Zehntes Capitel

Baikal und Angara

Der Baikalsee liegt 1700 Fuß über dem Meere. Seine Länge beträgt gegen 900 Werst und etwa 100 seine Breite. Seine Tiefe ist nicht bekannt. Frau von Bourboulon berichtet, nach den Sagen der Schiffer, daß derselbe »Frau Meer« genannt sein will und in Wuth geräth, wenn man ihn »Herr See« titulirt. Nach der Legende ist indessen noch niemals ein Russe in demselben ertrunken.

Dieses gewaltige, von mehr als 200 Zuflüssen ernährte Süßwasserbecken wird von einem prächtigen Nahmen vulkanischer Berge umschlossen. Es hat keinen anderen Abfluß als die Angara, welche bei Irkutsk vorüber strömt und sich etwas oberhalb der Stadt in den Jeniseï ergießt. Die Berge, welche den See einrahmen, bilden einen Arm der Tunzugen, einer Unterabtheilung des orographischen Systems des Altaïgebirges.

In der jetzigen Jahreszeit machte sich die Kälte schon bemerkbar. Der Herbst schien wirklich, wie es in diesem, ganz eigentümlichen klimatischen Bedingungen unterworfenen Landstriche dann und wann vorzukommen pflegt, in einem vorzeitigen Winter zu verschwinden. Man schrieb jetzt die ersten Tage des Octobers. Die Sonne verschwand schon um fünf Uhr vom Himmel, und die Temperatur sank während der langen Nacht wohl bis auf den Gefrierpunkt herab. Schon deckte der erste Schnee, der nun bis Anfang des nächsten Sommers dauern sollte, die benachbarten Gipfel des Baïkal. Während des sibirischen Winters wird dieses leicht mehrere Fuß tief mit Eis bedeckte Binnenmeer von Schlitten und Karawanen vielfach belebt.

Geschehe es nun wegen des Verstoßes gegen die gute Lebensart, wenn man ihn »Herr See« nennt, oder aus irgend einem anderen meteorologischen Grunde, jedenfalls ist der Baikal oft von heftigen Stürmen bewegt. Seine, gleich denen aller Binnenmeere, nur kurzen Wellen werden von den Flößen, den Prahmen und Dampfern, die ihn im Sommer durchpflügen, nicht wenig gefürchtet.

An der Südwestspitze des Sees langte Michael Strogoff an, auf den Armen Nadia, deren ganze Lebensenergie sich in ihren Augen concentrirte. Was konnten die Beiden in diesem wilden Theile der Provinz anders erwarten, als hier erschöpft und hilflos zu sterben? Und doch, wie wenig war noch übrig von der 6000 Werst langen Strecke, die der Courier des Czaaren zurücklegen mußte, um sein Ziel zu erreichen? Nur noch sechzig Werst längs der Südküste bis zum Abfluß der Angara, und achtzig Werst von diesem Punkte aus bis nach Irkutsk, zusammen einhundertvierzig Werst, d. h. eine Reise von drei Tagen für einen kräftigen, gesunden Mann, wenn er sie auch zu Fuße zurücklegen sollte.

Konnte aber Michael Strogoff noch für einen solchen Mann gelten?

Der Himmel schien ihm diese letzte Prüfung ersparen zu wollen. Das Unglück, sein hartnäckiger Begleiter, verschonte ihn einmal. Dieses Ende des Baikal, dieser Theil der Steppe, welchen er öde und verlassen glaubte und der es auch sonst immer ist, – heut‘ war er es nicht.

Etwa fünfzig Personen standen an dem Winkel, der die südöstliche Spitze des Sees bildet.

Nadia bemerkte diese Gruppe erst, als Michael Strogoff sie tragend die letzten Abhänge eines Berges herunterstieg.

Einen Augenblick konnte das junge Mädchen wohl fürchten, hier wieder nur eine Abtheilung Tartaren vor sich zu haben, welche entsendet wäre, an den Ufern des Baikal zu streifen, in welchem Falle ihnen Beiden jetzt jedes Entfliehen unmöglich sein mußte.

Aber Nadia ward in dieser Hinsicht sehr bald beruhigt.

»Das sind Russen!« rief sie erfreut. Nach dieser letzten Anstrengung aber fielen ihre Augenlider zu und ihr Haupt sank an die Brust Michael Strogoff’s nieder.

Doch auch sie waren bemerkt worden, und einige jener Leute, welche auf sie zukamen, führten den Blinden und das junge Mädchen nach einer Stelle des Ufers, an der ein Floß befestigt lag.

Das Floß schien zur Abfahrt bereit.

Diese Russen, Leute aus allen Ständen, waren Flüchtlinge, welche die nämliche Absicht hier an der Küste des Baikal vereinigt hatte. Von den tartarischen Plänklern vertrieben, suchten sie nach Irkutsk zu entkommen, und da das zu Lande ziemlich unmöglich war, seitdem die Feinde sich auf beiden Ufern der Angara festgesetzt hatten, so hofften sie ihr Ziel dadurch zu erreichen, daß sie den Weg auf dem Flusse benutzten, der die Stadt durchströmt.

Wie hüpfte Michael Strogoff’s Herz vor Freude, als er diese Absicht vernahm! Noch einmal heiterten sich die Aussichten für ihn auf. Er hatte aber Selbstbeherrschung genug, diese Empfindung zu verbergen, da er für angezeigt hielt, sein Incognito mehr als je zu bewahren.

Der Plan der Flüchtlinge war sehr einfach. Nahe dem nördlichen Ufer des Sees zeigte sich eine Strömung bis zum Abfluß der Angara hin, und diese wollten sie zunächst benutzen, um nach jenem Ausgußthore des Baikal zu gelangen. Von hier aus trugen sie die Wellen des Flusses bis Irkutsk mit einer Schnelligkeit von zehn bis zwölf Werst die Stunde dahin. Binnen anderthalb Tagen konnten sie in Sicht der Stadt sein.

Am Seeufer fehlte es natürlich an jedem Schiff oder Boot. Man mußte diese zu ersetzen suchen und zimmerte ein Floß, wie man deren häufig auf den sibirischen Strömen begegnet. Das nöthige Holz lieferte ein Tannenwald in der Nähe. Die mittels Weidenzweigen so gut als möglich verbundenen Stämme bildeten eine Plattform, auf der hundert Menschen bequem Platz gefunden hätten.

Ans dieses Floß führte man auch Michael Strogoff und Nadia. Das junge Mädchen war wieder zu sich gekommen. Man reichte ihr sowie ihrem Begleiter etwas Nahrung. Dann ward ihr ein Lager aus Laubwerk zurecht gemacht, auf dem sie bald in tiefen Schlaf verfiel.

Denen, welche ihn ausfragten, sagte Michael Strogoff nichts von den ihm bekannten Ereignissen bei Tomsk. Er gab sich für einen Bewohner von Krasnojarsk aus, dem es nicht gelungen sei, vor dem Eintreffen der Truppen des Emirs auf dem linken Dinka-Ufer zu entkommen, und er fügte nur hinzu, daß die Hauptmacht des Tartarenheeres wahrscheinlich schon vor der Hauptstadt Sibiriens Stellung genommen haben werde.

Es galt also keinen Augenblick zu verlieren. Uebrigens nahm die Kälte empfindlich zu. In der Nacht sank das Thermometer bis unter Null. Auf der Oberfläche des Baikal bildeten sich schon schwache Eisschollen. Fand das Floß auch auf dem See keine besonderen Schwierigkeiten, so drohte sich das doch zwischen den Ufern der Angara mißlicher zu gestalten, wenn sich die Schollen dort in dem engeren Fahrwasser anhäuften.

Alle Umstände drängten also darauf hin, daß die Flüchtlinge baldmöglichst abreisten.

Um acht Uhr Abends löste man die Seile und von der Strömung geführt folgte das Floß dem Ufer des Sees. Einige lange, von mehreren Mujiks regierte Stangen reichten hin, dasselbe in bestimmter Richtung zu halten.

Ein alter Schiffer vom Baikal hatte das Commando übernommen. Es war ein Mann von sechzig Jahren, mit Wetter gebräuntem Gesicht. Ein dichter weißer Bart fiel auf seine Brust herab. Eine Pelzmütze trug er auf dem Kopfe und zeigte im Ganzen ein ernstes und strenges Aussehen. Der lange, durch einen Gürtel zusammengehaltene Ueberrock reichte ihm bis zu den Füßen. Schweigend saß er auf dem Hintertheile und ertheilte seine Weisungen durch Gesten, ohne binnen zehn Stunden zehn Worte zu sprechen. Uebrigens reducirten sich die ganzen Schiffsmanoeuvres darauf, das Floß in der Strömung zu erhalten, welche dem Ufer folgte, und es an einer Abweichung nach der offenen See zu hindern.

Wir erwähnten schon, daß Russen der verschiedensten Art auf dem Flosse Platz gefunden hatten. Neben Landleuten aus der Umgegend, einer Anzahl Männer, Frauen und Kinder, fanden sich zwei oder drei von dem feindlichen Einfalle auf der Reise überraschte Pilger, einige Mönche und ein Pope. Die Pilger trugen den Reisestab, die Kürbisflasche im Gürtel und sangen mit klagender Stimme Psalmen. Der Eine kam aus der Ukraine, der Andere vom Todten Meere, ein Dritter aus den finnischen Provinzen. Der letztere, ein schon bejahrter Mann, trug am Gürtel eine kleine Sammelbüchse mit Vorlegeschloß, wie man sie an den Eingängen der Kirchen trifft. Alles, was er auf seiner langen und anstrengenden Reise einsammelte, gehörte nicht ihm, und er besaß nicht einmal den Schlüssel zu der Büchse, welche erst bei seiner Rückkehr geöffnet werden sollte.

Die Mönche kamen aus dem hohen Norden. Vor drei Monaten schon hatten sie die Stadt Archangel verlassen, von der manche Reisende berichten, daß sie einen auffallend orientalischen Typus habe. Sie hatten die heiligen Inseln nahe der Küste Kareliens besucht, den Convent von Solowetsk, den von Troïtsa, die des heiligen Antonius und des heiligen Theodosius in Kiew, der Lieblingsstadt der Jagellonen, das Kloster des Simeonof in Moskau, das von Kasan, sowie die dortige Kirche der Altgläubigen, und begaben sich nun, bekleidet mit einer Kutte mit Capuchon aus Sarsche, endlich nach Irkutsk.

Der Pope war ein einfacher Dorfpriester, einer der 600 000 Pastoren, welche das russische Reich zählt. Seine Kleidung sah erbärmlicher aus, als die der Mujiks, deren gesellschaftliche Stellung die seinige auch wirklich nicht überragte, da er in der Kirche weder Rang noch Macht besitzt, und sein Stück Land ebenso gut bebaut, wie er tauft, Ehen schließt und Beerdigungen leitet. Sein Weib und seine Kinder hatte er den Gewaltthaten der Tartaren dadurch zu entziehen gewußt, daß er sie nach den nördlichen Provinzen schaffte, während er in seiner Parochie bis zum letzten Augenblick aushielt. Dann hatte er jedenfalls fliehen müssen, und da die Straße nach Irkutsk versperrt war, den Baikalsee zu erreichen gesucht.

Diese verschiedenen kirchlichen Personen saßen auf dem Vordertheil des Flosses zusammen, beteten in regelmäßigen Zwischenräumen, erhoben ihre Stimmen mitten in der schweigenden Nacht, und am Ende jedes Verses ihres Gebets hörte man ihre Lippen ein »Slava Bogu«, das ist Ehre sei Gott, flüstern.

Kein Zwischenfall unterbrach diese Wasserfahrt. Nadia lag noch immer in tiefer Erschöpfung. Michael Strogoff wachte neben ihr. Der Schlaf kam nur sehr selten in seine Augen und seine Gedanken wachten dabei immer.

Bei Tagesanbruch befand sich das Boot in Folge eines steifen Gegenwindes, der die Wirkung der Strömung hemmte, noch vierzig Werst von dem Ausflusse der Angara. Voraussichtlich konnte es dieselbe vor drei oder vier Uhr Nachmittag nicht erreichen. Den Flüchtlingen kam das insofern zu statten, als sie den Fluß hinunter während der Nacht fuhren, deren Dunkel ihre Reise nach Irkutsk begünstigen mußte.

Die einzige Besorgniß des alten Schiffers betraf nur die Bildung von Eisschollen auf dem Wasser, da die Nacht ganz besonders kalt zu werden schien. Getrieben vom Winde, sah man zahlreiche Schollen schon jetzt nach Westen ziehen. Diese waren nicht zu fürchten, da sie in die Angara, deren Mündung sie schon passirt hatten, nicht gelangen konnten. Wohl aber wurden vielleicht diejenigen, welche aus dem Osten des Sees kamen, von der Strömung angezogen und preßten sich zwischen die Flußufer. Das brachte dann wohl Schwierigkeiten, Verzögerungen oder gar unübersteigliche Hindernisse hervor, die das Floß aufzuhalten drohten.

Michael Strogoff war es also vom höchsten Interesse, den Zustand des Sees zu kennen, für den Fall, daß Eisschollen in größerer Anzahl auftreten sollten. Er fragte Nadia nach deren Erwachen wiederholt, und ließ sich von ihr Alles mittheilen, was auf der Wasserfläche vorging.

Während dieses Dahintreibens der Eisschollen beobachtete man auf dem Baikalsee noch mancherlei eigenthümliche Erscheinungen, unter andern das Aufbrodeln siedender Quellen, welche aus mehreren im Bette des Sees gelegenen artesischen Brunnen aufsprangen. Diese Wassersäulen erhoben sich zu beträchtlicher Höhe und zertheilten sich in Dampfwolken, welche einen Augenblick lang in den Strahlen der Sonne irisirten und dann sofort von der Kälte verdichtet wurden. Gewiß hätte dieses Schauspiel das Auge jedes Touristen ergötzt, der in friedlichen Zeiten das sibirische Binnenmeer zum Vergnügen bereiste.

Gegen vier Uhr Nachmittags signalisirte der alte Seemann den Abfluß der Angara zwischen den hohen Granitfelsen des Ufers. An der Küste zur Rechten erkannte man den kleinen Hafen Livenitchnaia, dessen Kirche und die wenigen am steilen Strande erbauten Häuser.

Leider wälzten sich schon die ersten von Osten gekommenen Eisschollen zwischen die Ufer der Angara und schwammen also nach Irkutsk hinab. Doch erschien ihre Anzahl noch nicht hinreichend, um den Fluß zu verstopfen, sowie die Kälte nicht intensiv genug, um sie wesentlich zu vermehren.

Das Floß erreichte den kleinen Hafen und hielt dort an. Der alte Seemann wollte hier eine Stunde verweilen, um einige unabweisliche Reparaturen vorzunehmen. Die Stämme drohten aus einander zu weichen und mußten nothwendig fester verbunden werden, um der sehr schnellen Strömung der Angara sicherer zu widerstehen.

Während der schönen Jahreszeit dient der Hafen von Livenitchnaia als Ein- und Ausschiffungspunkt der Reisenden auf dem Baikalsee, die sich von hier entweder nach Kiachta begeben, nach der letzten Stadt an der russisch-chinesischen Grenze, oder von dort aus kommen. Er ist dann sowohl durch Dampfboote, als auch durch Küstenfahrer aller Art sehr belebt.

Heut war auch Livenitchnaia verlassen. Seine Bewohner entflohen vor den Verwüstungen der Tartaren, welche beide Ufer der Angara unsicher machten. Die Flotille von Schiffen und Booten, welche sonst in ihrem Hafen überwinterte, halten sie nach Irkutsk verlegt und sich noch rechtzeitig, reichlich mit allem Notwendigen versorgt, nach der Hauptstadt Ostsibiriens zurückgezogen.

Der alte Seemann erwartete also gewiß nicht, hier noch weitere Flüchtlinge aufnehmen zu sollen, und doch kamen, als das Floß nur anlegte, zwei Passagiere mit aller Hast aus einem verödeten Hause herabgelaufen.

Nadia sah von ihrem Platze auf dem Hintertheile nur mit halbem Auge dahin.

Da entfuhr ihr ein leiser Schrei. Sie ergriff die Hand Michael Strogoff’s, der verwundert den Kopf emporrichtete.

»Was hast Du, Nadia? fragte er.

– Unsere beiden Reisegefährten, Michael.

– Jener Franzose und jener Engländer, denen wir in dem Engpasse des Ural begegneten?

– Dieselben.«

Michael Strogoff erzitterte, denn jetzt lief das strenge Incognito, aus dem er nicht heraustreten wollte, Gefahr, enthüllt zu werden.

Jetzt konnten ihn Alcide Jolivet und Harry Blount ja nicht mehr für den Kaufmann Nicolaus Korpanoff erkennen, sondern als den wahren Michael Strogoff, den Courier des Czaaren. Schon zweimal seit ihrer Trennung auf dem Relais zu Ichim sahen ihn ja die beiden Journalisten wieder, das eine Mal auf dem Felde bei Zabediero, als er Iwan Ogareff mit der Knute über das Gesicht schlug, das andere Mal in Tomsk, als er vom Emir verurtheilt wurde. Sie wußten also, wer er war und in welcher Eigenschaft er reiste.

Michael Strogoff kam bald zu einem nothwendigen Entschlüsse.

»Nadia, begann er, sobald der Franzose und der Engländer sich eingeschifft haben, so bitte sie, zu mir zu kommen.«

Jene waren wirklich Harry Blount und Alcide Jolivet, welche nicht der Zufall, sondern die Gewalt der Umstände, ebenso wie Michael Strogoff, nach dem Hafen von Livenitchnaia geführt hatte.

Man erinnert sich, daß sie bei dem Einzüge der Tartaren in Tomsk kurz vor der gräßlichen Gerichtsvollstreckung, welche jenes Fest schloß, abreisten. Sie zweifelten gar nicht daran, daß ihr alter Reisegefährte um’s Leben gebracht worden sei, und wußten also nicht, daß er auf Befehl des Emirs damals nur geblendet wurde.

Noch an demselben Abend verließen sie damals, nachdem sie Pferde erhalten, Tomsk, entschlossen, ihre weiteren Berichte über den Feldzug nur aus dem Lager der Russen zu entsenden.

Alcide Jolivet und Harry Blount wandten sich in größter Eile nach Irkutsk. Sie hofften Feofar-Khan zuvor zu kommen und hätten das auch unzweifelhaft durchgesetzt, wenn sie nicht die dritte Abtheilung des Tartarenheeres, welche durch das Thal des Jeniseï ganz unerwartet aus Süden heraufzog, aufhielt. Ebenso wie Michael Strogoff wurden sie vor Ueberschreitung der Dinka abgeschnitten und mußten in Folge dessen nach dem Baikalsee herabziehen.

Bei ihrer Ankunft in Livenitchnaia fanden sie den Hafen schon verlassen. Von einer anderen Seite erwies es sich ihnen unmöglich, nach Irkutsk hinein zu gelangen, da die Stadt schon von der Tartarenarmee belagert wurde. Sie hielten sich hier bereits drei Tage auf, als das Floß ankam.

Die Absicht der Flüchtlinge ward ihnen sofort mitgetheilt. Ohne Zweifel vermehrte der Umstand, daß es nun Nacht wurde, die Aussicht ans einen glücklichen Erfolg und auf die Möglichkeit, nach Irkutsk hinein zu kommen. Sie beschlossen also, die Sache zu wagen.

Alcide Jolivet setzte sich sofort mit dem alten Seemann in Verbindung, um für sich und seinen Begleiter Erlaubniß mitzufahren zu erlangen, und bot ihm als Bezahlung jeden Preis, den er fordern würde, an.

»Hier bezahlt man nicht, erwiderte ihm ernst der alte Seemann, man wagt nur sein Leben, nichts weiter.« Die beiden Journalisten schifften sich ein und Nadia sah sie auf dem Vordertheile des Schiffes Platz nehmen.

Harry Blount war noch immer der steife, frostige Engländer, der während der ganzen Fahrt durch den Ural kaum ein Wort an sie gerichtet hatte.

Alcide Jolivet erschien etwas ernster als gewöhnlich, was unter den gegebenen Verhältnissen wohl nicht allzu sehr Wunder nehmen durfte.

Kaum hatte Letzterer sich auf dem Vordertheile des Schiffes eingerichtet, als er eine Hand auf seiner Schulter fühlte.

Er drehte sich um und erkannte Nadia, die Schwester jenes früheren Nicolaus Korpanoff, jetzt Michael Strogoff, des Couriers des Czaaren.

Fast hätte er vor Verwunderung einen Schrei ausgestoßen, als er das junge Mädchen einen Finger an ihre Lippen legen sah.

»Kommen Sie mit mir«, bat Nadia.

Mit gleichgültigem Gesicht und einem Zeichen gegen Harry Blount, ihm nachzufolgen, ging Alcide Jolivet mit ihr.

War das Erstaunen der beiden Journalisten aber schon groß genug, Nadia auf dem Flosse zu begegnen, so überschritt es alle Grenzen, als sie auch Michael Strogoff’s ansichtig wurden, den sie längst nicht mehr am Leben glaubten.

Michael Strogoff sprach bei ihrer Annäherung nicht.

Alcide Jolivet wendete sich an das junge Mädchen.

»Er sieht Sie nicht, meine Herren, sagte sie. Die Tartaren haben ihm die Augen verbrannt! Mein armer Bruder ist blind!«

Das lebhafte Gefühl des Mitleids malte sich in Alcide Jolivet’s und seines Gefährten Zügen. Einen Augenblick später saßen Beide neben Michael Strogoff, drückten ihm die Hand und erwarteten, was er ihnen zu sagen habe.

»Meine Herren, begann dieser mit verhaltener Stimme, Sie dürfen nicht wissen, wer ich bin, noch zu welchem Zwecke ich mich nach Sibirien begeben hatte. Ich ersuche Sie, mein Geheimniß zu bewahren. Versprechen Sie mir das?

– Auf Ehre, antwortete Alcide Jolivet.

– Auf Gentlemans Wort, fügte Harry Blount hinzu.

– Ich danke, meine Herren.

– Können wir Ihnen nach irgend welcher Seite nützlich sein? fragte Harry Blount. Wünschen Sie, daß wir Sie bei der Ausführung Ihrer Aufträge unterstützen?

– Ich ziehe es vor, allein zu handeln, erwiderte Michael Strogoff.

– Aber jene Schurken haben Ihre Augen zerstört, sagte Alcide Jolivet.

– Ich habe ja Nadia; ihre Augen sind für mich genug!«

Eine halbe Stunde später trieb das Floß, nachdem es den kleinen Hafen verlassen, in den Fluß hinein. Es war gegen fünf Uhr Abends. Schon brach die Nacht herein. Sie versprach sehr dunkel und kalt zu werden, denn die Temperatur sank schon jetzt bis unter Null.

Wenn Alcide Jolivet und Harry Blount sich verpflichtet hatten, Michael Strogoff’s Geheimniß zu bewahren, so verließen sie ihn doch nicht. Sie plauderten mit leiser Stimme und durch ihre Mittheilungen erlangte der Blinde, mit Zuhilfenahme dessen, was er schon wußte, eine vollständige Vorstellung von dem tatsächlichen Zustande der Dinge.

Es lag außer Zweifel, daß die Tartaren Irkutsk bedrängten und die drei Colonnen ihre Vereinigung vollzogen hatten. Höchst wahrscheinlich standen der Emir und Iwan Ogareff schon jetzt im Angesichte der Stadt.

Warum aber diese Eile, dorthin zu kommen, welche der Courier des Czaaren zeigte, jetzt wo er nicht im Stande war, jenen kaiserlichen Brief dem Großfürsten noch zu übergeben, den Brief, dessen Inhalt ihm nicht einmal bekannt war? Weder Alcide Jolivet noch Harry Blount begriffen das, ebenso wenig als früher Nadia.

Der Vergangenheit wurde zuerst mit keinem Worte gedacht, bis Alcide Jolivet zu Michael Strogoff folgendermaßen begann:

»Wir müssen uns wohl noch entschuldigen, Ihnen bei unserer Trennung auf dem Relais zu Ichim zum Abschiede nicht einmal die Hand geboten zu haben.

– Nein, Sie waren ganz berechtigt, mich für einen Feigling zu halten!

– Jedenfalls haben Sie, fuhr Alcide Jolivet fort, das Gesicht jenes Schurken verdientermaßen mit der Knute bearbeitet, so daß er noch lange die Spuren davon tragen wird.

– Nein, nicht mehr lange!« antwortete einfach Michael Strogoff.

Bald nach der Abfahrt aus Livenitchnaia erfuhren Alcide Jolivet und sein Gefährte alle die harten Prüfungen des Schicksals, welche Michael Strogoff nebst seiner Begleiterin durchgemacht hatte. Ohne Rückhalt bewunderten sie seine Energie, der nur die Ergebenheit des jungen Mädchens einigermaßen die Wage hielt. Ueber Michael Strogoff aber urtheilten sie in demselben Sinne, wie sich schon der Czaar in Moskau äußerte: »In der That, das ist ein Mann!«

Mitten in den dahin treibenden Eisschollen fuhr das Floß ungemein schnell mit der Strömung der Angara hinab. Ein wechselndes Panorama entrollte sich zu beiden Seiten des Flusses, und in Folge einer optischen Täuschung schien es, als ruhe der schwimmende Apparat und jene Folge pittoresker Bilder ziehe unaufhörlich an ihm vorüber. Hier zeigten sich sonderbar gestaltete hohe Granitfelsen, dort wilde Schluchten, aus denen ein schäumender Bergstrom hervorsprang, manchmal öffnete sich ein weites Thal vor ihren Blicken, in dem ein zerstörtes Dorf noch rauchte, oder ein dichter Wald von Tannen, aus dem die Flammen emporwirbelten. Hinterließen auch die Tartaren überall hinreichend erkennbare Spuren, so sah man sie doch selbst noch nicht, da sie sich besonders in den näheren Umgebungen von Irkutsk zusammendrängten.

Indessen unterbrachen die frommen Pilger niemals ihre lauten Gebete, und der alte Seemann hielt das Floß, von dem er die zu nahe heran treibenden Eisschollen mit kräftiger Hand abstieß, immer streng in der Mitte der Strömung der Angara.