IX.

In dem der »Albatros« fast zehntausend Kilometer zurücklegt und das mit einem merkwürdigen Sprunge endigt.

Onkel Prudent und Phil Evans waren fest entschlossen, zu fliehen. Hätten sie es nur zu dreien mit den acht, allerdings sehr kräftigen Männern zu thun gehabt, welche die Besatzung des Aeronefs bildeten, so würden sie den Kampf vielleicht gewagt haben. Ein kühner Handstreich hätte sie zu Herren an Bord gemacht und ihnen die Möglichkeit gegeben, an einem beliebigen Punkte der Vereinigten Staaten niederzugehen. Zu Zweien aber – denn Frycollin konnte ja nur als verschwindende Größe gezählt werden – war daran nicht wohl zu denken; da jede Gewaltanwendung also ausgeschlossen blieb, mußten sie, sobald der »Albatros« einmal zur Erde hinabging, zur List ihre Zuflucht nehmen. Das bemühte sich auch Phil Evans seinem wuthschnaubenden Collegen beizubringen, da er von diesem immer noch eine gewaltthätige Uebereilung fürchtete, welche ihre Lage nur verschlimmern konnte.

Jedenfalls war jetzt kein günstiger Augenblick. Der Aeronef glitt in schnellster Gangart eben über den Nordpacifischen Ocean hin. Schon am nächsten Morgen, dem des 16. Juni, sah man nichts von der Küste, und da diese von der Vancouver-Insel bis zur Gruppe der Alëuten – das ist der früheren russischen Besitzung in Amerika, welche 1867 an die Vereinigten Staaten abgetreten wurde – in einem großen Bogen verläuft, so hatte es den Anschein, als ob der »Albatros« letztere an dem vorspringendsten Bogentheile kreuzen sollte, wenigstens wenn die jetzt eingehaltene Fahrtrichtung nicht verändert wurde.

Wie lang erschienen die Nächte jetzt den beiden Collegen! Sie beeilten sich auch jeden Morgen, ihre Cabine zu verlassen. Als sie heute nach dem Deck kamen, war der Horizont im Osten schon vollständig hell. Man näherte sich ja der Sommersonnenwende, dem längsten Tage auf der nördlichen Halbkugel, an dem es unter dem 60. Breitengrade eigentlich kaum Nacht wird.

Der Ingenieur Robur dagegen schien – ob aus Gewohnheit oder mit Absicht – keine besondere Eile zu haben, seinen Ruff zu verlassen; und als das heute endlich geschah, begnügte er sich, seine beiden Gäste zu begrüßen, als er auf dem Hintertheile des Aeronef ihren Weg kreuzte.

Inzwischen hatte sich auch Frycollin mit vor Schlaflosigkeit gerötheten Augen, glanzlosem Blicke und schlotternden Beinen aus seiner Cabine gewagt. Er ging dahin wie Einer, dessen Fuß es empfindet, daß dem Boden darunter nicht recht zu trauen ist. Sein erster Blick richtete sich nach der Auftriebsmaschinerie, die, ohne sich zu beeilen, mit beruhigender Regelmäßigkeit arbeitete.

Danach begab sich der immerfort schwankende Neger nach der Reeling und ergriff diese mit beiden Händen, um sich, mehr Gleichgewicht zu sichern. Offenbar wünschte er einen Ueberblick über das Land zu gewinnen, das der »Albatros« jetzt in der Höhe von höchstens zweihundert Metern überflog.

Frycollin hatte sich tüchtig zusammennehmen müssen, um einen solchen Versuch zu wagen. Es bedurfte ja, seiner Meinung nach, einer gewissen Kühnheit, seine werthe Person einer solchen Gefahr auszusetzen.

Vor der Reeling stehend, hielt Frycollin erst den Körper nach rückwärts geneigt, dann schüttelte er an derselben, um ihre Haltbarkeit zu prüfen; nachher richtete er sich auf, beugte sich etwas nach vorwärts und steckte endlich den Kopf ein wenig hinaus. Wir brauchen wohl nicht zu bemerken, daß er während der Dauer dieses Experimentes beide Augen fest geschlossen hielt. Endlich öffnete er dieselben.

Hei, wie schrie er da laut, wie flog er eiligst zurück und wie verkroch sich sein Kopf zwischen den Schultern!

Unter dem Abgrunde hatte er den ungeheuren Ocean erblickt. Wären seine Haare nicht gar zu kraus gewesen, sie hätten sich gewiß über der Stirn gesträubt.

»Das Meer! Das Meer! …« schrie er auf.

Frycollin wäre lang auf das Verdeck hingestürzt, wenn der Koch nicht die Arme ausgebreitet hätte, ihn aufzufangen.

Dieser Koch war ein Franzose, vielleicht ein Gascogner, obwohl er sich François Tapage nannte [Fußnote]. Wenn er nicht Gascogner war, so mußte er während seiner Kindheit die sanften Winde der Garonne eingeatmet haben. Wie dieser François Tapage aber in die Dienste des Ingenieurs gekommen, durch welche Reihe von Zufälligkeiten er unter die Mannschaft des »Albatros« gerathen war, das wußte kein Mensch. Jedenfalls sprach dieser Schlaukopf englisch wie ein Yankee.

»Heda, aufrecht, zum Teufel, herauf! rief er, den Neger mit kräftigem Handgriffe aufrichtend.

– Master Tapage! … antwortete der arme Teufel, einen verzweiflungsvollen Blick nach den Schrauben werfend.

– Was willst Du denn, Frycollin?

– Geht das manchmal entzwei?

– Manchmal nicht, aber es wird einmal entzwei gehen.

– Warum? … Warum denn? …

– Weil zuletzt Alles einmal zum Kuckuk geht, wie man bei mir zu Hause sagt.

– Ja, aber da ist ja das Meer darunter? …

– Im Fall eines Sturzes ist das viel besser.

– Doch da muß man ertrinken!

– Man ertrinkt freilich, aber man behält seine Knochen«, erwiderte François Tapage zuversichtlich.

Wie eine Schlange dahinkriechend, war Frycollin gleich darauf tief hinein in seine Cabine geschlichen.

Im Laufe des 16. Juni hielt der Aeronef nur eine mittlere Geschwindigkeit ein. Er schien an der Oberfläche dieses so ruhigen Meeres, das im vollen Sonnenschein glänzte, fast hinzustreichen, da er sich kaum hundert Fuß über demselben hielt. Heute nun waren Onkel Prudent und sein Gefährte in ihrer Cabine zurückgeblieben, um Robur nicht zu begegnen, der rauchend, bald allein, bald mit seinem Obersteuermann Tom Turner, auf dem Deck umherging. Nur die halbe Anzahl Schrauben war in Thätigkeit, doch das genügte schon, den Apparat in den niedrigeren Zonen der Atmosphäre zu erhalten.

Unter diesen Verhältnissen hätte die Mannschaft außer dem Vergnügen eines Fischzugs sich noch die Befriedigung bereiten können, in ihren gewohnten Speisezettel eine Abwechslung zu bringen, wenn das Wasser des Stillen Oceans fischreich genug wäre. Auf dessen Oberfläche zeigten sich aber nur einzelne Walfische, von der Art mit gelbem Bauche, welche gegen fünfundzwanzig Meter in der Länge mißt. Gerade diese kennt man als die furchtbarsten Cetaceer der nördlichen Meere. Die Fischer von Beruf hüten sich weislich, dieselben anzugreifen, so gefährlich können die Thiere werden.

Immerhin konnte man wohl die Harpunirung eines jener Walfische entweder mit der Flechter’schen Rakete oder mit der Wurfbombe versuchen, und von beiden hatte man eine Auswahl an Bord.

Wozu aber diese unnütze Schlächterei? Wahrscheinlich wollte Robur nur den beiden Mitgliedern des Weldon-Instituts zeigen, wozu er seinen Aeronef Alles verwenden könne, und deshalb sollte auf einen der gewaltigen Cetaceer Jagd gemacht werden.

Auf den Ruf: »Walfische! Walfische!« eilten Onkel Prudent und Phil Evans aus ihren Cabinen. Vielleicht war ein Schiff, ein sogenannter Walfischfahrer, in Sicht. In diesem Falle wären Beide, um ihrem Gefängnisse zu entfliehen, entschlossen gewesen, sich in’s Meer zu stürzen, auf die schwache Hoffnung hin, von einem Fahrzeug aufgenommen zu werden.

Schon stand die ganze Mannschaft des »Albatros« geordnet und jedes Befehls gewärtig auf dem Verdeck und wartete.

»Wir wollen’s also versuchen, Master Robur? fragte der Obersteuermann Tom Turner.

– Ja, Tom,« antwortete der Ingenieur.

In den Ruffs für die Maschinerie standen der Mechaniker und seine Gehilfen auf Posten, um jedes Manöver auszuführen, das ihnen durch Zeichen anbefohlen wurde. Der »Albatros« senkte sich sofort nach dem Meere zu und hielt etwa fünfzig Fuß darüber an.

Wie die beiden Collegen sich überzeugen konnten, war hier kein Schiff in Sicht, so wenig wie eine Küste, welche sie hätten schwimmend erreichen können, vorausgesetzt, daß Robur sie nicht wieder ergreifen ließ.

Mehrere Dunst- und Wasserstrahlen, welche sie durch die Nasenlöcher austrieben, verkündeten die Anwesenheit von Walfischen, welche, um zu athmen, einmal auf die Oberfläche kamen.

Tom Turner hatte sich, unterstützt von einem seiner Kameraden, am Vordertheil aufgestellt. Ihm nahe zur Hand lag eine jener Wurfbomben californischen Fabrikats, welche mit einer Art Büchse abgeschossen werden. Jene besteht aus einem Metallcylinder, der mit einer ebenso geformten Bombe endigt, welche in eine Stange mit widerhakigen Spitzen ausläuft. Von dem Vordercastell aus, das er eben bestieg, gab Robur mit der rechten Hand dem Mechaniker und mit der linken Hand dem Steuermann die nöthigen Zeichen, wie sie manövriren sollten; so beherrschte er den Aeronef sowohl in wagrechter, wie in senkrechter Richtung.

»Ein Walfisch! … Ein Walfisch!« rief Tom Turner noch einmal.

Eben tauchte wirklich der Rücken eines solchen Cetaceers etwa vier Kabellängen vor dem »Albatros« auf.

Der Aeronef stürzte gleichsam auf ihn zu und hielt, als er sich kaum noch sechzig Fuß über dem Thiere befand, schnell an.

Tom Turner hatte seine, in einer an der Reeling befestigten Gabel liegende Büchse angeschlagen. Der Schuß krachte und das Geschoß, das eine lange, mit ihrem Ende am Verdeck angebundene Leine mit sich riß, schlug in den Körper des Walfisches ein. Die mit leicht entzündlichen Stoffen gefüllte Bombe explodirte und schleuderte dabei eine Art kleinere, zweiarmige Harpune, die sich in das Fleisch des Thieres einkrallte.

»Achtung!« rief Tom Turner. Trotz ihrer herzlich schlechten Laune betrachteten Onkel Prudent und Phil Evans dieses Schauspiel doch mit aufrichtigem Interesse.

Der schwer verwundete Walfisch hatte das Meer mit dem Schwanze so furchtbar gepeitscht, daß das Wasser bis zum Vordertheil des Aeronefs hinaufspritzte; dann tauchte derselbe bis zu großer Tiefe hinab, während man die Leine schnell nachgleiten ließ; letztere war übrigens in einem mit Wasser gefüllten Fasse zusammengelegt, um durch die Reibung nicht Feuer zu fangen. Als der Walfisch wieder an die Oberfläche kam, suchte er so schnell als möglich in der Richtung nach Norden zu entfliehen.

Der Leser kann sich leicht vorstellen, mit welch‘ rasender Schnelligkeit der »Albatros« dabei geschleppt wurde, denn die Triebschrauben waren vorher angehalten worden. Man überließ das Thier ganz sich selbst und hielt sich nur auf gleicher Höhe mit ihm. Tom Turner stand bereit, die Leine zu kappen, wenn ein erneutes Tauchen dieses Schleppen gefährlich machte.

So wurde der »Albatros« etwa eine halbe Stunde lang und vielleicht eine Entfernung von sechs Meilen weit hingezerrt; dann merkte man aber, daß der Cetaceer zu erlahmen anfing.

Jetzt ließen die Hilfsmaschinisten das Triebwerk nach rückwärts arbeiten und die Triebschrauben setzten dem Walfisch, der sich dem Bord mehr und mehr näherte einen gewissen Widerstand entgegen.

Bald schwebte der Aeronef nur noch fünfundzwanzig Fuß über demselben; noch immer peitschte sein Schweif das Wasser mit fast unglaublicher Gewalt, und wenn er sich vom Bauch auf den Rücken drehte, wühlte das Thier eine wirkliche Brandung auf.

Plötzlich richtete es sich, so zu sagen, gerade in die Höhe und tauchte mit solcher Schnelligkeit unter, daß Tom Turner kaum Zeit hatte, ihm die Leine gehörig nachschießen zu lassen.

Mit einem Male wurde der Aeronef bis zur Wasserfläche herabgezerrt; an der Stelle, wo das Thier verschwunden war, hatte sich ein vollständiger Wirbel gebildet, und über die Reeling hinein schlug das Wasser, wie es über den Bug eines Schiffes geht, gegen Wind und Wellen läuft.

Glücklicher Weise trennte Tom Turner noch rechtzeitig mit einem Axthiebe die Leine, und der nun befreite »Albatros« stieg unter dem Drucke seiner Auftriebschrauben zweihundert Meter empor.

Auch während dieses aufregenden Zwischenfalls hatte Robur den Apparat geleitet, ohne daß ihn seine Kaltblütigkeit nur einen Augenblick verlassen hätte.

Einige Minuten später kam der Walfisch wieder an die Oberfläche – diesmal aber todt.

Von allen Seiten flatterten die Seevögel herzu, um sich des Cadavers zu bemächtigen, und stießen Schreie aus, welche einen sich zankenden Congreß taub gemacht hätten.

Der »Albatros«, der mit der todten Beute doch nichts beginnen konnte, setzte seinen Weg nach Westen fort.

Am folgenden Tage, am 17. Juni, Morgens um 6 Uhr, erstreckte sich am Horizonte Land hin. Es war die Halbinsel Alaska und die lange Klippenreihe der Alëuten.

Der »Albatros« zog über dieser Barrière hin, an der es von Pelzseehunden wimmelte, welche die Alëutier für Rechnung der russisch-amerikanischen Gesellschaft jagen. Der Fang dieser sechs bis sieben Fuß langen, fast rosenrothen und zwei-, drei- bis fünfhundert Pfund wiegenden Amphibien ist für sie ein sehr gutes Geschäft. Dieselben lagen hier in endloser Reihe wie in Schlachtordnung und in Abertausenden von Exemplaren.

Wenn sie sich durch das Vorüberkommen des »Albatros« nicht in ihrer phlegmatischen Ruhe stören ließen, so war das nicht der Fall mit den Tauchervögeln, Polarenten und Eistauchern, deren heiseres Geschrei die Luft erfüllte und welche unter dem Wasser verschwanden, als ob ein entsetzliches Luftungeheuer sie bedrohte.

Die zweitausend Kilometer des Bering-Meeres von den ersten Alëuten bis zur äußersten Spitze von Kamtschatka wurden während der vierundzwanzig Stunden dieses Tages und der folgenden Nacht zurückgelegt. Um ihren Fluchtplan in’s Werk zu setzen, befanden sich Onkel Prudent und Phil Evans nicht gerade in günstigen Verhältnissen, denn weder an dem öden Strande des nördlichsten Asiens, noch über dem Ochotskischen Meere hätten sie mit auch nur einiger Aussicht auf glücklichen Erfolg entweichen können.

Allem Anscheine nach wandte sich der »Albatros« nach der Gegend von Japan oder China zu. Wenn es auch nicht sehr weise sein mochte, sich auf die Unterstützung von Chinesen oder Japanesen zu verlassen, waren die beiden Collegen doch fest entschlossen, zu fliehen, wenn der Aeronef an irgend einem Punkte dieser Länder anhalten sollte.

Doch würde er denn Halt machen? Es lag ja bei ihm nicht so, wie bei einem Vogel, der durch langen Flug endlich ermüdet, oder wie bei einem Ballon, der wegen Gasmangel genöthigt wird, einmal niederzugehen. Der Aeronef besaß noch für mehrere Wochen aushaltende Vorräte aller Art, und seine Organe von wunderbarer Solidität straften jede Erwartung auf Schwäche oder Trägheit Lügen.

Nach scharfer Fahrt über die Halbinsel Kamtschatka, von der man kaum die Niederlassung von Petropaulowsk und den Vulcan von Klutschew sah, und nach der weiteren, über das Ochotskische Meer, nahezu in der Höhe der Kurilen, welche darin einen von Hunderten von Canälen unterbrochenen Damm bilden, erreichte der »Albatros« am 19. Juni die La Pérouse-Straße zwischen der Nordspitze von Japan und der Insel Sachalien an dem kleinen Einschnitt, in welchen sich der große sibirische Strom, der Amur, ergießt.

Nachher erhob sich ein dichter Nebel, den der Aeronef unter sich lassen wollte, wenn er auch nicht gezwungen war, denselben zu meiden, um weiter zu fahren, denn in der von ihm jetzt eingenommenen Höhe hatte er kein Hinderniß zu fürchten, weder höhere Bauwerke, an welche er hätte anstoßen können, noch Berge, an welchen er sich im Fluge zu zertrümmern Gefahr gelaufen wäre. Das Land war kaum wellenförmiger Natur. Die Dünste machten sich aber doch zu unangenehm fühlbar, da sie Alles an Bord durchnäßten.

Es bedurfte ja nichts weiter, als sich über diese Nebelschicht, welche drei- bis vierhundert Meter stark sein mochte, zu erheben. Die Schrauben wurden also in schnelle Umdrehung versetzt, und oberhalb des Nebels fand der »Albatros« wieder den reinen, vom Sonnenlicht gebadeten Himmel.

Unter diesen Verhältnissen hätten Onkel Prudent und Phil Evans Mühe gehabt, ihren Fluchtversuch auszuführen, selbst wenn sie den Aeronef hätten verlassen können.

An diesem Tage blieb Robur, als er einmal an ihnen vorüberkam, wie zufällig stehen und sagte, ohne äußerlich seinen Worten besondere Bedeutung beizulegen:

»Meine Herren, ein Segel- oder Dampfschiff, das in einen Nebel gerieth, dem es nicht entrinnen kann, ist immer sehr genirt, es fährt nur unter fortwährendem Pfeifen oder unter den Tönen des Nebelhorns weiter. Es muß seine Fortbewegung verlangsamen und hat trotz aller Vorsicht jeden Augenblick eine Collision zu befürchten. Der »Albatros« kennt solche Sorgen nicht. Was kümmern ihn die Nebel, da er sich ihnen entziehen kann? Ihm gehört das Luftmeer, die ganze weite Atmosphäre!«

Nach diesen Worten ging Robur ruhig weiter, ohne eine Antwort abzuwarten, die er auch gar nicht verlangte, und die blauen Wölkchen seiner Pfeife zerflossen im Azur.

»Onkel Prudent, begann da Phil Evans, es scheint, als ob dieser merkwürdige »Albatros« ganz und gar nichts zu fürchten habe.

– Das werden wir noch sehen!« antwortete der Vorsitzende des Weldon-Instituts.

Der Nebel hielt drei Tage lang, den 19., 20. und 21. Juni, mit beklagenswerther Zähigkeit an. Man hatte hoch steigen müssen, um die japanesischen Gebirge von Fuji-Yama zu vermeiden. Als dieser Nebelvorhang aber zerrissen war, gewahrte man eine ungeheure Stadt mit Palästen, Villen, Thürmchen, Gärten und Parks. Selbst ohne dieselben zu sehen, hätte Robur sie schon erkannt an dem Gebell der Tausende von Hunden, an dem Schreien der Raubvögel und vor Allem an dem Leichengeruch, den die Körper von Hingerichteten in weitem Umkreise verbreiteten.

Die beiden Collegen befanden sich auf dem Deck, als der Ingenieur eben das Besteck machte, für den Fall, daß er seine Fahrt wieder im Nebel fortzusetzen gezwungen wäre.

»Meine Herren, begann er, ich habe keinen Grund, Ihnen zu verheimlichen, daß diese Stadt Yeddo, die Hauptstadt von Japan ist.«

Onkel Prudent antwortete nicht. In Gegenwart des Ingenieurs keuchte er nur, als wenn es seinen Lungen an Luft fehlte.

»Dieser Anblick Yeddos ist wirklich recht merkwürdig.

– So merkwürdig er auch sein mag … versetzte Phil Evans.

– So bleibt er doch hinter dem von Peking zurück, unterbrach ihn der Ingenieur. Das ist meine Meinung auch, – und Sie werden binnen Kurzem selbst darüber urtheilen können.«

Unmöglich hätte der Mann liebenswürdiger sein können.

Der »Albatros«, der bisher auf Südost zuhielt, veränderte jetzt seine Richtung um vier Compaßstriche, um im Osten eine neue Route aufzusuchen.

Während der Nacht zerstreute sich der Nebel, dagegen erschienen Anzeichen eines nicht weit entfernten Taifuns, denn der Barometer fiel sehr rasch, alle Dunstmassen verschwanden, am fast kupferfarbenen Grunde des Himmels ballten sich große elliptische Wolken zusammen und am entgegensetzten Horizont glühten lange, carminrothe Streifen, die sich vom schieferblauen Hintergrunde abhoben, im Norden aber war ein Theil des Himmels völlig klar. Das Meer lag zwar still; sein Wasser nahm jedoch mit Sonnenuntergang eine dunkle Scharlachfarbe an.

Zum Glück entfesselte sich dieser Taifun mehr im Süden und hatte hier keine weiteren Folgen, als daß er die seit drei Tagen angehäuften Nebelmassen zertheilte.

Binnen einer Stunde hatte man die zweihundert Kilometer der Meerenge von Korea und nachher die vorspringendste Spitze dieser Halbinsel überschritten; während der Taifun an den Südostküsten von China wüthete, wiegte sich der »Albatros« über dem Gelben Meere, und während des 22. und 23. über dem Golf von Petscheli; am 24. glitt er das Thal des Pei-Ho hinauf und gelangte endlich über die Hauptstadt des Himmlischen Reiches.

Ueber die Reling hinausgebeugt, konnten die beiden Collegen – wie es der Ingenieur vorausgesagt – sehr deutlich die ungeheure Stadt sehen, die Mauer, welche sie in zwei ungleiche Hälften, die Mandschu- und die Chinesenstadt, theilt, ebenso wie die zwölf sie umgebenden Vorstädte, die breiten, nach dem Mittelpunkte zu verlaufenden Alleestraßen, die Tempel, deren gelbe oder grüne Dächer in der aufgehenden Sonne erglänzten, die Parks, welche sich um die Paläste der Mandarinen ausdehnen; ferner, inmitten der Mandschustadt, die sechshundertachtundsechzig Hektar große Gelbe Stadt mit ihren Pagoden, ihren kaiserlichen Gärten, künstlichen Seen, dem die ganze Stadt überragenden Kohlenberge, und endlich unterschieden sie in der Mitte der Gelben Stadt, gleich einer jener wunderbaren chinesischen in einander geschachtelten Arbeiten, die Rothe Stadt, d. i. den eigentlichen Kaiserpalast, mit allen Phantasien seiner fast unglaublichen Architektur.

Eben jetzt ertönte die Luft unter dem »Albatros« von einer seltsamen Harmonie; man hätte ein Concert von Aeolsharfen zu hören vermeint. In der Luft schwankten nämlich gegen hundert verschieden geformte Drachen aus Palmen- oder Pandanuspapier umher, deren oberen Theil eine Art leichten hölzernen Bogens bildete, welcher durch ein ganz dünnes Bambusstäbchen gespannt erhalten wurde. Unter dem schwachen Windhauche erzeugten alle diese saitenartigen, verschiedene, denen einer Harmonika ähnliche Töne gebenden Stäbchen ein leises Gesumme von höchst melancholischer Wirkung. Es machte den Eindruck, als ob man hier in der Höhe – musikalischen Sauerstoff einathme.

Da fiel es Robur ein, sich diesem Luftorchester zu nähern, und langsam tauchte der »Albatros« in die tönenden Wellen herab, welche die Drachen nach der Atmosphäre entsandten.

Plötzlich entstand in der fast zahllosen Bevölkerung tief unten eine außerordentliche Aufregung. Tamtamschläge und andere entsetzliche Instrumente des chinesischen Orchesters erschallten, Flintenschüsse krachten und hundertfach hämmerten die Leute auf großen Mörsern herum, Alles in der Absicht, den Aeronef zu verjagen. Wenn die Sternkundigen des chinesischen Reiches an diesem Tage vielleicht erkannten, daß diese Flugmaschine die veranlassende Ursache zu so vielen Streitigkeiten der ganzen gelehrten Welt gewesen sein möchte, so hielten die Millionen Chinesen vom niedrigsten Manne bis zum vielknöpfigen Mandarin sie jedenfalls für ein apokalyptisches Ungeheuer, das am Himmel Buddhas erschien.

In dem unnahbaren »Albatros« kümmerte sich natürlich Niemand um jene lärmenden Kundgebungen. Die Bindfäden aber, welche die Drachen an kleinen in den kaiserlichen Gärten eingerahmten Pfählen festhielten, wurden entweder zerschnitten oder schnell eingezogen. Die leichten »Spielzeuge«, wie wir sagen würden, kamen dadurch, einen nur noch lauteren Ton gebend, entweder rasch zur Erde, oder sie fielen herab, gleich flügellahm geschossenen Vögeln, deren Gesang mit dem letzten Athemzuge verstummt.

Da dröhnte eine gewaltige Fanfare aus der Trompete Tom Turner’s über der Hauptstadt und übertäubte die letzten Klänge jenes Lufttonwerks, doch das machte dem Gewehrfeuer unten kein Ende. Als aber eine Sprengkugel nur einige zwanzig Fuß vom Verdeck des »Albatros« platzte, stieg dieser nach den unerreichbaren Zonen des Himmels empor.

Im Laufe der nächstfolgenden Tage ereignete sich kein Zwischenfall, den sich die Gefangenen hätten zu nutze machen können. Die Richtung des Aeronefs blieb unabänderlich eine südwestliche, was darauf hindeutete, daß er sich Hindostan nähern sollte. Uebrigens bemerkte man, daß der fortwährend höher aufsteigende Erdboden den »Albatros« nöthigte, sich nach den Linien seines Profils zu richten. Etwa zehn Stunden nach der Weiterfahrt von Peking konnten Onkel Prudent und Phil Evans an der Grenze von Chen-Si einen Theil der Großen Mauer erkennen. Dann kamen sie, unter Umgehung der Bung-Berge, über und durch das Thal von Wany-Ho und überschritten die Grenze des chinesischen Kaiserreichs, da, wo diese mit Tibet zusammenstößt.

Tibet bildet eine vegetationslose Hochebene, da und dort mit schneebedeckten Gipfeln, trockenen Schluchten oder von Gletschern genährten Bergströmen, mit Abgründen, aus welchen mächtige Salzlager heraufschimmern, und mit vielen, von grünenden Forsten eingerahmten Seebecken.

Das auf 450 Millimeter gesunkene Wetterglas zeigte jetzt eine Höhe von viertausend Metern über dem Meere an. In dieser Höhe überschritt die Temperatur, obgleich man sich jetzt in den wärmsten Monaten der nördlichen Halbkugel befand, nicht den Gefrierpunkt. Diese starke Abkühlung im Verein mit der Schnelligkeit des »Albatros« machte die Situation fast unerträglich, und obwohl die beiden Collegen warme Reisedecken zur Verfügung hatten, zogen sie es doch vor, in ihre Ruffs zurückzukehren.

Selbstverständlich mußte den Auftriebsschrauben eine außerordentliche Schnelligkeit ertheilt werden, um den Aeronef in der hier schon recht verdünnten Luft zu erhalten. Diese arbeiteten jedoch in vorzüglichstem Zusammenwirken, und es schien, als ob die Insassen des Apparats durch das Schwirren ihrer Flügel gewiegt würden.

An diesem Tage sah Garlok, eine Stadt des nördlichen Tibet und der Hauptort der Provinz Gavi-Khorsum, den »Albatros« etwa in der Größe einer Brieftaube vorüberschweben.

Am 27. Juni bemerkten Onkel Prudent und Phil Evans einen gewaltigen Damm mit verschiedenen, in ewigem Schnee verlorenen Spitzen, der den Horizont begrenzte.

An das Ruff auf dem Vordertheil gelehnt, um dem Luftdruck bei der so schnellen Fortbewegung widerstehen zu können, sahen Beide die colossalen Bergmassen, welche dem Aeronef vorauszulaufen schienen.

»Jedenfalls der Himalaya, sagte Phil Evans, wahrscheinlich wird Robur nur den unteren Theil desselben umkreisen, ohne nach Indien einzudringen.

– Desto schlimmer, antwortete Onkel Prudent, auf diesem ungeheuren Gebiete hätten wir vielleicht Gelegenheit –

– Wenigstens, wenn er um die Bergkette nicht über Birma im Osten oder über Nepal im Westen fährt.

– Ich möchte darauf wetten, daß er über dieselben gehen wird.

– Jedenfalls!« ließ sich da eine Stimme vernehmen.

Am folgenden Tage, am 28. Juni, befand sich der »Albatros« über der Provinz Zyang gegenüber jenen gewaltigen Bergmassen. An der anderen Seite des Himalaya lag das Gebiet von Nepal.

Wenn man von Norden kommt, schneiden nacheinander drei Gebirgsketten den Weg nach Indien. Die beiden nördlichen, zwischen denen der »Albatros« wie ein Schiff zwischen ungeheuren Klippen dahinglitt, sind die ersten Stufen des Grenzwalles im Süden von Central-Asien. Der Kuen-Lün, und nach diesem der Karakorum bezeichnen zuerst dieses längliche und mit dem Himalaya parallel verlaufende Thal, ungefähr in jener Höhenlage, in welcher sich die Stromgebiete des Indus im Westen und des Brahmaputra im Osten abgabeln.

Welch‘ wunderbares orographisches System! Hier ragen über zweihundert schon gemessene Gipfel auf, von denen siebzehn fünfundzwanzigtausend Fuß übersteigen! Vor dem »Albatros« erhob sich der Mount Everest auf achttausendachthundertvierzig Meter Höhe; ihm zur Rechten der Dawalaghiri, achttausendzweihundert Meter hoch; zur Linken der Kinahanjunga, achttausendfünfhundertzweiundneunzig Meter, der also seit den letzten genaueren Messungen des Mount Everest nur noch die zweite Stelle einnimmt.

Offenbar hatte Robur nicht die Absicht, über jene Gipfel hinwegzugehen, sondern er kannte zweifelsohne schon die verschiedenen Pässe des Himalaya, unter Anderen den Ibi-Yamin-Paß, den die Gebrüder Schlagintweit 1856 in einer Höhe von sechstausendachthundert Metern überschritten haben; wenigstens hielt er entschlossen auf diesen zu.

Jetzt kamen einige ängstliche, selbst sehr beschwerliche Stunden, und wenn die Verdünnung der Luft auch nicht einen solchen Grad erreichte, daß man zu eigens dafür construirten Apparaten hätte greifen müssen, den Sauerstoff in den Cabinen zu erneuern, so wurde die Kälte doch höchst beschwerlich.

Auf dem Vordertheile stehend und die kräftige Gestalt in einen Mantel gehüllt, leitete Robur alle Manöver. Tom Turner hielt die Barre des Steuerruders fest in der Hand. Der Maschinist überwachte aufmerksam seine Batterien, von deren Säuren glücklicher Weise ein Einfrieren nicht zu fürchten war. Die zur allergrößten Umdrehungsgeschwindigkeit angetriebenen Schrauben gaben einen immer schärfer werdenden Ton, der trotz der höchst dünnen Luft laut vernehmbar blieb. Der Barometer fiel auf zweihundertneunzig Millimeter, was eine Höhe von siebentausend Metern anzeigte.

Wie prachtvoll lag dieses Chaos von Bergriesen hier vor dem erstaunten Blicke ausgebreitet! Ueberall weißglänzende Gipfel, keine Seen, aber gewaltige schimmernde Gletscher, die bis auf zehntausend Fuß Höhe hinabreichen. Kein Gras, außer einigen dürftigen Kryptogamen an der Grenze des vegetabilischen Lebens, nichts von jenen wunderschönen Fichten und Cedern, die sich an den unteren Abhängen der Kette in herrlichen Wäldern vorfinden; nichts von gigantischen Farren und endlosen Schmarotzerpflanzen, die sich, wie im Unterholz der Dschungeln, von Baum zu Baum hinziehen. Kein Thier, weder wilde Pferde, noch Yaks oder tibetanische Rinder; dann und wann nur eine Gazelle, die sich bis nach diesen Oeden hinein verirrt hatte; keine Vögel, außer einzelnen jener Pärchen Raben, welche sich bis zu den letzten Schichten der athembaren Luft erheben.

Nachdem er diesen Paß durchschritten, begann der »Albatros« wieder hinabzusteigen. Als sie dessen Ausgang passirten, hatten die Reisenden, jenseits der Region der Bergwaldung, eine grenzenlose Landschaft vor sich, die sich in weitem Umkreise vor ihnen ausdehnte.

Jetzt trat Robur an seine Gäste heran und sagte mit liebenswürdigem Tone:

»Da haben Sie Indien, meine Herren!«