Elftes Capitel

Reisende in Noth

Wirklich vernahm man in der kurzen Ruhepause weiter oben von der Straße her und unfern der Aushöhlung, welche den Tarantaß deckte, wiederholtes Hilferufen.

Es klang wie ein verzweifelter letzter Rettungsversuch, der offenbar von irgend einem gefährdeten Reisenden ausging.

Michael Strogoff lauschte aufmerksam.

Der Jemschik horchte gleichfalls auf, aber mit einem Kopfschütteln, so als scheine es ihm unmöglich, hier Beistand zu leisten.

»Das sind Reisende, welche um Hilfe bitten, rief Nadia.

– Auf uns werden sie nicht zählen dürfen! … fiel rasch der Jemschik ein.

– Und warum das nicht? fragte Michael Strogoff etwas streng. Was Jene unter gleichen Verhältnissen gewiß für uns thun würden, sollen wir das unversucht lassen?

– Ihr setzt aber Pferde und Wagen auf’s Spiel! …

– Ich werde zu Fuß gehen, unterbrach Michael Strogoff den besorgten Geschirrführer.

– Und ich begleite Dich, Bruder, erbot sich die junge Liefländerin.

– Nein, bleibe, Nadia. Der Jemschik wird bei Dir sein. Ich möchte diesen nicht allein lassen. …

– So werd‘ ich dableiben, erwiderte Nadia.

– Was auch geschehe, verlasse diese geschützte Stelle nicht!

– Du wirst mich da wieder finden, wo ich jetzt bin.«

Michael Strogoff drückte dankend die Hand seiner Gefährtin, eilte nach der Ecke des Abhangs und verschwand bald im Dunklen.

»Dein Bruder handelt unrecht, sagte der Jemschik zu dem jungen Mädchen.

– Er handelt recht«, antwortete einfach Nadia.

Inzwischen klomm Michael Strogoff rasch bergan. Wenn er große Eile hatte den Bedrängten, welche jene Rufe erschallen ließen, helfend beizuspringen, so war doch auch sein Wunsch nicht minder groß, zu erfahren, wer jene Reisenden sein möchten, die auch dieses Unwetter nicht abgehalten hatte, sich in die Berge zu wagen, denn er zweifelte gar nicht daran, daß es dieselben Leute seien, deren Teleg immer seinem Tarantaß vorausrollte.

Der Regen hatte jetzt nachgelassen, aber der Sturm tobte eher mit verdoppelter Wuth. Die Ausrufe, welche der Wind mit dahertrug, wurden immer deutlicher. Von der Stelle, an der Michael Strogoff Nadia zurück gelassen hatte, war nichts zu sehen. Die Straße verlief mehrfach gekrümmt und der bläuliche Schein der Blitze erleuchtete nur den Bergvorsprung, der sich in einen solchen Straßenbogen hineinschob. Der Wind bildete, indem er sich an allen jenen Ecken und Kanten brach, sehr schwer zu passirende Wirbel, denen Michael Strogoff nur mit dem Aufgebot aller Kräfte zu widerstehen vermochte.

Jedoch, es zeigte sich sehr bald, daß die Reisenden, von denen jene Hilferufe ausgingen, nicht mehr sehr fern sein konnten. Waren sie für Michael Strogoff auch noch nicht sichtbar – ob das nun daher kam, daß Jene sich nicht auf der Straße selbst befanden, oder daß nur die herrschende Dunkelheit sie seinen Blicken noch verbarg, – jedenfalls verstand er ihre Worte schon ganz deutlich.

Da hörte er denn, – natürlich zu seiner nicht geringen Verwunderung, – Folgendes:

»Wirst Du wohl zurückkommen, Schlingel?

– Dich erwartet die Knute auf dem nächsten Relais.

– Hörst Du, Du Postillon der Hölle! He! Du, da unten!

– So wird man in diesem verwünschten Lande befördert.

– Und das nennen sie einen Teleg!

– He, Du dreifacher Erztölpel! – Da reißt er aus und scheint’s gar nicht zu bemerken, daß er uns hier sitzen gelassen hat!

– Nein, mich so zu behandeln! Mich, einen wohlbeglaubigten Engländer! Ich werde mich beim Kanzleramte beklagen und den Burschen dingfest machen lassen!«

Der, welcher diese Worte herauspolterte, schäumte vor Wuth. Aber plötzlich schien es Michael Strogoff, als ob ein Zweiter die Situation von ganz anderer Seite betrachtete, denn er hörte nach einem hellen, bei solcher Scene gewiß unerwarteten Gelächter die Worte:

»Bei Gott, diese Geschichte ist gar zu drollig!

– Was? Sie wagen auch noch zu lachen? entgegnete in ärgerlichem Tone der Bürger des Vereinigten Königreichs.

– Natürlich, lieber College, und ganz aus vollem Herzen; was soll ich denn Besseres dabei thun! Ich rathe Ihnen, es ebenso zu machen! Auf Ehrenwort! Das ist gar zu drollig, das ist noch gar nicht dagewesen! …«

Da erfüllte ein heftiger Donnerschlag den Engpaß mit schrecklichem Krachen, das der Widerhall der Berge noch mächtig verstärkte. Dann, als das letzte schwache Rollen verlöscht war, ließ sich wiederum die lustige Stimme vernehmen:

»Ja, ja, ganz ausnehmend drollig! Das könnte in Frankreich wahrlich nicht passiren!

– In England auch nicht!« antwortete der Brite.

Beim Scheine der Blitze sah jetzt Michael Strogoff auf der Straße und gegen zwanzig Schritt vor sich zwei Männer auf dem hohen Rücksitz eines sonderbaren Fuhrwerks, das in dem tiefen Schlamme eines ausgefahrenen Geleises fest zu sitzen schien.

Michael Strogoff näherte sich den beiden Reisenden, deren Einer immer weiter lachte, der Andre unverdrossen weiter schimpfte, und erkannte bald die beiden Zeitungscorrespondenten, welche auf dem Kaukasus den Weg von Nishny-Nowgorod nach Perm mit ihm zurückgelegt hatten.

»Ei guten Tag, mein Herr! rief der Franzose. Sehr erfreut, Sie unter diesen Umständen wieder zu sehen! Erlauben Sie, Ihnen meinen intimsten Feind, Herrn Blount, hier vorzustellen.«

Der englische Reporter grüßte und vielleicht wollte er nach allen Regeln des Anstandes eben seinerseits seinen Collegen Alcide Jolivet vorstellen, als ihn Michael Strogoff unterbrach:

»Nicht nöthig, meine Herren, wir kennen uns ja wohl, da wir die Wolga gemeinschaftlich befahren haben.

– Ah, sehr gut! Ganz richtig! Herr …?

– Nikolaus Korpanoff, Kaufmann aus Irkutsk, antwortete Michael Strogoff. Aber wollen Sie mich wissen lassen, welcher für den Einen so erheiternde, für den Andern so beklagenswerthe Unfall sich hier zugetragen hat?

– Gut, ich rufe Sie als Richter an, Herr Korpanoff, entgegnete Alcide Jolivet. Stellen Sie sich vor, daß unser Postillon mit dem Vordertheile seines vermaledeiten Fuhrwerks davon gefahren ist und hat uns hier ruhig sitzen lassen mit sammt dem Hintertheile seines nichtswürdigen Fahrzeugs. Da haben wir nun die schlechtere Hälfte eines Telegs für uns Zwei, aber keinen wegekundigen Kutscher, keine Pferde mehr! Ist das nicht unbedingt und über alle Maßen drollig?

– Ich finde gar nichts Lächerliches dabei! knurrte der Engländer.

– Und doch, College! Sie verstehen die Sache nur nicht von ihrer besten Seite anzusehen.

– Aber wie denken Sie denn, daß es möglich werden soll, unsern Weg fortzusetzen? fragte Harry Blount.

– Nichts einfacher als das, spottete Alcide Jolivet. Sie spannen sich beispielsweise vor das uns verbliebene Restchen des Wagens; ich ergreife die Zügel, ich nenne Sie »mein Täubchen«, wie ein leibhaftiger Jemschik, und Sie trotten dann drauf los, ganz wie ein ….

– Herr Jolivet, fiel der Engländer ein, ein solcher Scherz geht zu weit und ….

– O, beruhigen Sie sich, Herr College. Sobald Sie sich verfangen haben, trete ich an Ihre Stelle und Sie mögen mich dann als engbrüstige Schnecke oder ohnmächtige Schildkröte behandeln, wenn ich Sie nicht in einem Höllengalop dahinfahre!«

Alcide Jolivet schüttelte das Alles mit einem so liebenswürdigen Humor hervor, daß Michael Strogoff sich eines Lächelns nicht enthalten konnte.

»Meine Herren, nahm er darauf das Wort, da weiß ich doch besseren Rath. Wir befinden uns jetzt hier sehr nahe dem höchsten Kamme des Ural und folglich haben wir den Gebirgsabhang nur noch hinabzufahren. Mein Wagen befindet sich fünfhundert Schritt weiter rückwärts. Ich will Ihnen eines meiner Pferde abtreten, das spannen wir vor den Rest Ihres Telegs und kommen, wenn uns kein Zwischenfall abhält, morgen zusammen in Jekaterinenburg an.

– Herr Korpanoff, sagte Alcide Jolivet verbindlich, das ist ein Vorschlag, der aus sehr edelmüthigem Herzen kommt.

– Ich bemerke noch, mein Herr, daß ich Ihnen deshalb nicht anbiete meinen Tarantaß mit zu benutzen, weil er nur zwei Plätze enthält, die ich mit meiner Schwester nothwendiger Weise selbst brauche.

– O, keine Entschuldigungen, mein Herr, antwortete Alcide Jolivet, mein College und ich würden mit Ihrem Pferde und dem Hintertheil unsers Halbtelegs nöthigenfalls bis an’s Ende der Welt kommen.

– Mein Herr, fiel nun auch Harry Blount ein, wir nehmen Ihren großmüthigen Vorschlag an. Aber jener Jemschik ….

– O glauben Sie, es wird nicht das erste Mal gewesen sein, daß ihm solch‘ kleiner Unfall zustieß, bemerkte Michael Strogoff.

– Nun, warum kehrt er dann aber nicht zurück? Er wird recht gut wissen, daß er uns hier im Stiche gelassen hat, der Elende!

– Er!? Er weiß sicher kein Sterbenswörtchen davon.

– Was? Dieser brave Kerl sollte die Zerreißung des Telegs in zwei Hälften gar nicht bemerkt haben?

– Nein, sicherlich nicht; der bringt seinen Vordertheil im besten Glauben von der Welt nach Jekaterinenburg hinein.

– Sagt‘ ich es Ihnen nicht vorher, Herr College, rief lachend Alcide Jolivet, daß uns nur die allerlustigste Geschichte passirt sei?

– Nun denn, meine Herren, mahnte Michael Strogoff, wenn es Ihnen gefällig ist mir zu folgen und meinen Wagen aufzusuchen ….

– Aber der Teleg? bemerkte der Engländer.

– Fürchten Sie nicht, daß er uns davon fliege, mein lieber Blount, tröstete Alcide Jolivet, der steht hier so gut im Erdboden fest gewurzelt, daß er kommendes Frühjahr Knospen treiben müßte, wenn man ihn stehen ließe.

– Kommen Sie also, meine Herren, sagte Michael Strogoff, wir wollen den Tarantaß nun hierher schaffen.«

Der Franzose und der Engländer verließen ihre Bank, die aus einem Rücksitz zum Vordersitz geworden war, und folgten Michael Strogoff.

Auch unterwegs plauderte Alcide Jolivet immer weiter in seiner rosenfarbenen Laune, welche eben Nichts zu zerstören im Stande war.

»Meiner Treu, Herr Korpanoff, wandte er sich an Michael Strogoff, Sie ziehen uns hier allerdings aus einer argen Verlegenheit.

– Ich that noch weiter nichts, mein Herr, erwiderte Michael Strogoff, als was jeder Andere an meiner Stelle ebenfalls gethan hätte. Wenn sich Reisende erst nicht mehr gegenseitig unterstützen wollen, möge man lieber gleich die Landstraßen sperren.

– Wir bleiben Ihnen zu Gegendiensten verbunden, mein Herr. Im Fall Sie weit durch die Steppe reisen, könnten wir uns wohl auch noch einmal begegnen, und ….«

Alcide Jolivet fragte zwar nicht direct, wohin Michael Strogoff ginge, dieser aber erwiderte, um sich nicht den Schein der Heimlichthuerei zu geben:

»Ich reise nach Omsk, meine Herren.

– Und Herr Blount und ich, erklärte Alcide Jolivet, wir reisen eigentlich nur der Nase nach, dahin, wo es vielleicht eine Kugel, jedenfalls aber Neuigkeiten zu erwischen giebt.

– Nach den empörten Provinzen? fragte Michael Strogoff mit einem gewissen Eifer.

– Ganz recht, Herr Korpanoff, und wahrscheinlich begegnen wir uns dort wohl nicht wieder!

– Wahrlich, mein Herr, antwortete Michael Strogoff, ich bin gar nicht lüstern nach einer Büchsenkugel oder einem Lanzenstiche und zu friedliebender Natur, um mich unnöthig dahin zu begeben, wo man sich herumschlägt.

– Bedaure, mein Herr, bedaure, es sollte uns gewiß leid thun, so schnell von Ihnen wieder Abschied zu nehmen. Vielleicht will es unser guter Stern aber doch, daß wir wenigstens von Jekaterinenburg aus noch ein Stück Weges zusammen zurücklegen, und wäre es nur während weniger Tage?

– Sie gehen vielleicht auch nach Omsk? fragte Michael Strogoff nach kurzer Ueberlegung.

– Das wissen wir freilich selbst noch nicht, erwiderte Alcide Jolivet. Jedenfalls wenden wir uns direct nach Ichim und dort werden die Verhältnisse unseren weiteren Weg bestimmen.

– Nun wohl, meine Herren, sagte Michael Strogoff, bis nach Ichim werden wir also zusammen sein.«

Michael Strogoff hätte es gewiß vorgezogen, allein zu reisen, er konnte sich aber, ohne damit aufzufallen, nicht wohl von den beiden Reisenden absondern, welche des nämlichen Weges zogen wie er. Bei der von Alcide Jolivet ausgesprochenen Absicht, sammt seinem Begleiter in Ichim Halt zu machen und nicht unmittelbar nach Omsk weiter zu gehen, lag für ihn übrigens kein besonderer Grund vor, diesen Theil der Reise in ihrer Gesellschaft zurück zu legen.

»Also, meine Herren, es ist abgemacht. Wir reisen zusammen.«

Dann setzte er mit möglichst gleichgiltigem Tone hinzu:

»Haben Sie vielleicht einige sicherere Nachrichten über den Tartareneinfall?

– Leider nein, erwiderte Alcide Jolivet, wir wissen davon ebenso viel, als in Perm allgemein bekannt war. Die Tartarenhaufen Feofar-Khan’s haben die ganze Provinz Semipalatinsk überschwemmt und dringen jetzt in Eilmärschen längs des Bettes des Irtysch vor. Sie werden sich also ein wenig beeilen müssen, ihnen bis Omsk noch zuvorzukommen.

– Ja, Sie haben Recht, bemerkte Michael Strogoff.

– Dazu geht das Gerücht, es sei dem Oberst Ogareff gelungen, verkleidet die Grenze zu passiren, und er werde sich, in der Mitte der insurgirten Provinz, dem Tartarenchef unverzüglich anschließen.

– Wie will man das aber wissen? warf Michael Strogoff ein, den diese mehr oder weniger begründeten Neuigkeiten selbstverständlich sehr interessirten.

– Ei, so wie man eben Alles weiß, antwortete Alcide Jolivet; das liegt so in der Luft.

– Und Sie haben begründete Ursache zu glauben, daß Colonel Ogareff in Sibirien sei?

– Ich habe mindestens davon sprechen hören, daß er den Weg von Kasan nach Jekaterinenburg eingeschlagen habe.

– O, Sie wüßten das, Herr Jolivet? ließ sich da Harry Blount vernehmen, den jene Bemerkung des französischen Correspondenten aus seiner Schweigsamkeit aufrüttelte.

– Ich wußte es, erwiderte Alcide Jolivet.

– Und es war Ihnen auch bekannt, daß er als Zigeuner verkleidet ging? fragte Harry Blount.

– Als Zigeuner! rief Michael Strogoff fast unwillkürlich, da er sich der Anwesenheit des alten Tsiganen in Nishny-Nowgorod, seiner Fahrt auf dem Kaukasus und seiner Ausschiffung in Kasan erinnerte.

– Ich hatte davon eben genug erfahren, um darüber einen Brief an meine Cousine zu richten, antwortete lächelnd Alcide Jolivet.

– Sie haben in Kasan Ihre Zeit nicht verloren! bemerkte der Engländer in trockenem Tone.

– Gewiß nicht, liebster College, und während der Kaukasus sich verproviantirte, that ich ganz dasselbe!«

Michael Strogoff achtete ferner nicht auf das Wortgeplänkel, das sich zwischen Harry Blount und Alcide Jolivet entsponnen hatte. Er gedachte jener Zigeunergruppe, jenes alten Tsiganen, dessen Gesicht er nicht ordentlich sehen konnte, des fremden Weibes in seiner Begleitung, die jenen sonderbaren Blick auf ihn geworfen hatte, und er bemühte sich, alle Details jenes Zusammentreffens wieder im Gedächtniß aufzufrischen, als in geringer Entfernung ein Knall hörbar wurde.

– Ah, vorwärts, meine Herren! rief Michael Strogoff.

– Sieh da, ein braver Kaufmann, der die Flintenschüsse flieht, meinte Alcide Jolivet, der läuft über Hals und Kopf dahin, wo er solche hört!«

Schnell eilte er aber sowohl selbst, als hinter ihm Harry Blount, der auch nicht der Mann dazu war, feig zurück zu bleiben, Michael Strogoff furchtlos nach.

Nach wenig Augenblicken befanden sich Alle bei dem Felsenvorsprunge, der den Tarantaß deckte.

Noch loderten die Flammen aus der durch den Blitzschlag entzündeten Fichtengruppe empor. Die Straße war leer. Und doch, Michael Strogoff konnte sich unmöglich getäuscht haben; das mußte ein Gewehrschuß sein, der vorher an sein Ohr schlug.

Da hörte man plötzlich ein schreckliches Brummen und am Abhänge krachte ein zweiter Schuß.

»Ein Bär! rief Michael Strogoff, dem jenes Brummen ja bekannt genug war. Nadia! Nadia!«

Sein Dolchmesser aus dem Gürtel reißend stürzte Michael Strogoff hastig vorwärts und lief um den Felsen, hinter dem das junge Mädchen zu warten versprochen hatte.

Grell beleuchteten die von der Wurzel bis zum Gipfel brennenden Fichten den Schauplatz.

In dem Augenblicke, als Michael Strogoff den Tarantaß erreichte, wälzte sich ihm eine enorme Masse entgegen.

Es war ein ungeheurer Bär. Der Sturm mochte ihn aus dem Gehölz, das diese Abhänge der Uralberge bedeckt, vertrieben und er eine Zuflucht in seiner gewohnten Höhle gesucht haben, in derselben, welche eben Nadia deckte.

Zwei von den Pferden zerrissen da, erschreckt über den Anblick des furchtbaren Raubgesellen, ihre Stränge und entflohen; der Jemschik, dem nur seine Thiere am Herzen lagen und der dabei ganz vergaß, daß das junge Mädchen nun allein dem Angriffe des Bären ausgesetzt blieb, jagte ihnen nach.

Die muthige Nadia verlor den Kopf aber nicht. Das Thier mochte sie zuerst nicht bemerkt haben, denn es stürzte sich auf das dritte Pferd. Nadia schlüpfte aus der Höhlung, welche sie verbarg, lief nach dem Wagen, ergriff einen von Michael Strogoff’s Revolvern, ging kaltblütig auf den Bären los und feuerte auf ihn aus unmittelbarer Nähe.

Leicht an der Schulter verwundet hatte sich das Thier gegen das junge Mädchen gewendet, die ihm auszuweichen suchte und um den Tarantaß lief, dessen einzig übrig gebliebenes Pferd sich ebenfalls loszureißen suchte. Verirrten sich diese Pferde aber alle in dem Gebirge, so war die ganze Weiterfahrt zunächst in Frage gestellt. Nadia war also dem Bären wieder entgegen getreten und gab mit bewunderungswürdig ruhigem Blute, gerade als jener die gewaltigen Tatzen erhob, um auf sie niederzuschlagen, zum zweiten Male Feuer.

Das war jener zweite Schuß, welcher ganz in der Nähe Michael Strogoff’s aufblitzte. Mit einem Satze warf sich dieser zwischen den Bären und das junge Mädchen. Sein Arm machte nur eine Bewegung von unten nach oben, und das gewaltige Thier fiel, aufgeschlitzt vom Bauch bis zur Gurgel, eine leblose Masse, vor ihm zusammen.

Es war ein hübsches Pröbchen jener Methode der sibirischen Jäger, die stets darauf achten, das kostbare und von ihnen hoch im Preise gehaltene Fell eines Bären nicht zu beschädigen.

»Du bist nicht verletzt, Schwester? war Michael Strogoff’s erste Frage, als er sich zu dem jungen Mädchen wandte.

– Nein, Bruder«, antwortete Nadia.

Gerade jetzt kamen auch die beiden Journalisten zur Stelle.

Alcide Jolivet sprang nach dem Kopfe des Pferdes, und er mußte wohl eine kräftige Faust haben, denn es gelang ihm, jenes zu bändigen. Sein Begleiter und er hatten den kurzen Kampf Michael Strogoff’s mit angesehen.

»Zum Teufel! platzte Alcide Jolivet heraus, für einen einfachen Kaufmann, Herr Korpanoff, wissen Sie mit dem Jagdmesser doch recht leidlich umzugehen.

– Sogar sehr geschickt, fügte Harry Blount hinzu.

– In Sibirien, meine Herren, antwortete Michael Strogoff, sind wir genöthigt, uns um Alles ein wenig zu bekümmern.«

Alcide Jolivet betrachtete den jungen Mann.

Wie er so in voller Beleuchtung dastand, das blutige Waidmesser fest in der Hand, den einen Fuß auf dem Körper des erlegten Bären, sah Michael Strogoff bei seinem hohen Wuchse und dem entschlossenen Blicke wirklich schön aus.

»Ein famoser Kerl!« sagte Alcide Jolivet für sich.

Dann trat er respectvoll, den Hut in der Hand, vor und begrüßte das junge Mädchen.

Nadia verneigte sich leicht.

Alcide Jolivet kehrte sich darauf nach seinem Begleiter um und sagte:

»Die Schwester ist des Bruders werth! Wenn ich ein Bär wäre, ich riebe mich nicht an diesem ebenso achtunggebietenden als liebenswürdigen Pärchen!«

Harry Blount stand, gerade wie eine Hopfenstange, mit abgezogenem Hute in einiger Entfernung. Die zwanglose Höflichkeit seines Collegen vermehrte nur seine natürliche Steifheit.

Jetzt erschien auch der Jemschik wieder, dem es gelungen war, seine beiden Pferde wieder einzufangen. Er warf zuerst einen bedauernden Blick auf das prächtige, am Boden liegende Thier, das hier als Beute für die Raubvögel liegen bleiben sollte, und machte sich dann erst daran, das Geschirr wieder in Ordnung zu bringen.

Michael Strogoff setzte ihn von der Lage der beiden andern Reisenden in Kenntniß und sagte, daß er diesen ein Pferd vom Tarantaß zur Verfügung stellen wolle.

»Ganz wie es Dir beliebt, entgegnete der Jemschik. Indeß, zwei Wagen statt des einen ….

– Schon gut, Freundchen, fiel Alcide Jolivet, der dieses Zögern schnell genug verstand, ihm in’s Wort, Du wirst natürlich auch doppelte Bezahlung erhalten.

– Nun denn vorwärts, meine Turteltäubchen!« rief der Jemschik.

Nadia hatte den Tarantaß wieder bestiegen, während Michael Strogoff und seine Begleiter diesem zu Fuße nachfolgten.

Es mochte gegen drei Uhr sein. Der Sturm war nun im Abnehmen und jagte nicht mehr mit unwiderstehlicher Gewalt durch den Hohlweg, so daß man leidlich schnell vorwärts kam.

Mit dem ersten Schimmer des Morgenrothes hatte der Tarantaß das Telegrestchen erreicht, das gewissenhaft bis zur Mitte der Räder in den Schlamm eingesunken war. Man erkannte jetzt recht wohl, daß ein heftiger Ruck der Bespannung die Trennung der beiden Wagentheile veranlaßt hatte.

Das eine der Seitenpferde des Tarantaß ward nun so gut es eben anging mit Stricken an den Sitzkasten des Teleg gespannt. Die beiden Journalisten nahmen auf der Bank ihres etwas sonderbaren Fahrzeugs Platz, und gleichzeitig setzten sich beide Wagen in Bewegung. Uebrigens hatte man ja nur die Bergabhänge des Ural hinunter zu fahren, was keine besondere Schwierigkeit bot.

Sechs Stunden später langten die beiden Fuhrwerke eines dicht nach dem anderen in Jekaterinenburg an, ohne daß ein weiterer Unfall diesen zweiten Theil der Fahrt noch einmal unterbrochen hätte.

Das erste Individuum, das den Journalisten schon am Thore des Posthauses in die Augen fiel, war ihr eigener Jemschik, der sie mit der größten Gemüthsruhe zu erwarten schien.

Ohne alle Verlegenheit ging der gutmüthige Russe seinen Passagieren lächelnd entgegen und streckte die Hand hin, um sein Trinkgeld einzuheimsen.

Die Wahrheit verlangt es nicht zu verschweigen, daß Harry Blount’s Zorn dabei mit voller britannischer Heftigkeit zum Ausbruch kam, und wäre der Jemschik nicht klüglich zurückgewichen, so hätte ihm ein nach allen Regeln der edlen Boxkunst geführter Faustschlag wohl sein ›na vodku‹ mitten in’s Gesicht gezeichnet.

Als Alcide Jolivet diesen Zornesausbruch sah, wand er sich fast vor Lachen und jubelte auf, wie er vielleicht früher noch nie gelacht hatte.

»Er hat ja ganz Recht, der arme Teufel da! rief er. Er ist in seinem vollen Rechte, lieber College! Das ist doch seine Schuld nicht, wenn wir keine Mittel fanden, ihm zu folgen!«

Er zog einige Kopeken aus der Tasche.

»Da, Freundchen, sagte er, indem er sie dem Jemschik hinreichte, da, steck‘ sie ein. Wenn Du sie nicht verdient hast, war’s ja Deine Schuld nicht!«

Das verdoppelte aber nur noch die Aufregung Harry Blount’s, der sich an dem Postmeister schadlos halten und ihm einen Prozeß an den Hals werfen wollte.

»Einen Prozeß! Und in Rußland! rief Alcide Jolivet; aber unter den obwaltenden Verhältnissen, bester College, wären Sie nicht im Stande, dessen Ende abzusehen. Da ist Ihnen die herrliche Geschichte von jener russischen Amme wohl nicht bekannt, welche der Familie ihres Säuglings gegenüber klagbar wurde, daß sie jenen weiter nähren wollte?

– Ich kenne sie nicht, entgegnete Harry Blount.

– Dann wissen Sie auch nicht, was aus jenem Säugling geworden war, als das Gericht das Endurtheil zu seinen Gunsten fällte?

– Und was, wenn ich bitten darf?

– Ja, mein Gott, ein Oberst der Gardehusaren war aus ihm geworden!«

Alle brachen in helles Gelächter aus.

Alcide Jolivet holte in dieser lustigen Stimmung sein Notizbuch hervor und bereicherte es, um einst in einem moskowitischen Wörterbuche zu figuriren, durch folgende Bemerkung:

»Teleg, ein in Rußland gebräuchlicher Wagen, wenn er abfährt mit vier, – wenn er ankommt mit zwei Rädern!«