Zweites Capitel

Auge in Auge.

Zehn Minuten später verließ ein leichtes Boot, eine Gig, die Sacoleve und führte nach dem Fuße des Molos ohne jede Begleitung und ohne Waffen den Mann, vor dem die Vityliner so schnell den Rückzug angetreten hatten.

Es war der Capitän der »Karysta« – so nannte sich das kleine Fahrzeug, welches eben im Hafen vor Anker gegangen war.

Unter der dicken Seemannsmütze zeigte dieser nur mittelgroße Mann eine hohe stolze Stirn und in den grausamen Augen einen höchst entschlossenen Blick. Ueber seine Oberlippe lief der Klephte-Schnurrbart wagrecht nicht in Spitzen, sondern in starken Haarbüscheln aus. Seine Brust war breit, seine Glieder muskulös. In Locken fielen ihm die schwarzen Haare auf die Schultern. Wenn er fünfunddreißig Jahre überschritten hatte, konnte das nur um wenige Monate sein. Aber sein durch Sonne und Wind gebräunter Teint, die Härte seiner Züge und eine Falte auf der Stirn, die wie eine Furche vertieft erschien, in der kein guter Samen keimen konnte, ließ ihn entschieden älter erscheinen, als er in der That war.

Was die Kleidung angeht, die er eben trug, so bestand diese weder aus der Weste, noch dem Brustlatz oder der Fustanella des Palikaren. Der Kaftan, die Kapuze von brauner Farbe, welche wenig hervortretend gestickt war, die grünlichen Beinkleider mit den weiten Falten, welche sich in hohe Stiefeln verloren, erinnerten weit eher an die Tracht eines Seemannes aus den Barbaresken-Staaten.

Dennoch war Nicolas Starkos wirklich von Geburt ein Grieche und ein Eingeborner des Hafens von Vitylo. Hier hatte er seine ersten Jugendjahre verbracht. Als Kind und als Jüngling hatte er zwischen diesen Felsgebilden den Anblick des Meeres lieben gelernt. Auf diesen Gewässern war er, eine Beute des Windes und der Strömungen, so viel umhergefahren. Hier gab es keine Einbuchtungen, deren Wassertiefe und Landungsplätze er nicht gekannt hätte; kein Riff, keinen Grund, keinen Unterwasserfelsen, dessen Lage ihm verborgen geblieben wäre; keine Windung des Canals, welche er selbst ohne Lootsen und ohne Compaß nicht hätte in Sicherheit befahren können. Das erklärt denn auch leicht, warum er trotz der falschen Signale seiner Landsleute die Sacoleve immer hatte mit ruhiger Hand leiten können. Daneben wußte er, wie wenig den Vitylinern Vertrauen zu schenken war. Er hatte sie schon gar zu oft in Thätigkeit gesehen. Und im Grunde mißbilligte er vielleicht nicht einmal ihre räuberischen Gewohnheiten, wenigstens sobald er persönlich gesichert war, nicht davon zu leiden.

Doch wenn Nicolas Starkos seine Leute kannte, so war er nicht minder bei ihnen bekannt. Nach dem Tode seines Vaters, der unter den Tausenden von Opfern fiel, welche die Grausamkeit der Türken hinschlachtete, lechzte seine von Rache erfüllte Mutter nur nach der Stunde, wo sie sich bei der ersten Erhebung gegen das türkische Joch auflehnen konnte. Er selbst hatte Magne mit achtzehn Jahren verlassen, um zur See zu gehen, wobei er vorzüglich im Archipel umherfuhr, und sich dabei nicht allein zum vortrefflichen Seemanne, sondern auch in dem Handwerk des Räubers ausbildete.

Niemand hätte wohl zu sagen vermocht, an Bord wie vieler Schiffe er seitdem gedient, welche Flibustier- oder Seeräuberführer ihn unter ihrem Befehl gehabt, unter welcher Flagge er zuerst gekämpft, wie viel Blut seine Hand schon vergossen, Blut der Feinde Griechenlands ebenso wie solches seiner Vertheidiger – dasselbe, welches auch in seinen Adern rollte. Wiederholt hatte man ihn schon in verschiedenen Häfen des Busens von Coron gesehen. Manche seiner Landsleute hätten wohl verschiedene Großthaten von ihm berichten können, wenn er sich mit ihnen verbündet hatte, Handelsschiffe zu überfallen und zu vernichten, um die reiche Beute mit ihnen zu theilen. Dennoch umgab den Namen Nicolas Starkos‘ ein gewisses Geheimniß. Jedenfalls war er aber in den Provinzen von Magne so bekannt, daß sich Alle vor seinem Namen verneigten.

Damit erklärte sich auch der Empfang, den dieser Mann bei den Bewohnern von Vitylo fand, ebenso der Umstand, daß schon seine Anwesenheit genügte, alle auf die geplante Plünderung verzichten zu lassen, sobald sie nur erkannt hatten, wer die Sacoleve befehligte.

Sobald der Capitän der »Karysta« ein wenig hinter dem Quai den Hafen betreten hatte, bildeten die zu seinem Empfange herbeigelaufenen Männer und Frauen ehrerbietig eine Kette, um ihn hindurch zu lassen. Als er an’s Land stieg, wurde kein Ausruf laut. Es schien als ob Nicolas Starkos hier einen hinreichenden Einfluß ausübte, um Anderen schon durch sein Erscheinen Ruhe zu gebieten. Die Leute warteten, bis er sprechen würde, und wenn das – wie wahrscheinlich – nicht der Fall war, hätte sich gewiß Niemand erlaubt, ein Wort an ihn zu richten.

Nachdem Nicolas Starkos seinen Matrosen der Gig befohlen, an Bord zurückzukehren, begab er sich nach dem Winkel, den der Quai im Hintergrunde des Hafens bildete. Kaum hatte er aber zwanzig Schritte in dieser Richtung gethan, als er plötzlich stehen blieb. Dann wandte er sich an den alten Seemann, der ihm nachfolgte, als erwarte er von ihm noch irgend welche Befehle.

»Gozzo, begann er, ich werde noch zehn kräftige Burschen brauchen, um meine Besatzung zu vervollständigen.

– Du wirst sie haben, Nicolas Starkos,« antwortete Gozzo.

Hätte der Capitän der »Karysta« Hundert zur Auswahl unter der seefahrenden Bevölkerung des Ortes verlangt, so würde er diese auch gefunden haben. Und diese hundert Mann würden, ohne zu forschen, wohin sie geführt würden, wozu sie bestimmt seien, für wessen Rechnung sie fahren oder kämpfen sollten, ihrem Landsmanne gefolgt sein, bereit, sein Los zu theilen, da sie recht gut wußten, daß ihnen auf die eine oder die andere Weise daraus zuletzt Vortheil entspringen müsse.

»Jene zehn Mann, fuhr der Capitän der »Karysta« fort, müssen binnen einer Stunde an Bord sein.

– Sie werden da sein,« versicherte Gozzo.

Nicolas Starkos deutete ihm durch eine Handbewegung an, daß er seine Begleitung nicht weiter wünsche, ging längs des Quais, der sich an den Molo anschloß, weiter und verschwand in einer der engen, am Hafen mündenden Straßen.

Der alte Gozzo kehrte, seinem Willen gehorchend, zu den Gefährten zurück und ging sofort daran, die zehn Burschen auszuwählen, welche die Mannschaft der Sacoleve zu vermehren bestimmt waren.

Inzwischen klomm Nicolas Starkos immer höher den Abhang des steilen Ufers empor, auf dem der Flecken Vitylo erbaut ist. Hier oben hörte man weiter nichts, als das Gebell der wilden Hunde, welche den Reisenden oft nicht weniger gefährlich sind, als die Schakals und Wölfe, Hunde mit gewaltigem Gebiß und dem breiten Gesicht der Dogge, die vor keinem Stocke zurückweichen. Mit langsamem Schlage der langen Flügel flatterten noch einige Seemöven umher, welche ihre Schlupfwinkel am Strande aufsuchten. Bald hatte Nicolas Starkos die letzten Häuser von Vitylo hinter sich gelassen. Er schlug jetzt den beschwerlichen Fußpfad ein, der um die Akropolis von Kerapha herumführt. Nachher kam er an den Ruinen einer Befestigung vorüber, welche hier zu jener Zeit von Ville-Hardouin angelegt worden war, als die Kreuzfahrer verschiedene Punkte des Peloponnes besetzt hielten, und dann umschritt er noch den Fuß einiger alter Thürme, die sich noch jetzt hier auf dem Felsenufer erheben. Bei diesen blieb er stehen und wendete sich zu einem Rückblick um.

Am Horizonte, jenseits des Cap Gallo, neigte sich der zunehmende Mond seinem Untergange im Ionischen Meere zu. Da und dort flammten einige Sterne durch die zerrissenen Wolken, welche der frische Abendwind über den Himmel jagte. Wenn dieser ein mal nachließ, herrschte Todtenstille rings um die Citadelle. Zwei oder drei kaum sichtbare kleine Fahrzeuge durchfurchten das Wasser im Golfe, näherten sich Coron oder wendeten sich Kalamata zu. Ohne die Laternen, welche an ihrer Mastspitze leuchteten, hätte man dieselben vielleicht kaum erkennen können. An anderen Punkten der Küste brannten sieben bis acht Feuer, welche sich im Meere zitternd wiederspiegelten. Waren dies Lichter von Fischerfahrzeugen oder solche in Wohnungen am Strande? Das hätte man schwerlich unterscheiden können.

Nicolas Starkos ließ den schon an die Dunkelheit gewohnten Blick über die ungeheure Fläche schweifen. Das Auge des Seemanns hat oft eine unbegreifliche Schärfe und gestattet ihm da noch etwas zu unterscheiden, wo Andere gar nichts sehen würden. Im jetzigen Augenblick schien es aber nicht, als ob die Außenwelt den Capitän der »Karysta«, der ja in seinem Leben so Vieles gesehen hatte, besonders interessiren könnte. Er saugte die Luft der Heimat, gleichsam den Athem des Landes, fast unbewußt ein. So stand er unbeweglich, nachsinnend mit gekreuzten Armen da und hielt auch den Kopf, von dem jetzt die Kapuze zurückgeschlagen war, still, als wär‘ er aus Stein gemeißelt.

So verging etwa eine Viertelstunde. Immer hatte Nicolas Starkos den Westhimmel beobachtet, den ein ferner Meereshorizont begrenzte. Dann that er einige Schritte weiter das Felsenufer hinaus. Es war nicht Zufall, daß er so zögerte. Ihn erfüllte ein geheimer Gedanke, und wer ihn gesehen, hätte vielleicht gesagt, daß er noch zu erkennen vermeide, was er hier auf der Anhöhe hinter Vitylo eigentlich aufzusuchen gekommen war.

*

Es gibt kaum einen öderen Anblick, als diese Küste vom Cap Matapan bis zum äußersten Hintergrunde des Golfs. Hier wuchsen weder Orangen-, noch Citronenbäume, weder wilde Rosen, noch Lorbeer, kein Jasmin von Argolis, keine Feigen, keine Erd- oder Maulbeerbäume, nichts was gewissen Gegenden von Griechenland den Anblick einer so üppigen, reichen Landschaft verleiht. Hier erhob sich keine grüne Eiche, keine Platane, kein Granatbaum, der sich vom dunkleren Hintergrunde der Cypressen und Cedern abhob. Ueberall nur Felsen, welche jede Erschütterung dieser vulkanischen Gebiete leicht in das Wasser des Golfes stürzen konnte. Ueberall herrschte auf diesem wilden Boden von Magne eine trostlose Dürre, so daß dieser nicht einmal seine dünn gesäete Bevölkerung zu ernähren vermochte. Kaum standen hier einzelne verkümmerte Pinien, welche halb abgestorben aussahen, weil man ihnen das Harz geraubt, und deren Saft versiegt war, wie die tiefen Risse der Stammrinde zeigten. Da und dort ein magerer Cactus mit scharfen Stacheln, dessen Blätter mehr kleinen, halb geschorenen Igeln glichen. Nirgends endlich fand sich, weder an den verkrüppelten Sträuchern, noch auf dem Boden, der mehr aus Kieselsteinen als aus nahrhafter Erde bestand, etwas, um die Ziegen zu ernähren, welche doch mit dem ärmlichsten Futter vorlieb zu nehmen pflegen.

Nachdem er zwanzig Schritte vorwärts gethan, blieb Nicolas Starkos von Neuem stehen. Dann wandte er sich nach Nordosten, dahin, wo der entfernte Gipfel des Taygetos seine Umrisse von dem minder dunklen Grunde des Himmels abhob. Ein oder zwei Sterne, welche um diese Zeit aufgingen, schienen am Rande des Horizontes, wie zwei leuchtende Punkte, auf demselben zu lagern.

Nicolas Starkos war regungslos stehen geblieben. Er erblickte jetzt ein kleines, niedriges, aus Holz erbautes Haus, das etwa fünfzig Schritte von ihm in einer Ausbuchtung des Felsgebirges verborgen lag.

Es war eine bescheidene Wohnstätte, vereinzelt über dem Flecken liegend, zu der man nur auf steilem Fußwege gelangte und welche wenige halb entlaubte Bäume, sowie eine Dornenhecke umgaben. Diese Wohnung erschien auf den ersten Blick als schon lange verödet. Die Hecke war in schlechtem Zustande, hier buschig verwachsen, dort wieder durchbrochen, und bildete so einen sehr unzureichenden Schutz; Hunde und Schakals, welche zuweilen diese Gegend durchstreiften, hatten wiederholt diesen verlassenen Winkel des maniatischen Bodens verwüstet. Grobe Kräuter und Buschwerk waren das Einzige, was die Natur hier da und dort verstreut hatte, nachdem die Hand des Menschen sich nicht mehr zur Pflege des Ortes regte.

Warum war derselbe aber so verlassen? Nun, der Besitzer dieses Fleckchens hatte schon vor langen Jahren die Augen geschlossen. Seine Witwe, Andronika Starkos, verließ später das Land, um sich jenen todesmuthigen Frauen anzuschließen, welche sich im griechischen Unabhängigkeitskriege so rühmlich hervorthaten. Daher kam es auch, daß der Sohn, seitdem er das Haus verlassen, niemals wieder den Fuß über die väterliche Schwelle gesetzt hatte.

Hier war Nicolas Starkos geboren und hier verliefen die ersten Jahre seiner Kindheit. Sein Vater hatte sich nach langem ehrenvollen Leben als Seemann nach dieser Freistatt zurückgezogen, vermied aber gern jede Berührung mit der Einwohnerschaft von Vitylo, deren wilde Sitten ihm ein Greuel waren. Etwas gebildeter und mit mehr Verständniß für die Annehmlichkeiten des Lebens, hatte er sich mit Weib und Kind hier eine freundliche Existenz gegründet. So lebte er in diesem Schlupfwinkel ruhig und unbeachtet, bis er eines Tages, von aufflammendem Zorn übermannt, sich der Bedrückung seitens der türkischen Behörden widersetzte und seinen Widerstand mit dem Leben bezahlen mußte. Den türkischen Agenten konnte eben Niemand entgehen, nicht einmal im entferntesten Winkel der Halbinsel.

Als der Vater nicht mehr da war, seinen Sohn zu leiten, wurde es der Mutter völlig unmöglich, ihn zu zügeln. Nicolas Starkos entwich aus dem Hause, um zur See zu gehen, und stellte seine ihm angebornen guten Anlagen zum Seemann der Seeräuberei und den Schurken, welche sie betrieben, zur Verfügung.

Seit zehn Jahren hatte nun der Sohn das Haus verlassen; vor sechs Jahren war ihm seine Mutter nachgefolgt. In der Umgegend behauptete man jedoch, daß Andronika zuweilen hier anwesend sei. Man hatte sie wenigstens zu bemerken geglaubt, wenn auch nur in langen Zwischenräumen und auf kurze Zeit, während sie dabei auch vermieden hatte, mit Jemand aus dem Orte zusammenzutreffen.

Nicolas Starkos hatte, obgleich er im Verlauf seiner Fahrten schon ein oder zwei Mal nach Magne zurückgekehrt war, doch niemals Sehnsucht empfunden, die bescheidene Wohnung auf dem Felsen aufzusuchen. Nie sachte er von seiner Mutter zu erfahren, ob sie noch dann und wann nach dem verlassenen Heim zurückkehre. Während der furchtbaren Kämpfe, welche zu jener Zeit Griechenland zerfleischten, hatte er aber gewiß den Namen Andronika gehört – einen Namen, der ihn hätte mit Gewissensbissen erfüllen müssen, wenn sein Gewissen nicht eben schon verhärtet oder ganz abgetödtet gewesen wäre.

Als Nicolas Starkos aber heute in den Hafen von Vitylo angelaufen war, geschah das nicht allein mit der Absicht, die Besatzung der Sacoleve durch zehn Mann zu verstärken. Ein Wunsch – mehr als ein Wunsch – ein unwiderstehliches Verlangen, von dem er sich selbst kaum Rechnung gab, hatte ihn hierher getrieben.

Er fühlte das Bedürfniß, noch einmal, wahrscheinlich zum letzten Male, das Vaterhaus wiederzusehen, noch einmal den Boden mit dem Fuße zu berühren, auf dem er die ersten Schritte, noch einmal die Luft jener Mauern zu athmen, zwischen denen er den ersten Athemzug gethan und wo er die ersten kindlichen Worte gelallt hatte. Deshalb allein klomm er hier den steilen Pfad empor, deshalb befand er sich zu dieser Stunde hier vor der Barriere der kleinen Umzäunung.

Hier überfiel ihn ein merkwürdiges Zögern. Es gibt ja kein so verhärtetes Herz, das nicht lauter klopfte, wenn in ihm liebe Bilder der Vergangenheit erwachen. Keiner wird geboren, der an die Stelle seiner Geburt, an die, wo ihn die Mutter gewiegt, nicht eine dauernde Anhänglichkeit empfände. Die Nerven keines Geschöpfs können so für jedes Gefühl erlahmen, daß sie nicht zitterten, wenn eine solche Erinnerung sie erregen.

Ganz ebenso ging es Nicolas Starkos, als er vor der Schwelle des verlassenen Hauses stand, das so düster, so schweigend, so todtenstill im Inneren und im Aeußeren vor ihm lag.

»Hinein!… Ja!… Hinein!…«

Das waren die ersten Worte, welche Nicolas Starkos wieder sprach Eigentlich murmelte er sie nur vor sich hin, als fürchte er, gehört zu werden und irgend eine Erscheinung aus vergangener Zeit wachzurufen.

In die Umzäunung zu gelangen, war ja ganz leicht, da die Thür zerfallen und Theile davon auf dem Boden umherlagen. Er hatte nur die Thür zu öffnen, einen Riegel zurückzuschieben.

Nicolas Starkos trat ein. Er blieb vor dem Hause stehen, dessen vom Regen halb verfaulte Läden nur noch schwach in den verrosteten, zerfressenen Angeln hingen.

Da ließ eine Nachteule einen heiseren Schrei ertönen und flog schwerfällig aus dem Mastixbusche auf, der sich vor der Schwelle der Hausthür ausbreitete.

Noch immer zauderte Nicolas Starkos, obwohl er entschlossen war, die Wohnung in allen Theilen zu sehen; es bedrückte ihn jedoch ein unbehagliches Gefühl über das, was in ihm vorging, als er jetzt doch etwas wie Gewissensbisse verspürte. Er fühlte sich bewegt, doch auch fast gereizt. Es erschien ihm, als ob das väterliche Dach vor ihm verschwinden könne, wie ein Protest gegen ihn, wie ein letzter Fluch der ihn traf.

Bevor er sich in das Haus selbst begab, wollte er um dasselbe ganz herum gehen. Die Nacht war finster. Niemand sah ihn und »er sah und erkannte sich fast selbst nicht«. Bei hellem Tage hätte er sich wohl kaum hierher gewagt. In tiefer Nacht fühlte er sich muthiger, dem Ansturm seiner Erinnerungen zu trotzen.

So ging er denn schleichenden Schrittes, gleich einem Verbrecher, der sich die Oertlichkeit ansieht, an welcher er einen schwarzen Plan zur Ausführung bringen will, längs der Außenwand hin, um die Ecken, welche zum Theil durch Moose verhüllt waren, betastete mit der Hand die losen Steine, um sich zu überzeugen, ob in dieser Leiche von Haus doch vielleicht noch etwas Leben wohne, und lauschte dann, ob dessen Herz noch schlage. Auf der Rückseite sah Alles noch düsterer aus. Die schrägen Strahlen des schon untergehenden Mondes konnten nicht hierher dringen.

Langsam hatte Nicolas Starkos seine Runde gemacht. Die finstere Wohnung bewahrte eine Art beunruhigendes Schweigen. Man hätte glauben können, sie läge unter dem Banne eines Zauberers. Jetzt kehrte er nach der Westseite derselben zurück und näherte sich der Thür, um diese aufzustoßen, wenn sie nur durch einen Drücker geschlossen war, oder sie mit Gewalt zu öffnen, wenn ein altes Schloß an derselben sie noch fester zuhielt.

Da drang ihm aber das Blut zu den Augen. Er sah »roth«, wie man sagt, aber feuerroth. Das Haus, welches er noch einmal besuchen wollte, wagte er jetzt nicht mehr zu betreten. Es war ihm, als müsse sein Vater oder seine Mutter mit ausgestreckten Armen auf der Schwelle erscheinen und ihm fluchen, ihm, dem verlornen Sohn, ihm, dem schlechten Bürger, dem Verräther an seiner Familie, an seinem Vaterlande.

Jetzt öffnete sich wirklich langsam die Thür. Ein Weib erschien auf der Schwelle Sie trug maniatische Kleidung, einen baumwollenen Rock mit schmaler rother Kante, ein Leibchen von dunklerer Farbe, das um die Taille zugeschnürt war, und auf dem Kopfe eine große bräunliche Haube, umwunden mit einem Seidentuche in griechischen Nationalfarben.

Diese Frau hatte ein sehr energisches Gesicht mit großen schwarzen Augen von fast wilder Lebhaftigkeit, gebräunten Teint, gleich den Fischerfrauen der Küste, dazu war sie groß von Gestalt und hielt sich, obwohl sie schon über sechzig Jahre zählte, stolz aufrecht. Andronika Starkos war es. Mutter und Sohn, welche seit so langer Zeit körperlich und geistig getrennt gelebt hatten, standen sich jetzt Auge in Auge gegenüber.

Nicolas Starkos hatte doch kaum erwartet, hier seiner Mutter zu begegnen. Die Erscheinung derselben flößte ihm einen merkwürdigen Schrecken ein.

Andronika streckte einen Arm gegen ihren Sohn aus, untersagte ihm das Betreten des Hauses und rief mit einer Stimme, welche die Worte selbst noch grausamer erscheinen ließ: »Niemals wird Nicolas Starkos wieder den Fuß in das Haus seines Vaters setzen!… Niemals!«

Erschüttert durch diese Anrede, wich der Sohn ein wenig zurück. Die, welche ihn unter dem Herzen getragen, trieb ihn jetzt von sich, wie man einen Verräther verjagt. Noch einmal wagte er einen Schritt vorwärts. Eine Handbewegung – eine Drohung und Verwünschung zugleich – hemmte seinen Fuß.

Nicolas Starkos wandte sich nach rückwärts, verließ die Umzäunung, eilte nach dem steilen Wege, der zum Strande hinabführte, und floh, was ihn die Füße tragen konnten, als ob eine unsichtbare Hand sich ihm auf die Schulter gelegt hätte, die ihn weiter trieb.

Regungslos auf der Schwelle ihres Hauses stehen bleibend, hatte Andronika ihn im Dunkel der Nacht verschwinden sehen.

Zehn Minuten später war Nicolas Starkos seiner soweit wieder Herr geworden, daß ihm Niemand die vorhergegangene Erregung anmerkte; so erreichte er den Hafen, pfiff Gozzo herbei und sprang in das leichte Boot. Die von Gozzo ausgewählten zehn Männer befanden sich schon an Bord der Sacoleve.

Ohne ein Wort zu sprechen, bestieg Nicolas Starkos das Verdeck der »Karysta« und bedeutete seinen Leuten durch ein Zeichen, augenblicklich die Anker zu lichten. Sein Befehl war schnell ausgeführt, da ja nur die zum Hissen bereit liegenden Segel aufgespannt zu werden brauchten. Der sich jetzt erhebende Landwind erleichterte die Ausfahrt aus dem Hafen.

Fünf Minuten später glitt die »Karysta« sicher und still durch die enge Wasserstraße, ohne daß von den Leuten an Bord, noch von den Bewohnern Vitylos ein Laut hörbar geworden wäre.

Die Sacoleve hatte indeß noch kaum eine Meile zurückgelegt, als ein röthlicher Flammenschein den Kamm des Felsenstrandes erleuchtete.

Es war die Wohnung der Andronika Starkos, welche bis auf den Grund niederbrannte. Die Hand der Mutter hatte dieses Feuer selbst angelegt. Sie wollte nichts von der Stelle übrig lassen, an der einst ihr Sohn geboren worden war.

Noch drei Meilen weit hin konnte der Capitän die Augen nicht abwenden von dem Feuer, das auf dem Boden von Magne emporloderte, und er verfolgte es im Dunklen, bis der letzte Schein desselben erlosch.

Andronika hatte gesagt:

»Niemals wird Nicolas Starkos den Fuß wieder in das Haus seines Vaters setzen!… Niemals!«