar dem Schah-in-Schah imponieren! Wie töricht von uns, solche Vorbereitungen zu treffen, wo es sich jetzt herausstellt, daß es keines einzigen Mannes von uns bedurfte. Fast schäme ich mich!«

Wir sahen, daß man unten im Duar ebenso erstaunt war, wie wir hier oben, doch zögerte man nicht, sich der neuen Situation sofort anzubequemen. Die Reiterei brach hervor, um die Verfolgung aufzunehmen. Drüben erschien der auf dem Nordwestwege versteckt gewesene Scheik von Schohrd mit seinen Leuten, und ihm folgte Ibn el Idrak mit den Takikurden, die er hatte anmelden lassen. Hüben brachen die südlichen Dschamikun aus dem Wege nach dem Tale des Sackes hervor, hinter ihnen die Dinarun, von ihrem Scheike angeführt. Sie ritten, was ihre Pferde nur laufen konnten, auf der Rennbahn zu beiden Seiten des Wassers hin, um die Schatten den vereinigten Kalhuran und nördlichen Dschamikun entgegen zu treiben. Auch der Hauptmann der Leibgarde warf sich auf sein Pferd; der Chodj-y-Dschuna ebenso. Dschafar Mirza eilte nach dem Hause hinauf, um sich beritten zu machen. Die Dschamikun alle, welche im Niedersteigen begriffen gewesen waren, kehrten schnell wieder um, weil sich jenseits der Höhen die Plätze befanden, wo ihre Pferde einstweilen untergebracht worden waren. Von dort aus war es ihnen leicht, im Osten hinabzukommen und die Umzingelung der Schatten zu verstärken. Es schien, als ob Jedermann von einer Art von Verfolgungsfieber ergriffen worden sei, ausgenommen die Leute des Schah-in-Schah, welche nun nach der Entfernung des Hauptmannes ein Najyb-y-Aewwäl kommandierte.

Auch wir fühlten uns nicht berufen, wegen fliehender Schatten unsere Pferde anzustrengen; wir blieben. Zudem wurden wir von dem Anblicke festgehalten, den der Ruinenplatz jetzt bot. Die Lawine war, wie bereits erwähnt, in zwei Hälften herabgestürzt. Die beiden hohen, gewaltigen Erd- und Steinhaufen, welche sich hierdurch gebildet hatten, lagen im Hintergrunde vereinigt, vorn aber nicht. Es gab da eine schmale Einbuchtung der Trümmer, durch welche die Tür zum Allerheiligsten freigelassen worden war. Dort hatte ein Teil der Massaban gestanden, um den geheimen Gang zu bewachen. Wie sich später herausstellte, war es ihnen gelungen, sich durch die Flucht zu retten und einstweilen zu verbergen. Und doch gab es Leute dort. Sie traten aus der Tür, Einer nach dem Andern, und zeigten durch ihre Bewegungen, wie sehr sie über den Anblick erschraken, der sich ihnen bot. Es folgten Mehrere, und als sie weiter nach vorn kamen, sahen wir, daß es unsere Leute waren, welche in dem Gang postiert gewesen waren, um die Ultra-Taki nicht hindurchzulassen. Sie hatten das Aufschlagen der Lawine und die erdbebenartige Erschütterung sehr deutlich gespürt und einen Kameraden herausgeschickt, um nachzusehen, was geschehen sei. Er meldete es ihnen, und nun kamen sie Alle, um sich zu retten. Sie wußten ja, daß die Säulen unter den Ruinen einzubrechen begannen, und waren überzeugt, daß die Decke die niedergestürzten Massen nicht zu tragen vermöge. Wenn sie einbrach, so mußte Jeder, der sich im bedrohten Teile des Ganges befand, verloren sein. Darum hatten sie sich geflüchtet und beeilten sich, in der schnellsten Weise herunter in den Duar zu kommen.

Hinter ihnen erschienen die eingeschlossenen Taki, Allen voran der Selige, der Heilige, der Imam und die Generale. Sie waren sehr wohl bedacht gewesen, die Gefahr des Kampfes zu meiden, und aber nun in eine viel größere geraten. Wie behend sie klettern konnten! Wie sie sprangen und rannten, ganz gegen alle früher gezeigte Würde! Nur um den lieben, irdischen Leib in Sicherheit zu bringen! Nach diesen drängten sich die Andern aus der Tür, alle die Feinde, die wir bei den Taki hatten. Sie schoben sich; sie stießen sich; sie trieben einander mit den Fäusten vorwärts. Ihre Zahl wuchs mehr und mehr. Und wie sie so dem Dunkel der Erde entquollen und schreiend, fluchend, stolpernd, über einander stürzend, in sinnloser Hast zu entrinnen und nur zu entrinnen suchten, kamen sie mir vor wie fliehende Ratten, welche von ihren Schiffe nichts mehr wissen wollen, weil es zu sinken beginnt. Sie waren so voller Angst und so Hals über Kopf verwirrt und verschüchtert, daß sie sofort Alles, was sie an Waffen bei sich trugen, wegwarfen, als der Oberleutnant ihnen unten entgegentrat und sagte, daß er sie als Feinde gefangen zu nehmen habe. Trotz dieser Bereitwilligkeit aber erklärten der Selige, der Heilige, der Imam und die beiden Generale, sofort mit dem Ustad sprechen zu müssen. Weder sie noch die hier anwesenden Taki hätten je irgend Etwas gegen uns unternommen, und es sei also eine schreiende Ungerechtigkeit von uns, sie als Gefangene zu betrachten und zu behandeln. Als sie hörten, daß der Ustad hier oben am Beit-y-Chodeh sei, verlangten sie, hinaufgeführt zu werden, damit diese wichtige Sache sogleich entschieden werde. Er hielt es für keinen Fehler, auf dieses Verlangen einzugehen, und so sandte er uns die ganze Cohorte zu, von einer Anzahl Leibgardisten als Wache begleitet.

Als sie oben anlangten, kamen sie alle in den Tempel herein und stellten sich hinter uns auf. Der Selige trat vor, um zum Ustad zu sprechen; dieser aber forderte ihn auf, jetzt noch zu schweigen und hinüber nach den Ruinen zu sehen, wo soeben ein Anderer zu sprechen beginne, der über allen Seligen erhaben sei und dessen Rede man nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen bekommen werde.

Er hatte mit diesen Worten nicht zuviel gesagt, denn was sich jetzt da drüben vorbereitete, mußte Jeden, der es sah, mit Grauen erfüllen. Es war im Osten vollständig morgenrot geworden, und die Sonne stand dem Aufgange nahe. Die Alabasterkrone hoch oben lag bereits in vollster, goldiger Glut. Sie flimmerte wie von millionen Diamanten und Rubinen. Aber tief unter ihr war es unheimlich, denn da begann es sich zu regen und zu bewegen, und man konnte doch nicht deutlich erkennen, wo und wie. Es war wie ein langsames Wiegen hin und her. Hier und hier und dort und da schütterte und verschwand der Boden in sich hinein, in die Tiefe, wie durch sich bildende Schächte. Wir hörten einen Knall, als ob die Erde von innen heraus auseinandergesprengt werde. Es folgte ein steinernes Knacken und Prasseln, wie von einem gigantischen Ungeheuer, welches Berge verzehrt und die Felsenknochen derselben mit den Zähnen zermalmt. Und da – da – da tat sich vor unsern Augen da drüben ein furchtbarer Rachen auf und begann die Ruinen mitsamt den herabgestürzten Höhenmassen zu verschlingen! Und während sie in diesem heißhungrigen, gefräßigen Schlund verschwanden, schoß ihm das emporgetriebene Wasser der Tiefe über die Lefzen und wurde zu gleicher Zeit mit einer solchen Gewalt aus dem Kanal in den See gepreßt, daß es sich wie ein beutegieriger, springender Leviathan über seine Fläche stürzte und erst weit draußen verendend niedersank.

Wir aber achteten weder auf den jetzt plötzlich in hohen Wellen gehenden See, in den sich der ganze Inhalt der unterirdischen Bassins zu ergießen hatte, noch auf sonst etwas Anderes, sondern nur auf eine einzige Stelle, die unsere Aufmerksamkeit in fast wunderbarer Weise gefangennahm. Wir sahen von den Ruinen nur noch die vordere Mauer. Alles, was hinter und über ihr gelegen hatte, war verschwunden, in ein vollständig ebenes Feld verwandelt, fast genau so, wie es von der Kirchenzeichnung des Ustad dargestellt wurde. Und grad da, wo auf dieser Zeichnung im Hintergrunde der Säulenhalle das leere Postament stand, leuchtete uns die herrliche Alabastergestalt des durch die Katastrophe nun endlich erlösten »verzauberten Gebetes« entgegen. Vom dunkeln Hintergrunde der Nische uns doppelt hell gezeigt, streckte es seine emporgehobenen Arme dem Aufgange der Sonne entgegen, um mit offenen Händen den Segen zu nehmen und zu spenden, in den der tausendjährige Fluch verwandelt worden war. Und wie sie nun emporstieg, die ersehnte Sonne, so kam ihr Licht von der funkelnden Alabasterkrone hernieder, wie auf Engelsschwingen getragen, die sich hold und froh zur Erde senken. Sie küßte die Stirn, die Wangen, den Mund des genau unter dieser Krone stehenden Gebetes und floß dann über das ganze Tal, um zu verkünden, daß es bisher nur Morgen gewesen, nun aber endlich und wirklich Tag geworden sei.

Der Ustad sprach kein Wort. Er hatte meine Hand ergriffen und drückte sie mir so, daß es allerdings keiner Worte bedurfte, ihn zu verstehen. Um so lauter waren die hinter uns Stehenden. Ihr Dogma zwang sie, die auf so rätselhafte Weise erschienene Figur als einen Greuel zu betrachten, denn Allah hat verboten, von beseelten Wesen Bilder anzufertigen. Wer vor Bildern betet, ist ein Götzendiener. Wer aber gar Bilder selbst beten läßt, der ist ein Gotteslästerer, wie es keinen größern geben kann. Sie sagten das ganz ungeniert und in so scharfen Ausdrücken, daß ich die Selbstbeherrschung des Ustad bewunderte, der sich zu ihnen umdrehte und sie fragte, was sie eigentlich hier an dieser Stelle zu suchen hätten. Da öffnete der Selige den Mund und hielt seine Rede, deren Grundgedanke die Behauptung war, daß kein Einziger von ihnen jemals daran gedacht habe, irgend etwas Feindseliges gegen die Dschamikun zu unternehmen. Sie seien keine Feinde und also augenblicklich freizulassen. Zur Bekräftigung gebe er im Namen Aller sein Ehrenwort, daß er die Wahrheit gesprochen habe.

»Im Namen Aller? Wirklich?« fragte der Ustad, indem er sie anschaute und sein Auge auf jedem Einzelnen ruhen ließ.

Da erhoben sie ihre Hände zum Zeichen der Bejahung, keiner von ihnen ausgenommen. Der Ustad nickte mir und Kara zu, ihm zu folgen. Er ging, ohne Antwort zu geben. Wir bestiegen unsere Pferde und ritten nach dem Duar. Unten angekommen, teilte er dem Oberleutnant mit, daß die Gefangenen frei seien, aber das Gebiet der Dschamikun sofort zu verlassen hätten.

»Frei?« rief Kara, der sich doch nicht halten konnte, fast zornig aus. »Sie haben ja bei ihrer Ehre gelogen, alle, alle! Der Selige, der Heilige, der Imam, die Generale und sämtliche Taki, vom Ersten bis zum Letzten!«

»Das weiß ich ebenso gut, wie sie es selbst auch wissen,« antwortete der Ustad lächelnd. »Aber grad darum gebe ich sie frei, denn solche Ehrenmänner möchte ich nicht einmal als Gefangene bei mir haben! Verstehst du mich nun?«

Das Erste, was wir nun taten, war, uns nach Ahriman Mirza und der Khanum Gul zu erkundigen. Denn daß die Katastrophe mit den Ruinen zugleich auch den Scheik ul Islam vernichtet hatte, das bedurfte ja keiner Frage. Der Oberleutnant sagte, daß wir im Hofe des Chodj-y-Dschuna die Antwort finden würden. Dort angekommen, sahen wir Beide. Die Khanum war tot, in den Säbel gestürzt. Der Mirza saß neben ihr, unbeschädigt am Körper, aber mit stumpfem Gesicht und leeren Augen. Er kannte uns nicht mehr. Er schien auch sich selbst nicht mehr zu kennen und leierte, wir mochten sagen, was wir wollten, nur immer und immer den Satz vor sich hin: »Ahriman Mirza ist der Fürst der Schatten, und wenn er stürzt, ist es mit ihnen aus. Ahriman Mirza ist der Fürst der Schatten, und wenn er stürzt, ist es mit ihnen aus –!« Der Ustad hat es also erreicht: Ihn nur mit dem einen Worte »Chodem«, am richtigen Orte und zur rechten Zeit angewendet, aus der »Schablone« herausgetrieben, die nichts und nichts als Lüge war! Da hatten wir sie vor uns, nicht die seidene, sondern die eigentliche schwarze Larve des Aemir-y-Sillan. Und dieses psychologische Präparat wurde nun durch die Macht des Verhängnisses gezwungen, nichts und nichts weiter mehr zu tun, als die bisher so sorgfältig verhüllte Wahrheit ganz offen und nur immer und immer vor sich herzuleiern!

Als wir aus dem Hause traten, trafen wir auf Agha Sybil und die Seinen, welche vor dem Nahen der Schatten ihr vollständig ausverkauftes Zelt abgebrochen und sich hinauf zu uns geflüchtet hatten. Sie kehrten zu dem verlassenen Platz zurück. Auch kamen von allen Seiten die Angehörigen der Festgäste und die Frauen und Kinder unserer heimischen Dschamikun herbei. Sie hatten sich selbstverständlich zurückziehen müssen und nun aber die Nachricht erhalten, daß sie sich wieder einstellen könnten. Man kann sich das Erstaunen denken, als sie die Veränderung sahen, welche mit dem Ruinenplatze vor sich gegangen war. Wir warnten sie, die gern sogleich hinaufgestiegen wären. Ehe man dies wagen konnte, hatte sich die Masse erst noch zu beruhigen und zu senken. Zugleich langten diejenigen von unseren Leuten an, mit denen an der andern Seite des Berges der geheime Gang von außen besetzt worden war. Auch sie hatten die Detonationen gehört und die Erschütterung der Erde gespürt. Als sie dann später bemerkten, daß sich die Ultrataki gar nicht mehr in dem Gange befanden, hatten sie geglaubt, ihren Posten verlassen zu dürfen. Sie kamen eben von der einen Seite in den Duar, als die von ihnen eingeschlossen Gewesenen von der andern, der Seite des Tempelberges, sich näherten. Diese Letzteren gingen mit würdevoll abgemessenen Schritten und hochgetragenen Häuptern stolz zwischen den Dschamikun hindurch, um jenseits in der Schlucht des Baches zu verschwinden! Den Ersteren aber sagte der Ustad, daß die nicht gebrauchten Signalflammen sich heut Abend in Freudenfeuer zu verwandeln hätten, wobei auch die verteilten Fackeln mit zu verwenden seien. Das brachte die schnellste Bewegung auch in die Menge der Frauen und Kinder. Man ging sofort an das Werk, alles vorhandene Brennmaterial zusammenzusuchen und die Zahl der Holzstöße zu vermehren, denn heut Abend müsse es im Tale so hell wie am Tage sein.

Hierauf wurde beschlossen, einen Ritt um den See zu machen, um nach den gefallenen Schatten zu sehen. Sie lagen nur an den Stellen, welche von den Kanonen bestrichen worden waren. Wir fanden nicht nur den Vertrauten des Mirza, sondern auch sämtliche Pädäran, welche an jenem Sonntage des Gottesdienstes mit dem Mirza und dem Henker als Bluträcher zu uns gekommen waren. Der Ustad beschloß, diese Leichen alle den Ultra-Taki hinüberzuschicken, um nach dem von dem Scheik ul Islam vorgeschriebenen Dogma und Ritus begraben werden zu können. Das solle eine Todeskarawane werden, welche wirkliche Verstorbene, nicht aber Gewehre für Empörer transportiere.

Als wir das andere Ende des Sees erreichten, stand das Zelt Ahrimans verlassen, gänzlich menschenleer. Wir gingen hinein. Es war fürstlich ausgestattet. An der hintern Wand stand zwischen einem Diwan und einem langen Speiseserir eine köstlich gearbeitete, verschlossene Truhe. Ueber ihr hing ein kleines Bild und ein vergoldeter Schlüssel dabei. Der Ustad trat hinzu, um nachzusehen, was für ein Bild es sei. Kaum fiel sein Blick darauf, so stieß er einen Ruf der Ueberraschung aus. Er nahm es herab und ging zum Eingang, um besser sehen zu können. Dann öffnete er vorn sein Gewand und zog eine Perlenkette unter demselben hervor, an welcher auch ein Bild, von ganz derselben Form und Größe, hing. Er hielt beide neben einander, um sie zu vergleichen. War das seinige vielleicht dasselbe Bild, von welchem Pekala mir erzählt hatte, daß er es an einem einzigen Tage des Jahres auf seinem härenen Gewande trage?

Nach einiger Zeit kehrte er zur Truhe zurück und versuchte, ob der Schlüssel passe. Es war der richtige. Sie schien nur Papiere zu enthalten. Er griff hinein, um zu sehen, was für welche. Er las, griff weiter und las wieder. Dann drehte er sich zu mir herum und sagte:

»Befremdet es dich, wenn ich Euch bitte, mich jetzt zu verlassen? Ich muß allein sein, muß suchen und lesen. An der Verfolgung der Schatten beteiligte ich mich nicht; sie widerte mich an. Nach dem aber, was ich hier sehe, möchte ich, daß keiner von ihnen entkomme, kein einziger. Ich habe sie alle zu fassen, alle, und dem Beherrscher auszuliefern. Das Reich muß frei werden von ihnen, gänzlich frei! Darum bitte ich Euch, reitet unsern Leuten nach und sorgt dafür, daß man ja nicht nachsichtig oder gar sorglos verfahre! Ich vermute, daß ich lange Stunden brauche, bis ich hier fertig bin; für mich habt Ihr Euch also mit Eurer Rückkehr nicht zu beeilen.«

So stiegen wir Drei also wieder auf und ritten nicht nach dem Duar zurück, sondern nach Osten, gegen die Pässe. Die dorthin führende Ebene lag frei. Kein Mensch war auf ihr zu sehen. Die sehr flüchtig berittenen Schatten hatten keine Nachzügler oder gar Marode zurückgelassen, und die Verfolger waren ebenso schnell hinterher gewesen. Als wir in der Nähe des Gebirgszuges angekommen waren, sahen wir, daß man sich geteilt hatte, um gleichzeitig durch beide Pässe zu gehen. Wir wählten den südlichen, den des Hasen, durch welchen Kara damals mit Tifl geritten war. Auf seiner Höhe angekommen, sahen wir die herrenlose, steppenähnliche Fläche unter uns liegen, auf welcher Kara den von den Bluträchern gejagten Scheik der Kalhuran und seine Frau gerettet hatte. Sie war die festgeschlossene Falle, in welcher sich die Sillan jetzt befanden.

Sie bildete ein großes, von der Natur mit Bergeszügen abgeschlossenes Viereck, dessen Seiten folgendermaßen besetzt waren: Auf der Westseite, also grad unter uns, die Duardschamikun, die Gewappneten von Schohrd und die verbündeten Taki; auf der Nordseite alle unsere männlichen Festgäste, welche zur rechten Zeit gekommen waren, mit eingreifen zu können; im Osten die nördlichen Dschamikun und die Kalhuran, und im Süden die südlichen Dschamikun mit den Dinarun. Die Einschließung war also außerordentlich exakt und genauso ausgeführt worden, wie der Ustad sie entworfen hatte. Die Schatten befanden sich in der Mitte; keiner fehlte. Sie kamen nicht auf den Gedanken, sich zu einer Phalanx zu vereinigen, um einen Durchbruch zu versuchen, denn dazu waren sie zu feig, sondern sie ritten in getrennten Trupps oder Rudels ganz ratlos hin und her und ließen sich immer enger zusammenschnüren.

Unweit der Stelle, an welcher der Hasenpaß in die südwestliche Ecke der Falle mündete, hatten sich unsere sämtlichen Führer zu einer Beratung zusammengefunden, zu welcher sich soeben auch der Scheik der Kalhuran von dem entferntesten Punkte unserer Aufstellung einstellte. Wir ritten hinab. Es war aber ein sehr steiler Weg, und wir schonten unsere Pferde. Darum kamen wir erst unten an, als diese kurze Besprechung soeben zu Ende war. Der Scheik der Kalhuran, der die Gegend genau kannte, hatte einen Vorschlag gemacht, welcher einstimmig angenommen worden war. Es handelte sich um die beste Art und Weise, in welcher die Schatten schnell zu entwaffnen und dann leicht zu bewachen seien. Ich fügte da nachträglich den Befehl des Ustad hinzu, ja Niemand entkommen zu lassen. Nun gab es drüben an der nördlichen Seite eine große, weite Felsenkluft, deren Wände so steil und so hoch waren, daß kein Mensch an ihr emporsteigen konnte. Sie war nur durch einen schmalen Riß zugänglich, welcher hier heraus auf unsere Ebene mündete. Die Schatten mußten nach diesem Risse getrieben und dort entwaffnet werden. Waren sie dann in der Kluft, so gab es für keinen Einzigen ein Entrinnen.

Die Anführer kehrten infolge dieses Beschlusses an ihre Plätze zurück, um der Aufstellung die erforderliche neue Gestalt zu geben, was sehr schnell geschehen konnte, weil mehr als genug Platz zu den erforderlichen Bewegungen vorhanden war. Unser bisheriges Viereck verwandelte sich in ein Dreieck, dessen offene Spitze nach der Kluft führte. Als dies geschehen war, wurde der Feind auf diese Spitze zugedrängt. Wir sahen, daß er zögerte, diesem Stoße zu folgen. Es schien, daß er endlich nun einmal den Mut fasse, wenigstens so zu tun, als ob er die Absicht habe, sich zur Wehr stellen zu wollen. Da machte der energische Scheik von Schohrd kurzen Prozeß. Er gebot seinen Gewappneten, blank zu ziehen, setzte sich mit entblößtem Schwerte an ihre Spitze, ritt mit ihnen bis ganz an die Schatten heran und begann zu sprechen. Wir konnten nicht hören, was er sagte, aber es hatte den beabsichtigten Erfolg: Die Hinteren drängten unwiderstehlich nach vorn, und die Vorderen rückten weiter. Da auf der Flucht die vorn Befindlichen niemals die Mutigen sind, so sahen sie sehr vernünftiger Weise ein, wie überlegen wir ihnen waren und daß Widerstand nichts als nur Dummheit sei. Sie stiegen ab, lieferten ihre Waffen und Pferde aus und verschwanden dann in der Kluft.

Das Beispiel wirkt, und was der Eine kann, das kann der Andere auch! Während wir von den andern Seiten immerfort nachdrängten, gab es auf der Ostseite mehr als vollauf zu tun, die erbeuteten Waffen und Rosse aus der Linie zu bringen. Aber der einzige Zugang zu dem Massengefängnisse war so schmal, daß die Unterbringung der Schatten viel langsamer vor sich ging, als wir es wünschten. Uebrigens nahmen sie ihr Schicksal nicht sehr tragisch auf. Schatten denken ja heut so und morgen so! Als es ihnen mit der Zeit im Sattel zu unbequem wurde, stiegen sie ab und machten es sich auf der Erde gemütlicher. Und wenn dann unsere Leute kamen, um die Pferde wegzunehmen, so bekamen sie die Gewehre, Pistolen und Messer ganz ohne Widerrede obendrein. So kam es, daß wir die Beute schon alle beisammen hatten, als noch fast die Hälfte der Schatten im Freien saßen und darauf warteten, untergebracht zu werden.

Was diese Beute betraf, so hatte der Ustad im Namen sämtlicher Dschamikun auf sie verzichtet. Sie sollte nur unsern Verbündeten zufallen, und diese ernannten sogleich an Ort und Stelle eine Kommission, welche die einzelnen Stücke zu taxieren und gerecht zu verteilen hatte. Das geschah denn auch, und grad als der letzte Schatten in der Ritze der Kluft verschwunden war, hatte auch das letzte ihrer Pferde seinen neuen Herrn bekommen und die letzte ihrer Waffen ihre neue Stelle gefunden. Da war es nun aber auch beinahe Abend.

Die Bewachung der Gefangenen wurde den Kalhuran anvertraut, von deren Scheik man sicher sein konnte, daß er dieser seiner Pflicht genügen werde. Was hier nun noch zu geschehen hatte, konnte mir gleichgültig sein. Darum beschloß ich, heimzureiten, und Dschafar Mirza gesellte sich zu demselben Zweck zu uns. Da sahen wir weit draußen im Osten einen Kamelreiter kommen. Sein Tier war kein gewöhnliches. Es entwickelte eine Schnelligkeit, welche Dschafar zu dem Ausrufe veranlaßte:

»Das kann nur ein Eilbote sein! Vielleicht wieder vom Schah-in-Schah!«

Er hatte ganz richtig vermutet. Wir ritten so, daß der Mann auf uns treffen mußte, und erfuhren da, daß er vom Beherrscher komme und je einen Brief an Dschafar Mirza und an den Ustad der Dschamikun habe. Der Erstere bekam seinen Brief und las ihn sofort. Es war ein langer, schmaler, starkbesiegelter Zettel dabei. Dschafar lächelte, sagte aber jetzt noch nichts. Wir ritten weiter, mit dem Kuriere Schritt haltend. Aber meinem Syrr schien der Geruch des Kamels unangenehm zu sein. Er schüttelte den Kopf wie gegen einen lästigen Mückenschwarm und drängte seitwärts ab. Das half nicht genug. Da bäumte er sich unwillig auf und setzte sich dann in einen Galopp, der mich weit, weit eher als die Andern vor das Zelt Ahriman Mirzas brachte. Der Ustad war noch da. Er sagte, daß er soeben erst mit dem Lesen fertig geworden sei und mir erst morgen mitteilen werde, was er hier so ganz unerwartet gefunden habe. Ich erzählte ihm, in welcher Weise die Schatten entwaffnet und untergebracht worden waren, und dann kam der Kurier, welcher das Schreiben abgab.

Es war inzwischen so dunkel geworden, daß wir im Zelte Licht anbrannten, damit der Ustad es lesen könne. Es enthielt zwei Bogen, beide mit dem Siegel und der eigenhändigen Unterschrift des Beherrschers. Den einen gab er mir mit dem Bemerken, davon Gebrauch zu machen, sobald es mir beliebe. Es war – die volle, bedingungslose Begnadigung des Aschyk. Den andern steckte er ein, ohne jetzt schon über seinen Inhalt zu sprechen. Es war ihm zunächst um den Transport der Truhe zu tun, die er unmöglich hierlassen könne. Es sei nicht nur Wahnsinn, sondern geradezu Verrücktheit, derartige Papiere nicht besser aufzubewahren als der Prinz. Da erbot sich der Kurier, die Truhe mit auf sein Kamel zu nehmen. Er mußte ja mit nach dem Duar, um dort zu warten, bis der Bericht des Ustad und die Antwort Dschafars fertig waren. Sie wurde ihm hinaufgegeben und oben festgebunden, und dann ritten wir heim.

Heim! Ja, es ist Heimatsgefühl, welches mir dieses Wort aus der Feder fließen läßt. Wer sich bei guten Menschen nicht daheim fühlt, für den gibt es überhaupt keine Heimat, weder hier noch dort. Er hat sie sich erst zu – ersühnen! Und wer da nicht weiß, daß es auch geistige und seelische Stätten gibt, welche köstlicher und heiliger sind als jedes irdische Vaterhaus, der ist ärmer als selbst der Bettler, dem die kleinste Herberge einen Platz zum Ruhen gewährt. Zu so einer heiligen Stätte war mir das Haus des Ustad geworden, und der Duar hier im Tal zu einem Wohnsitz von lieben Verwandten. Darum war der Tag ihrer Befreiung von Schatten und Schemen nicht bloß für sie, sondern auch für mich ein Freudentag, und ich horchte froh auf, als jetzt ganz da vorn eine krachende Salve von allen Kanonen ertönte und mit ihrem Donner die Feuer der Höhen erweckte.

Wir ritten langsameren Schrittes, um den sich entwickelnden Anblick hastlos zu genießen. Da stiegen zuerst drüben am Beit-y-Chodeh die Flammen auf, als ob dort ein Jesaias stehe, der sein »Mach dich auf, und werde Licht!« in Feuergluten erschallen lasse. Und das ganze Tal gehorchte; die Berge »machten sich auf«, und auf allen Höhen »wurde Licht«. Und hoch über diesen Bergen zündete auch das Firmament jetzt seine Leuchten an und ließ »das Licht von oben« niedersteigen. Die Alabasterkrone erschien, uns im Sternenscheine gezeigt, als ob sie der Erde vom Himmel entgegengestreckt werde, weit hinaus in das Dunkel der Bergestiefe ragend. Da machte sich auch dieses Dunkel auf, gehorsam zu sein. Es begannen Fackeln zu leuchten, von fröhlichen Kindern im Duar herumgetragen. Hierauf strebten auf der stehengebliebenen, vordern Cyklopenmauer, zu beiden Seiten des heut entstandenen Kirchenplatzes, zwei gewaltige Flambeaus in die Höhe, von mächtigen Holzstößen erzeugt, welche Schakara hier hatte aufhäufen lassen, um den Bereich der Vernichtung zu illuminieren. Das gab eine solche Fülle von Licht und tagesähnlicher Helle, daß die Finsternis enteilte und, sich in ängstlich zitternde Schatten auflösend, an der Bergwand emporkletterte. Und mitten aus diesem häßlichen, zappelnden Schreck trat in erhabener Schönheit und imponierender Ruhe die makellose, herrliche Gestalt des Gebetes hervor, einer Offenbarung gleich, einer Manifestation der frohlockenden Menschheitsseele. Der Eindruck dieser Erscheinung war so unmittelbar packend und so unwiderstehlich, daß der Ustad sein Pferd anhielt, auch dem meinigen in den Halfter griff und, aber nur leise, sagte:

»Halt – warte! Laß die Andern fort; sie stören!«

Sie ritten weiter. Wir aber stiegen ab und standen lange, lange, in die Gedanken versunken, oder richtiger, die Gedanken förmlich atmend, mit denen uns die Seele des aus dem Fluche erlösten Gegners überflutete.

»Mein liebes, kleines, längst gewünschtes Kirchlein!« unterbrach der Ustad endlich und tief aufatmend unser Schweigen. »Nun kann und darf ich dich wohl endlich bauen! Ich habe nichts, gar nichts hinwegzuräumen vom Platze, den ich mir dachte; ein Anderer tat es für mich. Die Wasser der Bassins sind in den See gewichen und werden dort verbleiben. Die versunkenen Quader geben mir den allerbesten Grund. Die riesigen Würfel und Rundstücke zu den Pfosten und Säulen der Halle sind zwar aus dem Neuen herzustellen, doch ist hier überall das reichste Material dazu vorhanden. Aufs leere Postament wird dieses Bild gehoben, und wenn dann meine Dschamikun begreifen, daß Beten eine Kunst, und zwar die allerhöchste ist auf Erden, obgleich Natur sie schon den Kindern lehrt, so ist die Einsicht und Erkenntnis da, selbst mit dem kleinsten Kirchlein gern fürlieb zu nehmen. Schon sehe ich den Ort der Andacht ragen, der zeigen soll, wie groß, wie groß der Herr, wie aber winzig, winzig klein das arme Menschlein ist. Schon höre ich dort am Berg die Glocken hell erklingen, die übers ganze Tal – horch!«

Er hielt inne, denn hinter uns waren die Freudensalven zu hören, mit denen die heimkehrenden Krieger den im Wiederscheine der Flammen strahlenden See und den schimmernden Duar begrüßten: Darum schwangen wir uns wieder auf und eilten, den letzteren zu erreichen. Wir hielten dort gar nicht an, sondern ritten direkt hinauf zum Hause. Noch vor dem Tore holten wir Dschafar und Kara mit dem Kurier und dem Aschyk ein, die sich unten etwas verweilt hatten. Im Hofe angekommen, wurden wir von der noch immer hier postierten Besatzung mit Jubel begrüßt und erfuhren, daß die Katastrophe auf dieser Seite des Berges nicht den geringsten Schaden angerichtet habe. Der Kurier wurde diesen Leuten als Gast übergeben. Der Ustad ließ die Truhe nach seiner Wohnung tragen und folgte auf dem Fuße hinterher, so wichtig war sie ihm. Dschafar ging nach der seinigen, um sich umzukleiden, denn wir hörten, daß ein festlicher Schmaus für uns und die sämtlichen Anführer vorbereitet werde. Kara eilte zu Vater und Mutter. Er wollte zwar vorher die Pferde besorgen, doch nahm ich das auf mich; der Aschyk half mir dabei.

Als wir sie durch den Hof und nach der Weide führten und dabei an der offenen Küche vorüberkamen, sah ich, daß da drin die in der Kochkunst wohlerfahrene Frau des Chodj-y-Dschuna als heutige Gebieterin waltete. Sie hatte das große Werk übernommen, den Hunger aller unserer Diplomaten und Feldherren zu befriedigen. Schakara’s Aufgabe aber war gewesen, »die prunkende Tafel zu decken«. Da ich sie nicht sah, so vermutete ich sie in der Halle, wo gegessen werden sollte.

Ich überließ die andern Pferde dem Aschyk, versorgte nur Syrr und ging dann hinauf zu mir, nicht durch das Haus, sondern von außen. Noch hatte ich die Plattform nicht erreicht, so sah ich Schakara, welche oben an den Stufen stand, mich zu begrüßen. Wie kam es doch, daß wir einander nur die Hände reichten und nichts dazu sagten? Sie zog mich zur Balustrade und zeigte hinab, auf das Gebet. Wir sahen es von hier aus in noch vollerer Gestalt als von unten, auch den Sockel. Warum erschien es mir jetzt noch schöner, erhabener und eindrucksvoller als vorher? Ich faltete die Hände. Da fragte Schakara:

»Effendi, kennst du die Sage von Chodeh, dem Eingemauerten?«

Schon wollte ich antworten: »Du hast sie mir ja selbst erzählt!« Aber ihr Gesicht stand im alabasternen Schimmer des Gebetes, und da sah ich, daß sie schalkhaft lächelte. Darum blieb ich still. Nach Kurzem fragte sie abermals:

»Effendi, kennst du die Sage von dem verzauberten Gebete?«

Natürlich antwortete ich auch dieses Mal nicht. Da fuhr sie fort:

»Bevor du kamst, stand ich hier und dachte darüber nach, ob diese beiden Sagen wohl ganz dasselbe meinen. Ich glaube, ja. Und wenn das richtig ist, so habe ich den Berg gefunden, den ich suchte.« –

  1. Siehe Band III pag. 518
  2. Siehe Band III pag. 79.
  3. Siehe pag. 244.