Viertes Kapitel.

Viele meiner Leser sind, wie ich weiß, in Palästina gewesen. Die meisten von diesen werden wohl auch, wie einst der Mann im Gleichnisse Christi, von Jerusalem hinab nach Jericho gegangen sein. Er-Riha wird diese Stadt vom heutigen Araber genannt. Von ihr aus geht es über eine alte, verfallene Brücke nach dem fernliegenden »Toten Meere«. Nach der andern Seite führt, an zerlumpten, niedrigen Beduinenzelten vorüber, ein bequemer Weg nach Aïn es Sultan, wo die eingeborenen Bettler gern unter Wasser tauchen, um die für sie hineingeworfenen Geldstücke herauszuholen. Trinken aber mag man lieber vor als nach dieser Prozedur!

Geht man von hier aus noch weiter, so sieht man den imposanten Dschebel Qarantel vor sich liegen, der sich aus dem Abgrunde wie ein böser Traum aus tiefem Schlaf erhebt. Seine Einsamkeit hat schon in den frühesten Zeiten anziehend auf fromme Anachoreten gewirkt. Die Höhlen wurden von ihnen bewohnt. Zelle gesellte sich zu Zelle. Sie sind hoch am schwindelnd steilen Fall der Felsen gelegen. Heute wird diese Siedlung als Strafkolonie für griechisch-katholische Priester gebraucht.

Warum diese scheinbar unmotivierte Abschweifung nach dem gelobten Lande? Der Aehnlichkeit der Orte wegen. Ich kann die Lage des von dem Ustad bewohnten »hohen Hauses« eigentlich nur Denen deutlich machen, welche den Dschebel Qarantel gesehen haben. Und doch wie so verschieden sind sie beide von einander. Bei Jericho jeder Nomade ein geborener Bettler; hier in dem abgelegenen, kurdischen Orte jeder Bewohner ein Ehrenmann. Dort Einöde, hier das gepflegte Tier- und Pflanzenleben. Dort abgrundtiefes Grauen und hier ein herzerfreuender Blick von der Höhe in die Tiefe. Dort die unerbittlich geballte Faust der geistlichen Oberbehörde und hier aber die stets gütig geöffnete Hand dessen, der nur von der Liebe zu seiner dominierenden Würde emporgehoben worden war. Auch in Jericho habe ich unter freiem Himmel wiederholt ganze Nächte durchgewacht. Warum? Der Unsauberkeit und des Ungeziefers wegen, welches mich aus der Wohnung heraus bis an den verwilderten Garten trieb. Da strahlten mir auch die Sterne; aber die körperliche Qual ließ auch nur häßliche geistige Bilder zu. Ich sah am Tel ed Dem den Chan Chadrur vor mir liegen, welcher die Herberge sein soll, in die der barmherzige Samariter seinen Pflegling brachte. Dort habe ich für eine Flasche allerschlechtesten Bieres drei Mark bezahlt. Ein Glas widerlich parfümiertes Wasser kostete einen Frank. Wer aus Sparsamkeit nicht einkehrt, ist des fernern Weges nicht sicher. Die Verhältnisse sind nach zweitausend Jahren noch ganz dieselben.

Das ist »das gelobte Land«! Wie herrlich weit hat man es dort gebracht! Damals war der Samariter, der verachtete Ketzer, der Barmherzige. Wie ist es jetzt? Wenn ich mir diese Frage unter dem Sternenhimmel Jericho’s vorlegte, so stand kein Stern mehr über Bethlehem, und keine Schar Engel fand sich ein, um ihr »Et in terra pax, hominibus bonae voluntatis« zu singen. Vor christlicher Zeit wurde der Jude von Räubern überfallen, beraubt und fast erschlagen. Jetzt, nach zwanzighundert Jahren, steht es nicht besser um diese und ähnliche, oft intellektuelle und moralische Wegelagerei. Jetzt fallen Christen über Christen her. Besonders wer es wagt, nicht den von jedermann betretenen, sondern seinen eigenen Glaubensweg von oder nach der heiligen Stadt zu gehen, der kann sehr leicht an sich selbst erfahren, was Lucas 10 Vers 30 zu lesen ist. Christus wußte gar wohl, weshalb er grad dem Schrift- und Buchstabenstolz mit seinem Gleichnisse vom barmherzigen Samariter diese ewig unheilbare Wunde schlug. Auch wir Christen haben unser Jerusalem und unser Jericho mit dem »Toten Meere« in der Nähe. An dem Wege zwischen beiden liegt das un- mit dem egogläubigen Strauchrittertum im Hinterhalte. Wo ist die Humanität, die wahre christliche Liebe und Barmherzigkeit? Soll sie auch noch in der Gegenwart nur dem ketzerischen Samariter überlassen bleiben? Gehen etwa auch jetzt noch Priester und Leviten an dem Angefallenen vorüber, ohne sich seiner anzunehmen? Solche Fragen kamen mir in den Sinn, als ich des Nachts unter den staubigen Oleandern von Jericho saß und an die göttliche Lehre von der Nächstenliebe dachte.

Dagegen hier im christenfernen Kurdistan! Welch eine herrliche Auslegung hatte da das Gleichnis des Herrn an uns selbst gefunden. Wer und was waren hier die Barmherzigen? Etwa Christen? Priester und Leviten? Vielleicht auch nur Ketzer, denn ich hatte ja ihre Glaubenssatzungen noch gar nicht kennen gelernt. Es war bisher nur von Chodeh, also von Gott gesprochen worden. Gab es bei ihnen überhaupt Satzungen? Waren sie mir verschwiegen worden, weil man annahm, daß nur die Liebe, nicht aber die Konfession barmherzig sei? Was für ganz andere, viel tröstlichere Gedanken waren mir gestern abend unter dem hiesigen Sternenhimmel gekommen! Hier war ich nicht um meines Dogma willen, sondern als Mensch von guten Menschen aufgenommen und mit größter Aufopferung gepflegt worden. Niemand hatte mich gefragt, wo ich getauft und wo ich konfirmiert oder gefirmt worden sei. Giebt das der Liebe einen mindern oder höhern Wert? »Wer ist mein Nächster?« – »Der, welcher die Barmherzigkeit an mir that!« Wenn aber ein Christ mir Haß oder Neid anstatt der Liebe giebt, was ist er dann für mich? Mein Nächster? Oder noch schlimmer als nur fremd? Ist er dann überhaupt ein Christ?

Wie herrlich war der Nachmittag unter den Platanen, in deren Schatten man für mich die Kissen zum Sitzen aufgerichtet hatte. Die Sonne brannte, doch konnten die Strahlen nicht durch die dichten Wipfel dringen. Die Rosen dufteten; jede Pflanze schien Wohlgeruch auszuatmen. Ich befand mich nicht weit genug vom Hause entfernt, um es und seine Lage ganz überschauen zu können. Es stand auf kompaktem Felsengrund, dessen Spalten durch festes Mauerwerk ausgefüllt worden waren. Sein hinterer Teil nahm die natürlichen Höhlungen des Gesteines ein. Der vordere Teil ragte frei empor, mehrere Stockwerke hoch und war von ansehnlicher Breite.

Das Dach war glatt, vorn mit einer assyrischen Mauerkrönung; wie man sie in Dur-Sargon zu sehen bekommt. Doch habe ich ganz ähnliche Krönungen auch in alten Orten des obern Niles getroffen. Ueber dem Dache gab es in dem Felsen offene Höhlungen, zu denen schmale Stege emporführten. Das erinnerte mich lebhaft an den »Stabl Antar« bei Siut, der ganz ebenso zu ersteigen ist. In einer dieser Höhlen sah ich die beiden Glocken hängen. Sie war halbkugelförmig ausgebaucht. Die Tonschwingungen konnten nur nach der einen, offenen Seite fließen, was ihnen eine erhöhte Stärke und beträchtlich erweiterte Hörbarkeit verlieh.

Glocken hier im persischen Kurdistan? So wird wohl mancher fragen. Ich habe freilich viele, viele Menschen kennen gelernt, welche der falschen Ansicht sind, daß nur das Christentum Glocken besitze und daß es in früherer Zeit noch keine gegeben habe. Wenn sogar im Konversationslexikon von Pierer zu lesen ist, daß die Glocken eine Erfindung der christlichen Kirche seien, so darf man sich nur wundern. Kleinerer Glöcklein bediente man sich schon im frühesten Altertume; aber schon im alten China gab es größere und sogar große. Die zu Peking ist über zwölfhundert Zentner schwer und fast fünf Meter hoch. In Aegypten wurden die Osirisfeste durch Glockenspiele eingeläutet. Man hat kleine Bronzeglocken in Assyrien ausgegraben. Im alten Indien wurden die Buddhisten durch große, metallene Glocken zum Gottesdienste zusammengerufen. Bei den Griechen bedienten die Priester der Kybele und der Persephone ihre Glocken, und Kaiser Augustus ließ eine Glocke vor dem Tempel des Jupiter aufhängen. Glocken indischer oder assyrischer Form kamen nach Persien. Die griechische Kirche liebte und verbreitete besonders das Glockenspiel. Im Quellenlande des Euphrat und des Tigris, wo es heut noch Christen uralten Bekenntnisses giebt, besaßen wohlhabende Gemeinden schon zu frühen Zeiten ihre Glocken. Der Islam verhielt sich ablehnend, doch geduldete Christen durften ihre Glocken behalten. So war es also gar kein Wunder, daß auch die Dschamikun zwei besaßen, zu denen sie, wie ich später erfuhr, durch den Ustad auf ganz eigentümliche Weise gekommen waren. Es führte eine bequeme Treppe zu ihnen hinauf, so daß man also auch des Nachts ohne Besorgnis emporsteigen konnte.

Von da aus, wo ich saß, konnte man den Eingang zu dem freien Platze sehen. Man verschloß ihn durch ein großes Thor, welches jetzt offen stand. Von diesem Platze aus stieg man die Stufen zu der Halle empor. Links führte ein Weg nach einer breiten, hohen Thür, deren starke Steinpfosten gewiß schon seit Jahrtausenden standen. Rechts ging man nach einem Garten, in welchem zwischen Obstbäumen Blumen und Gemüse gepflegt wurden. Dorthin beschloß ich, meinen ersten Spaziergang zu machen. Ich griff zum Stocke und stand auf. Die Beine zitterten zunächst ein wenig, und die Füße wollten lieber auf dem Kissen liegen bleiben. Aber sie mußten gehorchen, und als sie sahen, daß ich bei meinem Willen blieb, fügten sie sich in das Unvermeidliche.

Ich kam über den ganzen Platz hinüber bis zur Garteneinzäunung, an der ich aber halten blieb, um auszuruhen. Nachdem ich dies gethan hatte, ging es weiter, in den Garten hinein. Er war sehr groß. Es gab da eine ganze Menge Beete, von deren Erträgnissen ein großer Haushalt bestritten werden konnte. Zwischen ihnen standen viele Bäume, welche Früchte trugen. In leidlicher Entfernung sah ich ein Weichselgebüsch, an welchem eine Bank stand. Dort wollte ich mich niedersetzen.

Ich ging also hin. Hierbei kam ich an zwei nahe beieinander stehenden, persischen Erikan vorüber, welche so voller Früchte hingen, daß ihrer fast mehr als Blätter waren. Es war eine frühe, eigroße, köstlich blaurot gefärbte Pflaume! Ja, köstlich!!!

Wenn ich hier erst ein und dann sogar drei Ausrufezeichen mache, so hat das seinen guten Grund. Obst geht mir über jede andere Speise. Ich esse da gewiß so viel, wie sogar meine vier Ausrufezeichen schwerlich vermuten lassen. Und Pflaumen? Gar von dieser geradezu zum Stehlen einladenden Sorte? Man würde staunen, wenn ich sagen wollte, wieviel ich da essen und aber auch vertragen kann. Ich sage es also lieber nicht. Das alles gilt aber nur vom Obste. In Beziehung auf andere Speisen sind die sogenannten Tafelfreuden für mich nichts als Tafelarbeiten. Ich weiß, und ich schmecke, was gut ist oder nicht; ich kann sogar auch tadeln; aber ich esse nicht, um zu essen, sondern weil ich leben bleiben will. Gekünsteltes oder Complicirtes schiebe ich zurück. Ich will einfach essen, womöglich nur eine einzige Speise, aber gut. Das Zusammengesetzte ist keineswegs so zuträglich wie man denkt. Ich habe das an mir und tausend Andern erfahren. Wenn die Menschen doch wüßten, was die Art und Zubereitung der Nahrung für einen Einfluß, für eine Wirkung hat! Doch, hierüber könnte man Bücher schreiben, und es würde doch vergeblich sein. Aber, daß ich jetzt als Sechzigjähriger mich körperlich und geistig noch genau so jung und arbeitsfreudig wie ein Zwanzigjähriger fühle, das habe ich wohl vorzugsweise dem Umstande zu verdanken, daß ich so einfach und so wenig wie nur möglich esse. Obst aber, so viel ich immer kann, das ganze Jahr hindurch. Nach dem Preise soll man da nicht fragen. Und Pflaumen! Solche, wie grad hier –!

Da stand ich unter den Bäumen und schaute sehnsüchtig hinauf. Wem gehörten sie? Wer war der Glückliche, der da pflücken oder gar schütteln konnte, ohne erst jemand fragen zu müssen? Der Ustad? Der Pedehr? Weder der eine noch der andere war da. Es gab überhaupt im ganzen Garten keinen Menschen, an den ich eine Bitte hätte richten können. Was nun thun? Soll ich? Oder soll ich nicht? Darf ich überhaupt? Adam und Eva im Paradiese wußten wenigstens, daß sie nicht durften; ich aber wußte nicht einmal das! Doch wozu diese übermäßige Zartheit des Gewissens! Bei solcher Art von Pflaumen! Ich war ja Gast! Und der Garten gehörte einem Orientalen, nicht einem abendländischen Besitzer, bei dem das Bäumeschütteln nicht mit zu den unveräußerlichen Rechten des bei ihm Aufgenommenen gerechnet wird! Ich legte also beide Hände an den einen Stamm und – schüttelte.

Hei! Was gab das für einen Erfolg! Es regnete förmlich Pflaumen auf mich nieder! Das freilich hatte ich nicht gewollt! Es hatten nur einige fallen sollen; aber sie waren beinahe überreif, und in Anbetracht meiner jetzt noch so geschwächten Kräfte hatte ich mich zu energisch in das Zeug gelegt: Weit über die Hälfte der Früchte lagen nun jetzt unten. Ich stand da mit wohl demselben Gefühle wie jener Reiter, der sich links so kräftig auf das Pferd geschwungen hat, daß er rechts, auf der anderen Seite wieder hinuntergefahren ist. Jedes Zuviel ist eben schädlich! Aber da ich die herabgefallenen Pflaumen doch unmöglich wieder oben anheften konnte, so füllte ich mir die Taschen, ließ die andern liegen und ging dann nach der erwähnten Bank, um dort zu thun, was nun das beste war, nämlich meinen Raub genießen.

Ich saß nun so, daß ich die beiden Pflaumenbäume nicht mehr sehen konnte. Das minderte die Kraft der Vorwürfe, welche ich mir zu machen hatte. Ich aß! Aber, es ist nichts so fein gesponnen, El Aradsch bringt es an die Sonnen. Wer ist El Aradsch? Das wird man sogleich sehen und sogar auch hören. El Aradsch heißt: der Lahme.

»Auch Frenk maidanosu mit, zur Abendsuppe!« rief hinter mir eine eigentümlich fette Stimme.

Frenk maidanosu ist ein türkisches Wort und heißt zu deutsch Kerbel. Also für heute abend stand eine Potage von Kerbel in Aussicht. Das war zwar gut und auch leicht verdaulich, aber für mich sollte das in meiner gegenwärtigen Eigenschaft als Pflaumendieb außerordentlich verhängnisvoll werden. Zunächst noch ganz ahnungslos, drehte ich mich um, zu sehen, wer gesprochen hatte und wem die Worte galten. Ich mußte mit der Hand das Weichselgezweig auseinander schieben, um nach dem Hause hinschauen zu können. Ich erblickte zunächst eine unendlich lange, männliche Gestalt, welche bis über die Kniee hinauf barfuß war. Von dieser Gegend an war ein blaues, sackähnliches Hemd zu sehen, welches mit Mühe und Not den Hals erreichte. Dann kam ein unverhältnismäßig kleiner Kopf mit einem Gesicht, welches mir ein Lächeln abnötigte. Dieser Mann war ganz gewiß nicht unter vierzig Jahre alt, hatte aber so junge, kindlich weiche Züge, daß der Kontrast zwischen Gesicht und Gestalt allerdings zum Staunen nötigte. Dazu kam, daß er eine kurdische Ledermütze trug, deren Streifen ihm hinten bis in das Genick und vorn über die Nase herabhingen. Man denke sich einen aus Leder geschnittenen Stern, dessen Mitte auf dem Scheitel liegt, während die Strahlen wie die Beine eines präparierten, monströsen Spinnentieres nach allen Seiten herunterflattern! Seine Arme schienen noch länger zu sein als seine Beine, von denen das eine kürzer als das andere war; er hinkte. Er trug einen leeren Korb in der Hand und ging grad nach der Gegend hin, wo die beiden Pflaumenbäume standen, der eine noch als Zeuge meiner Ehrlichkeit, der andere aber als Beweis der Missethat, die ich begangen hatte.

Das war die Person, welcher die Anweisung zur Kerbelsuppe gegolten hatte. Wer aber hatte sie gegeben?

Ich sah eine jetzt geöffnete Thür, welche ich vorher nicht beachtet hatte. Da stand ein weibliches Wesen, so strahlend weiß wie eine abendländische Festjungfrau gekleidet. Festjungfräulich waren auch die langen Zöpfe, in welche sie ihr herabhängendes Haar geflochten hatte. Festlich auch die beiden Rosen, die rechts und links auf die Ohren niederschauten. Und das Gesicht? Könnte ich es doch beschreiben! Dieses Gesicht war zwar etwas Ganzes, sogar etwas seltsam Harmonisches, und aber doch schien es, als ob jeder einzelne seiner Teile sich bestrebe, herauszutreten und für sich selbst zu bestehen. Jede Wange bildete ein blühend rotes, nach ganz besonderem Ansehen trachtendes Halbkügelein. Das Kinn that sich weiter unten fast noch mehr hervor; es schien auf sein mehr als neckisches Grübchen ganz besonders stolz zu sein. Das Näschen begann erst da, wo andere Nasen fast schon zu Ende sind, und schaute zwischen den beiden Wangen so frohsinnig heraus und in die Welt hinein, als ob seinesgleichen nirgends mehr zu finden sei. Auch die glatte, faltenlose Stirn trat heiter vor. Und die Aeuglein unter ihr! Ja, diese Aeuglein! Wer kann überhaupt Augen beschreiben? Und nun gar so liebe, kleine, gute, außerordentlich lebendige! Und wie das Gewand, so war auch dies Gesicht ein Abglanz allergrößter Sauberkeit. Man darf ja nicht denken, daß es häßlich gewesen sei. O nein! Es war zwar nicht schön, nicht hübsch, nicht lieblich, nicht – ja, was noch nicht? Es war überhaupt alles nicht, aber es war gut, ja wirklich gut! Aber wie alt? Zwanzig? Dreißig? Vierzig? Wer das nur sagen könnte! Ich wollte genauer hinsehen, da aber drehte sie sich um und verschwand nach innen. Wenn diese personifizierte Reinlichkeit etwa die Gebieterin der Küche war, so konnte man von ihr alles, ganz gleich, ob mit oder ohne Kerbel, mit Vergnügen essen!

»Maschallah – Wunder Gottes!« hörte ich jetzt von seitwärts her einen Ruf.

Ich wendete mich zurück und machte nach dorthin eine Lücke ins Gezweige. Da stand der Lahme vor den Pflaumen, so lang, wie er war, vollständig starr und steif vor Schreck. Hierauf kam einige Bewegung in ihn, aber nicht viel; er schüttelte den Kopf.

»Ahija – o wehe!« klagte er.

Hierauf sah man, daß er eine Anstrengung machte, nachzudenken. Es gelang.

»Ja charami – o, du Spitzbube!« rief er aus, indem er sich nach allen Seiten umschaute.

Es ging ihm also eine Ahnung auf, daß die Pflaumen nicht von selbst heruntergefallen seien.

»Iil’an Daknak – verflucht sei dein Bart!« schimpfte er, und als er den Thäter nicht erblickte, fügte er noch viel zorniger hinzu: »Allah jelisak borneta – Allah setze dir einen Hut auf!«

Mit diesem Wunsche leistete er sich die allergrößte Schande für den Dieb. Wer einen europäischen Hut, vielleicht gar einen hohen Cylinder, occidentalisch »Angströhre« genannt, aufgewünscht bekommt, mit dessen Ehre ist es nach streng orientalischen Begriffen ganz gewiß für immer aus! Nun griff der lange Mensch unter die Mütze und rieb sich die Stirn. Er that dies einigemal. Wahrscheinlich wollte er die Antwort auf die Frage, wer der Spitzbube wohl sein könne, herausreiben. Es gelang ihm aber leider nicht.

»Allah ja’lam el gheb – Allah kennt das Verborgene!« seufzte er endlich erleichtert.

Das war das einzige und, wie es schien, ihn sehr beruhigende Resultat, welches er sich aus der Stirn frottiert hatte. Dann kniete er nieder, um die Pflaumen in den Korb zu lesen. Dabei betrachtete er jede einzelne mit einem Blicke, als ob er sie sich ganz besonders vorgemerkt habe. Aber plötzlich fuhr er halb empor. Er hatte etwas Wichtiges gesehen. Das waren die Fußstapfen, welche ich in dem weichen Boden zurückgelassen hatte.

»Men schabar nahl – wer Ausdauer hat, dem gelingt es!« rief er aus.

Er glaubte wohl, auch jetzt noch immer gerieben und nachgedacht zu haben. Nun erhob er sich und hinkte den Spuren langsam nach. Sie führten ihn natürlich her zu mir. Als er um die Ecke des Gebüsches trat, steckte ich soeben eine Pflaume in den Mund. Zunächst blieb er wie eine Salzsäule vor mir stehen. Er bewegte kein Glied. Nicht einmal seine Wimper zuckte.

»Wer bist du?« fragte ich.

»Du – du – du hast die Pflaumen – meines Ustad gestoh –«

Weiter kam er nicht. Die Stimme versagte ihm. Also diese Früchte waren für den Ustad reserviert! Da konnte ich ruhig sein; der gönnte sie mir gewiß. Aber dieser meiner Ruhe stand ein ebenso schnelles wie gewaltsames Ende bevor, denn der Lahme bekam plötzlich seine ganze Bewegungsfähigkeit, sogar zehnfach gesteigert, wieder, und ehe ich nur den Gedanken hätte fassen können, daß so etwas möglich sei, warf er sich mit aller Macht über mich her, schlang die überlangen Arme anderthalbmal um mich herum und begann, aus Leibeskräften um Hilfe zu schreien. Nach den Ausdrücken, die aus seinem Munde flossen, war eigentlich zu schließen, daß er eine ganze Bande von Dieben, Räubern und Mördern ergriffen habe. Er war ein außerordentlich kräftiger Mann, mich aber hatte die Krankheit so geschwächt, daß ich vergeblich versuchte, von ihm loszukommen. Glücklicherweise dauerte es nur ganz kurze Zeit, bis mir die von ihm herbeigerufene Hilfe kam. Wahrscheinlich sah er sie, denn er hörte auf mit Schreien; statt seiner aber hörte ich die fette Stimme der sich eiligst nähernden »Festjungfrau«.

»Wo sind denn die Räuber, die Mörder?« fragte sie.

»Hier, hier! Komm, komm!« antwortete er.

»Wen haben sie ermordet?«

»Die Pflaumen, die Pflaumen des Ustad, die Früchte meines lieben, hohen Herrn!«

»Unsinn! Pflaumen werden doch nicht ermordet!«

»Komm nur; komm, und sieh ihn an!«

Sie kam; sie stand schon da.

»Zeig, Tifli!« gebot sie ihm.

Tifli heißt »mein Kind«, sogar »mein kleines Kind«. Er ließ mich los. Ich hatte im Gefühle meiner Ohnmacht mich ganz passiv verhalten und konnte nun gar nicht anders, ich mußte ihm lachend in das grimmige Kindergesicht sehen. Wenn dieser Mann ein »kleines Kind« war, welche Länge mußten da die großen Kinder wohl hier zu Lande haben! Die »Festjungfrau« war zunächst auch ganz ohne Worte. Sie schien nicht recht zu wissen, aus wem von uns dreien sie klug zu werden habe.

»Das ist er!« sagte er, indem er beide Zeigefinger schnurstracks auf mich richtete.

»Wer?« fragte sie.

»Der Dieb.«

»Was hat er gestohlen?«

»Die Pflaumen! Dort liegen noch welche!«

Er deutete nach den Bäumen. Sie schaute hin, sah die Früchte unten liegen, schlug die dicken Händchen patschend zusammen und jammerte:

»Die besten, grad die allerbesten!«

»Aufgehoben haben wir sie für unsern Herrn!« klagte er mit.

»Bis zur Stunde der höchsten Reife!« fuhr sie fort.

»Dann erst ißt er sie, seine Lieblinge!« fügte er hinzu.

»Er hat wohl noch genug!« tröstete ich.

Da sahen beide mich so erstaunt an, als ob ich etwas ganz Unbegreifliches gesagt habe. Dann fuhr mich der Lange zornig an:

»Sie sind alle sein, alle, alle! Wer bist du denn?«

»Ja, wer bist du? Das wollen wir wissen!« erklärte mir die Besitzerin des frohsinnigen Näschens.

»Das wißt ihr nicht?« antwortete ich.

»Nein,« sagte sie.

»Ihr habt mich noch nicht gesehen?«

»Noch nie! Doch, wer du auch seiest, wie darfst du es wagen, hier Früchte zu stehlen! Kein einziger Dschamiki stiehlt. Du mußt ein Fremder sein!«

»Aus der Fremde kam ich allerdings, doch gehöre ich zum Hause. Ich bin des Ustad Gast.«

»Gast? Seit heut?«

»Seit Wochen schon.«

»Seit Wo – Wo – Wochen – Wo –!«

Das runde, kleine Mündchen blieb ihr offen stehen, so offen, daß man die kerngesunden, perlengleichen Zähne sehen konnte. Die Wänglein verloren die Farben; das Kinn zeigte sich ängstlich gespannt; das Näschen wollte verschwinden, und die Aeuglein schlossen sich, zwar langsam aber ganz. Hatte sie etwa einmal von einer Europäerin gesehen, welche Ritterdienste in solchen Fällen von einer kleinen Ohnmacht zu erwarten sind? Nein! Die Aeuglein öffneten sich wieder. Sie wurden sogar noch größer, als sie vorher gewesen waren.

»Heut – heut – verläßt der – der fremde Effendi – zum erstenmal – das Haus –«, stotterte sie.

»Du hast ihn wirklich noch nicht gesehen?« fragte ich.

»Nein. Niemand von uns – durfte die Halle betreten. Bist du – du etwa der – der Effendi?«

»Ja, ich bin’s.«

Da fuhr sie vor Entsetzen zwei Schritte zurück. Ihr liebes Gesicht verlor nun alle, alle Farbe. Der Lange aber schoß in seinem Schreck noch höher empor, als er eigentlich gewachsen war. Wahrscheinlich wollte er mit der gedankenreichen Stirn so hoch hinaus, daß ihr meine Rache unmöglich etwas anhaben konnte. Diese Bewegung brachte ihn auf eine rettende Idee:

»Ich hole Kerbel!« rief er aus.

Mit drei Sätzen seiner langen Beine war er bei den beiden Bäumen, raffte den Korb auf, schüttete die hineingelesenen Pflaumen wieder heraus und rannte fort, um die fernste Ecke des Gartens zu erreichen. Ich sah ihm lachend nach und hatte dabei nicht acht auf meine »Festjungfrau«. Da erklang es neben mir:

»Und ich muß in die Küche!«

Da drehte ich mich um. Sie war schon weg. Ich schob die Zweige auseinander, um ihr nachzusehen. Sie schoß in größter Eile auf einige Hausbedienstete zu, welche auch von den Hilferufen angelockt worden waren, aber nicht gewagt hatten, näher zu kommen.

»Fort! Weg mit euch!« rief sie, indem sie an ihnen vorüberkam. »“Das Kind“ hat wieder eine Dummheit gemacht. Stört dort den Effendi nicht!«

Hierauf verschwand sie in ihrem wohlthätigen Reiche. Vor mir lag eine ihrer beiden Rosen, die ihr entfallen war. Ich hob sie auf und steckte sie zu mir. –

Warum erzähle ich dies eigentlich nichts weniger als bedeutende Ereignis hier? Weil im Menschenleben oft das, was gleichgültig erscheint, später größere Wichtigkeit gewinnt, als man vorher vermuten konnte.

Nach einiger Zeit kam »das Kind« aus seiner Gartenecke zurück, hütete sich aber wohl, an mir vorbeizugehen. Es machte vielmehr einen Bogen hinterwärts, um wieder in die Küche zu gelangen. Hierauf verließ auch ich den Garten, versäumte aber nicht, mir die Taschen noch einmal mit Pflaumen zu füllen. Noch hatte ich mich nicht lange niedergesetzt, da kam der Pedehr. Er war in der Küche gewesen, und die Köchin hatte ihm erzählt, was geschehen war. Er fragte mich, ob mir ›das Kind‹ sehr wehe gethan habe. Ich beruhigte ihn mit Vergnügen.

»Er wird von uns nur ›Kind‹ genannt,« sagte er. »Andere pflegen ihn El Aradsch, den Lahmen, zu nennen. Es hat mit ihm eine eigene Bewandtnis, welche du später auch noch kennen lernen wirst. Du liebst das Obst?«

»Ja. Ich esse es sehr gern, und zwar ungewöhnlich viel.«

»Thue das, so lange du lebst! Die reine, keusche Lebenskraft ist nicht im Fleische des ausgewachsenen Tieres vorhanden. Genießt man welches, so soll es nur ganz junges sein. Das reife Tier giebt auch dem Menschen, der es genießt, tierische Reife. In der Frucht des Baumes aber ist das reinste Leben aufgespeichert, weil Wurzeln, Stamm und Zweige das Unreine zurückbehalten haben. Nun weißt du, warum der Ustad uns gelehrt hat, nicht nur Felder, sondern auch Gärten anzulegen.«

Hatte der Pedehr recht? Ich habe mich später an seine Weisung gehalten und befinde mich sehr wohl dabei!

Hanneh und Kara kamen abwechselnd zu mir auf den Vorplatz heraus. Ich erfuhr von ihnen, daß Halef still und ruhig schlafe.

Später hatte ich das Vergnügen, die Köchin und »das Kind« wiederzusehen. Sie wollten miteinander hinunter in das Dorf und mußten da an mir vorübergehen. Das Kind hatte jetzt ein längeres Gewand angelegt, welches fast bis an die Knöchel reichte. Die Gebieterin der Küche hatte sich mit einem langen, weiten, weißen, schleierähnlichen Stoff geschmückt, welcher, ihr Gesicht freilassend, von dem Kopfe aus hinten niederfiel und, nach vorn zusammengerafft, die ganze Gestalt einhüllte. Es war an ihr überhaupt, jetzt und auch später, nichts als nur Weiß zu sehen.

Man sah Beiden an, daß sie sich meinetwegen in Verlegenheit befanden. Sie näherten sich nur zögernd. Sie sagte ihm etwas und schob ihn dann mit der Hand, voranzugehen. Da ermannte er sich, that einige schnelle, lange Schritte bis zu mir her, verbeugte sich und sagte:

»Effendi, ich bin Tifl.«

Das war ganz genau dasselbe, als wenn er in deutscher Sprache gesagt hätte: »Effendi, ich bin ein kleines Kind.« Ich mußte lächeln und nickte ihm zu.

»Aber ich bin nicht klein!« fuhr er fort.

Ich nickte wieder.

»Ich bin ein Mann!« versicherte er.

Ich nickte abermals.

»Ich habe Mut, sehr viel Mut. Ich fürchte mich niemals, vor keinem einzigen Menschen!«

»Das hast du an mir bewiesen,« bestätigte ich.

»Ja, an dir! Sogar an dich habe ich mich gewagt! Man hat mich dafür sehr gescholten; aber ich behaupte, daß ich richtig gehandelt habe. Sage du es selbst: Hattest du die Pflaumen meines Herrn herabgeworfen?«

»Ja, das hatte ich.«

»Und mir aber sind sie anvertraut. Habe ich gegen meine Pflicht gesündigt?«

»Nein, du bist ein treuer Wächter im Garten deines guten Herrn.«

Da breitete sich der Ausdruck herzlichster Befriedigung über sein kleines Gesicht. Er drehte sich zu der Köchin um und sagte:

»Hast du es gehört, o Pekala?«

Pekala ist ein türkischer Name und bedeutet »die Köstliche«. Sie machte ein sehr ernsthaftes Gesicht, womit sie aber fast grad das Gegenteil von der beabsichtigten Wirkung hervorbrachte, und antwortete ihm:

»Ich habe es freilich gehört, aber der Effendi ist gütiger gegen dich, als du verdienst. Merke dir: Man hat sogar auch Pflaumendiebe höflich zu behandeln, falls man nicht genau weiß, wer oder was sie sind. Du bist eben unser kleines, unerfahrenes Kind, welches nichts als Fehler macht. Und nun thu, was ich dir befohlen habe!«

Er wendete sich mir wieder zu, und zwar mit einer so komisch verlegenen Miene, daß sein Gesicht jetzt ganz genau demjenigen eines ausgescholtenen kleinen Knaben glich.

»Soll ich es wirklich machen, Effendi?« fragte er mich.

»Was?«

»Pekala hat mir befohlen, dich um Verzeihung zu bitten.«

»Wofür?«

»Daß ich dich als Spitzbube behandelt und festgehalten habe.«

»Höre, lieber Tifl, das hast du recht gemacht!«

»Recht?« fragte er in freudiger Ueberraschung.

»Ja. Pekala meint es gut mit mir. Sie will das Unrecht, welches ich that, entschuldigen. Aber ich war wirklich ein Pflaumendieb. Ich habe dir also nichts zu verzeihen, sondern ich lobe dich, denn du hast deine Pflicht gethan.«

Da nahm sein Gesicht einen frohen, weichen, und doch beinahe männlichen Ausdruck an.

»Du tadelst mich also nicht?« fragte er.

»Nein.«

»Sondern du hast mich gelobt, wahrhaftig gelobt?«

»Ja.«

»Effendi, das werde ich dir nie und nie vergessen! Mein Herz ist dein Eigentum. Wir gehen jetzt miteinander hinunter in das Dorf. Hast du vielleicht eine Besorgung? Soll ich dir etwas mitbringen?«

»Nein, lieber Tifl.«

»Lieber Tifl! Hast du es gehört, meine gute Pekala?

Lieber Tifl hat er gesagt! Andere Europäer sind ganz anders als er. Er ist grad so wie ich: er ist nicht stolz. Es bleibt dabei: mein Herz ist sein. Komm!«

Er griff nach ihrer Hand, um sie fortzuziehen. Aber sie blieb noch stehen. Ihr Auge war auf meine Brust gerichtet; ich dachte nicht daran, weshalb.

»Hast du die Rosen lieb, Effendi?« fragte sie mich.

»Ja, sehr,« antwortete ich. »Jede Blume. Blumen gleichen den Seelen guter Menschen; sie erfreuen uns, ohne daß diese Freude uns später betrübt. Warum fragst du mich?«

»Weil du die Rose aufgehoben hast, welche ich verloren habe. Es ist die Rose einer niedrigen Dienerin. Erlaubst du mir, dir täglich einige zu pflücken?«

»Ja. Ich nehme sie sehr gern von dir, o Pekala.«

»Ich danke dir! Oemürün tschok ola!«

Das sind türkische Worte. Sie bedeuten den Wunsch: Möge dein Leben lang sein! War sie etwa osmanischer Abstammung?

»Allah billingdsche olsun – Gott sei mit dir!« antwortete ich.

Da schlug sie die kleinen, dicken Hände freudig zusammen und sagte:

»Du verstehst türkisch?«

»Ja.«

»So darf ich in meiner Muttersprache mit dir reden, wenn du zu mir sprichst?«

»Das sollst du sogar, damit ich von dir lerne!«

Da war sie es, die sich stolz mit der Frage an ihren Tifl wendete:

»Hast du es gehört? Lernen will er von mir! Auch mein Herz ist sein Eigentum. Jetzt komm!«

Sie machten mir eine sehr tiefe und darum sehr höfliche Verbeugung, bei welcher er, der Lange, natürlich weit herablassender verfahren mußte als sie. Dann entfernten sie sich. Wie leicht es doch ist, Menschenherzen zu erfreuen! Warum thut man das so wenig?

Kurze Zeit hierauf kam Kara aus der Halle. Er sagte mir, daß sein Vater für einige Augenblicke aufgewacht sei, und dabei, wie noch halb im Schlafe, mit leiser Stimme die Worte gesagt habe:

»Kara muß die Pferde üben!«

Er hatte darum die Absicht, jetzt, wo die Hitze des Tages vorüber war, bis zum Abend auszureiten, und zwar mit allen drei Pferden, weil Assil und Barkh so lange Zeit nicht vom Hause fortgekommen waren. Er sattelte auch sie, weil er es nicht für vornehm hielt, sie nackt nebenherlaufen zu lassen, setzte sich auf Ghalib und ritt dann zum Thore hinaus.

Hierauf mochten kaum zehn Minuten vergangen sein, so hörte ich von der Gegend dieses Thores her ein lautes, schnaufendes Atemholen. Ich drehte mich um. Tifl kam wieder, aber wie! Er machte Sprünge, als ob es sich um sein Leben handle. Seine langen Beine flogen nur so! Um bei dem so eiligen Laufe die Mütze nicht zu verlieren, hatte er sie abgenommen und trug sie in der Hand.

»Was ist geschehen?« fragte ich, als er an mir vorüber wollte.

Er blieb für einen Augenblick stehen.

»Der junge Haddedihn!« antwortete er, indem er die Hand mit der ledernen Spinne durch die Luft schwang.

»Kara Ben Halef?«

»Ja.«

»Der ist soeben fort.«

»Ich weiß es, Effendi.«

»Er reitet aus.«

»Und ich darf mit! Ich habe ihn gefragt! Hamdulillah! Ich bin schnell heraufgerannt, um das Pferd zu holen!«

Hierauf rannte er weiter, nach dem Garten hin, hinter dem sich, was ich noch nicht wußte, eine grasige Weide für Pferde an der Seite des Berges hinzog. Wie »das Kind« sich freute! Für Kara war es freilich nützlich, jemand, der die Gegend kannte, mitzunehmen. Aber grad diesen Tifl? Und wer weiß, auf welchen alten Gaul er sich wagen durfte! Es sollte doch wohl eine Schnelltour mit unsern edlen Tieren werden!

So waren meine Gedanken. Ich kannte »das Kind« eben nicht. Man soll sich stets hüten, vorschnell zu urteilen! Wer kam nach kaum einer Minute im eiligen Trabe aus dem Garten? Sahm, der Braune des Ustad. Ohne Sattel und Zaum! Nicht einmal eine Leine um den Hals! Er sprang nach dem Thore zu. Hinter ihm her rannte »das Kind«, strahlende Wonne im ganzen Gesicht.

»Den willst du reiten?« rief ich ihm zu. »Er geht dir ja durch!«

Da lachte er laut auf. Mit zwei, drei weiten Sätzen hatte er das Pferd erreicht. Ein kühner, wundervoll abgemessener Sprung, und er saß oben. Die langen Beine legten sich fest an den Leib des Pferdes. Ein Wehen mit der Kurdenmütze nach mir zurück, dann flog der seltsame Centaur zum Thore hinaus. Wer hätte denken können, daß dieser so willenlos und unbehilflich erscheinende Tifl ein solcher Reiter sei! Es war zum Verwundern!

Wie aber hatte Kara auf den Gedanken kommen können, grad »das Kind« und keinen andern mitzunehmen? Das war folgendermaßen geschehen:

Als der junge Haddedihn den Berg hinabritt, hatte er die Absicht, den Weg einzuschlagen, den er mit seiner Mutter gekommen war. Dies war ja der einzige, den er kannte, doch auch nicht genau, weil es bei der Ankunft ja nicht mehr Tag, sondern Abend gewesen war. Als er jetzt nun durch den Duar ritt, sah er die Köchin und Tifl vor einem Hause stehen, mit dessen Bewohnern sie sprachen. Er wollte an ihnen vorüber, doch ging das nicht so glatt, wie er gedacht hatte. Assil und Barkh zeigten nämlich die Absicht, stehen zu bleiben. Sie drängten nach Pekala und ihren Begleiter hin.

»Kennen euch die Pferde?« fragte er.

»Sehr gut,« antwortete die »Köstliche«. »Sie haben sogar sehr innige Freundschaft mit uns geschlossen.«

»Wie ist das gekommen? Ich habe noch nie gesehen, daß sie Fremden eine solche Zuneigung schenkten.«

»Wahrscheinlich ist es Dankbarkeit. Sie grämten sich; sie weigerten sich, zu fressen. Da habe ich ihnen die besten und grünsten Leckerbissen aus der Küche hinausgetragen oder durch »unser Kind« geben lassen. Das nahmen sie. So lernten sie uns kennen. Nun freuen sie sich stets, wenn sie uns sehen.«

»Ja, Tiere sind für die ihnen erwiesenen Wohlthaten oft dankbarer als die Menschen. Auch ich danke Euch!«

»Aber diese ihre Dankbarkeit hat die beiden Rappen nicht verleiten können, ihren Herren ungehorsam zu sein.«

»Wie meinst du das? Was deutest du da an?«

Da zeigte sie auf Tifl und antwortete, indem sie pfiffig lächelte:

»Richte deine Frage an diesen hier, an unser Kind! Ich habe es nur gesehen; er aber hat es gefühlt!«

Da sprach der Lange in vorwurfsvollem Tone:

»Warum sprichst du davon, o Pekala? Du solltest es doch nicht verraten! Was habe ich dir gethan, daß du mich so beschämen willst?«

»Es geschieht zu deiner Erziehung. Kinder müssen erzogen werden. Ich hatte es dir verboten, und du thatest es aber doch. Da flogst du freilich herab!«

»Ah, du bist aufgestiegen?« fragte Kara.

»Ja,« gestand Tifl, indem sein Gesichtchen einen unendlich kläglichen Ausdruck annahm.

»Auf welchen? Assil oder Barkh?«

»Ich habe es mit beiden probirt.«

»Nun, weiter?«

Da riß er sich mit der linken Hand die Spinnenmütze vom Kopfe, um mit der Rechten kratzend in die Haare zu fahren, und antwortete:

»Ich mußte herunter!«

»Ja, das glaube ich! Wir haben es sie so gelehrt. Du warst kaum oben, so flogst du wieder herab!«

Da richtete sich »das Kind« in seiner ganzen Länge auf und rief:

»Kaum oben? Oho! Ich bin Tifl, der nur dann aus dem Sattel geht, wenn er will! Es hat mich noch kein Pferd zwingen können, es unfreiwillig zu verlassen!«

»Aber diese beiden doch!«

»Ja. Aber ich würde schwören, daß es eine Lüge sei, wenn ich nicht selbst der heruntergeworfene Tifl wäre! Doch so sehr schnell, wie du meinst, ist es nicht geschehen. Es gab einen Kampf, einen schweren Kampf, doch, doch – doch –«

Er zögerte mit den Worten; es fiel ihm schwer, seine Niederlage einzugestehen. Da fiel die Köchin lachend ein:

»Ich stand dabei; ich sah den Kampf. Tifl glaubte, es erzwingen zu können; aber die Pferde wollten nun einmal nicht, und so mußte das Kind fliegen.«

»Erst nach längerer Zeit? Nicht gleich?« fragte Kara. »Das ist sonderbar! Dann müßtest ja du eigentlich ein besserer Reiter sein, als ich je einen gesehen habe!«

»Der? Das Kind? Ein Reiter? Bloß eigentlich?« fragte Pekala. »Natürlich ist er das! Er ist ja Sa’is beim Schah-in-Schah gewesen!«

»Maschallah! Sa’is? Beim Beherrscher von Persien? Warum ist er das nicht geblieben?«

»Weil das Kind zu sehr wuchs. Es brauchte mit jeder neuen Woche auch eine neue Uniform,« scherzte die Köchin. »Darüber wurde es dem Schah-in-Schah himmelangst; er konnte das nicht aushalten und schickte Tifl also fort. Hier bei uns kann er wachsen, so hoch er will. Wir haben keine kostbaren Stallungen, welche er dadurch demoliert, daß er mit dem Kopfe durch die Decken stößt.«

»O, meine Pekala, was hast du heut wieder einmal für ein böses Herz!« klagte der Lange. »Ich weiß ja, daß ich dem Schah-in-Schah zu lang, zu dünn und also zu häßlich wurde; aber grad dieser meiner Länge wegen sitze ich auf dem schlimmsten Pferde fest, weil meine Beine seinen ganzen Leib umfassen –«

»Und mit den Füßen kannst du unten sogar noch einen besonderen, festen Knoten knüpfen«, fiel sie ein. »Darum bist du der einzige, der unsern Sahm richtig zu reiten versteht.«

»Wer ist Sahm?« fragte Kara.

»Das ist die berühmte, echtblütige Stute des Ustad, auf welcher unser Pedehr von Kara Ben Nemsi eingeholt worden ist. Hätte ›das Kind‹ auf ihr gesessen, so –«

Tifl ließ sie den begonnenen Satz nicht vollenden; er fiel schnell und eifrig ein:

»Ich hätte mich ganz gewiß nicht einholen lassen!«

»Assil schlägt jedes andere Pferd!« behauptete Kara.

»Kennst du unsere Stute?« fragte Tifl.

»Nein.«

»Hast sie aber gesehen?«

»Noch nicht.«

»Soll ich sie holen?«

»Hierher? Warum holen? Ich darf sie wohl später sehen!«

»Du reitest aber jetzt spazieren. Mit deinen edlen Pferden. Wohin?«

»Das weiß ich nicht genau. Ich kenne eure Gegend noch nicht. Ich will unsere Tiere im Laufen üben. Weißt du, des Wettrennens wegen!«

»Bei diesem Rennen werde ich Sahm reiten. Erlaube mir, daß ich jetzt mit dir übe. Ich eile. Ich hole die Stute. Warte hier! In zehn Minuten bin ich wieder hier!«

Er rannte fort, ohne die Antwort Karas abzuwarten. Diesem blieb nichts anderes übrig, als zu verweilen, bis nach noch nicht zehn Minuten Tifl auf ungezäumtem und ungesatteltem Pferde wieder bei ihm eintraf. Er ritt die Stute, damit Kara sie beobachten möge, in den verschiedenen Gangarten einigemale hin und her und fragte ihn dann, was er zu ihr sage. Kara besaß zwar viel von der großen Lebhaftigkeit seines Vaters, hatte dazu aber von seiner Mutter jene Bedachtsamkeit geerbt, welche vorschnelles Reden oder Thun vermeidet. Er hütete sich also, ein Urteil auszusprechen, und lobte ihre sichtbaren Vorzüge, ohne zu sagen, ob er einen Fehler an ihr entdeckt habe. Dann fragte er Tifl, nach welcher Gegend man einen Spazierritt, wie der beabsichtigte sei, am besten machen könne. Der Gefragte antwortete, seinem Namen ›Kind‹ gar nicht entsprechend, außerordentlich sachgemäß:

»Wir müssen einen großen, freien Platz zum Galoppieren haben, dann aber auch steile, beschwerliche Wege, welche uns zeigen, was unsere Pferde auf ihnen zu leisten vermögen. Von hier aus nach Osten liegt eine weite Ebene, welche erst grasig und dann nur noch sandig ist. Jenseits von ihr erhebt sich das Gebirge, über welches zwei Pässe führen, der Boghaz-y-Chärgusch, welcher so heißt, weil es dort in den Büschen viele Hasen giebt, und der Boghaz-y-Ghulam, den man so nennt, weil dort einmal ein Bote des Beherrschers ermordet worden ist. Wenn wir einen dieser Pässe hinaufreiten und durch den andern zurückkehren, lernst du die Gegend kennen, durch welche sich die östliche Grenze unsers Gebietes zieht.«

»Ist es weit?«

»Für gewöhnliche Pferde, ja; für unsere aber nicht.«

»Da mein Vater krank ist, möchte ich nicht erst spät des Nachts heimkehren.«

»Wir kehren um, sobald du willst!«

»Ist die Gegend sicher?«

»Ja.«

»Du siehst, daß ich nur mein Messer bei mir habe; du aber bist ganz unbewaffnet. Auf eurem Gebiete duldet ihr wohl keinen bösen Menschen, doch kommen wir ja, wie du sagst, bis an die Grenze desselben. Und die Massaban sind sogar bis hierher zu euch gedrungen, um euch zu überfallen. Wirklich und unausgesetzt sicher ist wohl kein Ort hier in den Bergen.«

»Das ist richtig. Aber wer solche Pferde reitet wie wir, der kann jedem Uebel schnell und leicht entgehen. Fürchtest du dich vielleicht?«

Welch eine Frage für Kara! Ob er sich fürchte! Das war bei ihm ein vollständig unmögliches Gefühl. Er war zu verständig, sich als beleidigt zu betrachten, und als Gast der Dschamikun hatte er sich zu hüten, selbst beleidigend zu werden. Darum hielt er es für das beste, so zu thun, als ob diese Frage ganz ungehört an seinem Ohre vorübergegangen sei.

»Komm! Vorwärts!« sagte er, indem er seinem Ghalib das Zeichen zum Weitergehen gab. Assil und Barkh hatten ihren Willen gehabt und folgten ohne Widerstreben.

»Kommst du noch vor Nacht zurück?« wurde ›das Kind‹ von der Köchin gefragt.

»Sehnst du dich schon jetzt nach mir?« antwortete er lachend.

»Nicht an dich, sondern an Kara Ben Halef denke ich. Ich weiß, daß es weder Zeit noch Schranken für dich giebt, wenn du auf Sahm sitzest. Er aber hat noch von der Reise auszuruhen. Ich werde dich sehr streng bestrafen, wenn du dich verspätest!«

»Welche Strafe wird das sein?«

»Du bekommst nichts zu essen!«

»Das kenne ich! Mit dem Munde entziehst du mir die Kost, aber schon nach einer Viertelstunde giebst du mir sie mit den Händen doppelt, weil mein Hunger nicht meinem Magen, sondern deinem Herzen wehe thut!«

»Da sehe ich, wie schlecht ich dich erzogen habe! Die Liebe ist verderblich für solche Kinder, du sollst aber von jetzt an meine Strenge kennen lernen!«

»Die giebt es ja gar nicht! Leb wohl, o Pekala. Hast du noch einen Wunsch?«

»Bring frohe und hungrige Gäste mit!«

Das ist ein oft gebrauchter, beduinischer Abschiedsgruß. Die Köchin sagte das wohl nur, um überhaupt etwas zu sagen. Sie ahnte nicht, daß, oder gar in welcher Weise er in Erfüllung gehen werde.

Der Ritt ging zunächst des Sees entlang und dann über das ganze Thal desselben hin, bis es zwischen den Bergen einen tiefen Einschnitt gab, welcher sich jenseits auf die von Tifl erwähnte Ebene öffnete. Dort wurde den Pferden erlaubt, zu galoppieren. Tifl erwies sich als ein unübertrefflicher Naturreiter. Von den feineren, erzieherischen Verhältnissen zwischen Mensch und Tier aber wußte er wohl nichts. Wer ihn so sicher, so fest, so ganz wie mit dem Pferde zusammengewachsen, im Sattel sitzen sah, der mußte es freilich für fast unmöglich halten, daß er sowohl von Assil als auch von Barkh abgeworfen worden sei; aber diese unsere Hengste waren nicht, wie die braune Stute des Ustad, gewohnt, augenblicklichen Instinkten, sondern einem zielbewußten, sich stets gleichbleibenden Willen unterthan zu sein.

›Das Kind‹ machte verschiedene Versuche, den jetzigen Ritt zu einem Wettrennen zu gestalten, hatte aber damit bei dem bedachtsamen Kara keinen Erfolg. Dieser war einerseits viel zu klug, eine Niederlage der ›Sahm‹ sich wiederholen zu lassen, während andererseits sein Stolz ihm nicht gestattet hätte, etwa aus Höflichkeit freiwillig auf den Sieg zu verzichten. Es blieb also bei dem, was er sich vorgenommen hatte, nämlich bei einem Uebungsreiten, welches keinem leidenschaftlichen Zweck zu dienen hatte.

Die Stute hielt, so lange der Boden grasig war, sehr leicht den gleichen Schritt mit unsern Pferden; aber später im tiefen Sande fiel sie bemerklich ab. Das konnte ihr aber nicht zur Schande gereichen, weil sie kein Pferd der sandigen Steppe war. Als dann der Hasenpaß erreicht wurde und der langsame Aufstieg auf steinigem Boden begann, mußten dafür nun unsere Tiere sich anstrengen, es ihr gleichzuthun, worauf Kara von Tifl wiederholt aufmerksam gemacht wurde.

Die Gegend war hier felsig und unfruchtbar. Niedriges, trockenes Gestrüpp überzog die Berge mit schmutzigem Grau, und nur hier oder da gab es einen Baum, dessen dünn benadelte Zweige keinen Schatten spendeten. Als die Höhe des Passes erreicht worden war, konnte man darum die Aussicht nach allen Seiten frei genießen. ›Das Kind‹ deutete auf einen der aufgerichteten Steinhaufen und sagte:

»Das ist das Grenzzeichen. Bis hierher gehört das Land den Dschamikun.«

»Und wem sodann?« fragte Kara.

»Allen Menschen.«

»Giebt es keinen besonderen Besitzer?«

»Das ist der Schah-in-Schah, dem ja das ganze Reich gehört. Die Gegend hier ist so öd und dürr, daß niemand sie haben will. Wer sie bekäme, müßte Steuern zahlen; wer aber kann diese hier aus solchen Felsen ziehen? Wenn der Muhassil kommt, so fragt er nicht, ob der Boden etwas getragen hat, sondern er nimmt alles mit, was man besitzt.«

»Wer ist der Muhassil?«

»Das weißt du nicht?«

»Nein.«

»Das ist der unwillkommenste aller Gäste, die es giebt. Jedermann in Persien soll Steuern zahlen. Auch die freien Stämme werden dazu angehalten. Unser Ustad hat versprochen, es zu thun, und wir halten Wort. Darum wird kein Muhassil zu uns kommen. Andere aber zahlen nicht eher, als bis sie dazu gezwungen werden, denn sie behaupten, ein freier Mann sei auch von Steuern frei. Zu ihnen wird ein möglichst strenger, vielleicht gar hartherziger Offizier oder Beamter gesandt, der Soldaten mitbringt, die ihm helfen müssen, den Mal-i-Divan und den Sadir Avariz mit Gewalt einzutreiben. Sobald er diese Gewalt auszuüben beginnt, hat man ihn mit dem Titel Muhassil zu ehren. Er nimmt zunächst das, was er für den Beherrscher haben will. Sodann nimmt er das, was er für sich selbst haben will, und das ist gewöhnlich alles, was noch da ist.«

»Leistet man ihm denn da nicht Widerstand?«

»Widerstand? Er würde nur gehen, um dann mit noch mehr Soldaten zurückzukehren. Das beste Mittel, ihm zu entrinnen, ist die Flucht. Aber er kommt meist so unerwartet, daß sie unmöglich ist. So hat er kürzlich auch die Kalhuran überrascht, welche eigentlich noch gar keine Steuern zu bezahlen haben.«

»Wer sind diese Kalhuran?«

»Ein Nomadenstamm, dessen Land nicht mehr ausreichte, ihn zu ernähren. Eine Abteilung von ihm bat um neues Land und bekam die Gegend, welche du hier östlich vor uns liegen siehst. Sie beginnt zwar erst jenseits dieser Felsenberge, ist aber von so geringer Fruchtbarkeit, daß lange Jahre dazu gehören, den Boden zu verbessern; darum wurde den Kalhuran gesagt, daß sie erst nach dem zehnten Sommer Steuern zu bezahlen hätten. Sie sind nun erst vier Jahre hier; dennoch sandte man ihnen einen Boten, welcher sie benachrichtigte, daß sie jetzt schon zu bezahlen hätten. Sie weigerten sich. Da stellte sich ganz unversehens ein Muhassil mit einer ganzen Schar von Soldaten bei ihnen ein. Der hat es sich bei ihnen so bequem gemacht, als ob er jahrelang bleiben wolle. Er wird so lange an ihrer Habe saugen, bis sie kein einziges Pferd, kein armes Schaf mehr haben.«

»Maschallah! Der sollte das einmal bei unsern Haddedihn versuchen! Weißt du, welchen Namen dieser Dschady hat?«

»Er heißt Omar Iraki. Der Scheik der Kalhuran ist ein junger Mann, dem der Ustad eine Tochter unsers Stammes zum Weibe gegeben hat. Sein Name ist Hafis Aram. Ich kenne ihn, denn er war ja bei uns, als er sie hinüber zu sich holte. Chodeh beschütze ihn! Vor dem Muhassil aber bewahre er alle Menschen. Grad von diesem Omar Iraki hat man nur Böses, aber kein einziges gutes Wort gehört. Komm, reiten wir hinab! Unten wenden wir uns dann nördlich, um durch den Paß des Couriers heimzukehren.«

Auf dieser Ostseite fielen die Berge steil zur Tiefe. Der Weg ging in zahlreichen Windungen hinab, so daß er immer nur für kurze Strecken zu überschauen war. Um so freier war die Aussicht in die Ferne, über die steppenähnliche Fläche hinüber, zu welcher die beiden jetzt hinunterritten.

Als sie die letzte, unterste Krümmung des Weges überwunden hatten und schon daran dachten, wieder galoppieren zu können, bot sich ihnen plötzlich ein unvorhergesehenes Hindernis dar. Da standen nämlich zwischen den Felsblöcken zerstreut, wohl gegen zwanzig Pferde, deren Reiter an einer versteckten Stelle plaudernd bei einander saßen. Einer hockte als Wächter auf einem hochgelegenen Steine, von welchem aus man einen weiten Ausblick in die Steppe hatte. Das waren persische Soldaten, und zwar Kavalleristen. Eigentliche Uniformen trugen sie nicht. Auch ihr Anführer war an keinem Rangabzeichen, sondern nur an einem langen, schweren Schleppsäbel zu erkennen, den er trug. Ihre Waffen taugten nicht viel; desto besser aber waren ihre Pferde. Die persische Kavallerie ist überhaupt recht gut beritten. Als sie die beiden Reiter sahen, sprangen sie alle auf.

»Sallam!« grüßte Kara kurz, aber in höflichem Tone und indem er ihnen die Hand entgegensenkte.

Sie antworteten nicht. Ihre Augen waren bewundernd auf die vier Pferde gerichtet. Kara hielt nicht an. Er wollte an ihnen vorüber. Da aber stellte sich ihm der Anführer in den Weg.

»Halt!« sagte er in befehlendem Tone. »Wer seid Ihr?«

Man darf nicht vergessen, daß Kara der Sohn meines wackeren Hadschi Halef war, dem, außer wenn er wollte, niemand imponieren konnte.

»Sag vorher, wer bist du?« forderte er den Perser auf.

»Du siehst, daß ich Soldat bin!« antwortete dieser stolz.

»Und du siehst, daß ich keiner bin! Ich diene nicht; ich bin ein freier Mann!«

»Ein Mann?« lachte der andere. »Schau meinen Bart und greif an den deinen dann! Ich stehe hier im Namen des Schah-in-Schah und frage dich nochmals, wer du bist!«

»Und ich sitze hier in meinem eigenen Namen im Sattel und antworte nur dann, wenn es mir beliebt! Allah schütze deinen Bart! Zum Fürchten ist er nicht!«

Als er dies sagte, richtet er seine dunklen Augen mit einem solchen Ausdrucke auf den Perser, daß dieser die Hand, welche er schon erhoben hatte, um Ghalib am Zügel zu fassen, wieder sinken ließ und von ihm zurücktrat.

»Ich höre an deiner Sprache, daß du ein Araber bist,« sagte er. »Ich bin Mülazim ewwel des Beherrschers aller Herrscher. Nun weißt du es.«

»Der Beherrscher aller Herrscher kann nur Allah sein! Ich bin Kara Ben Hadschi Halef, ein Haddedihn vom Stamme der Schammar.«

»Wo kommst du her?«

»Woher es mir beliebt!«

»Wo willst du hin?«

»Wohin es mir behagt!«

»Maschallah! Denn für ein großes Wunder Gottes scheinst du dich zu halten! Ich habe hier zu fragen!«

»So frage die, welche dir zu antworten haben; zu ihnen aber gehöre doch nicht ich!«

Das war keineswegs verwerflicher Hochmut von Kara, sondern das wohlberechtigte Selbstbewußtsein des freigeborenen Arabers der Dschesireh. Wenn die Fragen in höflichem Tone und nicht in der Weise eines Verhöres ausgesprochen worden wären, so hätte er sie wahrscheinlich beantwortet. Auch gefielen ihm die höhnischen Blicke nicht, mit denen Tifl von den sich herandrängenden Soldaten betrachtet wurde. Das verächtliche Lächeln dieser Leute forderte ihn heraus, ihnen zu zeigen, daß zum Lachen gar kein Grund vorhanden sei.

»Auch du gehörst zu Ihnen!« behauptete der Offizier. »Ich stehe an des Gesetzes Stelle. Ich bin hier Polizei!«

»Ich auch!«

Da fuhr der Perser um einige Schritte zurück. Er hatte imponieren wollen und sah und hörte nun aber, daß ihm dies nicht gelungen sei.

»Wagst du vielleicht, mit mir zu scherzen?«

»Sehe ich etwa so spaßhaft aus?«

Sein jugendlich schönes, wie aus dunklem Marmor gemeißeltes Gesicht zeigte allerdings keine Spur von Lust zum Scherzen. Der Grundzug unseres Kara war ein steter Ernst, welcher durch einen elegischen Hauch eher erhöht als gemildert wurde. In seinen Augen, die er von der Mutter hatte, lag etwas, was keine zudringliche Berührung duldete. Das wirkte auch jetzt. Der Oberlieutenant wagte es nicht, seinen Zorn hervortreten zu lassen; ja es klang sogar, als ob er sich entschuldigen wolle, als er nun sprach:

»Du weißt es nicht; aber ich stehe hier über dir, über jedem, der da kommt. Ich habe diesen Platz zu bewachen.«

»Warum?«

»Weil ich die Mörder des Muhassil fangen will.«

»Welches Muhassil?«

»Omar Iraki.«

»Wallah! Ist er ermordet worden?«

»Ja.«

»Von wem?«

»Von Hafis Aram und seinem Weibe.«

»Chodeh, Chodeh!« rief da »das Kind« erschrocken aus.

»Kennst du Hafis Aram?« fuhr der Offizier fort.

»Nein,« antwortete Kara.

Dann schwang er sich vom Pferde. Sein Interesse war erwacht. Er gedachte dessen, was Tifl ihm erzählt hatte, und es stieg eine Ahnung in ihm auf, daß sich hier ein Ereignis vorbereite, in welches er vielleicht nützlich eingreifen könne. Und mit der Bedachtsamkeit, die weit über seine Jugend ging, ließ er ein interessiertes Lächeln über seine Züge gleiten und sagte:

»Eine Mordthat ist begangen worden! An einem Muhassil! Das ist eine schreckliche That! Kann man erfahren, warum und wie sie geschehen ist?«

»Ja. Ich werde es dir erzählen. Aber vorher mußt du mir sagen, woher du kommst und wohin du willst.«

»Aus welchem Grunde willst du das wissen?«

»Weil du von jenseits gekommen bist, aus dem Gebiete der Dschamikun. Ich sage dir, daß ich es auf sie abgesehen habe! Du aber bist ja kein Dschamiki, sondern ein Haddedihn aus der Dschesireh.«

Da machte Kara eine stolze wegwerfende Handbewegung und fragte:

»Hafis Aram hat den Muhassil ermordet?«

»Ja.«

»Er ist der Scheik der Kalhuran?«

»Ja.«

»Sein Weib ist Dschamikeh?«

»Ja. Sie hat den ersten Schuß auf den Ermordeten gethan. Wir stehen also in Blutrache mit den Dschamikun. Nun sage mir, woher du kommst!«

Es war ein sehr ruhiges und überlegenes Lächeln, welches sich über Karas Lippen legte, als er antwortete:

»Ich sage es dir gern. Hier dieser mein Begleiter kommt mit mir von dem hohen Hause des Ustad. Er ist ein Dschamiki, und ich bin Gast der Dschamikun. Sie und ich, wir sind eins. Was sie thun, verantworte auch ich. Eure Blutrache trifft also auch meine Person!«

Da trat der Perser noch einen Schritt von ihm zurück und rief erstaunt aus:

»Kara Ben Halef – so nanntest du dich?«

»Kara Ben Hadschi Halef, ja!«

»Also, Kara Ben Hadschi Halef, bist du bei Sinnen?«

»Warum diese Frage?«

»Siehst du nicht, daß wir zwanzig Personen gegen euch beide sind? Das genügt doch wohl!«

»Aber es ist falsch! Richtiger ist, daß wir zwei Personen gegen nur zwanzig sind. Das genügt noch besser!«

»Du bist toll, wirklich toll! Hättest du nicht verschweigen können, daß du Gastfreund der Dschamikun bist?«

»Ja, ein anderer hätte das wohl gethan.«

»Warum nicht du?«

»Aus zwei Gründen: Erstens sage ich niemals eine Lüge, selbst wenn sie mir das Leben retten könnte. Und zweitens fürchte ich mich nicht vor euch. Wie ihr von mir denkt und was ihr von mir wollt, das ist für mich von keiner großen Wichtigkeit; die Hauptsache ist, daß ich mich vor mir selbst schämen müßte, wenn ich euch die Unwahrheit gesagt hätte. Und wenn ein Mensch sich selbst verachten muß, so ist dies das allerschlimmste, was ihm im Leben geschehen kann.«

Der Offizier schaute ihn eine ganze Zeitlang an, ohne ein Wort zu sagen. Dann fragte er:

»Du sagst niemals eine Lüge?«

»Nie!«

»Auch nicht in der Not?«

»Nein. Es giebt keine Not, welche die Lüge rechtfertigt, denn die Lüge ist die größte und entsetzlichste Not, an der die Menschen leiden!«

»Aber deine Aufrichtigkeit wird euch euer Leben kosten!«

»Du irrst!«

»Ich irre? Du bist zweifellos verrückt!«

Und sich an seine Leute wendend, fuhr er fort:

»Ihr habt es gehört. Da steht ein Mensch, ein junger Mensch, der niemals eine Lüge sagt, selbst wenn es ihm das Leben kosten sollte. Was sagt ihr dazu?«

Ein allgemeines Gelächter war die Antwort.

»Ich lache ebenso wie ihr,« stimmte er ihnen bei. Dann drehte er sich wieder nach Kara um: »Ihr seid natürlich unsere Gefangenen. Eure Pferde gehören uns!«

»Versuche es, sie dein zu nennen!«

»Ich brauche es nicht zu versuchen, denn ich habe es bereits gethan. Wir bringen hier die größte Beute heim, die jemals gemacht worden ist! Du, Knabe, bist der allerdümmste Kerl, den es auf Erden giebt! Dieser deiner Dummheit darf ich beantworten, was du mich vorhin fragtest. Setze dich!«

Er deutete auf einen Stein, der neben Kara lag. Dieser ließ sich auf ihn nieder. Dies schien Gehorsam zu sein. Auch Tifl war von seiner Stute gestiegen. Er trat zu Kara und setzte sich neben ihm auf den Boden nieder. Die Soldaten umringten die Pferde, um ihre bewundernden Bemerkungen über diese ebenso unerwartete wie unschätzbare Beute zu machen. Der Offizier aber sprach zu Kara weiter:

»Du hast also den Muhassil Omar Iraki nie gesehen?«

»Nie,« antwortete der Gefragte.

»Er war ein Herr, der einen starken Willen hatte. Kein Steuerverweigerer konnte ihm widerstehen. Daher wurde er überall hingesandt, wo Andere vor ihm nichts erreicht hatten. So kam er auch zu den Kalhuran, den räudigen Hunden, welche nicht zahlen wollten. Grad hundert Reiter waren bei ihm, welche von den Verweigerern als teure Gäste aufgenommen und verpflegt werden mußten. Nun waren nicht nur die Steuern, sondern auch unsere Löhne zu bezahlen. Die Schuld wurde von Tag zu Tag größer. Wir nahmen erst nur die Wolle, dann auch die Schafe selbst. Das reichte nicht. Wir griffen natürlich auch nach den anderen Herden. Da rotteten sich die Hunde zusammen, um uns zu widerstehen. Der Muhassil ließ den Scheik Hafis Aram ergreifen und zu sich in das Zelt bringen. Dort wurde er gepackt, niedergeworfen und zu den Füßen des Muhassil festgehalten. Dieser verlangte Geld. Der Scheik behauptete, keines zu haben. Da drohte der Muhassil mit der Peitsche. Hafis Aram aber leugnete fort. Da begann der Muhassil, ihn zu züchtigen, mit eigener Hand, denn er war ein sehr starker Mann, der die Peitsche zu führen verstand. Der Scheik wollte sich losreißen, aber acht Hände hielten ihm am Boden fest. Da war er still. Er nahm die Hiebe auf sich, ohne eine Klage, einen Laut hören zu lassen. Aber seine Augen waren unheimlich starr auf den Muhassil gerichtet, ohne daß er diesem auf seine bei jedem Schlag wiederholte Frage nach dem Gelde eine Antwort gab. Was sagst du zu solcher Hartnäckigkeit, Kara Ben Hadschi Halef?«

»Wißt ihr, was es heißt, einen freien Beduinen zu peitschen? Den Scheik eines ganzen Stammes?« fragte Kara.

»Was soll es weiter heißen, als daß er eben Prügel bekommt? Auch wir alle, die wir jetzt in des Beherrschers Diensten stehen, sind von freien Eltern geboren worden. Haben wir uns etwa dadurch, daß wir den Ungehorsam zwingen, die Gesetze zu erfüllen, in verächtliche Sklaven verwandelt? Stehen wir nicht im Gegenteile höher als die Widerspenstigen? Scheik Hafis Aram wäre ganz gewiß von dem Muhassil erschlagen worden, und zwar mit vollstem Rechte, wenn ihm nicht eine so ganz unerwartete Hilfe gebracht worden wäre, daß wir alle vor Ueberraschung versäumten, ihr zu widerstehen. Rate, von wem sie kam!«

»Ich rate nicht. Sage es!«

»Sie wurde dem Scheik von seinem Weibe gebracht, der Dschamikeh, welche Allah verdammen möge! Sie haßte und fürchtete den Muhassil. Als sie, von einem Gange zurückkehrend, vernahm, daß er ihren Mann habe holen lassen, wurde sie von ihrer Angst herbeigetrieben. Sie lauschte am Zelte, vor dem kein Wächter stand. Sie hörte die Streiche, welche fielen. Da trat sie ein. Sie sah, was geschah, und sprang zum Muhassil hin, um seinen Arm festzuhalten.«

»›Herr, du schlägst einen freien Moslem?