Vierundzwanzigstes Kapitel

Wir bemerkten schon, daß Gelsomina gewisse wichtige Schlüssel des Gefängnisses in Verwahrung hatte. Ihr dies Vertrauen zu schenken, fühlten sich die verschmitzten Wärter des Gefängnisses bewogen durch Hoffnung, daß sie arglos ihren Befehlen gehorchen würde, ohne zu vermuten, daß sie, dem Drange eines edeln Herzens nachgebend, diese in einer jener Hoffnung gefährlichen Weise gebrauchen könnte. Der Dienst aber, den die Schlüssel jetzt leisten sollten, bewies, daß die Schließer selbst, und unter diesen ihr Vater, nicht genügend wußten, wieviel Unschuld und Einfalt vermögen.

Gelsomina versah sich mit den erforderlichen Schlüsseln, nahm eine Lampe und stieg vom Zwischenstock, wo sie wohnte, nach dem ersten Stockwerke des Gebäudes hinauf, statt nach dem Hofe hinunterzugehen. Tür auf Tür öffnete sich, und manchen düstern Gang durchmaß das schuldlose Mädchen mit der Sicherheit dessen, der ein gutes Werk vorhat. Bald schritt sie über die Seufzerbrücke, ohne auf diesem unbesuchten Gange eine Störung zu befürchten, und ging in den Palast. Hier erreichte sie eine Tür, die nach den öffentlichen Ausgängen des Gebäudes führte. In der Sorge, ihre Tat der Entdeckung zu entziehen, löschte sie ihr Licht aus und drehte den Schlüssel. Im nächsten Augenblick befand sie sich auf der großen dunkeln Treppe. Schnell stieg sie hinunter und gelangte zu der bedeckten Galerie, die den Hof umgab. Wenige Schritte von ihr stand eine Schildwache. Der Soldat sah das ihm unbekannte Mädchen neugierig an, da ihm aber nicht oblag, die auszufragen, die das Gebäude verließen, so sprach er kein Wort, und Gelsomina ging weiter. Da warf eben, halb zögernd, ein rachsüchtiges Wesen eine Anklage in den Löwenrachen. Unwillkürlich blieb Gelsomina stehen, bis sich der geheime Ankläger nach seinem verräterischen Werke entfernte. Als sie ihren Weg nun fortsetzen wollte, sah sie, daß der Hellebardier oben auf der Riesentreppe über ihre Verwunderung lächelte, wie einer, der an solche Szenen gewöhnt ist.

»Ist es gefährlich, den Palast zu verlassen?« fragte sie den rauhen Bergbewohner.

»Corpo di Bacco! Vor einer Stunde mocht es so sein, schönes Mädchen, aber den Aufwieglern ist nun das Maul gestopft, und jetzt sind sie beim Gebet.«

Gelsomina zögerte nicht länger. Sie stieg die Treppe hinab und stand bald unter dem Torbogen. Hier zauderte das schüchterne und unerfahrene Mädchen wieder, denn sie wagte nicht, auf den Platz hinauszugehen, ohne sich vorher zu überzeugen, daß dort alles vollkommen ruhig sei.

Gelsomina fand beide Plätze großenteils mit Menschen angefüllt. Einige aufgeregte Fischer umdrängten die Türen der Kathedrale, aber diesseits der Kirche war kein Grund zu Besorgnis vorhanden. Wie wenig auch an solch ein Schauspiel gewöhnt, so begriff das sanfte Mädchen doch auf den ersten Blick, daß ihr gerade die Menschenmenge Unbemerktheit gewähren würde. Sie zog ihren einfachen Mantel dichter um ihre Gestalt, befestigte ihre Maske sorgfältiger und ging mit schnellem Schritt mitten in die Piazza hinein.

Jung, behende und von ihrem Zweck befeuert, hatte sie die Piazza bald hinter sich und erreichte den Platz San Nicolo, wo eine Landestelle der öffentlichen Gondeln war. Es war aber in diesem Augenblicke kein Fahrzeug da, weil Neugier oder Furcht die Gondolieri bewogen hatte, ihren Standort zu verlassen. Das Mädchen bestieg daher die Brücke und stand eben auf der Höhe des Bogens, als ein Gondoliere von der Seite des Canale Grande gemächlich daherruderte. Ihr zögerndes, unschlüssiges Benehmen fesselte seine Aufmerksamkeit, und er machte das gewöhnliche Zeichen zur Erbietung seiner Dienste. Da sie fast fremd war in den Straßen Venedigs – wahren Labyrinthen, dem Ungeübten schwieriger zu entwirren als in irgendeiner andern Stadt derselben Größe –, so ging sie auf das Anerbieten freudig ein. Die Stufen hinabsteigen, in das Boot springen, das Wort »Rialto« aussprechen und sich im Zelte verbergen, waren das Werk eines Augenblicks. Das Boot war sogleich in Bewegung.

Gelsomina durfte nun ihres Erfolges ziemlich gewiß sein, denn von der Kenntnis und den Plänen eines gewöhnlichen Bootsmannes konnte sie wenig zu fürchten haben. Auch konnte er ihr Vorhaben nicht ahnen, und es war sein Vorteil, sie sicher nach dem verlangten Orte zu bringen. Aber es lag ihr an dem glücklichen Ausgange so viel, daß sie ihn nicht für gewiß halten konnte, ehe nicht alles getan war. Sie sammelte indes ihre Entschlossenheit wieder so weit, daß sie hinausschaute auf die Paläste und Fahrzeuge, an denen sie vorbeifuhr; da fühlte sie die erfrischende Luft des Kanals ihren Mut beleben. Nun wandte sie sich, um das Gesicht ihres Gondoliere zu betrachten, und bemerkte, daß seine Züge durch eine so schlau verfertigte Maske verborgen waren, daß sie ein zufälliger Beobachter beim Mondlicht nicht zu erkennen vermochte.

Obschon es üblich war, daß sich die Schiffsleute der Vornehmen gelegentlich maskierten, so war dies doch bei einem öffentlichen Gondoliere etwas ganz Ungewöhnliches. Dieser Umstand an sich konnte wohl eine leichte Besorgnis erregen, aber Gelsomina fand bei weiterer Überlegung nichts darin, als daß der Mann vielleicht eben von einer Ergötzlichkeit zurückgekommen war oder von einer Serenade, bei der die Vorsicht des Liebhabers seine Begleiter genötigt hatte, sich so zu verbergen.

»Wollt Ihr auf dem öffentlichen Kai landen, Signora«, fragte der Gondoliere, »oder soll ich Euch nach der Tür Eures Palastes fahren?«

Gelsominas Herz schlug hoch. Der Ton der Stimme, obgleich durch die Maske gedämpft, gefiel ihr. Aber nicht gewohnt, anderer Angelegenheiten, am wenigsten so wichtige, zu besorgen, erzitterte sie vor der Rede, als wäre sie nicht in so gutem Werk begriffen.

»Kennst du den Palast eines gewissen Don Camillo Monforte, eines Adeligen aus Kalabrien, der hier in Venedig wohnt?« fragte sie nach einer augenblicklichen Pause. Der Gondoliere wurde merklich überrascht durch diese Frage.

»Soll ich Euch dorthin rudern, Signora?«

»Wenn du gewiß bist, den Palast zu kennen.«

Rasch drehte er die Gondel, und schnell glitt sie zwischen hohen Mauern hin. Gelsomina merkte an dem Schall, daß sie sich in einem der engen Kanäle befand, und schloß daraus, daß der Gondoliere wohl bewandert in der Stadt sein müsse. Bald hielten sie dicht vor einem Wassertore an, und der Mann erschien auf der Treppe, seinen Arm darreichend, um ihr beim Aussteigen zu helfen, wie Leute seines Gewerbes pflegen. Gelsomina hieß ihn ihre Rückkehr erwarten und ging hinein.

Es war eine merkliche Verwirrung in Don Camillos Haushalt, die einer erfahreneren Beobachterin gewiß aufgefallen wäre. Die Diener verrieten selbst bei Verrichtung der allergewöhnlichsten Geschäfte Ungewißheit, ihre Blicke wanderten mißtrauisch von einem zum andern, und als die schüchterne Fremde in den Hausflur trat, sprangen alle auf, keiner aber kam ihr entgegen. Ein maskiertes Frauenzimmer war kein ungewöhnlicher Anblick in Venedig, da wenige dieses Geschlechts die Kanäle besuchten, ohne ihre Züge zu verhüllen. Aus dem unentschlossenen Benehmen der Diener Don Camillos ging jedoch hervor, daß der Eintritt eines Mädchens diesmal auffiel.

»Bin ich in der Wohnung des Herzogs von Sant‘ Agata aus Kalabrien?« fragte Gelsomina, die hier einsah, wie nötig es sei, Festigkeit zu zeigen.

»Signora, ja!«

»Ist Euer Herr im Palast?«

»Signora, ja – und auch nein! Welch schöne Dame soll ich ihm melden, die ihm die Ehre erweist?«

»Wenn er nicht zu Hause ist, so ist es unnötig, ihm irgend etwas zu melden. Ist er aber da, so wünsche ich ihn zu sprechen.«

Die Diener, deren mehrere zugegen waren, steckten die Köpfe zusammen und schienen sich zu streiten, ob es ratsam sei, den Besuch anzunehmen. In diesem Augenblick trat ein Gondoliere in geblümter Jacke in den Hausflur. Gelsomina faßte Mut, als sie sein gutmütiges Auge und sein offenes Benehmen sah.

»Dient Ihr dem Don Camillo Monforte?« fragte sie, als er dem Kanal zu an ihr vorbeiging.

»Mit dem Ruder, schönste Donna«, erwiderte Gino, nach der Mütze greifend, aber sich kaum nach ihr umsehend.

»Kann man ihm nicht melden, daß ein Mädchen angelegentlich wünscht, ihn allein zu sprechen?«

»Ein Mädchen! Santa Maria! Schöne Donna, die Frauen, die in solchen Geschäften kommen, nehmen kein Ende in Venedig. Ihr könntet eher der Statue des heiligen Theodor auf der Piazza einen Besuch machen, als gegenwärtig meinen Herrn sehen. Der Stein würde Euch besser aufnehmen.«

»Heißt er Euch allen meines Geschlechts, die da kommen, solche Antwort geben?«

»Diavolo! Signora, Ihr versteht das Ausfragen. Vielleicht möchte mein Herr eine Euers Geschlechts, die ich nennen könnte, nötigenfalls empfangen, aber auf Gondoliersehre! Er ist in diesem Augenblick eben nicht der galanteste Kavalier in Venedig.«

»Wenn er einer diesen Vorzug geben würde – so seid Ihr sehr kühn für einen Diener: Wie wißt Ihr denn, daß ich nicht diese eine bin?«

Gino stutzte. Er betrachtete die Gestalt der Redenden und verbeugte sich, indem er seine Mütze zog.

»Signora, ich weiß gar nichts von der Sache«, sagte er, »Ihr möget Seine Hoheit der Doge sein oder der Gesandte des Kaisers. Ich maße mir seit kurzem nicht mehr an, irgend etwas zu wissen in Venedig.«

Ginos Worte wurden durch den öffentlichen Gondoliere unterbrochen, der hastig eingetreten war und ihm auf die Schulter klopfte. Dann flüsterte er dem Diener Don Camillos ins Ohr: »Dies ist nicht der Augenblick, jemand abzuweisen. Laß die Fremde hinauf!«

Gino zögerte nicht länger. Mit der Entschiedenheit eines Lieblingsdieners drängte er den Kammerdiener beiseite und erbot sich, Gelsomina selber zu seinem Herrn zu führen. Als sie hinaufgingen, entfernten sich drei von den untern Bedienten.

Don Camillos Palast hatte einen Anstrich von mehr als venezianischer Düsterkeit. Die Zimmer waren spärlich erleuchtet, viele Wände waren ihrer kostbarsten Gemälde beraubt, und auch in anderer Beziehung konnte ein aufmerksames Auge Spuren von der Absicht des Eigentümers, hier nicht für immer wohnen zu bleiben, wahrnehmen. Diese Umstände bemerkte aber Gelsomina nicht, als sie dem Gondoliere durch die Gemächer bis in die innern Teile des Hauses folgte. Hier schloß der Gondoliere eine Tür auf und nötigte sie durch ein Zeichen einzutreten.

»Mein Gebieter«, sagte er, »empfängt Damen gewöhnlich hier. Belieben Exzellenz einzutreten, während ich gehe, ihm sein Glück zu melden.«

Gelsomina tat entschlossen, obgleich es ihr gewaltig auf das Herz fiel, als sie hinter sich den Schlüssel im Schlosse drehen hörte. Sie befand sich in einem Vorzimmer, und da das Licht, das durch die Tür eines anstoßenden Gemaches fiel, sie schließen ließ, daß sie weitergehen sollte, so trat sie hinein. Hier sah sie sich plötzlich einem andern Mädchen gegenüber.

»Annina!« rief das unerfahrene Mädchen vom Gefängnisse im ersten Erstaunen.

»Gelsomina! Ei, die stille, scheue, sittsame Gelsomina!« entgegnete die andere.

Anninas Worte ließen nur eine Auslegung zu. Gelsomina nahm die Maske ab, denn teils gekränktes Gefühl, teils Erstaunen drohten sie des Atems zu berauben.

»Du hier?« fügte sie hinzu, kaum wissend, was sie sagte.

»Du hier?« nahm Annina dasselbe Wort auf, mit dem Gelächter der Gefangenen, wenn sie die Unschuld zu ihrer eigenen Niedrigkeit herabgesunken glauben.

»Was mich betrifft, so führte mich Mitleid hierher.«

»Santa Maria! Da haben wir ja beide gleichen Zweck!«

»Annina! Ich weiß nicht, was du sagen willst! Ist denn dies der Palast Don Camillo Monfortes – eines edeln Neapolitaners, der auf einen Sitz im Senat Anspruch macht?«

»Der galanteste, hübscheste, reichste und unbeständigste Kavalier in Venedig. Wärst du schon tausendmal hier gewesen, du könntest nicht besser unterrichtet sein.«

Gelsomina hörte schaudernd diese Worte. Ihre schlaue Cousine, die ihren Charakter so vollkommen kannte, als nur immer das Laster die Unschuld kennen kann, beobachtete ihre farblosen Wangen und ihre sich zusammenziehenden Augen mit geheimem Triumphe. Im ersten Augenblick hatte sie alles, was sie zu verstehen gab, wirklich geglaubt, aber eine zweite Erwägung und der Anblick der sichtlichen Angst, in die das erschreckte Mädchen gestürzt war, gaben ihrem Argwohn eine neue Richtung.

»Aber ich sage dir ja nichts Neues«, fuhr sie schnell fort. »Es tut mir nur leid, daß du mich findest, wo du ohne Zweifel den Herzog von Sant‘ Agata selber anzutreffen erwartetest.«

»Annina! Das von dir!«

»Du kamst doch gewiß nicht nach seinem Palaste, um deine Cousine aufzusuchen!«

Gelsomina war mit dem Kummer lange vertraut gewesen, hatte aber nie bis diesen Augenblick die tiefe Demütigung der Schande gefühlt, Tränen brachen aus ihren Augen, und unfähig, sich aufrecht zu halten, sank sie in einen Sessel.

»Ich wollte dich nicht so unerträglich kränken«, setzte die schlaue Tochter des Weinhändlers hinzu. »Aber daß wir uns beide in dem Kabinett des galantesten Kavaliers von Venedig befinden, ist doch außer allem Zweifel.«

»Ich habe dir gesagt, daß Mitleid mit einem andern mich hierhergeführt hat.«

»Nu ja, Mitleid mit Don Camillo.«

»Mit einer edeln Dame – einer jungen, tugendhaften, schönen Frau – einer Tochter des Hauses Tiepolo – bedenke, Annina, des Hauses Tiepolo!«

»Wie sollte eine Tiepolo zu den Diensten eines Mädchens aus dem Staatsgefängnisse kommen?«

»Doch! Weil die droben ungerecht gewesen sind. Die Fischer haben einen Tumult gemacht, und die Dame mit ihrer Gouvernante sind durch die Aufwiegler befreit worden – und Seine Hoheit hat mit ihnen im großen Hofe gesprochen – und auf dem Kai waren die Dalmatier – und da konnte auch das Gefängnis Damen ihres Standes in so großer Not zum Zufluchtsort dienen – und die heilige Kirche selbst hat ihre Liebe gesegnet –«

Gelsomina konnte nicht weiterreden: Atemlos durch den Eifer, sich zu rechtfertigen, und bis in die Seele verwundet durch die seltsame Verlegenheit, in die sie geraten war, schluchzte sie laut. So unzusammenhängend ihre Rede auch gewesen war, so hatte sie doch genug gesagt, um Annina die Sache unzweifelhaft zu machen. Und diese begriff sogleich nicht nur den Auftrag ihrer Cousine, sondern auch die ganze Lage der Flüchtigen.

»Und du schenkst diesem Märchen Glauben, Gelsomina?« sagte sie, sich stellend, als ob sie ihrer Cousine Leichtgläubigkeit bedauerte. »Die den St.-Markus-Platz besuchen, wissen recht gut, wes Geistes Kinder deine Tiepolo und ihre Gouvernante sind.«

»Hättest du nur die Schönheit und Unschuld der Dame gesehen, Annina, du würdest nicht so reden.«

»Gelobter San Teodoro! Was ist schöner als das Laster! Es ist das wohlfeilste Kunststück des Teufels, um schwache Sünder zu betrügen. Wenn dir dein Beichtvater das noch nicht gesagt hat, Gelsomina, so nimmt er es eben nicht so genau mit guten Sitten als der meinige.«

»Aber weshalb sollte sich eine Frau von solcher Lebensart in das Gefängnis flüchten?«

»Gewiß hatten sie alle Ursache, sich vor den Dalmatiern zu fürchten. Aber ich kann dir noch mehr von denen sagen, die du aufgenommen hast zur größten Gefahr deines eigenen Rufes. Es gibt Weiber in Venedig, die ihr Geschlecht auf verschiedene Weise verunehren, und diese, hauptsächlich die sogenannte Florinde, sind berüchtigt wegen ihres Geschäfts, den Staat um seine Einkünfte zu bringen. Sie hat von dem Neapolitaner ein Geschenk an Weinen bekommen, die auf seinen kalabrischen Bergen wachsen, und da sie meine Ehrlichkeit zu verführen wünschte, so bot sie mir das Getränk an und bildete sich ein, daß eine Person wie ich ihre Pflicht vergessen und den Staat betrügen würde.«

»Das läßt sich schwer glauben, Annina.«

Weshalb sollte ich dich täuschen? Sind wir nicht Schwesterkinder, und obschon mich meine Geschäfte auf dem Lido deiner Gesellschaft viel entziehen, herrscht nicht natürliche Liebe zwischen uns? Ich führte Klage bei der Obrigkeit, auf die Weine ward Beschlag gelegt, und die angeblich adeligen Damen mußten sich eben heute verstecken. Man glaubt, sie wollen mit ihrem liederlichen Neapolitaner aus der Stadt fliehen. Genötigt, Zuflucht zu suchen, haben sie dich abgeschickt, ihm ihr Versteck anzuzeigen, damit er ihnen zu Hilfe kommen möge.«

»Und weshalb bist du hier, Annina?«

»Ich wundere mich, daß du das nicht eher gefragt hast. Gino, Don Camillos Gondoliere, hat mir lange vergeblich die Cour gemacht, und als sich diese Florinde beschwerte, daß ich, was doch jedes ehrliche Mädchen in Venedig tun müßte, ihren Betrug bei Gericht angezeigt hätte, riet er seinem Herrn, mich ergreifen zu lassen, teils aus Rache, teils in der eiteln Hoffnung, ich würde mich bewegen lassen, meine Klage zurückzunehmen. Du hast wohl schon gehört von der verwegenen Gewalttätigkeit dieser Kavaliere, wenn man ihrem Willen entgegenhandelt?«

Annina erzählte hierauf mit hinlänglicher Genauigkeit die Umstände ihrer Gefangennahme, nur das verheimlichend, was sie nicht sagen durfte, ohne sich zu verraten.

»Aber, Annina, es gibt doch eine Erbin von Tiepolo.«

»So gewiß, als es Cousinen gibt, wie wir sind. Santa Madre di Dio! Daß diese verräterischen, frechen Weiber auf solche Unschuld stoßen mußten, wie du bist! Sie hätten nur in meine Hände kommen sollen, denn obgleich ich für ihre List auch zu unwissend bin, so kenn ich doch schon ihren wahren Charakter.«

»Sie haben auch von dir gesprochen, Annina.«

Des Weinhändlers Tochter schoß einen Blick auf ihre Cousine wie die tückische Schlange auf einen Vogel. Aber sie verlor ihre Besonnenheit nicht und sagte: »Gewiß nicht zu meinen Gunsten. Es sollte mir leid tun, wenn solche Personen mich lobten!«

»Sie sind deine Freundinnen eben nicht, Annina.«

»Sie haben dir vielleicht gesagt, Kind, daß ich im Sold des Senats stände!«

»Das haben sie in der Tat.«

»Es wundert mich nicht. Dies unehrliche Gesindel kann sich nicht einbilden, daß man etwas bloß wegen des Gewissens tun könne. Aber da kommt der Neapolitaner. – Sieh nur den Liederjan an, Gelsomina, und du wirst ihn so sehr als ich verabscheuen.«

Die Tür ging auf, und Don Camillo Monforte trat ein. Es war ein Mißtrauen in seinem Benehmen, das schließen ließ, daß er eine List von Seiten des Rates der Dreimänner vermutete. Gelsomina erhob sich, und obgleich durch die Erzählung ihrer Cousine und die vorangehenden Eindrücke aufgeregt, stand sie doch während seines Herannahens da wie ein anmutiges Bild der Sittsamkeit. Der Neapolitaner ward von ihrer Schönheit und von ihrem einfachen Wesen sichtlich ergriffen, aber seine Stirn war gerunzelt wie die eines Mannes, der sein Inneres gegen alle Täuschung stählen will.

»Du wolltest mich sprechen?« fragte er.

»Ich hatte diesen Wunsch, edler Herr, aber – Annina –«

»Da du eine andere siehst, hast du deine Absicht geändert.«

»Ja, Signore.«

Don Camillo sah sie ernstlich und mit Bedauern an.

»Du bist jung für deinen Stand – hier ist Gold. Geh, wie du gekommen bist. Aber halt – kennst du diese Annina?«

»Sie ist meiner Mutter Schwestertochter, edler Duca!«

»Per Diana, eine würdige Verwandtschaft. Geht miteinander, denn ich bedarf keiner von beiden. Aber höre!« Hierbei faßte er Annina beim Arme und führte sie beiseite, wo er mit leiser, aber drohender Stimme fortfuhr: »Du siehst, daß ich mich so gut wie dein Senat furchtbar machen kann. Nicht über die Schwelle deines Vaters kannst du gehen, ohne daß ich es erfahre. Wenn du klug bist, so wirst du deine Zunge im Zaum halten. Tu, was du willst, ich fürchte dich nicht. Aber nimm dich in acht, wenn du klug bist.«

Annina machte eine tiefe Verbeugung, gleichsam die Weisheit seiner Mahnung anerkennend, nahm ihre halb bewußtlose Cousine beim Arm, verneigte sich abermals und eilte aus dem Zimmer. Da, wie die Diener wußten, ihr Herr in seinem Kabinett gewesen war, hielten sie es für unnötig, sich der Flucht der Damen zu widersetzen. Gelsomina, die noch ungeduldiger war als ihre verschmitzte Gefährtin, einem Orte zu entgehen, den sie für befleckend hielt, war fast ohne Atem, als sie die Gondel erreichte. Ihr Besitzer wartete auf der Treppe, und in einem Augenblicke entschwebte das Boot dem Hause, das beide Frauen, obgleich aus ganz verschiedenen Gründen, froh waren, verlassen zu dürfen.

Gelsomina hatte ihre Maske in der Eile vergessen, und die Gondel war nicht so bald im Canale Grande, als sie sich dem Fenster des Pavillons näherte, um ihr glühendes Antlitz in der frischen Abendluft zu kühlen. Da ward ihre Stirn von einem Finger berührt, und als sie sich wendete, bemerkte sie, daß der Gondoliere ihr ein Zeichen machte, vorsichtig zu sein. Dann lüftete er seine Maske ein wenig.

»Carlo!« wäre beinahe ihren Lippen entfahren. Aber ein zweites Zeichen verhinderte den Ausruf. Gelsomina zog ihren Kopf zurück, und sobald ihr klopfendes Herz zu pochen nachließ, senkte sie ihr Gesicht und flüsterte ein Dankgebet, daß sie sich in solchem Augenblick im Schutz eines Mannes fand, der ihr ganzes Vertrauen besaß.

Der Gondoliere fragte nicht, wohin er seine Fahrt richten solle. Das Boot lief dem Hafen zu, und beiden Frauen schien dies ganz natürlich. Annina vermutete nämlich, daß es zum Platze zurückkehre, wohin sie sich auch begeben hätte, wenn sie allein gewesen wäre, und Gelsomina, die ihren Carlo für einen Gondoliere vom Handwerk hielt, bildete sich demgemäß ein, daß er sie nach ihrer Wohnung zurückbringe.

Aber wenn der Unschuldige auch die Verachtung der Welt ertragen kann, so ist es viel härter für ihn, sich denen, die er liebt, verdächtig zu wissen, und es drängte sie, ihm alles zu erzählen. Unter dem Vorwande, daß sie frische Luft schöpfen wolle, ließ sie ihre Cousine allein unter dem Zelte, und Annina bedauerte dies ganz und gar nicht, denn es tat ihr not, über alle die Windungen des krummen Weges nachzudenken, den sie eingeschlagen hatte.

Gelsomina kam glücklich an der Kajüte vorbei zur Seite des Gondoliere.

»Carlo«, sagte sie, da sie merkte, daß er stillschweigend weiterruderte.

»Gelsomina?«

»Du denkst doch nichts Arges von mir?«

»Ich kenne deine schändliche Cousine und kann mir denken, daß sie dich zu ihrem Spielzeug macht.«

»Kanntest du mich nicht, Carlo, als ich dich von der Brücke rief?«

»Nein. Jedes Geschäft war mir willkommen, um nur die Zeit hinzubringen.«

»Warum nennst du Annina schändlich?«

»Weil es in Venedig kein hinterlistigeres Herz und keine falschere Zunge gibt.«

Gelsomina dachte an Donna Florindes Warnung. Begünstigt durch die Blutsverwandtschaft und das Vertrauen, das der Unerfahrene immer in die Redlichkeit seiner Freunde setzt, bis ihn einmal der Schaden enttäuscht, hatte Annina ihre Cousine leicht überreden können, daß ihre Gäste nichts taugten. Jetzt aber hörte sie einen Mann, der ihre ganze Liebe besaß, Annina selbst beschuldigen. In solcher Ungewißheit tat das in Verwirrung gebrachte Mädchen, was die Natur und ihr Gefühl geboten. Sie erzählte leise und schnell die Vorfälle des Abends und Anninas Erdichtung von dem Betragen der Frauen, die sie im Gefängnisse zurückgelassen hatte.

Jacopo hörte so aufmerksam zu, daß sein Ruder im Wasser hinschleppte.

»Genug«, sagte er, als Gelsomina vollendet hatte. »Ich verstehe alles. Traue deiner Cousine nicht, denn der Senat selbst ist nicht arglistiger.«

Der vorgebliche Carlo sprach mit Vorsicht, aber mit fester Stimme. Gelsomina verstand ihn, obgleich sie seine Worte in Erstaunen setzten, und ging wieder hinein zu Annina. Die Gondel setzte ihren Lauf fort, als wäre nichts geschehen.