Neuntes Capitel

In der Steppe

Noch einmal also waren Michael Strogoff und Nadia frei, so wie während ihrer Reise von Perm bis nach den Ufern des Irtysch. Wie sehr hatte sich aber Alles verändert! Damals gewährleisteten ihnen ein bequemer Tarantaß, eine häufig gewechselte Bespannung und mit allem Nothwendigen ausgestattete Poststationen eine gewisse Schnelligkeit der Fahrt. Jetzt zogen sie zu Fuß dahin, ohne die Möglichkeit, sich ein Beförderungsmittel zu verschaffen, ohne alle Hilfsmittel, ohne zu wissen, auf welche Weise sie nur die dringendsten Lebensbedürfnisse befriedigen würden, – und dabei trennten sie noch 400 Werst von ihrem endlichen Ziele. Hierzu kam noch, daß Michael Strogoff nur durch die Augen Nadia’s sah.

Den Freund, den ihnen ein glücklicher Zufall zuführte, hatten sie unter den traurigsten Umständen wieder verloren.

Michael Strogoff lagerte auf der Böschung der Straße; Nadia stand daneben und wartete auf ein Wort von ihm, um den Weg wieder fortzusetzen.

Es war um zehn Uhr Abends. Vor drei und einer halben Stunde schon verschwand die Sonne unter dem Horizonte. Kein Haus, keine Hütte zeigte sich. In der Ferne verschwanden die letzten Tartaren. Michael Strogoff und Nadia standen ganz, ganz allein.

»Was werden sie mit unserm Freunde anfangen? rief Nadia. Armer Nicolaus! Das Zusammentreffen mit uns mußte Dir so verhängnißvoll werden!«

Michael Strogoff erwiderte nichts.

»Michael, fuhr Nadia fort, weißt Du es nicht, daß er Dich zu schützen suchte, als Du ein Spielball der Tartaren warst, daß er sein Leben für Dich wagte?«

Michael Strogoff schwieg noch immer. Regungslos, den Kopf in die Hand gestützt, hing er seinen Gedanken nach. Hörte er überhaupt, da er keine Antwort gab, was das junge Mädchen zu ihm sprach?

Gewiß, denn als Nadia hinzufügte:

»Wohin soll ich Dich führen, Michael? antwortete er:

– Nach Irkutsk.

– Auf der großen Landstraße?

– Ja, Nadia.«

Michael Strogoff vermochte nichts von dem eidlich bekräftigten Vorhaben, sein Ziel unter allen Umständen zu erreichen, abzubringen. Auf der Landstraße gelangte er auf kürzestem Wege dahin. Wenn sich die Avantgarde von Feofar-Khan’s Heere zeigte, würde es noch Zeit sein, den Hauptweg zu verlassen.

Nadia faßte Michael Strogoff an der Hand und Beide brachen auf.

Am folgenden Morgen, dem 12. September, gönnten sie sich nach einem Marsche von zwanzig Werst in dem Flecken Tulunowskoë eine kurze Rast. Die ganze Nacht hindurch hatte Nadia aufmerksam nachgesehen, ob Nicolaus‘ Leichnam vielleicht an der Straße liegen geblieben sei; doch vergeblich durchsuchte sie die Ruinen und musterte die da und dort angetroffenen Todten. Bis jetzt schien Nicolaus verschont geblieben zu sein. Gewiß sparte man ihn für eine grausame Hinrichtung nach Erreichung des Lagers bei Irkutsk auf.

Erschöpft vom Hunger, der ihren Gefährten ebenso schrecklich quälte, war Nadia so glücklich, in einem Hause des halb abgebrannten Fleckens etwas trockenes Fleisch und mehrere »Sukharis« (d. s. Brode, welche durch Verdunstung ausgetrocknet ihre Nährfähigkeit auf unbegrenzte Zeit bewahren) aufzufinden. Michael Strogoff und Nadia beluden sich mit einem so großen Vorrath hiervon, als sie eben zu tragen vermochten. Ihre Nahrung war also für mehrere Tage gesichert, und Wasser konnte ja in einer Gegend, welche tausend kleine Zuflüsse zur Angara durchrieselten, nicht leicht fehlen.

Sie begaben sich wieder auf den Weg. Michael Strogoff ging sicheren Schrittes weiter und verlangsamte diesen höchstens ein wenig mit Rücksicht auf seine Begleiterin, während diese sich eifrig bemühte, nicht zurück zu bleiben. Glücklicher Weise konnte ihr Gefährte ja nicht sehen, in welch‘ beklagenswerthen Zustand die Anstrengung sie versetzt hatte.

Michael Strogoff schien es jedoch zu fühlen.

»Deine Kräfte gehen zu Ende, armes Kind, sagte er manchmal.

– O nein, antwortete sie.

– Wenn Du nicht mehr gehen kannst, werde ich Dich tragen, Nadia.

– Ja wohl, Michael.«

Im Laufe dieses Tages mußten sie einen kleinen Fluß, die Oka, überschreiten. Dieser bot aber eine passirbare Furth, so daß sie ohne Schwierigkeiten an’s andere Ufer kamen.

Der Himmel war bedeckt, die Temperatur erträglich; freilich drohte die Witterung mit Regen, der die Beschwerden der Fußreise sicher nur vermehrte. Einige Regenschauer stellten sich auch schon ein, gingen aber ziemlich schnell vorüber.

So zogen sie rastlos weiter, treulich Hand in Hand, ohne viele Worte zu wechseln, wobei Nadia stets nach vor- und nach rückwärts sorgsam auslugte. Zweimal des Tages machten sie Halt und ruhten sechs Stunden lang während der Nacht. In einigen Hütten entdeckte Nadia auch noch einiges Schaffleisch, welches hier so gewöhnlich ist, daß ein Pfund desselben nur zwei und eine halbe Kopeke kostet.

Aber ganz wider Michael Strogoff’s noch immer genährte Hoffnung fand sich kein Zug- oder Saumthier in der ganzen Umgegend. Pferde und Kameele waren alle getödtet oder geraubt. Zu Fuß mußten sie die Reise durch die grenzenlose Steppe fortsetzen.

Spuren von jener dritten tartarischen Heeresabtheilung, welche schon auf Irkutsk zu marschirte, fehlten nirgends. Hier lag ein todtes Pferd, dort stand ein verlassener Wagen. Die Körper der unglücklichen Sibirer bezeichneten die Straße und häuften sich in der Nähe der Dörfer. Nadia kämpfte ihren Widerwillen nieder und musterte alle diese Leichen.

Alles in Allem drohte ihnen Gefahr nicht von vorn, sondern vom Rücken her. Die von Iwan Ogareff geführte Avantgarde der Hauptarmee des Emirs konnte jeden Augenblick erscheinen. Jedenfalls lagen die den Jeniseï hinunter gesendeten Barken bei Krasnojarsk längst bereit, um den Uebergang über den Strom zu bewerkstelligen. Dann war der Weg für die Eindringlinge frei. Zwischen Krasnojarsk und dem Baikalsee konnte sich ihnen kein russisches Corps entgegen werfen. Michael Strogoff fürchtete also stündlich das Auftauchen der tartarischen Plänkler.

Bei jedem Ruhepunkte bestieg Nadia auch stets eine höher gelegene Stelle und blickte aufmerksam über die Gegend nach Westen hin, doch bis jetzt verrieth keine Staubwolke die Ankunft eines Reiterschwarmes.

Dann nahmen Beide ihren Weg wieder auf, und wenn Michael Strogoff bemerkte, daß er die arme Nadia zog, so verzögerte er seine Schritte. Sie sprachen nur wenig, und dann nur von Nicolaus. Das junge Mädchen erinnerte an Alles, was ihnen jener Begleiter während weniger Tage gewesen war.

Michael Strogoff suchte dem jungen Mädchen durch seine Antworten immer einige Hoffnung einzustoßen, obwohl er selbst keine mehr hatte, denn er wußte recht gut, daß der Arme dem Tode gewiß nicht entgehen würde.

Eines Tages wandte sich Michael Strogoff an seine Begleiterin:

»Du sprichst mir niemals von meiner Mutter, Nadia?«

Von seiner Mutter! Nadia hatte das ängstlich vermieden. Warum sollte sie seine Schmerzen erneuern? War die alte Sibirerin nicht todt? Drückte der Sohn damals nicht den letzten Kuß auf die stummen Lippen, als ihre Leiche auf dem Plateau bei Tomsk lag?

»Rede von ihr, Nadia, bat Michael Strogoff, rede nur! Du bereitest mir dadurch ein Vergnügen.«

Dann wagte Nadia, was sie bis jetzt unterlassen hatte. Sie erzählte alles, was zwischen Marfa und ihr selbst seit dem zufälligen Zusammentreffen in Omsk geschehen war, als sie sich gegenseitig zum ersten Male sahen. Sie gestand, wie ein unerklärlicher Instinct sie zu der unbekannten, bejahrten Gefangenen hingezogen und wie gern sie für jene gesorgt, aber auch, wie sehr sie selbst dadurch an Muth und Vertrauen gewonnen habe. Zu jener Zeit hielt sie Michael Strogoff ja noch für Nicolaus Korpanoff.

»Der ich immer hatte bleiben sollen«, fiel da der Blinde ein, um dessen Stirn sich düstere Wolken lagerten.

Nach einer Pause fügte er dann hinzu:

»Ich habe meinen Eid gebrochen, Nadia. Ich hatte geschworen, meine Mutter nicht zu sehen.

– Du hast das auch nicht gewollt, Michael, suchte ihn Nadia zu beruhigen, der Zufall nur hat Dich ihr zugeführt.

– Ich hatte geschworen, mich auf keinen Fall zu verrathen!

– Michael, Michael! Konntest Du Dich bezwingen, als die Geißel über Marfa Strogoff geschwungen ward? Nein, nein! – Es giebt keinen Eid, der einen Sohn hindern könnte, seiner Mutter zu Hilfe zu eilen.

– Ich habe meinen Eid verletzt, Nadia, wiederholte Michael Strogoff traurig. Gott und der Vater (d. i. der Czaar) mögen es mir vergeben.

– Michael, sagte das junge Mädchen, ich habe eine Frage an Dich. Antworte mir nicht, wenn Du glaubst, es nicht zu dürfen. Von Dir beleidigt mich nichts.

– Sprich, Nadia!

– Warum eilst Du, nachdem Dir der Brief des Czaaren geraubt wurde, noch immer so dringend nach Irkutsk?«

Michael Strogoff drückte die Hand seiner Führerin wärmer, aber er gab keine weitere Antwort.

»Kanntest Du den Inhalt des Briefes schon vor Deiner Abreise aus Moskau?

– Nein, er war mir unbekannt.

– Soll ich annehmen, Michael, daß nur das Verlangen, mich meinem Vater zuzuführen, Dich jetzt nach Irkutsk treibt?

– Nein, Nadia, ich würde Dich täuschen, wenn ich diesen Glauben in Dir erweckte. Ich gehe nur dahin, wohin meine Pflicht mir befiehlt! Wie kann ich Dich nach Irkutsk führen, bist Du es nicht, Nadia, die im Gegentheil mich jetzt leitet? Sehe ich nicht durch Deine Augen, hält mich nicht Deine Hand auf dem Wege? Hast Du mir nicht hundertfach die kleinen Dienste vergolten, die ich Dir vielleicht vorher leisten konnte? Ich weiß nicht, wann das Unglück müde sein wird, uns zu prüfen, aber ich weiß, daß ich an dem Tage, da Du mir danken willst, Dich in die Hände Deines Vaters geführt zu haben, Dir innig danken werde für Deine treue Leitung auf meinem Wege!

– Armer Michael! sagte Nadia tief bewegt. Sprich nicht solche Worte! Das ist keine Antwort auf meine Frage. Warum, Michael, drängst Du jetzt so, in Irkutsk einzutreffen?

– Weil ich vor Iwan Ogareff dort sein muß! gestand ihr Michael Strogoff.

– Auch jetzt noch?

– Auch jetzt, und es wird mir gelingen!«

Diese letzten Worte betonte Michael Strogoff nicht nur aus Haß gegen den Verräther. Aber Nadia merkte es, daß ihr Begleiter ihr nicht Alles sagte, nicht Alles sagen durfte.

Drei Tage später, am 15. September, erreichten Beide den Flecken Kuitunskoë, siebzig Werst von Tulunowskoë.

Das junge Mädchen hielt sich nur mit äußerster Anstrengung noch aufrecht. Ihre wunden Füße versagten ihr fast den Dienst. Aber sie widerstand dem Schmerze, sie bekämpfte die Ermüdung; ihr einziger Gedanke war:

»Da er mich nicht sehen kann, will ich gehen, bis ich zusammenbreche!«

Uebrigens bot dieser Theil des Weges kein besonderes Hinderniß, keine Gefahren mehr, seit die Tartaren ihnen vorauszogen; nur die entsetzlichste Erschöpfung fühlten sie.

So ging es wieder drei Tage lang fort. Offenbar gewannen die Tartaren nach Osten zu schnell an Terrain. Das bewiesen die Ruinen längs des Weges, die Brandstätten, welche nicht mehr rauchten, die schon in Verwesung übergehenden Leichname an den Seiten der Straße.

Auch im Westen zeigte sich nichts. Der Vortrab des Emirs erschien nicht. Michael Strogoff erschöpfte sich in den unwahrscheinlichsten Vermuthungen, diese Verzögerung zu erklären. Bedrohten schon hinreichende russische Streitkräfte unmittelbar Tomsk oder Krasnojarsk? Dann liefe die dritte isolirte Abtheilung aber Gefahr, abgeschnitten zu werden. In diesem Falle mußte es dem Großfürsten leicht werden, Irkutsk wirksam zu vertheidigen, und jeder Gewinn an Zeit galt diesem feindlichen Einfall gegenüber als ein Fortschritt zu seiner Abwehr.

Manchmal gab sich Michael Strogoff wohl solchen Hoffnungen hin, bald aber trat ihm das Trügerische derselben wieder desto deutlicher vor die Seele, und er rechnete dann nur noch auf sich selbst, als läge die Rettung des Großfürsten nur allein in seinen Händen.

Sechzig Werst trennen Kuitunskoë von Kimilteïskoë, einem kleinen Flecken unweit der Dinka, welche der Angara zuströmt. Nicht ohne Besorgniß dachte Michael Strogoff an das Hinderniß, welches dieser nicht so unbedeutende Wasserlauf ihnen in den Weg legte. Fähren oder Boote zu finden, darauf durfte er gar nicht rechnen, und er erinnerte sich recht gut von seinen Reisen in günstigeren Jahreszeiten, daß dieser Fluß nur mit Gefahr zu durchwaten war. Dafür unterbrach nach Ueberschreitung desselben kein weiterer Strom oder Fluß die Straße, welche in einer Länge von noch 230 Werst nach Irkutsk führte.

Um Kimilteïskoë zu erreichen, brauchten sie nicht weniger als drei Tage. Nadia schleppte sich nur noch hin. Trotz ihrer moralischen Energie verließen sie die physischen Kräfte. Michael Strogoff wußte das nur zu gut.

Wäre er nicht blind gewesen, Nadia hätte gewiß zu ihm gesagt:

»Geh‘, Michael, laß mich in einer Hütte zurück. Geh‘ nach Irkutsk! Richte Deinen Auftrag aus! Suche meinen Vater auf. Sage ihm, wo ich bin. Sag‘ ihm, daß ich ihn erwarte, Ihr Beide werdet mich schon wieder zu finden wissen! Reise in Gottes Namen weiter! Ich fürchte mich nicht. Vor den Tartaren werde ich mich zu verbergen wissen. Ich erhalte mich für ihn, für Dich! Geh‘ Du, Michael, – ich kann es nicht mehr! …«

Wiederholt war Nadia gezwungen, stehen zu bleiben. Dann hob sie Michael Strogoff auf seine Arme, und da er, wenn er sie trug, an die Ermüdung des jungen Mädchens nicht mehr zu denken brauchte, ging er dann um so schneller.

Endlich am 18. September, Abends gegen zehn Uhr, erreichten Beide Kimilteïskoë. Von dem Gipfel eines Hügels bemerkte Nadia eine minder dunkle Linie am Horizonte. Das war die Dinka. In ihrem Wasser spiegelten sich einige Blitze, denen kein Donner folgte, die aber doch den Umkreis erhellten.

Nadia führte ihren Begleiter quer durch die verwüstete Ortschaft. Die Asche der Ruinen war kalt. Die letzten Tartaren mochten wohl vor fünf bis sechs Tagen hier durchpassirt sein.

Bei den letzten Häusern sank Nadia auf eine steinerne Bank.

»Machen wir Halt? fragte sie Michael Strogoff.

– Die Nacht ist gekommen, Michael, antwortete Nadia. Willst Du nicht auch einige Stunden ruhen?

– Ich wäre gern noch bis über die Dinka gekommen, antwortete Jener, ich hätte den Fluß gern zwischen uns und dem Vortrab des Emirs gewußt. Aber Du kannst Dich nicht mehr fortschleppen, meine arme Nadia?

– Komm, Michael!« lautete Nadia’s Antwort, mit der sie die Hand ihres Gefährten ergriff und ihn weiter führte.

In der Entfernung von zwei bis drei Werst kreuzte die Dinka die Straße nach Irkutsk. Die letzte Anstrengung, welche ihr Begleiter forderte, wollte das junge Mädchen noch auszuhalten versuchen. Beide gingen beim Scheine des Wetterleuchtens weiter. Sie durchschritten nun eine grenzenlose Wüste, in der sich der kleine Fluß verlor. Kein Baum, kein Hügel erhob sich auf dieser ungeheuren Ebene, mit welcher die sibirische Steppe wieder begann. Kein Lufthauch bewegte die Atmosphäre, durch deren ruhige Schichten sich der geringste Ton unendlich weit fortgepflanzt hätte.

Plötzlich hielten Michael Strogoff und Nadia inne, als ob ihre Füße in eine Aushöhlung des Bodens gekommen wären.

Aus der Steppe her ertönte Gebell.

»Hörst Du das?« fragte Nadia.

Dann folgte ein erbarmenswerther Schrei, wie ein verzweifelter, letzter Ruf eines Menschen, der dem Tode nahe ist.

»Nicolaus! Nicolaus!« rief das junge Mädchen, von einer düsteren Ahnung erfüllt.

Michael Strogoff horchte und schüttelte den Kopf.

»Komm, Michael, komm!« bat Nadia.

Und unter der Herrschaft einer heftigen Aufregung gewann sie, die sich eben noch kaum fort zu bewegen vermochte, ihre Kräfte wieder.

»Wir sind von der Straße abgekommen, sagte Michael Strogoff, der nicht mehr den feinsandigen Fußboden, sondern ein dürres Gras unter seinen Füßen fühlte.

– Ja, es muß sein! … erwiderte Nadia; dort von rechts her erklang jener Hilferuf.«

Einige Minuten später befanden sich Beide nur noch eine halbe Werst vom Flusse entfernt.

Ein zweites Bellen ließ sich hören, das zwar schwächer, aber unzweifelhaft näher erscholl.

Nadia blieb stehen.

»Ja, sagte Michael, das war Sersko’s Bellen. Er ist seinem Herrn gefolgt.

– Nicolaus!« rief das junge Mädchen. Keine Antwort ließ sich vernehmen.

Nur einige Raubvögel flatterten auf und verschwanden in den Tiefen des Himmels.

Michael Strogoff lauschte. Nadia suchte die auf Augenblicke erleuchtete Ebene zu überschauen, sah aber nichts.

Doch noch einmal erklang eine Stimme in kläglichem Tone.

»Michael!« verstanden sie deutlich.

Dann sprang ein Hund, über und über blutig, an Nadia heran. Es war Sersko.

Nicolaus konnte nicht fern sein. Er allein hatte den Namen Michael stammeln können. Wo war er? Nadia fand kaum noch die Kraft, ihm zuzurufen.

Michael Strogoff kroch auf der Erde hin und suchte mit den Händen.

Da erhob Sersko ein neues Gebell und stürzte auf einen ungeheuren Raubvogel zu, der tief auf der Erde hinstrich.

Es war ein Geier. Als Sersko auf ihn zusprang, flog er ein Stück auf, kehrte aber zurück und stieß auf den Hund.

Noch einmal stürzte sich dieser gegen den Geier, da traf ihn der furchtbare Schnabel auf den Kopf und leblos brach das treue Thier zusammen.

Zu gleicher Zeit entfuhr Nadia ein Schrei des Entsetzens.

»Da … da!« rief sie.

Aus der Erde ragte ein Kopf hervor. Ohne das Leuchten am Himmel, das die Steppe erhellte, hätte sie mit dem Fuße daran gestoßen.

Nadia fiel neben diesem Kopfe auf die Knie.

Nicolaus war, nach der schrecklichen Sitte der Tartaren, bis an den Hals eingescharrt in der Steppe verlassen worden, um hier elend Hungers zu sterben oder unter dem Zahne der Wölfe oder den Schnäbeln der Raubvögel umzukommen. Eine schreckliche Todesart für das Opfer, welches der Boden gefangen hält, welches die Erde halb erdrückt, die der Verurtheilte nicht von sich zu stoßen vermag, da ihm die Arme am Körper befestigt werden, wie die einer Leiche im Sarge. So lebt, so verschmachtet der Verurtheilte in der thonigen Erde und kann nur den Tod herbei rufen, der ihm doch so langsam naht!

Hier hatten die Tartaren seit drei Tagen ihren Gefangenen eingescharrt!

… Seit drei martervollen Tagen wartete Nicolaus auf Hilfe, die ihm nun leider zu spät werden sollte.

Die Geier hatten schon das aus dem Boden hervorstehende Haupt gewittert, und seit mehreren Stunden vertheidigte der Hund seinen Herrn gegen die gefräßigen Vögel.

Michael Strogoff brach mit seinem Messer die Erde auf, um den Lebenden aus dem Grabe zu befreien.

Nicolaus‘ schon geschlossene Augen öffneten sich noch einmal.

Er erkannte Michael und Nadia.

»Lebt wohl, meine Freunde, flüsterte er. O wie wohl ist mir, Euch noch einmal gesehen zu haben … Betet für mich! …«

Das waren seine letzten Worte.

Michael Strogoff fuhr fort, die Erde aufzureißen, welche durch festes Zusammentreten fast felsenhart geworden war, und es gelang ihm endlich, den Körper des Armen heraus zu ziehen. Er horchte, ob sein Herz noch schlüge. – Es schlug nicht mehr.

Er wollte ihn nun noch beerdigen, um die Leiche des Freundes nicht auf der Steppe liegen zu lassen, und erweiterte und vergrößerte das Loch, Nicolaus Pigassof’s Sarg bei seinen Lebzeiten, zum Grabe für den Entseelten. Der treue Sersko sollte neben ihm seinen Platz finden.

Da entstand auf der eine halbe Werst entfernten Landstraße ein lauter Tumult.

Michael Strogoff horchte.

Aus dem Geräusch erkannte er, daß sich eine Abtheilung Berittener nach der Dinka zu bewege.

»Nadia, Nadia!« sagte er heimlich.

Bei seiner Stimme erhob sich die noch immer im Gebet versunkene junge Liefländerin.

»Dort, sieh dort! raunte er ihr zu.

– Ah, die Tartaren!« flüsterte sie.

Jene Reiter gehörten in der That zur Avantgarde des Emirs, welche schnell auf dem Wege nach Irkutsk dahintrabte.

»Sie werden mich nicht abhalten, ihn zu beerdigen«, sagte Michael Strogoff.

Schweigend setzte er seine Arbeit fort.

Bald ward der Körper des armen Nicolaus mit über der Brust gekreuzten Händen in die Grube gelegt. Auf die Knie geworfen sprachen Michael Strogoff und Nadia ein letztes Gebet für das harmlose und gute Geschöpf, das die Ergebenheit gegen sie mit seinem Leben bezahlt hatte.

»Und nun, sagte Michael Strogoff, indem er die Leiche mit Erde überfüllte, nun sollen die Steppenwölfe Dich nicht verzehren!«

Dann streckte er drohend die Hand aus gegen den vorüberziehenden Reiterschwarm.

»Vorwärts, Nadia!« sagte er.

Michael Strogoff durfte nun die von den Tartaren betretene Hauptstraße nicht mehr einhalten, sondern mußte sich quer durch die Steppe schlagen, um Irkutsk zu umgehen. Jetzt hatte es demnach mit der Ueberschreitung der Dinka keine besondere Eile.

Nadia konnte nicht weiter wandern, aber sie konnte doch für ihn sehen. Er nahm sie auf die Arme und wandte sich nach dem Südwesten der Provinz.

Mehr als 200 Werst lagen noch vor ihnen. Wie legte er sie zurück? Wie kam es, daß ihn die Anstrengung nicht überwältigte? Wie konnte er sich unterwegs ernähren? Welch übermenschliche Energie half ihm, die ersten Abhänge der Sayanskberge zu überklettern? – Weder Nadia noch er hätten auf diese Fragen die Antwort gewußt.

Und doch, – zwölf Tage später, am 2. October, breitete sich eine ungeheure Wasserfläche vor Michael Strogoff’s Füßen aus.

Er stand am Baïkalsee.